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Wilson

Wilson

Gerechtigkeit

An Bord des »George Washington«, 28. Juni 1919, gegen Mitternacht. Das Schiff fährt durch die Atlantic, noch an der Küste. Der Präsident, der heute nachmittag, am Tage des Versailler Friedens, Paris verlassen hat, steht allein am Heck. Er ist bleich und traurig, Krankheit und die Last der letzten Jahre haben die lange Gestalt des ehedem sportlich straffen Körpers geschwächt, man sieht nun, daß er Anfang Sechzig ist. Schwer und müde ruhen die schmalen Lippen, wie Kähne nach der Fahrt vor Anker. Unter den beinahe weißen Haaren schaut er nach dem fernen Licht an der französischen Küste, den letzten Zeichen dieses gefährlichen Erdteiles. Sein Blick, sonst milde und nachdenklich, scheint hart, Groll und Verachtung liegt über ihm. Er denkt:

– Du hast gesiegt, Europa, als ein Geschlagener kehre ich zurück. Bald wird sich auch Amerika ganz von mir wenden, und ich, der die Wage der Völker in Händen hielt, sinke zurück in Ohnmacht, ein Spottbild meiner Epoche! – Warum sich vormachen, was ein selbstgefälliger Wunsch erfüllt glaubt? Freilich steht er an der Spitze des Vertrages, mein neuer Bund, gegründet ist er, und eines Tages wächst er vielleicht zu dem, was vor mir schwebt. Aber das Morgenrot, das ich diesem Erdteil weisen wollte, ist nicht aufgegangen, Nacht wirkt rings um die Völker, wie jetzt um mich; nur daß kein sicheres Steuer sie durch die Meere lenkt, wie dieses tapfere Schiff!

Es ist dasselbe, das mich hergetragen. War ich, an dem Dezembertage unserer Landung, vom Siege des Gedankens überzeugt? Als ich den Vertrauten sagte, ich fürchte den Kampf nach dem Siege mehr als den Krieg, besänftigte mich mein guter House, und meine Frau strahlte mich an. Eine neue Santa Maria nannten die Blätter dies Schiff, die man uns in Brest in den Waggon reichte, ausgefahren zur Entdeckung einer Neuen Welt in der Alten. Als wir dann einfuhren, durch die Champs Élysées, die Menge rauschte zu unserem Wagen empor, und auf der Ehrenpforte stand in goldenen Lettern: Heil Wilson, dem Gerechten! – mir wurde bange ums Herz, und wie ich mich umwandte nach einem vertrauten Blick, stach mir das alte graue Vogelauge Clemenceaus entgegen, der mich vom Rücksitz her durchforschte, als suchte er schon die verwundbarste Stelle.

Ah, dieser Erdteil! Und doch kann ich nicht sagen, daß der unsrige besser sei. Wenn ich abwäge, wer mir mehr geschadet hat: schwer zu entscheiden.

(Er fängt an, das Promenadendeck auf und ab zu schreiten.)

Was wird ein Biograph von dieser Affäre halten? Was hätte ich selbst zu sagen, wenn ich Wilsons Leben schriebe, wie ich Washingtons schrieb? Hat in der neueren Geschichte jemals ein Einzelner, ohne Eroberungen, ohne Tyrannis, ein solches Maß von Glauben auf sich gelenkt? Bis wir hier landeten, – was hatte nicht der hübsche blaue Junge zehn Tage lang die Treppe zur Funkenbude auf und ab zu rennen! Sprach nicht die ganze Welt mit diesem schwimmenden Schiff, als hätte es den Propheten an Bord? Aus Asien riefen mich die Armenier um Hilfe an, aus Rußland die Ukrainer, die Deutschen beteuerten ihre Wandlung, die Juden pochten auf ihr neues Vaterland, Perser klagten britische Tyrannei an, Koreaner kämpften gegen Japan, Albaner, Chinesen, alles schickte den Funken der Menschen an die Bordwand, um den göttlichen Funken zu erwerben: Gerechtigkeit! Alle flehten um Hilfe gegen alle, und es war, als ob sich an mir allein die Herzen der gemarterten Millionen aufrichteten, denn ich hatte ihren einzelnen Wünschen das allgemeine Wort verliehen, in ein System gebracht, was jeder forderte. Amerika – so fühlte dieser Erdteil – will nichts verdienen an diesem Frieden, den es doch erst ermöglicht hat, will keinen Vorteil, nur Zufriedenheit.

Und wer ist heute zufrieden? Nicht einmal die Menge, die heute mittag im Versailler Park zwischen den springenden Fontänen jauchzte. Sie war nur trunken, nur von Spannung erlöst, sie wollte nur schreien. Sie schrie uns in die Ohren, als wir – wie sagt man doch? »die Großen Vier« – aus dem Portal des Sonnenkönigs traten, weder sonnig gestimmt noch königlich. Sonnino neben mir sah bleich und böse aus; Clemenceau, dem doch der meiste Ruhm zufiel, genoß ihn nicht, er lächelte zwar, aber ich sah, wie sein Gehirn an Tardieus morgigen Artikel dachte und an die Woge, die ihn bald wegschwemmen könnte. Nur Lloyd George lachte mit allen seinen gesunden Zähnen und schüttelte die Verführerlocken, der Listige, als glaubte er alles, was nach seinem Wunsch in dieser Stunde die Menge glauben sollte. Aber es war eine traurige Lüge, diese Stunde, und einen Augenblick dachte ich an die beiden armen deutschen Bevollmächtigten: sie waren im Grunde die einzigen Menschen in Paris, die von der Zukunft keine Enttäuschung erwarten mußten. Wie ging das alles zu?

(Er tritt durch die offene Tür des Salons und hier vor das lebensgroße Bild Washingtons.)

Wenn ich wüßte, was dieser Schweigsame hier von meiner Sendung denkt! Der war klug, gütig und umkämpft, aber am Ende doch glücklich und überstrahlt mit seinem Namen heute sein Volk wie keiner! Der kennt es und seine Schwächen, der wäre gerecht und jedenfalls der Einzige, dem ich Rede stände. – Nun, George Washington, was lächelst du aus deinem goldenen Rahmen? Ich bin zu wenig Don Juan, um dich zu Gaste zu laden. Bist du aber geneigt, in dieser Geisterstunde zu einer Unterhaltung: ich bin bereit – und sei es zu einem Verhör!

Washington (steigt aus dem Rahmen): How do you do, Mr. Wilson? Hier bin ich!

Wilson: Willkommen an Bord Ihres eigenen Schiffes! Nehmen Sie Platz, Mr. Washington. Leider kann ich Ihnen nichts offerieren, die Küche ist zu, und gegen Alkohol haben wir jetzt Prohibition.

Washington (schlank, elegant, mutig, von gebräunter Gesichtsfarbe, trägt die reich betreßte, schön gefütterte Generalsuniform, mit Spitzen um den Hals. Sein energischer, beinahe heiterer Kopf, von grauen Haaren frei umflattert, begleitet mit entschlossenen Wendungen seine männlich gefaßten, weltmännisch artigen Sätze. Das hellblaue Auge ruht mit ununterbrochenem Wohlwollen auf Wilsons bleichen, enttäuschten Zügen, der durch sein Brillenglas mit Wärme, zuweilen wie hilfesuchend, auf seinen ersten und größten Vorgänger blickt. Washington setzt sich): Keine Umstände. Ich habe mich zu meiner Zeit schon versehen.

Wilson: Ja, unter Soldaten geht's wohl nicht ohne. Sieht man Sie so lebendig vor sich in Ihrer schönen Uniform, dann vergißt man fast, daß Sie je Politiker waren.

Washington: Ich würde sehr bedauern, wenn Sie mein Anzug am Tage des Friedens chokierte; leider bin ich nicht mehr in der Lage, ihn zu wechseln. Es ist derselbe, den ich trug, als ich in New-York wieder einritt, an einem dunklen Novembertage, nach acht Kriegsjahren. Seien Sie froh, Mr. Wilson, daß Sie mit zwei Jahren davongekommen sind. Ich hatte die ganze Zeit Haus und Hof am schönen Potomac nicht gesehen.

Wilson: Ich liebe Mount Vernon; nicht bloß, weil wir auch aus Virginia stammen. Besonders, weil man die edle Breite Ihres Landlebens dort fühlt und begreift, wie solch eine lebhafte Gutsverwaltung einen Edelmann praktisch auf die Verwaltung des Staates vorbereitet. Manchesmal habe ich Sie darum beneidet.

Washington: Und ich Sie um die humanistische Stille auf Ihrer schönen Universität. Da findet der Geist Sammlung, die Systeme anderer Völker zu vergleichen und aus den Fehlern der Vorfahren zu lernen.

Wilson: Zu Ihnen haben wir immer nur verehrend aufgeschaut.

Washington: So – beliebten Sie mich darzustellen, ich bin sehr verbunden. Ist man erst hundert Jahre tot, so will das Volk, daß man kanonisiert werde; es hat ein Recht auf Ideal-Gestalten. In praxi beobachtete ich mit Behagen, wie Sie versuchten, unsere alte puritanische Verfassung zu einer – mehr cäsarischen umzuschaffen.

Wilson: Sie scheinen mich bei diesen Worten hinter Ihrem artigen Lächeln hübsch auszulachen, Mr. Washington!

Washington: Keine Rede, Mr. Wilson! Nur glaube ich, Sie wünschten in dieser Stunde Wahrheiten mit mir zu tauschen – oder habe ich vorhin nicht recht gehört?

Wilson: Um so weniger werden Sie es uns nachtragen, wenn wir versuchten, die ideale Republik, die Sie als Koloniale und Edelleute vor hundertdreißig Jahren zu gründen verstanden, nach den Erfordernissen eines Hundert-Millionenvolkes leise abzuwandeln. Wenn wir gedachten, die Macht an weniger Menschen zu verteilen, so haben wir dafür deren Verantwortung geschärft. Volkstribun und zugleich Diktator: das wäre allerdings mein Ideal.

Washington: Sie haben die Korruption bekriegt, mit der Ihre Geldleute unsern gesunden Staat zu schwächen suchen: das fordert Mut, und dafür lassen Sie sich von einem der Gründer dieses Staates die Hand schütteln.

Wilson: An einem so herzbrechenden Tage wie heut ist solcher Zuspruch unschätzbar. Oft habe ich mich im Kriege gefragt: Wie würde Washington handeln?

Washington: Das tat ich auch, als Zuschauer. Daß Sie Ihrem englischen Blute anfangs nicht gefolgt sind und sich zur Neutralität gezwungen haben, war zweifellos der einzige Weg, den Bürgerkrieg zu vermeiden. Denn wir sind wirklich, wie Sie einmal sagten, kein Volk, wir sind erst die Skizze zu einem Volke. Außerdem mußten Sie Zeit gewinnen und brauchten, um einzugreifen, eine Armee. Vielleicht hätte man auch schon früher das Bundesheer ausbauen können –

Wilson: Unmöglich! Kein Mensch wollte Soldat sein, auch nicht gegen Mexiko. Die Zeiten, in denen man zuerst auf Waffen, dann auf Geld und Handel sah, sind am Ende schon unter Ihnen zu Ende gegangen, und auch Lincoln hat Mühe genug gehabt, seine Leute zusammenzubringen.

Washington: Mir allzu vertraut! Meine Herren Söldner kamen, wann sie wollten, und gingen, wenn ich nicht draufzahlte. Trotzdem hätte ich den Frieden nicht ohne eisernen Druck erreicht, und es war die stärkste Erfahrung meines Lebens, daß man friedliche Ideale im Staat nur mit den Waffen verwirklicht. Sie lächeln, Mr. Wilson? Und denken vielleicht an jenen preußischen Baron, den ich mir vom König Friedrich ausgeliehen habe, um unsere junge Demokratie mit Hilfe dieses alten Junkers vorzubereiten?

Wilson: Soll ich schließen, daß Sie diese Militärmacht gebilligt haben, zu deren Vernichtung wir schließlich doch ausgezogen sind?

Washington: Ich bin froh, daß sie kaput ist, denn ich war immer Republikaner und bin in meinem Leben nie tödlicher erschrocken als damals, wie mir eine gewisse Partei im Kriege den Königstitel antrug. Aber so wahr ich nie nach Eroberungen gestrebt habe und froh war, wie wir nur unsere dreizehn Schäfchen beisammen hatten, so entschieden bin ich immer für starke Bereitschaft gewesen und habe meine letzten Lebensjahre mit sinkender Kraft doch nicht ohne Grund an eine neue Armee gesetzt.

Wilson: Beneidenswert!

Washington: Das – finden Sie, als Pazifist, beneidenswert?

Wilson: Sein eigener General zu sein und diese scheußliche Gewalt genau dort einzusetzen und nur aufzurufen, wo man sie braucht!

Washington (lachend): Freilich ist sie scheußlich! Ich habe auch lieber das Land friedlich vermessen, wie das mein erster Beruf war, als kriegerisch durchmessen, und auf meinen Gütern ist nie ein Neger gepeitscht worden. Aber ohne Krieg, bloß mit der idealen Forderung, hätten wir uns nie befreit und ebensowenig geeinigt, wie dies andern Völkern je friedlich gelungen ist. Wer nicht gerüstet ist, wird für schwach gehalten. Ob Sie heute mit einem Gedanken durchkommen, das können Sie besser beurteilen als ein Mann in so altmodischer Uniform.

Wilson: Ein Gedanke, Mr. Washington? Freilich, anfangs, als die Deutschen die Lusitania versenkten, habe ich unsere nach Rache schreienden Mitbürger mit einem Gedanken beruhigt: ein Volk könne durch sein gutes Recht so stark sein, daß es keine Gewalt braucht, um andere davon zu überzeugen. Und obwohl, wie Sie sagten, mein englisches Blut, aber auch meine Erziehung als Pfarrerssohn und meine Bildung als Gelehrter sich gegen den Machtgedanken jenes Militärstaates empörten, hielt ich mit zähen Händen den durchgehenden Kriegswagen noch zurück. Denn wo kein Blutsband die Nation umfaßt, wo Millionen aus beiden Parteien auf demselben Boden atmen und arbeiten, da gibt es zunächst nur Neutralität, das Herz spreche, wie es wolle. Hätten Sie als Staatsmann anders gehandelt?

Washington: Ich habe sogar die Ruhe bewundert, mit der Sie sich, dem Vorwurf der Feigheit aussetzten und selbst Bryan lieber opferten, statt nachzugeben. Meine gewissen Bedenken, wenn ich so sagen darf, setzten viel später ein. Sie haben wirklich das Bundesheer, das ich erst notdürftig zusammenleimte, großartig aufgebaut, zum erstenmal über den Ozean geführt und siegreich geführt.

Wilson: Artigkeiten, Herr General! Ich war zwar Oberster Kriegsherr, weil Ihre Verfassung diese für einen Zivilisten recht peinliche Pflicht mir auferlegte. Aber ich habe, wie Sie wissen, nicht gesiegt wie Sie, sondern siegen lassen. Sie wundern sich indessen, wie man schließlich doch zum Kriege gedrängt werden und dabei hartnäckig einen Frieden ohne Sieg verkünden kann? Sie erstaunen, daß ich auf meiner Propagandareise im Jahre 16 Frieden predigte und dabei die Säle, in denen ich dies tat, von Militär sichern ließ? Sie sind, mit einem Worte, gleich meinen Gegnern unzufrieden, daß ich ein siegreiches Land durch nichts belohnen wollte als durch eine Idee, statt ihm für seine Opfer Geld und Vorteile einzutauschen!

Washington: Mit Ihren Gegnern habe ich nichts zu tun, die wollten nur Ihre Stelle und haben Sie verleumdet. Nur – Ihre Begründung des Krieges, den ich wahrscheinlich auch geführt hätte, habe ich damals nicht ganz verstanden.

Wilson (lebhafter gestikulierend): Ich hatte hinter mir ein unsicheres Land, von widerstreitenden Gefühlen geschüttelt, immer wieder aufgepeitscht durch die Torheiten und Tollheiten der deutschen Marine; vor mir ein aufgebrachtes Parlament, das erst Krieg schrie und dann vor seinem Eifer erschrak. Sie kennen diese Kämpfe –

Washington (lächelnd): Mich hat dies Parlament, das wir geschaffen hatten, noch als alten Mann beschimpft, als meine Marmorstatue schon auf dem Platze prangte. Die Patina der Geschichte verschönt die Dinge, bis sich Nation und Held in Lobeshymnen überbieten. In Wahrheit hat noch jeder Staatsmann seine Nation für die undankbarste gehalten. Sie, als Schüler Kants und Rousseaus, mußte der Kriegssturm vollends zerzausen.

Wilson: Das bin ich nicht! Sie irren, Mr. Washington! In keinem meiner Bücher steht ein Wort vom Pazifismus! Mein Weg zum Frieden geht, im Unterschiede zu Kant, sogleich über Sicherungen und Strafen, mein Völkerbund hütet das Recht durch Macht. Deshalb konnte ich ihn als Ziel Amerikas verkünden, bevor wir eingriffen! Denn nur so, mit einer Rüstung, deren Wachsen die Welt erfuhr, entgingen wir dem Odium der Schwäche oder Feigheit, als wir Verständigung rieten. Wir hätten sonst den komischen Ruf von Missionaren geteilt, die mitten im Getümmel nur den Namen ihres Gottes in die Lüfte schreien, als wäre er gesonnen, einzugreifen.

Washington: Er ist es vielleicht. Man muß nur für den Fall, daß er es nicht ist, Kanonen haben.

Wilson: Da ich seiner keineswegs sicher war, baute ich Schiffe und Kanonen.

Washington: Sie sind – nicht gläubig, Mr. Wilson?

Wilson: Ich – glaube an den Fortschritt der Vernunft.

Washington: Wir beteten und fasteten zu unserer Zeit vor den Entscheidungen.

Wilson: Ich faste nicht, aber ich schieße ja auch nicht.

Washington (lächelt): Pas trop mal pour le lendemain de Versailles! Sie sprachen vom Völkerbund?

Wilson: Die Menge wartete auf ein Stichwort. Sie kennen dies Gefühl, wenn sie einen fragend ansieht, gespannt auf einen Ruf. Preußens Gewaltpolitik galt allen als ein Hindernis des Friedens; zwang man es nieder, so mußte man Wiederholungen verhüten. Man mußte alle Staaten zum Frieden zwingen. Das war der Zweck der ersten Liga, von der ich, lange vor unserem Eingreifen, die Grundsätze übernahm und populär genug machte, daß in hundert Millionen Herzen ein Traum wachgerufen, in den Köpfen ein Ideal gezeichnet wurde. Als ich zum ersten Mal den Völkerbund ausrief, geschah es, um das Volk zum Kriege reif zu machen. Während ich den ewigen Frieden in den Wolken zeigte, forderte ich vom Kongreß Truppen und Kanonen, – und doch hat mich niemand als paradox getadelt, das ganze Land, der letzte Hirt in Texas hat mich verstanden, denn er lebt selbst in einem Bund von Völkern.

Washington: Und was dachte dieser Hirt über Europa?

Wilson: Washington, dachte er, hat den ersten Völkerbund aus dreizehn Staaten gegründet, jetzt sind wir achtundvierzig und haben keine Kriege mehr untereinander. Warum nicht das ewig brodelnde Europa zu einem ähnlichen Zusammenschlusse zwingen! Denn er wußte nichts von dem Geschwätz über die »historisch gewordenen Staaten« dieses kleinen Erdteils, auf die solche Grundsätze anzuwenden nur Faulheit und Feigheit verhindert. Wacht nicht auch bei uns einer mißtrauischer als der andere über seine »historischen Bedingungen«? Haben Sie sich nicht mit Süd-Carolina beinahe so herumschlagen müssen wie Lincoln? Und will man sich wirklich zu der Behauptung versteigen, es sei schwerer, Europas Staaten zu einigen, weil dort die Völker meist auf ihren Territorien getrennt wohnen, als die Amerikas, wo alles durcheinander geschüttelt ist? Nicht bloß hundert Zimmer umschließt ein Haus, sondern zwanzig Familien, die sich nicht einmal kennen. Vertragen aber werden sie sich nur dann unter einem Dache, wenn jeder völlig frei in seinen Zimmern haust.

Washington: In unseren Sklavenfarmen hörte freilich die Balgerei nie auf: daran dachte ich manchmal, wenn ich den Streit dieser meist unfreien Völker Europas betrachtete. Sie haben recht.

Wilson (erregt): Und doch sehe ich in Ihren hellen Augen einen Einwand, der mich fixiert.

Washington (lächelnd): Es sind sogar zwei, und ich werde sie schon nennen. Ihre Grundidee war gut und wird möglich sein. Entsinne ich mich recht, so schrieben wir damals selber etwas Ähnliches in unser Grundgesetz, ich hatte es lange nicht mehr vor Augen –

Wilson: »Ein Volk hat das Recht, mit seinem eigenen Lande und seiner eigenen Regierung nach seinem Belieben zu verfahren«: das haben Sie mit Ihrer edlen Hand in die Virginal-Bill of Rights geschrieben, ein Jahrzehnt vor der großen Revolution in Frankreich, und jedes Kind Amerikas lernt es noch heute hersagen. »Wir, das Volk, gründen und errichten diese Verfassung.« Was habe ich anderes getan, als den Anker unseres Freiheitsschiffes auch in die Meere Europas zu versenken! Haben es unsere besten Geister, Emerson und Whitman, nicht gepredigt und gesungen? Ich verdiene nicht einmal den Ruhm eines neuen Gedankens, noch weniger den Vorwurf der Ideologie, wenn ich in den Grundstein des neuen Friedens die Worte schrieb: »Regierung nur mit Zustimmung der Regierten.« Das ist älter als Amerika und nur bei uns zum ersten Mal verwirklicht.

Washington: Wir haben Ihnen auch alle applaudiert, als Sie die Geister der Gründer dieses Staates herabzitierten: Hamilton, Jefferson, die beiden Adam und auch ich. Nur –

Wilson: – nur?

Washington: – nur weiß ich nicht, ob Ihr Stichwort nicht die Gegner gereizt hat, Amerika mit seinen riesigen Mitteln sei zur Dienerin, nicht zur Herrscherin der Nationen bestimmt. Haben Sie mit dieser moralischen Forderung nicht eher den Amerikaner meiner Epoche, und zwar der patinierten, gemeint als der Ihrigen? Hat sich Ihr Idealismus, der mit den Trusts – zwar nicht fertig geworden, aber doch weiter gekommen ist, im Anblick Ihrer Zeitgenossen nicht doch vergriffen? Als Hunderttausende über die schicksalsvolle Brücke auf die Schiffe gingen, um in Europa zu bluten, da haben sie's doch kaum als Diener Europas getan, sondern – von der allgemeinen Abenteurerei zu schweigen – aus Wut über einen Fürsten, in dessen Namen man ihre friedlichen Blutsverwandten auf den Grund des Meeres befördert hat. Und wenn unsere braven Jungens wirklich auszogen, um den deutschen Machtbegriff zu vernichten, der sich in einer Pickelhaube darstellt, so hat der Schwung Ihrer Seele doch vielleicht übersehen, daß die Deutschen zwar die am dicksten uniformierten Leute waren, aber nicht die einzigen, und daß Sie gegen ein schlechtes Prinzip Genossen brauchten, die nicht von lauter guten beherrscht wurden. Ich habe Frankreich sehr geliebt, aber im Alter habe ich eine neue Armee gegen Frankreich eingeübt und mich grade noch soso und grade noch vor Torschluß meines Lebens verständigt. Es war mit dem jungen General Bonaparte, und der Gedanke an diesen großen Soldaten ist mir – verzeihen Sie nur – im Grunde sympathisch.

Wilson: – Frankreich! Sehen Sie die letzten, äußersten Lichter dort im Osten dicht unter dem Sternenbild des Adlers? Ich werde diese Küste der Rache und der Schlauheit, der Furcht und des Ehrgeizes nie wieder betreten!

Washington: Freilich hat man Sie betrogen, und wenn man den Frieden, den Sie heute unterschrieben haben, mit Ihren Vierzehn Punkten vergleicht, die Ihre Verbündeten als Basis beschworen hatten, so wird man peinlich an jenen Fetzen Papier erinnert, mit dem sich der fatale Deutsche anno 14 demaskierte. Nur – waren einige dieser Punkte vielleicht zu allgemein gefaßt, um ein Durchschlüpfen zu verhindern. In Not, in Furcht und Leiden versprechen die Menschen leicht und sogar aufrichtig. Entsinnen Sie sich an die »Erdbeben-Liebe«, die beim Brande von San Franzisko ausbrach? Eine Idealstadt wollte man wieder aufbauen, aber nach einem Monat war alles Christentum vorüber und jeder nur mit sich beschäftigt. Vielleicht hätte es sich deshalb empfohlen, schon heim Abschluß des Bündnisses nicht nur die geheime Diplomatie, sondern ausdrücklich alle geheimen Verträge für tot zu erklären, in denen die neuen Verbündeten einander allerhand hübsche Dinge versprochen hatten.

Wilson: Es war in Mount Vernon, auf der Schwelle Ihres vielverehrten Hauses, wir schrieben Juli 18, und es galt, am Verfassungstage aufs neue klarzulegen, daß wir nur Hüter des alten Idealismus sind. Früher hatte ich Frieden ohne Sieg proklamiert, auch um Deutschlands Zusammenbruch zu verhindern; jetzt hatte deutsche Unvernunft es bis zum knockout blow getrieben und dadurch meine reine Forderung getrübt. Aber noch vertraute ich auf unsere klare Position: Amerika will nichts gewinnen, noch stützte ich mich auf die Grundlagen unseres Beitritts. Wir nannten uns zwar auf alle Fälle nur Assoziierte Macht, um freiere Hand zu haben. Aber wenn ich den Völkern zurief, es gibt keine Geheimverträge mehr, so rief ich das auch meinen Verbündeten als Warnung zu. Wissen Sie, Mr. Washington, daß Lansing um diese Zeit noch keine genaue Kenntnis des Londoner Vertrages hatte? Wollen Sie glauben, daß er als Staatssekretär des Äußeren im Dunklen gehalten wurde über Abmachungen, auf die unsere Alliierten später den gemeinsamen Frieden aufbauen wollten? Dabei war das nicht Lansings Schuld, es war Folge unserer mangelhaften Diplomatie, die noch schlechter arbeitet als die in Europa. Denn daß wir alle paar Jahre unsere Leute drüben abberufen, wenn sie sich eben eingelebt haben, liegt als schwerer Schatten auf unserem System.

Washington: Richtig. Aber haben Sie nicht auf Grund Ihrer Punkte dann in Paris den Londoner Vertrag angreifen können?

Wilson: Ich habe ihn für nichtig erklärt! Aber nun denken Sie sich dieses Halloh! Unsere Bündnisse sind vor dem eurigen geschlossen! schrien Italiener, Rumänen, Japaner und ein halbes Dutzend anderer, und die sogenannten Größen, dieselben Männer oder doch deren Schatten, die vor drei und vier Jahren den Vertrag geschlossen hatten, verwiesen auf ihre beschworenen Pflichten und auf Trotzkis skandalöse Publikation der russischen Geheimverträge. Trotzki hatte ganz recht, sagte ich, als er diese Raubverträge vor der Welt ausstellte. Aber mit jedem Tage verstrickte ich mich tiefer in dies unzerreißbare Gewebe geheimer Bindungen, mit jeder Woche umgarnten sie mich fester und suchten mich zu ersticken. Nach einem Monat in Paris erkannte ich nur grausamer, was mir auf der Hinfahrt geahnt hatte: als Einzelner war ich ausgezogen, die Tafeln einer neuen Ordnung aufzurichten – und niemand kam mir zuhilfe, nicht einmal, die mich wie einen Gott begrüßt hatten! Es kam also zum Kampf.

Washington: Wir haben mit Vergnügen die Abreise der Italiener konstatiert, wir schlossen, daß Sie im Punkte Fiume ein Exempel statuieren wollten.

Wilson: Das war ein einzelner Punkt, man sah ihn von außen. Wenn Sie wüßten, was hinter den wohlgepolsterten Doppeltüren des Beratungszimmers sich noch zugetragen hat! Später werde ich es niederschreiben. Noch nach unserem Beitritt, noch im Laufe 18, ja während der Konferenz selber wurden diese verbotenen Verträge ausgebaut. England hatte sich Rechte in Persien und in der Türkei gesichert, Italien war nur durch das Versprechen Dalmatiens gewonnen worden, Rumänien hatte außer anderen Bissen noch das Banat zu erwarten, was wiederum den Serben verheimlicht werden mußte. Ah, hätten Sie nur diese eine Verhandlung im Zehnerrate mitgemacht, wie sich Bratianu und Vesnic auf der einen Seite des Tisches anschrien, wie dann Clemenceau und Pichon zu kalmieren suchten und alle Lügen über Lügen häuften! Der Baron Makino nannte dergleichen Verträge mit japanischer Gerissenheit »Ideenaustausch«, als er sich den Äquator als Grenze der deutschen Aufteilung garantieren ließ: sonst wäre er mit seinen U-Booten nicht hinausgefahren. Als sie die Türkei tranchierten, sprachen andere von »Arrangements«, und während ich dasaß mit meinem allgemein anerkannten Grundsatz über die Türkei, schwenkte irgendein Araberhäuptling, den England König titulierte, seine Rechnung an die Alliierten durch die Luft. Jeder Minister dachte nur daran, seinen Wählern zu Hause ein Stück Land mitzubringen, das man in den Schaufenstern auf der Karte schön einzeichnen konnte, mindestens aber ein hübsches Bergwerk oder eine Rohrleitung.

Washington: Friedensstimmung! Da war es wohl kaum durchführbar, große und gesamte Beratungen zu erzwingen, wie Sie sie für den Völkerbund vorsehen, und sich aus den kleinen Staaten einen Block gegen die Großen zu schmieden?

Wilson: Das war unmöglich, Präsident! Sie haßten sich alle untereinander, sie waren ja Verbündete! Frankreich hatte die Theorie des ihm verhaßten Preußen Clausewitz übernommen, daß der Friede die Fortsetzung des Krieges sei. Ich wollte umgekehrt die wissenschaftliche Erforschung als die rechte Grundlage. Ich war für das Exakte, Wirkliche, die andern sämtlich für Taktik, Diplomatie. Sie wollten die alte Methode, ich eine neue Gesinnung.

Washington: Und das ist der Punkt, Mr. Wilson! Eine neue Gesinnung! Sie kennen Lincolns Leben genauer als ich und wissen, daß dieser große Praktiker den Krieg mit den Südstaaten an der Spitze echter Pharisäer nur wegen Baumwolle führen konnte und nicht aus Menschenliebe zu den Sklaven; daß er den Mittelstaaten die Sklavenzüchtung erlaubt, die Freilassung, die seine Generäle nur aus Truppenmangel den Überläufern zusicherten, mißbilligt hat, daß die wahren Gegner der Sklaverei seine Wiederwahl bekämpft haben. Auf solchen politischen Umwegen hat Lincoln ein Ideal erfüllt, eine neue Gesinnung geschaffen, die er, bloß mit reinem Herzen, nie gewonnen hätte. Lassen sich wirklich so neue Grundsätze plötzlich proklamieren und die Gesinnungen dazu hernach fordern und suchen?

Wilson: Hat Washington etwas anderes getan? Sie haben einen Haufen roher Staaten mit ungebildeten Menschen auf einen Schlag gezwungen, Staatsbürger einer neuen Ordnung zu werden! Es ist eine Frage wie in der Ehe: muß die Liebe zuerst da sein oder kann sie sich durch die Ehe entwickeln?

Washington: Sie wird sich jedenfalls in rohen und ungebildeten Menschen nachträglich leichter entwickeln als in verfeinerten. Deshalb hatten wir es bei unserer Gründung leichter, eine neue Gesinnung zu fordern, als Sie bei der Ihrigen. Solche Epochen der wissenschaftlichen Methode, wie Sie es nannten, sind gar zu vorsichtig geworden. Nun, hat man wenigstens diese akzeptiert?

Wilson: Als ich zum ersten Male Sachverständige in eine der national umstrittenen Provinzen schicken wollte, – wissen Sie, was Orlando, der sogenannte Freiheitsmann aus dem Süden Italiens, mir da zurief? »Damit machen wir uns zu Untersuchungsrichtern, da müssen wir ja gradezu die Völker selber befragen!« Das eben ist meine Absicht, rief ich, und als an einem andern Tage England und Frankreich über die Grenzen ihrer sogenannten »Einflußsphären« in Kleinasien stritten, fragte ich zum allgemeinen Schrecken: Wissen die Herren denn auch, ob sie den dortigen Bewohnern angenehm sind?

Washington (lachend): Ich hätte – für mein altes Leben gern – dabei sein mögen! Es muß zuweilen ein Spiel für die unsterblichen Götter gewesen sein oder für einen dramatischen Dichter! Wie reagierten denn die Herren in solchen Augenblicken?

Wilson: Verschieden, nach Person und Lage. Clemenceau deutete auf die Photographien der verwüsteten Provinzen oder auf sein Register geschändeter Frauen. Einmal, im Kampf um die Rheingrenze, sagte er mir ins Gesicht: Sie sind eben prodeutsch! Als ich mich durch eine Wagenfahrt ins Bois beruhigt hatte und nach der Pause meine Grundsätze aufs neue breit darlegte, schüttelte er mir beide Hände und sagte: Sie sind ein großer und guter Mensch! Und das war sein Gefühl in diesem Augenblick, denn er hat eine gewisse feminine Art, und wenn man ihn einen Tiger genannt hat, so sagte man besser, eine Tigerin, die ihr Junges schützt. Gedankenreich und hochgebildet in allen Fragen des Staatslebens, ließ er sich von einer berauschten Liebe zu seinem Lande wahrhaft tragen. Kam er aber nicht vorwärts, so hetzte er die Presse gegen mich, wie dies eine freundliche Aufforderung bestimmte, die durch gewisse Hände zu mir kam und hier an Bord in meiner großen Dokumentenkiste ruht. Als er aber in der Krisis vom April zurückzutreten drohte, lenkte ich ein, denn ich wußte, nach ihm kam Tardieu oder Poincaré, die ihn wegen Lauheit bekämpften.

Washington: Und Lloyd George?

Wilson: Der machte es mit dieser unglaublichen Elastizität, die ihn als Redner und Taktiker an jedes Ufer warf. Er nahm »im Prinzip« alles an, was ich wollte, um dann »im einzelnen« alles abzulehnen. Oder er wechselte nur das Vorzeichen, und wenn ich mich weigerte, den Italienern Stücke der Türkei auszuliefern, so dachte er gleich: Wofür haben wir denn Afrika? und schlug »Entschädigungen« für etwas vor, was an sich grundlos war. Ich bin nicht sicher, ob in diesen sechs Monaten die Italiener mehr ihn oder er mehr die Italiener betrogen hat, glaube aber das letztere. Immer tat der Schlaue, als bemerkte er die Abgründe zwischen uns garnicht, und stimmte mir, aus Argwohn gegen Frankreich, manchmal zu. Als ich aber erkrankte und alles auf dem Spiele stand, verriet er mich sofort, und ich konnte ihn nur durch ein Kabel erschrecken, das dieses Schiff sofort nach Frankreich zurückbeorderte. Denn eigentlich hatte er immer Angst: zuerst vor seinen Wählern, denen er zu viel versprochen hatte, zuletzt noch vor den Deutschen, sie würden vielleicht nicht unterschreiben. Ja, sie waren mir an Dixhuitième überlegen, beide: an Finessen, Korruption, Spitzeln. Ich habe das nie stärker gefühlt, als wie ich krank lag und vor dem Fenster in dem kleinen, kaum etwas grünen Garten unsere Schildwache immer auf- und abschreiten sah: Du bist doch ein Gefangener! dachte ich und hörte wieder auf die Stimmen der Beratenden im Nebenzimmer, bis Oberst House eintrat und meine Entscheidung in einer akuten Frage anrief.

Washington: Mrs. Wilson hat Sie stets beraten?

Wilson (lebhaft): Immer! Haben Sie nicht ähnliche Erfahrungen zu Ihrer Zeit gemacht?

Washington (zögernd): Ich – habe meine Frau fast nie zu mir gebeten, im Kriege und beim Frieden.

Wilson: Sie halten solche Einflüsse für schädlich, Mr. Washington?

Washington: Das sage ich nicht. Nur – Frauen sind am Ende Frauen und Einflüssen der Atmosphäre ausgesetzt.

Wilson: Das waren wir alle! Siebeneinhalb Millionen Leichen riefen Rache aus der Erde, zwanzig Millionen Verwundete krüppelten umher, vier Jahre Mord, Raub, Notzucht, Völkerrechtsbruch hatten eine Psychose erzeugt, die man nicht in ein paar Monaten bannen konnte. Balfour war vielleicht der einzige, der Geist, Ruhe und Humor genug besaß, um überlegen und gerecht zu bleiben, aber er wird vom Zweifel regiert, und ich brauchte Menschen, die glaubten.

Washington: Oder solche, die die Macht hatten. Wenn ich Ihnen so zuhöre, in dieser wunderlich warmen Nacht auf See, und sehe Sie vor mir, bleich, fiebrig, enttäuscht nach so viel Kampf, so festigt sich in mir wieder das Gefühl: daß man schon einen einfachen, nun vollends einen Weltfrieden größten Stils nur mit einem siegreichen Schwert erkämpfen kann. Sie aber hatten nur den einen Drachen erschlagen, der andere fauchte Gift und Rache, und es war gewiß Ihr einziger Fehler, daß Sie neben dem mächtigen Gegner im Kriege den mächtigen Gegner im Frieden verkannten, der sich nur pro forma noch Ihr Verbündeter nannte. Bis heute ist jedes wahre Gut den Menschen mit Gewalt aufgezwungen worden, ich habe es mit unserer Einigung, Lincoln hat es mit der Befreiung der Sklaven, die gar nicht frei sein wollten, nicht anders gemacht. Vielleicht war Ihre militärische Macht nicht groß genug, um Völkerbund und Abrüstung zu erzwingen.

Wilson: Die Militärs! Das war das Schlimmste, was mir in jeder Frage entgegengrinste! Noch ehe ich an dieser Küste landete, war ich von ihnen schon besiegt: so weit über bloße Kriegsmaßnahmen hinaus hatten sie ihren Waffenstillstand faktisch erstreckt und rasch noch ganze Provinzen besetzt, bevor ich hier sein konnte. Und sollten sie jetzt, wo die Hauptgefahr vorüber war und es erst recht frisch und fröhlich losgehn mochte, jetzt sollten diese allmächtigen Herren plötzlich abtreten und schweigen? Daß sie meine Ideen verachten, ist Selbsterhaltung: sie zerstören ihnen ja das Metier. Daß sie aber beständig neue Kriege anzettelten, nahm mir die halbe Kraft, die sich nun im Kampf gegen sie aufrieb. Ein englischer General errichtete in Westrußland eine Weiße Regierung, ein italienischer drang auf eigene Faust an der Adria vor und in Kleinasien, ein Amerikaner hat sogar im Kohlenrevier die Tschechen angeführt, alle Wochen kamen Gutachten der Generalstäbe und bewiesen, Mitteleuropa könne nur durch neuen Krieg gerettet werden.

Washington: Und Foch? Dem Manne hätte ich doch gern einmal die Hand geschüttelt! Ist es wahr, daß er jeden Morgen zur Messe geht?

Wilson: Jedenfalls ohne innere Erleuchtung. Denn dieser große Heerführer ist doch borniert wie nur irgend ein preußischer General. Als er mir nichts dir nichts die Amerikaner nach Polen führen und mit ihnen die Bolschewisten vernichten wollte, mit denen sich die Herren gegenseitig Schrecken einzujagen beliebten, da habe ich es denn doch verhindert und offen im Rate gesagt, die Militärs wären verantwortlich für den Unsinn von 1815 und 70. Die Furcht vor Deutschland ist bei diesen, doch sicherlich tapferen Männern noch so groß, daß sie zugunsten der Sicherheit sogar noch auf ein Stück Reparation verzichten wollten. »Der deutsche Rhein muß Frankreichs Kampfruf werden«, sagte der Marschall. Er nannte den Rhein »eine hervorragende Manövrierbasis für Gegenoffensiven«, die er nicht entbehren könne, und den Völkerbund buchstäblich »eine ständige Militär-Allianz zwischen den drei Staaten und Amerika«. Denken Sie sich meine Gefühle bei solchen Reden! Sie blockierten jeden Versuch, Deutschland aufzuhelfen, und als wir den Marschall wenigstens in Paris zurückgehalten hatten, spielten seine Leute in Bukarest und Wien sein Spiel und haben durch den Vormarsch nach Ungarn die Rote Episode dort mit Absicht herbeigeführt, um sie niederzuschlagen.

Washington: Wenn ich Ihre mit meinen Erfahrungen vergleiche, so scheint es schließlich doch praktischer, daß ein Politiker General werde, wie dies mein Fall gewesen, als daß die Generale Politiker werden, wie dies zu Deutschlands Unheil geschah, und, mit anderen zertrümmerten Untugenden Preußens, jetzt von den Siegern nachgeahmt zu werden scheint. Und so blieb Ihnen keine Macht als Stütze?

Wilson: Meine einzigen Verbündeten: die Arbeiter der Welt, waren gespalten, denn ich war ja in Paris der einsame Sonderling, der mit gleicher Leidenschaft Militärs und Bolschewisten bekämpfte. Immerhin war es ein moralischer Trost, wenn ich den Labour Herald aufschlug, der einen ganzen Monat lang über die erste Seite in Riesenlettern druckte: »Don't be wangled, Wilson!« Nur mir strömte das Volk auf der Straße zu, und sie schrieben, ich hätte für ihre Sehnsucht die rechten Worte gefunden. Als Jaurès' Mörder schändlicherweise freigesprochen wurde, führten die Arbeiter von Paris in endlosem Zuge durch die Avenuen ihre roten Fahnen, auf denen stand: »A bas Clemenceau! Vive Wilson!« Ich lag an diesem Tage krank in meiner Wohnung, und es war mir als Gast peinlich genug, als ich's hörte. Gut, daß er es auch nicht sah, denn er lag ebenfalls fest, an den Folgen des griechischen Attentates.

Washington: Sonderbar: ich war so viele Jahre Soldat und blieb immer unverwundet, – aber die beiden Matadore der Pariser Konferenz liegen auf dem Rücken, einer von einer Kugel zusammengeschossen, der andere von Aufregung. Ja, die Kultur ist fortgeschritten in diesem Jahrhundert, seit wir dran waren! Seien Sie zufrieden, daß es Ihnen nicht wie Lincoln gegangen ist.

Wilson: Das steht mir noch bevor, dies Schiff führt mich ja erst heim, – und Sie haben vorhin bittere Worte über die Dankbarkeit der Nationen gebraucht.

Washington: Sie rechnen auf einen Revolver beim Empfange, Mr. Wilson?

Wilson: In Deutschland setzt eben eine Legende ein: das Volk habe der siegreichen Armee einen Dolchstoß in den Rücken versetzt. Unwahr, aber ein großes Bild, es stammt aus einer schönen Sage der Deutschen. Als ich das las, fühlte ich mich getroffen.

Washington: Ich wünschte, Sie sprächen die Unwahrheit. Aber was ich hörte –

Wilson: – ist nur ein Teil. Wahrhaftig, unser Volk oder doch seine Vertreter haben mir den Dolch in den Rücken gestoßen! Im Senat fing es schon beim Waffenstillstand an. Ein Präsident von Amerika, der amtlich übers große Wasser fährt? Die Welt geht unter, dachten die Herren, und ich wollte doch nur, sie ginge wieder auf. Nur keine Welt-Allianz! Die Monroe-Doktrin ist in Gefahr! Europa hatten meine Grundsätze im Sturm genommen. Amerika, kaum daß es unter meinem Zeichen gesiegt hatte, sprang störrisch ab. Neuwahlen hatten den Kongreß zu meinem Gegner gemacht. Lodge forderte von Deutschland Kriegsentschädigungen und für uns einen gebührenden Anteil. Johnson rief aus: Nur nicht der Menschheit dürfen wir dienen, nur Amerika! Borah verweigerte die hundert Millionen Dollars, die der edle und kluge Hoover für die hungernden Völker Europas forderte. Unter solchem Gezänk fuhr ich ab. Sofort setzte man eine Kampagne gegen den Völkerbund in Szene. Während ich in Paris in meinen Verbündeten vor mir meine Todfeinde erkennen mußte, verbündeten sich hinter mir meine feindlichen Landsleute und winkten über meinen abgewandten Kopf weg nach Europa: Laßt doch den einsamen Narren, er hat ja nichts hinter sich! Man wollte mich in der Mitte zerreißen. Um meine Ideen zu retten, blieb mir nichts übrig, als nach drei Monaten wieder umzukehren.

Washington: Furchtbarer Entschluß! Die Schlacht auf ihrem Höhepunkte zu verlassen, um den Feind im Rücken zu bekämpfen!

Wilson: Sie begreifen! Als ich nach Hause kam, schrie halb Amerika: er verrät unsere Grundsätze! Washington hat bei seinem Abschiede warnend gerufen: Meidet verstrickende Bündnisse! Seit hundert Jahren ist Amerika glücklich, weil es Europas Finger nie in seine Sachen stecken ließ, noch seine Finger in Europas Sachen steckte. Freilich, rief ich zurück, weil jedes Sonderbündnis gefährlich ist, wollen wir einen allgemeinen Bund, wir wollen Monroes zur Welt-Doktrin erweitern. Aber sie forderten Zusätze zur Völkerbund-Akte und die Freiheit zum Rücktritt. Die Garantien für Frankreichs Sicherheit, die mir Clemenceau als viel zu schwach vor die Füße geworfen, schienen Amerika viel zu stark. Man zwang mich zu Konzessionen. Ich jagte auf diesem Schiffe zurück nach Paris. Wissen Sie, mit welchen Worten man einen meiner Begleiter empfing?

Washington: Erzählen Sie!

Wilson: »Bon jour, Ihr Völkerbund ist ja nun tot!« Denn kaum war ich fort, da hatten sie schon ihr Goldenes Kalb wieder errichtet, hatten unter den empörendsten neuen Opfern für die Deutschen den Waffenstillstand erneuert und faktisch einen Kongreß nach abgeschlossenem Frieden schon geplant, um dort den Völkerbund »und andere mehr allgemeine Dinge« zu beraten! Ich kämpfte aufs neue, aber die vier Wochen Fortsein und der stete Rückblick nach der Heimat schwächten meine Stellung. Dazu Lansing! Nüchtern, furchtsam, konservativ, von Anfang an als reiner Nationalist mein Gegner.

Washington: Ich denke, Sie hatten den Oberst House, Ihren Freund?

Wilson (verlegen): – Ein so vortrefflicher Mensch, der alles hat, was mir fehlt: gutmütig, wie nur ein Mann aus Texas, Menschenkenner, ohne Ehrgeiz; doch auf sich selbst gestellt zu optimistisch und nicht stark genug. Die Berichte von Trotzkis neuer Armee, die Drohungen der Italiener, abzureisen, der Wunsch, um Gottes willen so rasch wie möglich Frieden zu machen, – und dann gewisse private Verstimmungen –

Washington (ablenkend): – Sie haben Schicksale hinter sich, Mr. Wilson. Sie haben am Sterbebette Ihrer ersten Frau die warnenden Noten an Deutschland schreiben müssen. Wenn Sie die Welt verkennt, suchen Sie Ruhe in Ihrem Gewissen. Sie haben sich nichts vorzuwerfen.

Wilson (aufspringend): Falsch! Ich breche fast zusammen vor Selbstanklagen! Wollen Sie alles wissen? Ich hätte mich schon im Kriege um die Geheimverträge kümmern müssen, da es Lansing nicht tat! Ich hätte Lansing entlassen müssen, da er gegen die Selbstbestimmung der Völker war! Mit meinem einseitig gerichteten Denken – o, ich weiß Bescheid über Wilson! – hätte ich mich weniger vereinsamen, mehr Menschen vorlassen, die Presse in Paris empfangen müssen! Ich hätte nicht zurückreisen dürfen! Und wenn ich reiste, im Flugzeug hin und her, alles in zwölf Tagen, statt in dreißig! Mein Körper hätte nicht zusammenbrechen dürfen, ich hätte zwanzig Jahre jünger sein müssen! Ja, jünger! Ich hätte die Phantasielosigkeit der Staatsmänner Europas in Rechnung setzen und wissen müssen, daß sie es nicht sind, die die Völker in Wahrheit vertreten, mit denen einzig ich meinen neuen Bund schließen wollte! Und wenn alles mißlang, so hätte ich im April, trotz des Vorwurfs der Desertion, mit meinen Leuten abfahren, die ganze Konferenz lieber scheitern lassen müssen, statt diesen brutalen und dummen Vertrag zu unterzeichnen, heute mittag, in dem gräßlichen Spiegelsaale dieses Sonnenkönigs, der zu diesen Hunderten von Artikeln der einzig geborene Pate war!

Washington (steht auf): Es ist eins, und wenn auch die Verfassung der Geister weit realistischer ist, als man sie sich hier vorstellt, und weniger romantisch, so wird es doch Zeit, in meinen goldenen Rahmen zurückzukehren. Jeder kennt seine Unzulänglichkeiten am besten, Sie aber verfallen ins Extreme. Ihnen brennt vor den Augen nur das Bild dessen, was Sie schaffen wollten. Wir von drüben, nur durch ein Lächeln von Euch unterschieden, haben die Langsamkeit menschlicher Vervollkommnung erkannt und rühmen jeden Schritt. Nach den Quellen meiner Kenntnisse werden Sie nicht forschen; lassen Sie mich eine Gegenliste aufstellen! Ich will von allem schweigen, was Sie gegen Italien und andere Staaten durchgesetzt haben, und nur von Deutschland sprechen, auf das es schließlich vor allem ankam:

Ohne Ihr Eingreifen wäre der Krieg mit Rußland wieder aufgenommen, Deutschland wäre früher oder später Kampfplatz geworden und sähe vielleicht schon heute aus wie Frankreichs Norden. Ohne Sie hätten die Alliierten den Rhein zur Grenze gemacht, die Saar und ganz Oberschlesien einfach genommen, die Rheinrevolte ausgerufen, die Ruhr besetzt: sie hätten, mit einem Worte, einen Frieden diktiert wie die Deutschen in Brest-Litowsk. Ohne Ihre Ideen während dreier Jahre und Ihre Tapferkeit während sechs Monaten wäre nie ein Völkerbund begründet worden, und wenn er heut noch schwach ist und die großen Gegner noch nicht einschließt, so wird er morgen die Glieder regen und in einem Jahrzehnt stark genug sein, um überhastete Entschlüsse wie die des Ersten August hinauszuzögern, bis sich eine wütige Welt beruhigt hat und verständigen will. Sie haben ein neues Zeichen aufgestellt – Sie allein in diesen Jahren, neben dem faszinierenden, aber gefährlichen der Russen –, ein irdisches Ziel, das zugleich einem Ideale sich annähert, nach dem die Elite, nach dem die Jugend dieses Erdteils blicken kann! Und wenn die Vereinigten Staaten von Europa eines Tages dennoch kommen werden, so wird man Woodrow Wilson ihren ersten Gründer nennen, nicht anders als man mich den Gründer unseres Völkerbundes nennt, obwohl auch ich nur die ersten Schritte tat. Denn Sie waren der erste, der den Traum von Dichtern und Philosophen in ein politisches Programm verwandelt und mit Machtmitteln verteidigt hat. Warten Sie nur erst einmal ein Jahrhundert – und Ihre Enkelsöhne werden staunen! Und nun gehen Sie zu Bette, Mr. Wilson, und schlafen Sie wohl!


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