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Lenin

Lenin

»Ein einziger Techniker ist zehn Kommunisten wert.«

Kahl und grau, in dumpfer Straßenenge, blickt ein schmales, hohes Arbeiterhaus aus einem Dutzend bleicher Fenster. Unerreichbar fern scheint die Bläue des Zürichsees, mit seinen ruhenden Villen in alten gepflegten Parks, und liegt doch nur ein paar tausend Schritte dahin, um ihn gelagert der Kranz blauer Berge mit weißen Gipfeln, ernst und heiter, besonnt und frei. Wer aus dem Fenster über der Wirtschaft zum »Jakobsbrunnen« blickt, sieht davon nichts, sieht nur das verstörte Antlitz eines gleich düsteren Hauses. In dem einfenstrigen Zimmer, das der Verbannte mit seiner Gefährtin zwei Kriegsjahre lang bewohnte, stehen zwei hölzerne Betten, zwei rohe Tische, Schriften, Bücher, Zeitungen überfallen alles, und der Rauch von Tee und Tabak schwelt durch die Glut des kleinen Eisenofens.

Acht Monate, nachdem er dies Exil verlassen, saß Lenin im Kreml zu Moskau, der Festung, Kirche und Palast in Einem bedeutet, im Mittelpunkt der Hauptstadt jenes Landes, das ihn einst verfolgt, verurteilt hatte, allmächtig, als ein neuer Zar. Säle und Galerien standen ihm offen, rauschende Bäder und glänzende Musiken, von Dienern eine Legion, um ihm den Traum des armen Kesselflickers aus der Komödie zu erfüllen. Aber er wählte, da er hier zu wohnen durch politische Symbolik genötigt war, ein paar Zimmer aus, nach einem der inneren Höfe gelegen, Wohnzimmer mittleren Maßes, um dort mit den Seinigen zu leben, zu essen, zu schlafen. Nie hat einer seiner Todfeinde, nie hat der hundertfältige Bericht haßerfüllter Gegner geleugnet, daß dieser Mann für sich nichts braucht, wünscht oder nimmt außer dem Nötigen.

Hier liegt ein Teil seines Geheimnisses, der erste Schlüssel seines Erfolges: so klar und kalt auf dem Gipfel der Macht zu bleiben, ist nur einem Manne der reinen Idee gegeben, zugleich einem vollen Realisten, den keine Phantasie verführt. Lenin ist sicher der lauterste, doch zugleich der kälteste Fanatiker unserer Epoche.

 

52 Jahre war er kerngesund. Vertrieben, versteckt, geflüchtet, verschollen; in der Bienenarbeit des Tages, im Getümmel der Kongresse, wartend, geschlagen, wiederkehrend, aufbrechend, schließlich am Steuer: immer war er gesund, immer in Zuversicht, nervenlos, immer lachte er mit Zähnen und Augen, stets gläubig, völlig ohne Furcht. Das ist ein Mann ohne lähmende Leidenschaften, den deshalb jene einzige Leidenschaft beflügelt, die Idee seiner Sendung. Er jagt und wandert gern, um sich zu erholen, geht freundlich um mit Kindern und mit Tieren, naiv ohne sentimentalische Hemmung, bauernschlau ohne Tücke; völlig gutartig und doch zu jeder Grausamkeit bereit gegen Zerstörer oder Störer seiner Ideen; heiter, bescheiden, ohne Prätention oder Eitelkeit, aber in seiner Sache drakonisch wie nur je ein Diktator.

Wenn er in seinem kahlen Arbeitszimmer im Kreml, das nur ein paar Landkarten beleben, dem Besucher gegenübersitzt, dieser untersetzte Mensch mit dem sommersprossigen, etwas faunischen Gesicht, und er kneift eins von diesen schrägen Tatarenaugen zu, hinter denen Ironie und Kampflust warten, dann scheint das andere an Spähkraft zu gewinnen, und je weniger er wichtig tut, je mehr er hört und lernt, statt zu reden, um so gewisser bekommt er den andern in seine Gewalt. Immer wird er in der Verhandlung der Unermüdlichere bleiben, mit seiner nie erblassenden Gesundheit, mit seiner Fähigkeit, den Schlaf sich abzubefehlen, mit seinem breiten Lachen.

Diese Physis, aktiv und produktiv als Fleiß und Ausdauer, die Freiheit dieses Lachens ist der zweite Schlüssel zu seinem Wesen, zu seinem Sieg.

 

Der dritte liegt in der Kälte seiner naturforschenden Begabung. Als Kritiker seiner Epoche, seiner Freunde, seiner eigenen Taten ist er von Anbeginn und bleibt bis zu seinem Ende klarer Historiker, er gleicht dem Arzt, der sich mit Interesse Puls, Temperatur und alle Zeichen der Krisis abhorcht. Ein unermüdlicher Kontrolleur seiner selbst und der Bewegung, mit der er rotiert, wird er vom Feuer des Augenblickes nie, beinahe niemals hingerissen, und wenn in entscheidenden Stunden die Seinen schwärmten oder sich empörten und aus einer Art von hoher Trunkenheit neue Kräfte des Wirkens gewannen, analysierte Lenin nur die Möglichkeiten.

Aus diesem Grundzug seines trockenen Temperamentes steigen zwei Eigenschaften, gefährlich die eine, die andere produktiv.

Als klarer Geist glaubt er nur an den Versuch: er wird Experimentator und fragt, um sich und der Welt die Richtigkeit seiner Ziele zu erweisen, nach den geopferten Wesen am Wege so wenig wie der Arzt bei seinem Tierversuch: beide wollen Menschenglück, es koste, was es wolle, und die Tiere sind nicht Wesen zweiter Klasse. Da Lenin selber bei dieser furchtbaren Verantwortung gegen die Mitmenschen sein eigenes Leben mit Mut und Entbehrung eingesetzt hat, so prallt der Toren-Vorwurf einer monomanen Selbstsucht vom Panzer dieses Kämpfers ab. »Ich kenne ein Augenpaar«, sagt Gorki von Lenin, »in dem die brennende Qual über den Terror für immer erstarrt ist.«

Die Gefahren dieser experimentellen Staatskunst werden teilweise ausgeglichen durch eine andere, naiv-zynische Folge seines Forscherwesens: als Rechner ohne Leidenschaft ist er bereit zu jedem Kompromiß, das ihm die Stunde gebietet, und bleibt gegen jeden Einwand der Ideologen stichfest. »Kompromisse grundsätzlich ablehnen«, schreibt er, »ist Kinderei … Man muß nur verstehen, Umstände und konkrete Bedingungen eines jeden Kompromisses zu analysieren«, und sein Freund Lunatscharski durfte diesen Mann, den sich Europa als verblendet vorstellt, wohlverstanden einen »genialen Opportunisten« heißen.

Denn wirklich erscheint Lenin heut neben Lloyd George als der stärkste politische Realist, und während er in Tolstois Lande Tolstois soziale Traumwelt zu verwirklichen trachtet, wird er in allem sein geistiger Widerpartner. Ebenso amusisch wie unchristlich, will dieser Atheist und Gegner sogar der positivistischen Philosophie in seinem Staate die Verkünder der Großen Revolution einführen; in diesem Punkte ähnelt er seinen westlichen Vorgängern.

Auch sonst entbehrt sein Wesen manchen russischen Zuges: dieser Realist ist weder romantisch noch metaphysisch gestimmt wie seine Brüder. Dafür hat er, nach Trotzkis Worten, eine echt russische, bis zur Genialität gesteigerte Bauernschlauheit und auch sein Gegner Axelrod begründete seine Suggestion mit dem Gefühl: »Es ist etwas an ihm vom Geruch der russischen Erde.«

Auch das gewisse Maßlose scheint Rasse in ihm, wie es Iwan und Peter übten. Denn gerade an Peter den Großen erinnert Lenin in der Entschlossenheit, dies Volk plötzlich aus seinem Halbschlaf zu erwecken, diesen Morgenländern seine späten Erkenntnisse aufzuzwingen und sie durch ein System des Abendlandes aus dem unreifsten sogleich zum fortgeschrittensten Volke der weißen Rasse zu entwickeln. Beide werden vom europäischen Idealismus und nationaler Tatkraft verführt, Jahrhunderte zu überspringen, und es gelingt ihnen deshalb zunächst kaum mehr als eine erstaunliche Fassade. »Was ist Kommunismus?« fragte Lenin und gab die großartig-groteske Antwort: »Die Sowjet-Republik plus der Elektrifizierung.«

 

Ein halbes Jahrhundert nach Marx, Lassalle und Bismarck, 1870 ist Wladimir Iljitsch, der heute Lenin heißt, in einem Nest an der Wolga geboren, aus dem kleinen Mittelstande, den schon sein Vater, zum Leiter mehrerer Volksschulen aufgestiegen, durch den Rang eines Staatsrates zu überwinden suchte. Als Knabe Vgl. Henri Guilbeaux' fesselndes Werk über Lenin. erlebt er die Ermordung Alexanders II., als Student der Rechte in Kasan die Folgen dieses anarchistischen Vorstoßes und teilt mit seinen Kameraden in natürlichem Freiheitsdrange eines eigensinnigen Wesens Groll und Auflehnung gegen dies sklavenhafte Leben unter der Knute. Der ältere Bruder, Vorbild und Lehrer, erster Übersetzer von Marx und Hegel, in die er den Jüngeren einführt, plant in Petersburg ein Komplott gegen den neuen Zaren, sechs Jahre nach dem letzten Attentat, wird aber am Morgen des Anschlages mit den Seinigen auf der Straße verhaftet, dann vor Gericht gestellt und aufgehängt. Es war der letzte Versuch des Terrorismus.

Lenin ist siebzehn. Der Donnerschlag, der zugleich das stille Leben der Familie draußen in der Provinz zerstört, mußte den Jüngling entweder von Auflehnung und aktivem Widerspruche ein für allemal wegschrecken – oder er mußte ihn mit schicksalsvoller Notwendigkeit zum Rächer seines Bruders machen, den er geliebt, von dem er Entscheidendes erfahren hat. Mut und Blut reißen ihn zu dieser Aufgabe hin, aber Kälte und Vernunft, durch das Grauen dieses brüderlichen Idealisten-Geschickes geschärft, lassen ihn erkennen, daß man in mächtiger Vorarbeit, Jahrzehnte, vielleicht ein Leben lang vorbereiten muß, was nicht auf einen Schlag gelingen konnte. So wächst mit historischer Logik der Bruder des letzten destruktiven Terroristen Rußlands zum ersten konstruktiven Sozialisten Rußlands empor. Marx ist das Testament seines Bruders; in ihm sieht er die Waffe des Geistes, nachdem die Bombe versagt hat.

Doch zugleich ersteht ihm durch Marx ein zweiter Feind.

Er, der im Sinne der älteren russischen Revolutionäre zuerst nur gegen die Krone kämpfen wollte, lernt jetzt im Bürger den andern Gegner kennen, dessen Wunsch nach Verständigung, dessen scheinfreie Lehre ihn empört. Ein neuer Weg zum alten Ziele tut sich ihm auf, und er zieht aus, das Wesen dieser Klasse zu erkennen, durch die allein ihm von nun an der Umsturz möglich, für die allein er ihm geboten scheint.

Jahrelang reist er durch Rußland, studiert den Arbeiter – den Bauern trug er intuitiv im Herzen –, immer notierend, das Innerste und Äußerste dieses Lebens, Naturforscher wie Zola, als er etwa zur gleichen Zeit in Belgiens Minen und Hütten »Germinal« vorbereitete. Doch statt eines Romanes schreibt Lenin Flugblätter und Broschüren, und während er selbst studiert, sucht er zugleich zu erwecken: im kleinsten Kreis die größte Pflicht zu entwickeln, in konzentrischem Wachstum.

Nicht als Theoretiker, Literat und Redner, wie die meisten seiner Genossen hat Lenin angefangen; als Erforscher der Menschenseele in ihren ärmsten Bedingungen. Nicht wie Marx baut er in seinem Studierzimmer ein System, noch errafft er wie Lassalle sich fliegend die Art der Menschen, auf deren Schultern man zur Macht emporsteigt. Als sammelnder, prüfender Geist wird er langsam ein Kenner der Massenseele und ersetzt sich durch Studium die schmerzliche Erfahrung des geborenen Proletariers. Lenin, der sich im einzelnen in Menschen oft getäuscht hat, erspürt fehlerlos Arten, Willen und Motive der Massen, denn er hat sich aus tausend Versuchen am einzelnen das Gefühl des Typus erworben.

Erste Verbannung: von der Universität in Kasan. Nun wird er in der Hauptstadt und im ganzen Reich beargwöhnt von den Augen der zaristischen Polizei, die er später in demselben Reiche mit unverminderter Schärfe, seine früheren Zwingherren, ergreifen lassen wird. Jetzt wird von ihm und seinen Freunden, vierzig Jahre nach dem ersten Deutschen Arbeiterverein, zu einer Zeit, wo die deutschen Sozialisten schon als Großmacht im Reichstage sitzen, noch sehr beklommen das gleiche in Rußland versucht. Ein erster Streik ist die Folge: Unterdrückung, zweite Verbannung, 30jährig, nach Sibirien.

 

Dieses Sibirien, das wir uns grausiger malen, als es vielen politischen Verbrechern erschien, wird auch für Lenin eine Art geistigen Kurortes, eine Pause der Erholung, in der er Genossen seiner Gesinnungen, vor allem Martow, kennen lernt, mit denen man erwägt und plant. Ähnlich in den Folgen, wenn auch in den Motiven verschieden, wird diese Zeit für ihn, was das Gefängnis auf der Wartburg für Luther war: jetzt werden die Probleme nachgeprüft. Sein erstes Buch kommt unter dem Decknamen Tulin heraus: schlicht, sogar simpel, ohne viel Bilder und Gleichnisse, sinnfällig wie alle folgenden Schriften. Praktisch lernt er aus dieser gewaltsamen Vertreibung von seinem Wirkungsfelde: noch vorsichtiger, noch geruhsamer muß man die Befreiung vorbereiten, an der Peripherie, im Auslande beginnen, »Techniker der Revolution«, Berufs-Revolutionäre heranbilden, nur keine Schwärmer, Idealisten und Dilettanten.

»Mögen unsere Kämpfer«, schreibt er, »das strenge Wort Techniker gestatten, denn wo ich von mangelnder Vorbereitung rede, dort richtet sich der Vorwurf gegen mich selber. Ich habe mit Menschen gearbeitet, die sich sehr weite und entlegene Ziele gesteckt hatten, und wir litten schmerzhaft unter dem Gefühl, nur Amateure zu sein. Je mehr ich mich dieser Erkenntnis schäme, um so bitterer fühle ich gegen die falschen Sozialisten, die bei ihren Reden nicht begreifen, daß man den Revolutionär nicht zum Amateur erniedrigen dürfe.«

Zum ersten Mal im eigenen Kreise wird Lenin verhöhnt, und aus dem Gefühl des richtigen Weges, doch auch aus eingeborener Autokratie wächst die Gegnerschaft gegen die gemäßigte Sekte rasch in ihm zu einem Haß, der bald jeden Haß gegen den Zaren beschattet.

Rückkehr aus der Verbannung. Enger zieht sich der Kreis der Gegner: Abkehr von den Sozialrevolutionären, die davor warnen, die radikalen Bürger aufzuschrecken, weil man auf diese Art gar nichts erreiche. Spaltung der Partei auf dem Kongreß von 1903, weil Lenin für das Statut die Pflicht jedes Mitgliedes zur aktiven Tätigkeit, nicht bloß zum Beitrag fordert. Was als Nuancenstreit um einen Paragraphen erscheint, ist in Wahrheit die entscheidende Frage der Leidenschaft: die Minderheit will sich mit Geld und Gesinnung begnügen, Lenin mit der Mehrheit zeigt die Faust – buchstäblich – auf der Tribüne. An die Wand des Saales fällt der Schatten eines Diktators. Nun scheiden sich die Protestanten von den Orthodoxen, die an die Erreichung des Heiles nur durch Werke glauben.

Lenin sieht sich von den Freunden seiner Verbannung, von Axelrod, Martow, selbst von dem persönlich verehrten Plechanow, dem alten Führer, verlassen, von Trotzki als »Zerstörer der Partei« bezeichnet, jedoch mit einem Zusatz, der schon jetzt das Gemisch von Bewunderung und Eifersucht beleuchtet, das diesen Antipoden der Seele noch heute gegen jenen zu erfüllen scheint: »Lenin«, schreibt damals Trotzki nach dem Kongresse, »kam zu dem Schluß, daß er die eiserne Hand sei, er allein. Und er hatte recht. Nach der ›Logik‹ des Belagerungszustandes, auf dem er bestand, mußte er die Vorherrschaft haben.«

Lenin erlebt diese Trennung von den alten Freunden entschieden und persönlich: Trennung von Werk und Leben gibt es nicht. Mit Flüchen wütet er in seinen nächsten Schriften gegen diese »Renegaten, Fälscher, Verräter,« die doch jahrelang in den Kerkern des Zaren für dieselbe Sache geschmachtet hatten; auch gegen Kautsky, den Reinsten von allen.

Oktober 05, der Riesenstreik führt zum Straßenkampf, in den Bittgang der Arbeiter schießt die Garde, der erste Sowjet-Rat bildet sich von selbst in den Fabriken, genau zwölf Jahre vor Errichtung der Sowjet-Republik. Doch wo ist in dieser Stunde Lenin, der dies alles als Führer mit vorbereitet hatte?

Dort, wo der General Bonaparte am 18. Brumaire bis zum Abend war, nämlich unsichtbar. Mit falschem Bart steht er jetzt in der Ecke einer Galerie, um den Versammlungen zuzuhören, die die gemeinsame Sache entscheiden. Ihm hat die Partei verboten, sich zu zeigen, um ihn zu erhalten. Dort steht er in seinem falschen Bart, muß schweigen, stampft mit dem Fuß und denkt: Wenn ich reden, handeln könnte! Trotzdem wird er entdeckt, muß fliehen, zum dritten Mal, jetzt nach Finnland, wird wieder aufgespürt, entweicht aufs neue, nach Paris, nach Krakau: unaufhörlich schreibend, druckend, auf dünnstes Papier, das man nach Rußland schmuggeln kann. Was hat ihn der Aufstand gelehrt?

Als Naturforscher hat er alle Daten wie ein Biograph und wie ein Soziologe gesammelt, um sich und andern zu beweisen, was man in Zukunft anders machen muß. Warum haben Soldaten auf das Volk geschossen? Weil es Bauernsöhne waren. Also muß man den Feudalen das Land abnehmen und den ärmsten Bauern geben. Wieder ist die Begründung einer neuen politischen Taktik mehr psychologisch als wirtschaftlich gedacht. Wieder bleibt er beinah allein.

Doch während seine Forderungen im großen wachsen, nimmt er im kleinen jedes Mittel an und erzürnt seine Freunde gerade durch eine Elastizität, die ihn von nun an zum Politiker macht. Warum die Duma boykottieren? Ist sie nicht ein Feld der öffentlichen Anklage? Immer mehr Genossen trennen sich von ihm. Lenin wird mit Trotz und Willen einsam.

 

Der Weltkrieg bringt mit einem Schlage stärkste Hoffnung, schwerste Enttäuschung. Vielleicht hat in den entscheidenden Tagen niemand heißer gewartet und tiefer entsagt als diese kleine Freischar wahrhaft europäischer Geister, die ihre Hoffnung zerbrochen sah. Denn als die Internationale in die Luft flog, das war die erste, man darf sagen, die schrecklichste Explosion dieses Dynamitkrieges. Alles rennt zu den Fahnen statt zu der Fahne, jeder verrät den Bruder, dem er den Kampf gegen die soldatischen Gebieter seines Landes gelobt hatte.

Lenin mit ganz wenigen faßt sich nach dem Schlage, wendet sich ab von der schwankenden Haltung Tscheidses, verhöhnt die patriotische Phrase Plechanows und die deutschfeindliche Krapotkins und entwirft sofort, September 1914, ein internationales Programm, das den Überblick eines Europäers erweist:

»Für uns wäre es noch das geringste Übel, die Niederlage des Zaren zu erleben, da seine barbarische Regierung die größte Zahl von Nationen unterdrückt. Parole dieses Krieges kann nur die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa sein.. Doch müssen wir der Menge einhämmern, daß diese Parole ohne Sturz der deutschen, österreichischen und russischen Monarchie Lüge wäre und Sinnlosigkeit … Die beiden Gruppen kriegführender Länder sind aller Raubtaten und Scheußlichkeiten in gleichem Maße fähig, die dem Kriege unfehlbar entspringen. Um aber die Arbeiter besser zu betrügen und von dem einzigen Freiheits-, nämlich dem Bürgerkriege, abzulenken, sucht die Bourgeoisie aller Länder durch lügnerische patriotische Phrasen das Ansehen ›ihres‹ nationalen Krieges zu festigen und das Volk zu überreden, daß sie nur zur ›Befreiung‹ aller Völker den Sieg sucht, natürlich außer dem eigenen.«

Diese Wahrheiten, in denen kein Wort von Kommunismus steht, au dessus de la melée verzweifelt und mutig hinausgeschrien in die betörte Menge der Brüder, zeigen einen Mann, der mitten im Seesturm, früher als die meisten, die rettende Küste wiedererkannte. Dreißig Monate sitzt er mit solchen Gedanken in dem dumpfen Arbeiterzimmer in Zürich und in ein paar ähnlichen Schweizer Asylen, die wenig besser waren, fast ohne Geld, fast ohne Wirkungsfeld, nur horchend, vorbereitend, in Kiental und Zimmerwald die Vorhut sammelnd.

Endlich, Februar 17, dringen die erhofften Schläge aus Osten an sein Ohr. Der Zar gestürzt! Aber von wem? Von unseren Todfeinden, den Demokraten?

Lenin fiebert; mit ihm der kleine Kreis russischer Emigranten, die alle weniger die Heimkehr als den Kampf nach der Heimkehr ersehnen. Nach drei Jahrhunderten und dann wieder nach drei Jahrzehnten bricht endlich die verhaßte Macht zusammen, und eben jetzt müssen sie ausgesperrt bleiben! Denn Miljukow tut alles, um den gefährlichen Gegnern den Eintritt zu verwehren. Da sitzt er im Züricher Café, Lenin, und liest: »Die neue Regierung setzt den Krieg fort«, – und kann doch nicht von der Stelle. England verweigert die Durchfahrt! Wer kann helfen?

Freund Ludendorff, der kann alles. Der hat denn auch ein Fabelhaftes ersonnen. Wir müssen den Bazillus der Pazifisten dem Feind einimpfen, denkt der General und läßt in Bern mit diesen verrückten russischen Sektierern anknüpfen. Lenin spitzt die tatarischen Ohren. Wenn königlich preußische Generale Psychologen werden, denkt er und lacht mit Augen und Zähnen, dann kommt für uns russische Revolutionäre etwas heraus. Und er verhandelt von Macht zu Macht, verschleiert nichts, setzt seine Bedingungen durch und spricht vor dem Betreten des deutschen Waggons in einem Brief an die Schweizer Arbeiter aus, was zu tun, was zu hoffen sei.

Kein siegessicheres Wort, keine anarchische Phrase, kein Zittern eines Fiebernden, der nach 25 Jahren vor der Erfüllung steht. Ein Historiker redet, ein Naturforscher: »Besondere Umstände werden uns für eine, vielleicht sehr kurze Zeit zu Vorposten der Revolution in Europa machen. Rußland ist ein ganz zurückgebliebenes Bauernland, in ihm kann der Sozialismus nicht direkt siegen und nicht sofort. Aber dies Bauernland kann, wenn wir seine Riesenschätze den Junkern abnehmen, dem allgemeinen Umsturz eine gewaltige Reichweite geben.« Alles gemessen, behutsam, wie im Gutachten eines konsultierten Arztes.

Mit voller Offenheit sagt er zugleich den deutschen Militärs, was sie für Toren sind: »Wir sind durchaus keine Pazifisten schlechthin und können nicht auf Kriege verzichten, die wir zum Sieg des Sozialismus brauchen. Wir haben die Pflicht, die Spekulation einer nationalistischen Regierung für uns auszunutzen, ohne dieser Regierung auf unserem Wege die mindeste Konzession zu machen.« Zugleich erklärt er im Namen aller Reisenden öffentlich, daß sie nur heimkehren, »um in der Heimat das Proletariat aller Länder, besonders Deutschlands und Österreichs, zum revolutionären Kampfe gegen ihre eigene Regierung zu stacheln!«

Doch Ludendorff, der belagerte Trojaner, baut selber sein trojanisches Pferd, mit schlauer Miene klappt er die Türe zu und schiebt seinen plombierten Zug quer durch Deutschland, um nach drei Tagen die Ritter am andern Ende wieder herauszulassen. In diesem Zuge hat nicht Lenin allein gelacht; homerisch wie das Pferd war das Gelächter aller eingesperrten Genossen. Das Fahrgeld dieser Reise wurde von den Reisenden, das Lehrgeld vom Spediteur bezahlt.

 

Von Menschen überströmt ist der Finnländische Bahnhof, wie einen Retter feiert der radikale Teil der Hauptstadt den heimkehrenden Verbannten, im Empfangssaal des Zaren am Bahnhof begrüßt Tscheidse, der intime Gegner, den kleinen Mann mit der schäbigen Mütze: »Die Revolution heißt Sie willkommen, Lenin!« Draußen dröhnt ihm die Marseillaise entgegen. Langsam fährt Lenin, im Auto stehend, durch die brausende Masse. Er ruft ihr ein paar Sätze zu, simpel, bäurisch, doch mit bronzener Stimme. Heute zum ersten Male sieht ihn niemand lachen. Über ihm schwebt das Schicksal. Dunkel rauscht Erfüllung zu ihm empor.

»Niemals werde ich die Rede vergessen« – schreibt einer seiner Gegner – »die nicht bloß mich als Ketzer traf, vor allem seine Parteigenossen. Nichts derart hatte ich erwartet: alle Elemente schienen aus den Winkeln hervorgezaubert.« Kein radikaler Kopf zweifelt, daß Dieser allein der Führer sei.

Bald nach der Ankunft schlägt er seine Thesen an, in der »Prawda«: Versuch zur Verbrüderung an der Front, Verzicht auf alle Eroberungen, alle Macht den Sowjets der Arbeiter und Bauern, Kampf gegen die Regierung, die den Krieg fortsetzt, Sozialisierung aller Güter, Vereinigung aller Banken, Kontrolle aller Lebensmittel, Gründung einer neuen Internationale.

Drüben, im Winterpalais, zieht die Regierung die Brauen zusammen, sie fühlt, der Feind ist in der Festung. Der Zar war nur eine alte, modrige Welt, hier kommt eine neue, die Zukunft. Auf dem ersten Kongreß der Arbeiter bleiben die 800 Delegierten lautlos bei Lenins metallener Rede, lautlos bei Kerenskis fiebriger Antwort. »Ich werde nicht der Diktator sein, den Sie zu wünschen scheinen«, ruft dieser jenem zu. Lenin sitzt unten, streicht sein Kinn, denkt nach: wer wird Diktator.

Nach dem Kongreß, auf dem er in der Minderheit bleibt, im Juli, muß er sich aufs neue verstecken, wird wieder aufgestöbert, muß wieder fliehen, wieder nach Finnland, wie vor 12 Jahren: drei Monate nach seinem Einzug in Petersburg. Wieder folgt sein Forschersinn den eigenen Taten auf dem Fuße: er schreibt über »Staat und Revolution«, und wie er alle eigenen Phasen höchst kritisch analysiert, bricht er, im Beginn der Schilderung der letzten, soeben durchlebten, mit dem gewaltig humorigen Satze ab, grade käme ihm »die neue politische Krise in die Quere. Über solche Störung kann man sich nur freuen. Die zweite Lieferung der Broschüre wird vielleicht lange auf sich warten lassen. Es ist angenehmer und nützlicher, die Revolution mitzumachen, als über sie zu schreiben.« Dann wieder steht er, im Herbst, mit falschem Passe heimgekehrt, auf der Galerie: jetzt findet er Trotzki, den interessanteren Nebenbuhler, auf seiner Höhe, die Partei vergrößert, die Ungeduld der Bauern nach Frieden unbezwinglich, denn Kerenski hat eine neue Offensive beschlossen.

Doch nun hält es ihn nicht mehr. Diesmal hat er die Maske geändert, jetzt ist er wieder rasiert und in Perücke, um nicht erwischt zu werden: so nimmt er an der Hauptsitzung teil. Die Stunde fühlt er nahe, an der die meisten seiner Brüder zweifeln, der Augenblick des Handelns scheint ihm da. Wie er dort auf der Tribüne steht, ein halb Entlarvter mit falschem Haar, jetzt fiebernd, jetzt atemlos dicht vor dem Ziele: so reißt Lenin seine Genossen hin, so erzwingt er den Aufstand des 24. Oktober.

 

Seit Lenin an der Macht ist, fünf Jahre lang, hat er sich zum Diktator nach innen, nach außen immer stärker zum Politiker entwickelt. Er hat die Constituante durch seine Matrosen in die Luft gesprengt, denn er fühlte sich nicht sicher. Noch im Sommer 19 hat er zu Gorki gesagt: »Das Erstaunlichste an dieser ganzen Geschichte ist, daß sich noch niemand fand, uns vor die Tür zu setzen.«

Doch eben deshalb laviert er nach außen. Sein Einfluß im Zentralrat erzwang im Januar 18 gegen Trotzki die Annahme des deutschen Gewaltfriedens von Brest-Litowsk mit der Begründung: »Arbeiter, die einen Streik verlieren, verraten darum den Sozialismus noch nicht!« In diesen Stunden, als alle Mitarbeiter den Frieden ablehnten, erwies sich Lenin als Staatsmann: »Mit den Hohenzollern könnt ihr keinen Frieden machen?« sagte er in der Sitzung. »Ihr seid törichter als das Huhn! Das kann den Kreis der Kreide nicht überschreiten und kann doch behaupten, fremde Hände haben den Kreis gezogen.

Wir haben aber den Kreis selber gezeichnet, – und ihr seht nur die Formel! Damit wollten wir die Klassen entflammen. Jetzt wollt ihr, wir sollen aus Prinzip zugrunde gehen, und die kapitalistischen Regierungen sollen im Namen unserer revolutionären Formel siegen!«

Einwände, Streit. Lenin sagt: »Der Muschik muß mit den Füßen endlich die Erde berühren, die wir ihm gegeben haben. Sehen Sie nicht, daß der Muschik gegen den Krieg gestimmt hat?« – Wann und wo hat er das, fragt Radek. »Mit seinen Füßen stimmt er ab: er läuft von der Front weg!« Und Lenin behielt vor der Geschichte recht, die rasch den Brester Vertrag zerriß. So paktiert er, wo immer er es braucht, mit dem Ausland, weg über alle Abgründe von Theorie und Praxis.

Während er sein Land vor drei Invasionen, fünf Expeditionskorps, dreijähriger Blockade retten mußte, versuchte er, der nicht einmal die Erfahrung eines Landrates hat, mit unendlicher Geduld ein Weltreich aus einem beinah tödlichen Stoße langsam wieder in Ordnung zurückzuführen: gestern – buchstäblich – noch unterirdischer Revolutionär, heute leitender Staatsmann. Zugleich wurde er von der Mehrheit seiner Genossen in allen Ländern erst desavouiert, dann beschimpft, die freilich Grund haben, sich einer jahrelangen ausländischen Diktatur entgegenzuwerfen. Hier, wo wir nur die Gestalt des Führers zeichnen wollten, bleibt auch die historische Frage offen, ob die Trümmer Rußlands aus dem Kriege, aus der Revolution oder aus dem grandiosen Irrtum stammen: ein Riesenreich ein halbes Dutzend Stufen der Entwicklung überspringen, im Anklang an seine Urformen zu einer neuen Form emporfliegen zu lassen.

Gewiß ist dies, daß erst Lenin seiner Partei, vielleicht zum ersten Male, die staatsmännische Tugend vormachte: des Gegners Mittel dauernd zu übernehmen, um ihn zu überwinden. Sogar die letzte, barbarischeste Verfeinerung der von ihm bekämpften Wirtschaftsform, sogar das System Taylor rät er zu übernehmen, um jede Arbeit auf ein Minimum von Bewegung zurückzuführen. »Die Sowjet-Republik muß um jeden Preis alles Wertvolle aus den Fortschritten der Wissenschaft und der Technik übernehmen. Wir brauchen keinen Elan; wir brauchen den Taktschritt der Eisenbataillone.«

Französische und deutsche Monarchisten nimmt er in technischen Dienst, denn seine Leidenschaft – der Gedanke eines Jugendfreundes, den er um sich hat – ist die Elektrifizierung Rußlands auf dem Lande und in der Stadt. »Ein einziger Techniker ist zehn Kommunisten wert«, schrieb Lenin.

So trieben und versuchten sie's ein Jahr und länger, doch täglich wurde es schlechter.

Doch schon nach einem Jahre erkannte Lenin das Unmögliche, wich entschlossen von der Theorie ab und riet als Erster den Gemeinden, ja nicht mehr Betriebe zu sozialisieren, als sie beherrschen könnten. Ebenso fordert er als Erster vom Arbeiter »Anpassung des Verdienstes an die wirkliche Endsumme der Ausbeute«. Und plötzlich, eines Tages, überraschend und zum Schrecken der meisten Kollegen, tritt er mit einer Rede vor sie hin und beweist: es war alles zu früh, zu rasch, so geht es nicht, die Wirtschaftspolitik muß umgeworfen werden, wir brauchen neue Maßnahmen: Nährsteuer, und wer sie bezahlt, darf wieder Handel treiben. Militär-Kommunismus hat der Krieg uns aufgenötigt, jetzt brauchen wir neue Wege. »Ja, das Kleinbürgertum wird sich erheben und selbst der Kapitalismus: diese Tatsache ist unzweifelhaft« – fährt Lenin fort, während seine Genossen erblassen –, »warum die Augen davor verschließen? Wir müssen ihn eben in die Richtung auf den Staatskapitalismus lenken! Dazu geht der Weg durch Konzessionen ans Ausland. Das kostet Opfer, aber die Festsetzung des Umfangs und der Erteilung dieser Konzessionen, wie sie uns ungefährlich bleiben und vorteilhaft werden können, hängt vom Kräfteverhältnis ab und wird durch Kampf entschieden.«

Dritter Zusammenstoß mit Trotzki, der die reine Idee durchsetzen will. Dritter Sieg Lenins, des Experimentators, der immer neue Mittel versucht und keiner Theorie gestattet, ihn zu hindern.

 

Aus dieser naiven Elastizität hat er eine eigene Technik des Regierens gebildet: man könnte sie Ausgleich von Verantwortung und Diktatur nennen.

Ganz auf sich gestellt, nicht imstande, einer Typistin zu diktieren, viel weniger ein Büro zu organisieren, tritt er persönlich mit dem vollen Freimut eines Mannes, der immer allein verantwortlich war, vor die Bauern irgend eines Dorfes und sagt: Wir haben es falsch gemacht, deshalb hat man uns geschlagen. So und so wollen wir den Fehler korrigieren, – und diese Leute, jeder als Russe zum Bekenner geboren und erzogen, honorieren diese Selbstkritik. Vollends der Arbeiter, der längst nicht mehr an erlösende Helden glaubt, fühlt sich durch solche Wahrheitsliebe zur Mitentscheidung über sein Schicksal aufgerufen und lernt politisch denken.

Zugleich aber fordert Lenin, während alle mitdenken sollen, »unbedingte Unterordnung unter einen einzigen Willen«, nennt das »System der persönlichen Diktatur das einzig mögliche« –: alles aus demselben Grundmotiv der Seele. Dieser Revolutionär, für jeden Schritt seit 30 Jahren seiner Partei verantwortlich, haßt die kollegiale Form, in die die westlichen Regierer ihre Verantwortung abzuwälzen wissen, und wenn er jeden einzelnen Beamten vom Volke auswählen läßt, so fordert er vom Wähler volle Gefolgschaft, vom Erwählten aber volle Rechenschaft.

So münden die Grundlinien, nach denen dieser Mann regiert, immer in die Grundzüge seines Charakters, und, ganz gegen Marx' Theorie, setzt sich der rücksichtslose, aber reine Wille des Führers in seinem Lande ab, – freilich oft so zersetzt, wie sich Ideen in der Säure der Realitäten auflösen.

 

Eines Tages, nach dreijährigem Wirken, hat ihn auf der Straße eine Frau erschießen wollen, fanatisch auch sie, vielleicht das Opfer der Sowjets oder Gattin oder Schwester solchen Opfers. Lenins gesunder Bau hielt ihn am Leben, aber die Kugel durchschoß ihm den gesunden Bau.

Nun liegt er im Kreml, todeswund seit einem Jahr, zum Auferstehen kaum mehr der Mann. Denn er ist müde, berichten die Freunde, Lenin, der immer Bewegung, Kampf und Mut gewesen. Von Siebzehn bis Siebenundvierzig: 30 Jahre lang Entbehrung, Flucht, Verfolgung, Flucht, Verbannung, Flucht, Kampf nach innen und außen. Dann, nach einem raschen Siege, drei Jahre übermenschlicher Arbeit, verhundertfacht die Kämpfe nach allen Seiten, gegen alle Mächte, und nun mit über Fünfzig eine Kugel in den Leib: da wehrt sich der Körper nicht mehr, da schwindet die Flamme des Lebens, auf dem Bette liegt ein Mensch, verbraucht. Leise spinnt sich eine Legende um ihn an. »In diesem schroffen Politiker« – schreibt Gorki – »leuchtet zuweilen das Licht einer fast frauenhaften Zartheit für die Menschen auf, der Traum des künftigen Glückes aller ... Sein Privatleben ist so, daß man in einer religiösen Epoche aus ihm einen Heiligen gemacht hätte.«

Mut und Klarheit, Glaube und Integrität haben einen Menschen von ungeheurer Lebenskraft auf einem Wege geleitet und erhalten, der zu dieser Zeit an diesem Orte wahrscheinlich ein Irrweg war. Aber aufs neue ist der strebenden Jugend Europas ein Vorbild erschienen, mit Augen kann sie sehen, daß heut wie einst und immer ein Wille, von einem Gedanken geführt, Millionen umzuschichten vermag. In diesem Sinn eines praktischen Idealisten hat Lenin ein neues Muster aufgestellt für eine kühne, einsame, selbstlose Bahn.

Mit seinem Leben hat er sie bezahlt. Er lacht nicht mehr.


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