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Die letzten Tage

Gegen Ende Januar 1913 erlangte die Öffentlichkeit Kenntnis von der veränderten Haltung der Oligarchie den bevorzugten Gewerkschaften gegenüber. Die Zeitungen brachten die Nachricht von einer beispiellosen Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung für Eisenbahner, Eisen- und Stahlarbeiter, Techniker und Maschinisten. Aber die ganze Wahrheit zu sagen, wagten die Oligarchen noch nicht. Tatsächlich war die Lohnerhöhung noch größer und entsprechend die Vorrechte. Alles das war Geheimnis, aber Geheimnisse wollen ans Tageslicht. Mitglieder der bevorzugten Verbände erzählten es ihren Frauen, und die klatschten es weiter, und bald wußte es die ganze Arbeiterschaft.

Es war nur die logische Entwickelung dessen, was in seinen Anfängen schon im neunzehnten Jahrhundert bekannt gewesen. Im Wirtschaftskampf jener Zeit hatte man den Versuch mit der Gewinnbeteiligung gemacht, das heißt, die Kapitalisten hatten versucht, die Arbeiter dadurch zu fesseln, daß sie sie an ihren Unternehmungen beteiligten. Aber Gewinnbeteiligung als System war lächerlich und unmöglich. So konnten nur die vereinzelten Fälle im System der freien Konkurrenz Erfolg haben, denn wenn Arbeit und Kapital die Gewinne teilten, so mußten Verhältnisse eintreten, als wenn es gar keine Gewinnbeteiligung gab.

So entstand denn aus dem unpraktischen Gedanken der Gewinnbeteiligung der praktische der Raubbeteiligung. »Gebt uns mehr Lohn und wälzt die Lasten auf das Publikum ab«, lautete der Kriegsruf der starken Verbände. Und diese selbstsüchtige Politik wirkte hier und dort erfolgreich. Durch das Abwälzen auf das Publikum wurde die große Masse der nicht oder schwach organisierten Arbeiter getroffen. Sie bezahlten in Wirklichkeit die erhöhten Löhne ihrer stärkeren Brüder, der Mitglieder der bevorzugten Verbände Dieser Verbindung mit der Oligarchie traten alle Eisenbahnerverbände bei, und es ist beachtenswert, daß die Politik des Gewinnraubes zum ersten Male praktisch im neunzehnten Jahrhundert durch einen Eisenbahnerverband zur Anwendung kam, nämlich durch den Lokomotivführerverband. P. M. Arthur war zwanzig Jahre lang Vorsitzender des Verbandes. Nach dem Streik der Pennsylvanischen Eisenbahn im Jahre 1877 entwarf er einen strategischen Plan für die Lokomotivführer, demzufolge sie getrennt von den übrigen Arbeiterverbänden marschieren sollten. Dieser Entwurf hatte großen Erfolg und war ebenso erfolgreich wie selbstsüchtig, und damals wurde das Wort Arthurisation zur Bezeichnung von Gewinnbeteiligung der Arbeiterverbände geprägt. Dieses Wort Arthurisation hat lange die Etymologen verwirrt, aber sein Ursprung ist jetzt, wie ich hoffe, klargestellt., die in gewissem Sinne Arbeitermonopole waren.

Sobald das Geheimnis vom Abfall der bevorzugten Verbände offenbar wurde, machte sich in der Arbeiterwelt eine starke Verstimmung bemerkbar. Zunächst zogen sich die bevorzugten Verbände von den internationalen Vereinigungen zurück und brachen alle Beziehungen mit ihnen ab. Es kam zu Unruhen und Gewalttätigkeiten. Die Mitglieder der bevorzugten Verbände wurden als Verräter gebrandmarkt und in Wirtschaften und öffentlichen Häusern, auf der Straße und bei der Arbeit, überall, von den Genossen, die so schmählich von ihnen im Stich gelassen waren, tätlich angegriffen.

Zahllose Führer wurden mißhandelt und getötet. Kein Mitglied der bevorzugten Verbände war seines Lebens sicher. Sie gingen nur truppweise zur Arbeit und blieben stets mitten auf dem Fahrdamm. Auf dem Bürgersteig liefen sie Gefahr, daß ihre Köpfe von Ziegeln und Kieselsteinen, die aus den Fenstern und von den Dächern geworfen wurden, zerschmettert wurden. Sie hatten die Erlaubnis, Waffen zu tragen, und die Obrigkeit stand ihnen in jeder Beziehung zur Seite. Ihre Verfolger wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt und übel behandelt. Und keinem, der nicht Mitglied der bevorzugten Verbände war, wurde das Tragen von Waffen erlaubt. Übertretungen dieses Gesetzes wurden als grobes Vergehen angesehen und entsprechend bestraft.

Gewalttätige Arbeiter fuhren fort, Rache an den Verfolgern zu nehmen. Von selbst entstanden Kastengegensätze. Die Kinder der Verräter wurden von den Kindern der betrogenen Arbeiter verfolgt, bis sie nicht mehr auf der Straße spielen und die Schule besuchen konnten. Die Frauen und Familien der Verräter wurden aufs schmählichste behandelt und die Kaufleute, die ihnen Waren verkauften, von den andern Arbeitern boykottiert. Die Folge war, daß die Verräter und ihre Familien, von allen Seiten in die Enge getrieben, eigene Siedlungen gründeten. Es war ihnen nicht möglich, unter dem betrogenen Proletariat zu wohnen, und deshalb zogen sie in andere Gegenden, die dann nur von ihnen bewohnt wurden. Hierbei wurden sie von den Oligarchen unterstützt. Gute, moderne und gesunde, von weiten Höfen umgebene und hier und dort durch Parks und Spielplätze getrennte Häuser wurden erbaut. Die Kinder besuchten eigens für sie errichtete Schulen, in denen Handfertigkeiten und besondere wissenschaftliche Fächer gelehrt wurden. Aus dieser Absonderung mußte das typische Kastenwesen entstehen. Die Mitglieder der bevorzugten Verbände wurden die Aristokratie der Arbeiterschaft. Sie standen abseits von den übrigen Arbeitern. Sie wohnten besser, kleideten sich besser, aßen besser und wurden besser behandelt. Sie rächten sich durch die Gewinnbeteiligung.

Unterdessen ging es den übrigen Arbeitern immer elender. Viele kleine Vergünstigungen wurden ihnen genommen, und ihr Lohn und ihre Lebenshaltung sanken beständig. Dazu kam, daß die Schulen sich verschlechterten und der Schulzwang allmählich aufhörte. Die Zahl der Arbeiter, die nicht lesen und schreiben konnten, wuchs erschreckend.

Die Eroberung des Weltmarktes durch die Vereinigten Staaten hatte die übrigen Länder der Welt auseinandergerissen. Überall brachen Institutionen und Regierungen zusammen oder wurden geändert. Deutschland, Frankreich, Italien, Australien und Neuseeland bildeten schnell kooperative Gemeinwesen. Das Britische Reich fiel auseinander. England hatte alle Hände voll zu tun, in Indien war die Revolution in vollem Gange. In ganz Asien rief man: »Asien den Asiaten!« Und dahinter stand Japan und hetzte und unterstützte fortgesetzt die gelbe und die braune Rasse gegen die weiße. Und während Japan vom kontinentalen Weltmarkt träumte und bestrebt war, diesen Traum zu verwirklichen, unterdrückte es sein eigenes, revolutionäres Proletariat. Es war ein einfacher Kastenkrieg. Kuli gegen Samurai, und die sozialistischen Kulis wurden zu Zehntausenden hingerichtet. Vierzigtausend wurden in den Straßenkämpfen in Tokio und bei dem nutzlosen Angriff auf den Palast des Mikados getötet. Kobe war ein Schlachthaus. Das Massaker der Baumwollarbeiter durch Maschinengewehre hat die traurigste Berühmtheit von all den schrecklichen Hinrichtungen erlangt, die je durch moderne Maschinengewehre vollzogen wurden. Die japanische Oligarchie war die brutalste von allen. Japan beherrschte den Osten und riß den ganzen asiatischen Teil des Weltmarktes, mit Ausnahme des indischen, an sich.

England bemühte sich, seine eigene proletarische Revolution zu ersticken und Indien festzuhalten, obwohl es an der Grenze der Erschöpfung angelangt war. Ohnmächtig mußte es zusehen, wie seine großen Kolonien ihm entglitten. So kam es, daß es den Sozialisten gelang, Australien und Neuseeland zu kooperativen Gemeinwesen zu machen. Ebenso ging Kanada den Engländern verloren. Aber Kanada unterdrückte mit Unterstützung der Eisernen Ferse die sozialistische Revolution. Und ebenso half die Eiserne Ferse Mexiko und Kuba, die Revolution niederzuschlagen. So stand die Eiserne Ferse in der Neuen Welt fest da, sie hatte ganz Nordamerika vom Panamakanal bis zum Eismeer zu einer Einheit zusammengeschweißt.

Als England seine großen Kolonien preisgeben mußte, war es ihm gelungen, Indien zu behalten. Aber auch das nur vorübergehend. Der Kampf mit Japan und dem übrigen Asien Indiens wegen wurde nur hinausgezögert. England war zum baldigen Verlust Indiens verurteilt, und hinter diesem Ereignis lauerte der Kampf zwischen dem geeinten Asien und der übrigen Welt.

»Dreimal verwünschte Verwirrung!« rief Ernst. »Wie können wir bei all diesen tollen Wünschen und Konflikten auf Solidarität hoffen?«

Wirklich unheimliche Formen nahm die religiöse Wiedergeburt an. Das Volk, erschlafft und in allen irdischen Dingen enttäuscht, brauchte einen Himmel, in den nicht mehr industrielle Tyrannen eingingen als Kamele in ein Nadelöhr. Wildblickende Wanderprediger durchschwärmten das Land; und trotz dem Verbot durch die bürgerliche Oligarchie und trotz der Verfolgung wegen Widersetzlichkeit wurden die Flammen des religiösen Wahns durch zahllose Versammlungen auf freiem Felde entfacht.

»Die letzten Tage sind gekommen«, schrien sie. »Der Anfang vom Ende der Welt ist da. Die vier Winde sind losgelassen. Gott hat die Völker zum Streit aufgehetzt.« – Es war eine Zeit der Missionen und Wunder, und die Zahl der Seher und Propheten war Legion. Das Volk ließ zu Tausenden die Arbeit im Stich und floh in die Berge, um dort das nahe bevorstehende Erscheinen Gottes und die Himmelfahrt der Hundertvierundvierzigtausend zu erwarten. Aber Gott erschien nicht, und sie verhungerten massenhaft. In ihrer Verzweiflung plünderten sie die Bauernhöfe, und die darauffolgende Erregung und Anarchie vermehrte nur noch die Leiden der armen, ihres Besitzes beraubten Bauern.

Aber die geplünderten Bauernhöfe und Geschäfte waren Eigentum der Eisernen Ferse. Ganze Armeen wurden in die Berge gesandt und die Fanatiker mit Hilfe von Bajonetten an ihre Arbeit in die Städte zurückgetrieben. Hier verübten sie immer wieder Ausschreitungen. Ihre Führer wurden wegen Aufruhrs hingerichtet oder in Irrenhäuser gesteckt. Wer hingerichtet wurde, ging mit der Freude des Märtyrers in den Tod. Es war eine Zeit des Wahnsinns. Die Unruhe wuchs. In den Sümpfen, Wüsten und Einöden von Florida und Alaska tanzten die kleinen Überbleibsel der Indianerstämme Geistertänze und erwarteten die Ankunft ihres eigenen Messias.

Und während alledem wuchs mit erschreckender Sicherheit und Ruhe das Ungeheuer des Zeitalters, die Oligarchie. Mit eiserner Faust und eiserner Ferse knechtete sie die leidenden Millionen, brachte Ordnung in die Verwirrung und errichtete in dem Chaos ihr eigenes Fundament und Bollwerk.

»Wartet nur, bis wir am Ruder sind«, sagten die Bauernbündler – Calvin erzählte es uns in unserer Wohnung in der Pell-Street. »Seht die Städte, die wir erobert haben. Mit euch Sozialisten im Rücken werden wir ihnen, wenn wir ans Ruder kommen, ein anderes Lied beibringen.«

»Die Millionen von Unzufriedenen und Verarmten gehören uns«, sagten die Sozialisten. »Die Bauern, der Mittelstand und die Arbeiter sind zu uns übergegangen. Das kapitalistische System wird zertrümmert werden. Nächsten Monat schicken wir fünfzig Mann in den Kongreß. Zwei Jahre später werden wir alle Ämter vom Präsidenten bis zum Gemeindehundefänger in Händen haben.«

Ernst aber schüttelte zu allem den Kopf und sagte:

»Wieviel Gewehre habt ihr? Wißt ihr, wo ihr Blei genug bekommen könnt? Wenn es los geht, dann sind chemische Mixturen besser als bloße Fäuste, das sage ich euch.«


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