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Viertes Kapitel.
Ferrars

Robert Brierly zuckte bei der bestimmten Versicherung des Arztes zusammen. »Aus welchem Grunde glauben Sie an einen Mord?« fragte er in erregtem Ton, »denn Sie müssen doch noch einen anderen Grund haben als nur die Existenz der Kugelwunde im Nacken.«

»Ich habe genau dasselbe im fernen Westen gesehen und weiß, wie die Täter dabei vorgehen. Sie, lieber Brierly, sind jetzt noch zu aufgeregt, um ruhig überlegen zu können; allein so viel steht fest: wenn ein Mann durch einen unglücklichen Zufall, durch eigne oder fremde Hand fällt, so erfolgt nicht zweimal ein Schuß.«

»Das ist richtig!« nickte Brierly.

»Schießt aber,« fuhr der Arzt fort, »einer, der sich heimlich an sein Opfer heranschleicht, von hinten und feuert dann nochmals auf den Getroffenen, aus Furcht seinen Zweck nicht völlig erreicht zu haben, so wird die Wunde weiter vorn entstehen, da der Körper im Fallen eine halbe Wendung macht.«

»Ich verstehe,« murmelte Brierly schaudernd.

»Wir wollen lieber nicht über die Einzelheiten reden,« lenkte Barnes ab, »ich sehe, es greift Sie sehr an.«

»O nein!« widersprach Brierly. »Sagen Sie nur alles, ich muß es ja doch wissen. Es scheint sich wirklich um einen Mord zu handeln und ich – ich muß die Wahrheit erfahren – muß den Mörder finden. Raten Sie mir, lieber Doktor, welche Schritte ich unternehmen soll – es darf ja keine Zeit verloren werden.«

»Nun, vor allem gälte es, einen tüchtigen Detektiv für die Sache zu gewinnen. Kennen Sie jemand von diesen Leuten?«

»Ich? Nein. Aber ich denke, ein Telegramm an den Polizeichef – –«

»Bitte,« fiel ihm Barnes ins Wort, »darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«

»Selbstverständlich,« entgegnete Brierly. »Ich selbst bin ganz unfähig zu denken.«

»Das ist kein Wunder! Sehen Sie, ich wüßte den rechten Mann für Sie – das heißt, wenn er in Chicago ist. Während meiner Praxis als Gefängnisarzt lernte ich einen Engländer, namens Ferrars, kennen, der sich seit einigen Jahren meistenteils in Amerika aufhält. Seine Vergangenheit soll ein Geheimnis und einen romantischen Vorfall bergen. Er steht mit keinem Polizeibureau in Verbindung, gehört aber zu den drei berühmten Detektivs, die sich eigentlich vom Geschäft zurückgezogen haben, jedoch im Notfall alle drei zusammen arbeiten, wenn es sich um eine Kriminalsache handelt, die der Mühe wert ist. Ich glaube, das tragische Ereignis hier würde Ferrars sicher interessieren.«

»Warum wählen Sie ihn von den dreien?« warf Brierly ein.

Der Arzt lächelte. »Weil die beiden anderen verheiratet und infolgedessen nicht so beweglich wie Ferrars sind.«

»Sie halten ihn für einen sehr tüchtigen Detektiv?«

»Es gibt keinen geschickteren.«

»Wissen Sie seine Adresse? Wir können ihn garnicht schnell genug zur Stelle haben.«

»Das stimmt!« nickte Barnes. »Und nun noch eins. Um ihm möglichst den Weg für seine Nachforschungen zu ebnen, müssen wir sorgen, daß er inkognito bleibt und daß die Leichenschau nicht vor seinem Eintreffen stattfindet.«

»Kann das so eingerichtet werden?«

»Ich denke – ja.«

Brierly zeigte jetzt eine nervöse Unruhe. Er schien die halbe Betäubung, in die ihn der jähe Schicksalsschlag versetzt hatte, abgeschüttelt zu haben; seine angeborene Energie regte sich wieder und nur mit Mühe fügte sich seine Ungeduld, unverzüglich die Nachforschungen nach dem Mörder zu beginnen, den wohlüberlegten Ratschlägen des Arztes. Er beruhigte sich erst, als Dr. Barnes versprach, auf dem Weg zu seinem Patienten eine Depesche an Ferrars abzusenden. Bevor er jedoch das Telegraphenamt aufsuchte, begab sich der Doktor zu Hilda Grant, die bei einer älteren Witwe, namens Marcy, wohnte. Letztere öffnete dem Arzt die Türe.

»Glauben Sie, Herr Doktor, daß sie krank wird?« fragte sie in ängstlichem Flüsterton, nachdem Barnes eingetreten war.

»Ich denke nicht,« lautete die beschwichtigende Antwort. »Es war allerdings eine starke Erschütterung, aber Fräulein Grant – –«

»Ach, Herr Doktor,« unterbrach ihn die Frau, »die Ärmste ist ganz niedergeschmettert. Ihnen darf ich es wohl sagen: Die beiden waren verlobt und – so glücklich.«

Schweigend wandte der Arzt den Kopf zur Seite.

»Und nun wird sie sich doppelt einsam fühlen,« fuhr die Frau fort. »Sie hat keine Verwandten außer einem Vetter, der in Chicago lebt, den sie aber nicht kennt.«

»Chicago ist nicht so weit von hier entfernt,« warf Dr. Barnes hin, »der Vetter sollte sie gerade jetzt einmal besuchen. Gut, daß Sie mir alles gesagt haben, Frau Marcy; das wird mir bei der Behandlung von Nutzen sein. Fragen Sie bitte Fräulein Grant, ob ich sie jetzt sehen kann.«

Eine Viertelstunde später eilte Dr. Barnes aufs Telegraphenamt, wo er folgende seltsame Depesche absandte:

»Frank Ferrars. Chicago. Ihre Kusine Hilda Grant ist krank und in Sorge. Es ist ein Fall, bei dem Sie ebenso nötig sind wie ich. Kommen Sie wenn möglich mit dem ersten Abendzug.

Walter Barnes.«

»So, das wird ihn herlocken,« murmelte er heimwärtseilend. »Ferrars hält stets sein Versprechen; ich hätte aber nicht gedacht, daß ich ihn noch in diesem Jahr daran erinnern würde.«

»Nun?« rief ihm Brierly entgegen, als er das Wohnzimmer betrat, »haben Sie Fräulein Grant gesehen. Ist sie einverstanden?«

»Vollkommen. Ein tapferes, verständiges Mädchen! Sie will die ihr zugedachte Rolle übernehmen, denn sie glaubt natürlich auch nicht an einen Unglücksfall.«

»Wird sie mich empfangen?«

»Ja, heute abend. Sie besteht darauf, daß wir unsere Beratung in ihrer Gegenwart abhalten. Anfangs widersprach ich, weil sie noch recht schwach ist, allein sie behauptete, bei ihr wären wir am ungestörtesten, Frau Marcy werden wir teilweise ins Vertrauen ziehen müssen, aber ich weiß, wir können uns auf sie verlassen. Sicher wird man uns einige Tage beobachten und deshalb werde ich Ferrars auch zu mir nehmen, das heißt, nachdem er seine ›Kusine‹ besucht hat.«

Brierly sah auf seine Uhr. »Diese nächsten drei Stunden werden die längsten meines Lebens sein,« seufzte er unruhig auf und ab gehend.

Dr. Barnes erwartete inzwischen die Antwort Ferrars, die schon nach kurzer Zeit einlief. Sie war kurz und bündig:

»Werde 6.20 eintreffen.« –

Als der Zug von Chicago um die genannte Stunde an der kleinen Station anhielt, entstieg dem Rauchcoupé ein Mann von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau. Ohne die müßigen Zuschauer zu beachten, schritt er auf Dr. Barnes zu, der schon eine Weile auf dem Perron stand, und fragte höflich grüßend: »Entschuldigen Sie – sind Sie Dr. Barnes?« und fügte dann hinzu: »Wie geht es ihr?«

»Sie ist noch schwach und nervös,« lautete die Antwort; »es war aber auch ein schreckliches Ereignis.«

Der Fremde fragte nicht weiter; sobald sie jedoch den Bahnhof verlassen hatten, wandte sich der Arzt zu ihm: »Wie freundlich von Ihnen, Ferrars, daß Sie sofort gekommen sind! In der Depesche konnte ich Ihnen natürlich keine nähere Erklärung geben, allein Sie verstehen – –«

»Ich verstehe, daß Sie mich brauchen,« ergänzte Ferrars rasch, »und da ich nur in einer Eigenschaft etwas tauge, so dachte ich mir gleich, es gäbe hier Arbeit für mich. Übrigens hat mir das Abendblatt schon einen Fingerzeig gegeben. Handelt es sich nicht um den jungen Schullehrer?« Dr. Barnes stutzte. Es schien ihm fast unmöglich, daß die Nachricht bereits in die Presse gelangt war.

»Jemand hat sich aber stark geeilt,« bemerkte er in ärgerlichem Ton.

»Das geschieht immer bei solchen Ereignissen,« entgegnete Ferrars. »Das Abendblatt hat an den meisten Orten einen Spezialkorrespondenten, der sofort jedes ungewöhnliche Ereignis meldet. Es waren ja nur wenige Zeilen, auch wurde die Sache als ein unglücklicher Zufall oder als Selbstmord hingestellt.«

»Es war ein Mord!« erklärte Dr. Barnes.

»Das dachte ich mir,« nickte Ferrars.

»Weshalb?«

»Nun – nach dem Bericht fand man das Opfer ›vorn übergefallen, mit dem Gesicht nach unten‹. War es so?«

»Ja.«

»Na – haben Sie jemals gehört, daß ein Selbstmörder, wenn er sich erschießt, vornüber fällt?«

»Nein.«

»Oder ein Mann, wenn er stehend von der Seite oder von hinten erschossen wird? Bei einer vollen Ladung ins Gesicht stürzt er rückwärts zu Boden.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht,« entgegnete der Arzt, »und es ist doch logisch so richtig.« Er erzählte dem aufmerksam zuhörenden Detektiv das tragische Ereignis des Morgens, so weit er es selbst kannte.

»Wie ging es zu,« fragte Ferrars, nachdem der Andere geendet, »daß der Bruder des Ermordeten so zur Zeit hier erschien?«

»O, sie hatten sich verabredet, den Sonntag zusammen zu verbringen. Brierly kam jedoch mit einem früheren Zug, als er beabsichtigt hatte.«

»Ist es nicht merkwürdig,« bemerkte Ferrars nachdenklich, »welche Kleinigkeiten, die getan werden oder ungeschehen bleiben, imstande sind unser Leben zu bestimmen, ja selbst zu verkürzen? Hätte er seinem Bruder telegraphisch seine frühere Ankunft gemeldet, so wäre dieser anstatt zum Schießstand nach dem Bahnhof gegangen.«

Dr. Barnes seufzte und dann schritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. Als sie Hilda Grant's Wohnung erreicht hatten, blieb der Arzt stehen. »Sie werden mich für einen rechten Stümper halten, Ferrars,« sagte er, »denn ich hätte Ihnen gleich mitteilen sollen, daß Robert Brierly uns hier erwartet.«

»Robert Brierly?« wiederholte Ferrars. »Möchte wissen, ob es derselbe ist, durch dessen Mitarbeiterschaft eines unserer Morgenblätter so frisch und interessant geworden ist. Ein der Berühmtheit entgegenstrebender Journalist. Vielleicht ist's aber nicht derselbe.«

»Das weiß ich wirklich nicht,« erwiderte Dr. Barnes. »Er hat noch gar nicht von sich selbst gesprochen. Ist es Ihnen recht, jetzt gleich mit ihm zusammen zu treffen?«

Ferrars zuckte die Achseln. »Wir in unserem Beruf haben selten Gelegenheit, da zu beginnen, wo es uns am besten paßt. Ich hätte vorgezogen, vor allem den Schauplatz der Tat zu inspizieren; wahrscheinlich aber wird der Boden dort schon völlig zertrampelt sein und dann ist's vielleicht auch ratsamer, mich erst genau zu informieren, ehe ich nähere Untersuchungen anstelle.«

Frau Marcy öffnete ihnen die Tür und führte sie in ein wohnlich ausgestattetes Zimmer, dessen Fenster vom wilden Weinlaub umrankt und von hohen Kirschbäumen beschattet waren.

Dr. Barnes hatte befürchtet, es werde Hildas Kräfte übersteigen, der Beratung beizuwohnen; allein er hatte sich geirrt. Sie war zwar sehr blaß, auch lagen dunkle Schatten um ihre Augen, aber ihre Stimme klang fest, als sie sich zu Ferrars wandte:

»Ich habe gebeten, bei Ihrer Unterredung zugegen sein zu dürfen, denn Charles Brierly war mein Verlobter. Hätte ich seinem Wunsche nachgegeben und ihn vor einer Woche geheiratet, so stände mir jetzt das Recht der Gattin in allem, was ihn beträfe, zu. In Gottes Augen ist er mein Gatte, denn auf die Bibel seiner Mutter schworen wir uns ewige Treue.«

Francis Ferrars war ein seltsames Gemisch von Strenge und Milde, von rascher Entschlossenheit im Handeln und geduldiger Rücksichtnahme. Auch jetzt zeigte er die letztere, indem er die Hand des jungen Mädchens ergriff und in freundlichem Ton erwiderte: »Sie haben Ihr Recht, hier zu sein bewiesen und niemand wird es Ihnen streitig machen. Wir werden vielleicht schon bald Ihrer tätigen Hilfe bedürfen, ebenso sehr wir jetzt Ihres Rates und Ihrer genaueren Mitteilungen über den Verstorbenen.«

Auch Robert Brierly trat an ihre Seite. »Fräulein Grant – nein – lassen Sie mich Sie Schwester nennen – Sie haben das vollste Anrecht an meinen Bruder. Noch in seinem letzten Brief schrieb er mir: »Ich werde Dir etwas Kostbares geben, Robert – eine Schwester. Um sie kennen zu lernen bitte ich Dich, mich zu besuchen.« Betrachten Sie mich also nicht als einen Fremden, sondern als Charleys Bruder und den Ihren.« Er legte seine Hand auf die ihrige, setzte sich dicht neben sie und wandte sich dann zu Ferrars: »Dr. Barnes hat mir versichert, daß ich auf Ihren Beistand rechnen dürfte. Hat er darin recht?«

»Sobald ich weiß, um was es sich handelt, werde ich Ihre Frage beantworten,« entgegnete der Detektiv. »Sehe ich eine Möglichkeit das Geheimnis aufzuklären, so stelle ich mich gern zu Ihrer Verfügung. Dr. Barnes wird jetzt die Freundlichkeit haben, mir einen genauen Bericht über den Vorfall zu geben und ich bitte, auch nicht den geringsten Umstand auszulassen.«

Bereitwillig schilderte der Arzt den Hergang des tragischen Ereignisses. Ferrars hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als er geendet, reichte ihm der Detektiv eine Karte, die er seinem Portefeuille entnommen, nebst einem Bleistift. »Wollen Sie mir nicht die Stelle skizzieren, wo der Erschossene gefunden wurde? Auch die Lage des Indianerwalles sowie des Weges am Seeufer bitte ich zu markieren. Sie haben ja Geschicklichkeit im Zeichnen.«

Dr. Barnes fertigte rasch die gewünschte Skizze an. »Das veranschaulicht sehr,« äußerte Ferrars sie betrachtend. »Darnach scheint es, als ob der See gegenüber dem Wall eine Wendung nach innen macht.«

»Das stimmt.«

»Und daß der Mittelpunkt des Walles mit demjenigen der Biegung korrespondiert.«

Dr. Barnes nickte bejahend.

»Irre ich mich dann nicht in der Annahme, daß man vom Weg aus nicht sehen kann, was sich an diesem Punkt der Krümmung zuträgt?«

»Durchaus nicht. Der Wall erhebt sich hier ein ziemliches Stück über den Weg, sodaß alle Aussicht versperrt ist.«

Wieder betrachtete Ferrars die Skizze. »Haben Sie die Entfernung zwischen der Schießscheibe und der Stelle gemessen, wo die Leiche gefunden wurde?« fragte er.

»Nein,« entgegnete Dr. Barnes, »es wird aber wohl die gewöhnliche Schußweite gewesen sein.«

»Mir erschien der Abstand recht bedeutend,« fiel Robert Brierly ein. »Es fiel mir gleich auf, denn ich verstehe mich aufs Scheibenschießen.«

»Der Wald wird wohl jetzt von Neugierigen belagert sein?« wandte sich Ferrars zu dem Arzt.

»O nein,« erwiderte dieser. »Ich habe das mit Doran geordnet. Herr Brierly war hier bei jedermann so beliebt, daß es nur eines Wortes bedurfte, um die Leute und auch die Kinder von allem abzuhalten, was eine genaue Untersuchung verhindern könnte. Zwei Männer stehen in der Nähe des Schulhauses auf Wache, um alle Neugierigen wegzuscheuchen.«

Ferrars nickte befriedigt. »Über die Todesursache sind Sie wohl in keinem Zweifel?« fragte er weiter.

»Allerdings nicht,« erklärte Dr. Barnes. »Der Schuß im Rücken konnte nicht von der Hand des Toten herrühren.«

»Wenn Sie sich auf Doran und die Konstabler verlassen können, wäre es gut, durch dieselben zu erforschen, ob jemand durch den Wald am Seeufer gefahren ist und zwar in der Zeit von – –«

»Von acht bis zehn,« ergänzte Hilda. »Charley verließ seine Wohnung gegen acht und wurde kurz vor zehn gefunden.« Ferrars dankte ihr für die Auskunft und fuhr dann zu Dr. Barnes gewendet fort: »Ferner lassen Sie erkunden, ob man während dieser Zeit auf dem See ein Boot gesehen hat. Das würde schon ein Schritt vorwärts sein. Und nun – Sie sagten mir, Sie hätten niemand im Verdacht; es sei auch nicht der geringste Fingerzeig vorhanden. Diese Erklärung ist begreiflich, weil Sie eben nicht auf das richtige Untersuchen eingeübt sind. Um also mit der Sache zu beginnen, Herr Brierly,« wandte er sich an diesen, »muß ich vor allem einiges über Ihren Bruder und sein vergangenes Leben erfahren. War er Ihr einziger Bruder?«

»Ja. Wir verloren vor zehn Jahren eine Schwester in zartem Alter durch den Tod.«

»Und Ihre Eltern?«

»Sind beide gestorben.«

»Es wäre mir lieb, Herr Brierly, wenn Sie mir eine kurze Biographie von sich und Ihrem Bruder geben wollten.«

Brierly kam diesem Verlangen ohne Zögern nach. »Mein Vater,« begann er, »war Geistlicher an der bischöflichen Kirche. Wir lebten in dem reichen Viertel Chicagos, wo er zehn Jahre lang sein Amt bekleidete. Er ließ sich dann pensionieren; da wir jedoch in wohlhabenden Verhältnissen waren, blieben wir in dem Stadtteil wohnen. Der Tod der Schwester und dann der unserer Mutter warf den ersten Schatten auf unser Leben und als mein Bruder und ich die Universität bezogen, ging mein Vater mit einigen Freunden auf Reisen. Leider war er kein Geschäftsmann und derjenige, dem er sein Vermögen anvertraute, verwaltete dasselbe so schlecht, daß wir nach dem bald darauf erfolgten Tode meines Vaters nur noch jeder 15 000 Dollars besaßen. Mein Bruder hatte sich bereits für den Geistlichenstand, ich für den Journalistenberuf vorbereitet.«

»Sind Sie der Ältere?« warf Ferrars ein.

»Ja. Es war die Absicht meines Vaters gewesen, uns nach beendigter Studienzeit eine Reise durch zwei Erdteile unternehmen zu lassen, wie er es in seiner Jugend getan. Er beschäftigte sich viel damit, uns die Reiseroute vorzuzeichnen und pflegte oft zu sagen: »Ihr werdet nachher weniger Geld haben, aber dafür etwas erringen, was Euch nie genommen werden kann. Kennt ein Mann seine eigene Welt, so ist er besser für die zukünftige ausgerüstet.«

Da es der Lieblingswunsch unseres Vaters gewesen, so beschlossen wir, die Reise zu machen, die Charley als eine Art Pilgerfahrt zum Andenken des Verstorbenen betrachtete.

Bald nach unserer Rückkehr nahm ich meinen Beruf wieder auf und mein Bruder stand eben im Begriff, eine Pfarrstelle zu übernehmen, als er von einem Unfall betroffen wurde, der ihn für lange Zeit ans Krankenlager fesselte. Nach seiner Genesung erlaubten die Ärzte ihm nicht, die anstrengende Tätigkeit als Geistlicher und Seelsorger einer großen Gemeinde auszuüben; da er jedoch nicht müßig sein wollte, so übernahm er schließlich hier die Schule. Er liebte Kinder sehr; auch besaß er ein angeborenes Talent zum Unterrichten. Die Schönheit der hiesigen Gegend und die ländliche Stille sagten ihm außerordentlich zu und es dauerte ja nicht lange –« er blickte zu Hilda hinüber, die ihr Gesicht in den Händen verbarg – »so fand er hier sein größtes Glück.«

»Waren Sie schon früher hier?« fragte der Detektiv.

»Nein. In den ersten drei Monaten besuchte mich Charley öfter, dann kam er nicht mehr so gern. Vor einem halben Jahr mußte ich in besonderer Mission nach Neu-Mexiko und bin erst am letzten Dienstag zurückgekehrt.« Brierly stand auf und trat, sichtlich von seinen Gefühlen überwältigt, ans Fenster. Diesen Augenblick benutzte Ferrars, um ein paar Worte auf die Karte zu werfen, die Dr. Barnes für die Skizze verwendet hatte. Unauffällig schob er sie dem Arzt hin, der sie rasch überflog. »Ich möchte mit ihr unter vier Augen reden. Können Sie das ermöglichen?« lautete der Inhalt.

Dr. Barnes nickte und als Brierly sich ihnen wieder zugesellte, wandte sich Ferrars an Hilda: »Fühlen Sie sich imstande, mir einige Fragen zu beantworten, Fräulein Grant?«

Sie bejahte in festem Ton.

»Dann ist es aber wohl besser, wenn sie allein mit Ihnen spricht,« mischte sich der Doktor ein, »damit sie freier reden kann. Herr Brierly und ich, wir werden inzwischen nach Hause gehen und erwarten Sie dann bald, lieber Ferrars.«

Hilda wollte anfangs widersprechen, doch ein Blick aus den Augen des Detektivs bewog sie, der Anordnung zuzustimmen.

»Ich darf doch morgen zu Ihnen kommen, Schwester?« flüsterte Brierly, indem er sich von Hilda verabschiedete.

Sie erwiderte nichts, aber der Druck ihrer Hand sagte ihm, daß er ihr willkommen sein würde.

Sobald Ferrars mit ihr allein war, setzte er sich dicht zu ihr und begann mit teilnehmender Stimme: »Fräulein Grant, Sie begreifen sicherlich, wieviel in Betracht gezogen werden muß, ehe wir an eine Untersuchung denken können. Es ist ja möglich, daß die Leichenschau einigen Aufschluß geben wird; dennoch halte ich es für unerläßlich, in die Vergangenheit zurückzugreifen, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen. Sie verstehen mich?«

Hilda hatte aufmerksam zugehört, den Blick fest auf das Gesicht des Detektivs gerichtet, als suche sie sein Innerstes zu ergründen. »Sie meinen gewiß,« erwiderte sie zögernd, »etwas in seinem Leben oder in seinen Familienangelegenheiten könne die Ursache des Geschehenen sein.«

»Ganz recht!« nickte Ferrars. »Um aber klar zu sehen, muß ich nicht allein sein Leben, sondern auch das anderer kennen.«

»Das meinige?«

»Ja.«

Sie atmete erleichtert auf. »Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie zu wissen wünschen, denn ich möchte Ihnen gern helfen, so weit ich es vermag. Womit soll ich anfangen?«

»Erzählen Sie mir von Charles Brierly, auch was er Ihnen aus seinem Leben berichtet hat. Wird es Ihnen nicht zu schwer fallen?«

»Das ist jetzt Nebensache,« entgegnete sie, sich höher aufrichtend. »Ich will Ihnen in kurzen Worten meine eigene Geschichte erzählen und wenn es nötig ist, können Sie ja eine Frage stellen.«

Er dankte ihr für ihre Bereitwilligkeit, lehnte sich in seinen Sessel zurück und hörte mit halbgeschlossenen Augen zu.

»Es war wohl ganz natürlich,« begann Hilda, »daß Herr Brierly und ich uns rasch befreundeten, da wir uns täglich trafen und als Lehrer der Schule gemeinsame Interessen hatten. Ich fühlte mich von Anfang an zu ihm hingezogen, wir blieben auch größtenteils auf einander angewiesen, denn die jungen Leute hier hielten sich von uns fern, weil wir ihnen noch fremd waren. Ich entstamme einer religiösen Familie; es freute mich daher zu erfahren, daß Charley dem geistlichen Stande angehörte. Wir verstanden uns bald und ich brachte ihm das vollste Vertrauen entgegen. Vor einem Jahre ungefähr begann er mir öfter von sich und seinem Bruder zu erzählen, den er als ein Muster hinstellte und der ihm, wie er behauptete, geistig weit überlegen war.«

Sie hielt einen Moment inne, dann fuhr sie fort: »Ich glaubte nicht an diese Überlegenheit, denn Charles Brierly war ein selten begabter, vielseitig gebildeter Mann von großer Herzensgüte und Bescheidenheit. Erst kürzlich verlobten wir uns, obgleich wir schon lange einig waren. Charles hat mir viel aus seiner Jugend- und Studentenzeit erzählt, noch mehr von seinem geliebten, tadellosen Bruder, vor dem ich eine gewisse Scheu empfand. Von einem Familienzwist oder von Streitigkeiten mit anderen hat er mir nie gesprochen. Auch hatte er sich nie mit Frauen abgegeben, weil seine Zeit zu sehr durch Reisen und Studien in Anspruch genommen war. Hier am Ort besaß er nur Freunde: seine Schüler verehrten, die Übrigen bewunderten ihn, er selbst hatte ein offenes Herz für alle. Keine Hand in Glenville hätte sich je gegen ihn erhoben.«

»So glauben Sie auch an einen unglücklichen Zufall, ein Versehen?« fragte Ferrars, sie unter den halbgeschlossenen Lidern hervor scharf fixierend.

Sie sprang jäh in die Höhe. »Nein,« stieß sie heftig hervor, »ich glaube nicht daran! Ich bin nicht abergläubisch und halte es auch nicht für Aberglauben, daß eine innere Macht mir die Überzeugung gibt, Charles Brierly sei mit Vorbedacht ermordet worden und zwar von einem Feinde, der die Tat sorgfältig geplant und den Ahnungslosen meuchlings niedergeschossen hat.« –

*

 


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