Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Bischof

Kurz nach meiner Verheiratung traf ich zufällig Bischof Morehouse. Aber ich will die Geschehnisse der Reihe nach wiedergeben. Nach dem ereignisreichen Abend in der I.P.H.-Versammlung hatte der Bischof, ein edler Mensch, dem freundschaftlichen Druck, der auf ihn ausgeübt wurde, nachgegeben und war in Urlaub gegangen. Aber er kehrte wieder, fester als je überzeugt, daß es seine Bestimmung sei, die Botschaft der Kirche zu predigen. Und zur Bestürzung seiner Gemeinde war seine erste Predigt ganz ähnlich der Rede, die er seinerzeit in der Versammlung gehalten hatte. Wieder sprach er lange und umständlich davon, daß die Kirche von der Lehre des Herrn abgewichen sei und Mammon an Stelle Christi gesetzt habe.

Der Erfolg war, daß er, ob er wollte oder nicht, in einer privaten Irrenanstalt eingesperrt wurde, während die Zeitungen pathetische Berichte über seinen geistigen Zusammenbruch und die Frömmigkeit seines Charakters brachten. Er wurde als Gefangener im Sanatorium festgehalten. Ich ging mehrmals hin, um ihn zu besuchen, wurde aber nicht zu ihm gelassen, und ich war aufs tiefste erschüttert von der Tragödie eines gesunden, normalen, frommen Mannes, der durch den brutalen Willen der Gesellschaft vernichtet wurde. Denn der Bischof war gesund, rein und edel. Ernst hatte recht! Ihm fehlte nichts als nur die rechten Begriffe von Biologie und Soziologie, und das war der Grund, daß er die Fragen, die sich vor ihm erhoben, nicht hatte beantworten können.

Was mich erschreckte, war die Hilflosigkeit des Bischofs. Wenn er bei der Wahrheit, wie er sie sah, blieb, war er verurteilt, in der Anstalt zu bleiben. Er konnte nichts dagegen tun. Sein Geld, seine Stellung, seine Bildung konnten ihn nicht retten. Seine Ansichten waren gefährlich für die Gesellschaft, und die Gesellschaft konnte nicht begreifen, daß solche Ansichten einem gesunden Hirn entspringen konnten. Dies schien mir jedenfalls die Stellung zu sein, die die Gesellschaft dazu einnahm.

Aber der Bischof war trotz seiner reinen, edlen Gesinnung von Argwohn erfaßt. Er begriff seine gefährliche Lage klar. Er sah sich im Netz gefangen und versuchte, zu entschlüpfen. Ohne Hilfe von seinen Freunden, wie Vater, Ernst und ich sie ihm hätte bringen können, war er in seinem Kampf ganz auf sich allein angewiesen. Und in der verschärften Einzelhaft des Sanatoriums erholte er sich und wurde wieder gesund. Er hatte keine Visionen mehr, sein Hirn war von der Idee befreit, daß es Pflicht der Kirche sei, die Lämmer des Herrn zu weiden.

Wie gesagt, er wurde gesund, ganz gesund, und die Zeitungen, sowie die Geistlichkeit begrüßten seine Rückkehr freudig. Ich ging einmal in seine Kirche. Die Predigt war ganz wie die, welche er lange, ehe er Visionen gehabt, gehalten hatte. Ich war enttäuscht, erschüttert. Hatte die Gesellschaft ihn zur Unterwerfung gezwungen? War er ein Feigling? War er zum Widerruf gezwungen worden? Oder war die Anstrengung zu groß für ihn gewesen, und hatte er sich demütig den Gesetzen der bestehenden Ordnung unterworfen?

Ich besuchte ihn in seinem schönen Hause. Er war traurig verändert. Er war abgemagert, und sein Gesicht hatte Falten, die ich nie zuvor gesehen. Er war sichtlich erschrocken über meinen Besuch. Beim Sprechen zupfte er nervös an seinem Ärmel, und seine Augen irrten ratlos umher und vermieden es, den meinen zu begegnen. Sein Gedächtnis schien geschwächt, er konnte plötzlich Pausen in der Unterhaltung eintreten lassen, unvermittelt zu anderen Dingen überspringen und zeigte eine verwirrende Inkonsequenz. War dies der klardenkende, christusähnliche Mann, den ich gekannt hatte, der Mann mit den reinen hellen Augen und dem Blick, der ebenso standhaft und fest war wie seine Seele? Man war bös mit ihm umgesprungen; er war eingeschüchtert bis zur Unterwerfung. Seine Gesinnung war zu vornehm. Er hatte nicht vermocht, dem organisierten Wolfsrudel der Gesellschaft zu trotzen.

Ich war traurig, unsagbar traurig. Er sprach unbestimmt und fürchtete sich so offensichtlich vor meinen Fragen, daß ich nicht das Herz hatte, sie zu stellen. Er sprach wie abwesend von seiner Krankheit, und wir unterhielten uns in abgerissenen Sätzen über die Kirche, über Veränderungen in der Verwaltung und über geringfügige Liebeswerke, und er sah mich mit so sichtbarer Erleichterung gehen, daß ich hätte lachen mögen, wäre mir das Herz nicht so voll von Tränen gewesen.

Der arme kleine Held! Hätte ich ihn nur gekannt! Er kämpfte wie ein Riese, und ich ahnte es nicht. Allein, ganz allein inmitten von Millionen Kameraden kämpfte er seinen Kampf. Voll Grauen vor der Anstalt und erfüllt von seinem Glauben an Recht und Wahrheit, hielt er an Recht und Wahrheit fest; aber so allein war er, daß er sich nicht einmal mir anzuvertrauen wagte. Er hatte seine Lektion gut gelernt – nur zu gut.

Aber ich sollte es bald erfahren. Eines Tages verschwand der Bischof. Er hatte niemand etwas davon gesagt, daß er fort wolle. Als aber die Tage vergingen und er nicht zurückkehrte, hieß es allgemein, er müsse in einem Anfall von Geistesgestörtheit Selbstmord begangen haben. Dann aber erfuhr man, daß er seinen ganzen Besitz – sein Haus in der Stadt, sein Landhaus in Menlo Park, seine Gemälde, seine Sammlungen und sogar seine geliebten Bücher – verkauft hatte. Es war klar, daß er heimlich reinen Tisch gemacht hatte, ehe er verschwand.

Dies geschah in der Zeit, als es uns selbst recht elend ging. Kaum aber hatten wir uns in unserer neuen Wohnung eingerichtet, als der Bischof uns Gelegenheit gab, über sein Tun zu staunen und nachzudenken. Und dann wurde uns plötzlich alles klar. Eines Abends war ich in der Dämmerung rasch über die Straße gelaufen, um bei einem Schlachter Fleisch zum Abendbrot für Ernst zu holen.

In dem Augenblick, als ich aus dem Laden trat, tauchte aus dem danebenliegenden Laden ein Mann auf. Ein eigentümliches Gefühl sagte mir, daß ich diesen Mann kennen müsse, und ich sah mich mehrmals nach ihm um. Aber der Mann hatte sich umgedreht und ging eilig fort. Etwas in der Haltung seiner Schultern und der Saum seines silberweißen Haares zwischen Rockkragen und Hutrand erweckten unbestimmte Erinnerungen in mir. Statt die Straße zu kreuzen, eilte ich hinter dem Manne her. Ich suchte mich von dem sich unversehens aufdrängenden Gedanken zu befreien und beschleunigte dabei meine Schritte. Nein, es war unmöglich. Er konnte es nicht sein – dieser Mann in den verschossenen blauen Hosen, die zu lang und an den Enden abgetreten waren.

Ich blieb stehen, lachte über mich selbst und wollte die Jagd aufgeben. Aber diese verhexte Ähnlichkeit der Schultern und dieses Silberhaar! Wieder eilte ich ihm nach. Als ich ihn überholte, blickte ich ihm keck ins Gesicht; dann drehte ich mich plötzlich um und stand – dem Bischof gegenüber.

Er blieb ebenso plötzlich stehen und atmete schwer. Eine große Tüte fiel aus seiner Rechten auf den Bürgersteig. Sie zerriß und zwischen seine und meine Füße rollten eine Menge Kartoffeln. Er sah mich überrascht und traurig an; dann schien er zu erschlaffen, seine Schultern senkten sich mutlos, und er seufzte tief. Ich reichte ihm die Hand. Er drückte sie, aber die seine fühlte sich feucht an. Er räusperte sich verlegen und ich sah, wie ihm der Schweiß aus der Stirn brach. Er war sichtlich tief erschrocken.

»Die Kartoffeln«, murmelte er ängstlich. »Sie sind kostbar.«

Wir sammelten sie auf und taten sie wieder in die geplatzte Tüte, die er sorgsam unter den Arm preßte. Ich versuchte, ihm meine Freude über unsere Begegnung auszudrücken und bat ihn, uns recht bald zu besuchen.

»Vater wird sich freuen, Sie wiederzusehen«, sagte ich.

»Wir wohnen nur ein paar Häuser entfernt.«

»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich muß gehen. Leben Sie wohl.«

Er sah sich argwöhnisch um, als fürchtete er, entdeckt zu werden, und schickte sich dann an weiterzugehen.

»Sagen Sie mir, wo Sie wohnen; ich werde später vorsprechen,« sagte er, als er sah, daß ich neben ihm herschritt und mich jetzt, da ich ihn gefunden hatte, an seine Fersen heftete.

»Nein«, antwortete ich bestimmt. »Sie müssen jetzt gleich mitkommen.«

Er warf einen Blick auf die Kartoffeln unter seinem Arm und die andern kleinen Pakete, die er unter dem andern Arm trug.

»Es ist wirklich unmöglich«, sagte er. »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Aber wenn Sie wüßten –« Er sah aus, als wolle er zusammenbrechen. Im nächsten Augenblick hatte er sich aber wieder in der Gewalt.

»Außerdem diese Lebensmittel«, fuhr er fort. »Es ist ein trauriger Fall. Es ist schrecklich. Sie ist eine alte Frau. Ich muß sie ihr gleich bringen. Sie braucht sie dringend. Ich muß gleich gehen. Sie verstehen. Dann komme ich wieder. Ich verspreche es Ihnen.«

»Ich begleite Sie«, erbot ich mich. »Ist es weit?«

Er seufzte wieder und ergab sich. »Nur bis zur übernächsten Ecke«, sagte er. »Lassen Sie uns eilen.«

Unter der Führung des Bischofs lernte ich einiges aus meiner jetzigen Nachbarschaft kennen. Ich hatte mir nicht träumen lassen, daß es so furchtbares Elend gäbe. Das kam natürlich daher, daß ich mich nicht selbst mit Wohltätigkeit beschäftigte. Ich hatte mich überzeugt, daß Ernst recht hatte, wenn er sie höhnisch als ein Geschwür bezeichnete. Entfernt das Geschwür, hieß sein Rezept. Gebt dem Arbeiter sein Erarbeitetes, pensioniert wie Soldaten die, die in der Arbeit in Ehren grau geworden sind, dann sind Almosen überflüssig. Hiervon überzeugt, arbeitete ich mit ihm gemeinsam auf die Revolution hin und verschwendete meine Kraft nicht damit, soziale Übel zu lindern, die immer wieder aus der Ungerechtigkeit des Systems entspringen mußten.

Ich folgte dem Bischof in das drei mal vier Meter große einzige Zimmer einer Mietswohnung. Und hier trafen wir eine alte Deutsche – vierundsechzig Jahre alt war die Frau, wie der Bischof mir sagte. Sie war überrascht, mich zu sehen, nickte mir aber einen freundlichen Gruß zu und nähte an einem Paar Männerhosen weiter. Neben ihr auf dem Fußboden lag ein weiterer Stoß Hosen. Der Bischof sah, daß weder Kohlen noch Holz vorhanden waren und ging, es zu holen.

Ich nahm ein Paar Hosen in die Hand und betrachtete ihre Arbeit.

»Sechs Cents, meine Dame,« sagte sie, den Kopf wiegend, und nähte weiter. Sie nähte langsam, aber ununterbrochen. Das Wort »nähen« schien sie ganz zu beherrschen.

»Für diese ganze Arbeit?« fragte ich. »Mehr wird dafür nicht bezahlt? Wie lange brauchen Sie dazu?«

»Nein, mehr nicht. Sechs Cents für die fertige Hose. An jedem Paar nähe ich zwei Stunden. – Aber das weiß der Chef nicht«, fügte sie rasch hinzu, aus Furcht, ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten. »Ich bin langsam. Ich habe Gicht in den Fingern. Junge Mädchen arbeiten viel schneller. Sie brauchen nur halb so lange. Der Chef ist gut. Er erlaubt mir, die Arbeit mit heimzunehmen, weil ich alt bin und das Geräusch der Maschine mir Kopfschmerzen macht. Wäre er nicht so gut zu mir, so müßte ich hungern.

»Ja, wer im Geschäft arbeitet, bekommt acht Cents. Aber was soll ich tun? Es gibt nicht einmal Arbeit genug für die Jungen. Die Alten haben keine Aussicht. Oft bekomme ich nur ein Paar. Manchmal aber, wie heute, habe ich acht Paar bis zum Abend fertig zu machen.«

Ich fragte sie, wieviel Stunden sie arbeitete; das hinge von der Jahreszeit ab, antwortete sie.

»Im Sommer, wenn die Nachfrage groß ist, arbeite ich von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends. Im Winter aber ist es so kalt. Dann dauert es so lange, bis die Finger nicht mehr steif sind. Dafür muß ich abends länger arbeiten – manchmal bis nach Mitternacht.

»Ja, es war ein schlechter Sommer. Die schweren Zeiten! Gott muß zürnen. Das hier ist meine erste Arbeit in dieser Woche. Es ist schon richtig, daß man nicht viel zu essen hat, wenn es keine Arbeit gibt. Aber daran bin ich gewöhnt. Ich habe mein ganzes Leben genäht. Früher in der alten Heimat und jetzt – seit dreiunddreißig Jahren – hier in San Franzisko. Wenn nur das Geld für die Miete da ist, dann ist alles in Ordnung. Der Hauswirt ist sehr freundlich, aber er verlangt seine Miete. Und das gehört sich auch so. Er nimmt nur drei Dollar für dieses Zimmer. Das ist billig. Aber es ist nicht leicht, jeden Monat die drei Dollar aufzubringen.«

Sie schwieg und nähte, den Kopf neigend, weiter.

»Sie müssen mit Ihrem Verdienst sehr haushalten«, meinte ich. Sie nickte lebhaft.

»Wenn ich die Miete bezahlt habe, ist es nicht mehr so schlimm. Fleisch kann ich mir allerdings nicht kaufen. Und Milch zum Kaffee auch nicht. Aber eine Mahlzeit täglich gibt es doch. Und manchmal auch zwei.«

Die letzten Worte sprach sie mit Stolz. Als sie aber schweigend weiter stichelte, bemerkte ich die müden Augen und den abgehärmten Mund. Ihr Blick war abwesend. Sie rieb sich rasch die trüben Augen klar; sie mußte weiter nähen.

»Nein, der Hunger tut nicht weh«, erklärte sie. »Daran gewöhnt man sich. Ich weine nur um mein Kind. Die Maschine hat sie getötet. Es ist wahr, sie mußte schwer arbeiten, aber ich begreife es doch nicht. Sie war stark, und jung – erst vierzig. Und dreißig Jahre arbeitete sie schon. Sie fing früh an, das ist richtig; aber mein Mann war gestorben. In der Fabrik explodierte der Kessel. Und was sollten wir machen? Sie war erst zehn Jahre alt, aber sehr kräftig. Und doch hat die Maschine sie getötet. Ja. Meine Tochter wurde getötet, und dabei war sie die beste Arbeiterin in der Fabrik. Ich habe oft darüber nachgedacht, und ich weiß es. Darum kann ich nicht in der Fabrik arbeiten. Die Maschine zerrüttet mir den Kopf. Ich höre immer, wie sie sagt: Ich tat es, ich tat es! Und das sagt sie den ganzen Tag. Und dann denke ich an meine Tochter und kann nicht arbeiten.«

Ihre Augen wurden wieder feucht, und sie mußte sie sich wischen, ehe sie weiter sticheln konnte.

Ich hörte den Bischof die Treppe heraufstolpern und öffnete die Tür. Was für einen Anblick bot er! Auf dem Rücken trug er einen halben Sack Kohlen, und obendrauf ein Bündel Holz. Sein Gesicht war von Kohlenstaub bedeckt, und der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Er stellte seine Last in die Ecke neben den Ofen und wischte sich das Gesicht mit einem bunten baumwollenen Taschentuch. Ich traute kaum meinen Augen. Der Bischof schwarz wie ein Kohlenträger, in einem billigen Arbeiterhemd (am Halse fehlte ein Knopf) und in Überziehhosen! Das war das Merkwürdigste von allem – die Überziehhosen, die, unten abgetreten, zu weit herabhingen und mit einem schmalen Lederriemen, wie Arbeiter ihn tragen, um die Hüfte geschnallt waren.

Dem Bischof war warm, aber der alten Frau krampften sich die armen geschwollenen Hände vor Kälte zusammen; und ehe wir sie verließen, hatte der Bischof Feuer gemacht und ich die Kartoffeln geschält und auf den Ofen gestellt. Mit der Zeit sollte ich erfahren, daß sich viele ähnliche Fälle wie der ihrige und noch weit schlimmere in den ungeheuren Arbeiterkasernen meiner Nachbarschaft verbargen.

Als wir in unsere Wohnung traten, war Ernst beunruhigt um mich. Nachdem die erste Überraschung sich gelegt hatte und sie sich begrüßt hatten, lehnte sich der Bischof auf seinem Stuhl zurück und seufzte mit sichtbarer Erleichterung. Wir seien die ersten von seinen alten Freunden, die er seit seinem Verschwinden sähe, sagte er. Er mußte in der Zwischenzeit sehr unter der Einsamkeit gelitten haben. Er erzählte viel, sprach aber am meisten von der Freude, die er bei der Ausübung des göttlichen Gebotes fühlte.

»Jetzt weide ich wirklich seine Lämmer«, sagte er. »Und ich habe eine große Lehre erhalten. Der Seele kann nicht geholfen werden, ehe nicht der Magen beschwichtigt ist. Zuerst müssen seine Lämmer Brot und Butter, Kartoffeln und Fleisch haben, und dann, dann erst sind ihre Seelen für feinere Nahrung empfänglich.« Er aß so herzhaft von dem Abendbrot, das ich bereitet hatte. Nie hatte er in alten Tagen an unserm Tisch einen solchen Appetit gehabt. Wir sprachen darüber, und er sagte, daß er sich nie im Leben so wohl gefühlt hätte wie jetzt.

»Ich gehe jetzt stets zu Fuß,« sagte er, und die Röte stieg ihm in die Wangen bei dem Gedanken an die Zeit, da er in seinem Wagen gefahren war, als sei es eine Sünde gewesen, von der er sich nicht so leicht lossprechen könnte. Und doch lag in seinem Gesicht eine immerwährende Qual, die Qual des Leides, das er jetzt auf sich genommen hatte. Er sah das Leben in seiner wahren Gestalt, und die war so ganz anders, als er es in seinen Büchern gelesen hatte.

»Und Sie haben die Verantwortung für alles das, junger Mann,« wandte er sich direkt an Ernst.

Ernst war verlegen.

»Ich – ich habe Sie gewarnt,« stotterte er.

»Nein, Sie mißverstehen mich«, erwiderte der Bischof. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, sondern ich danke Ihnen. Ich muß Ihnen danken, weil Sie mir meinen Weg gewiesen haben. Sie haben mich von den Theorien des Lebens zum Leben selbst geführt. Sie haben den Schleier vom sozialen Betrug weggezogen. Sie haben Licht in mein Dunkel gebracht, und jetzt sehe ich das Licht auch. Und ich bin sehr glücklich, nur ....« Er zögerte zerquält, und in seinen Augen lag eine tiefe Furcht. »Nur die Verfolgung. Ich tue niemand etwas zuleide. Warum läßt man mich nicht in Ruhe? Aber es ist nicht das. Es ist die Art der Verfolgung. Ich würde nichts danach fragen, wenn sie mir das Fleisch in Streifen schnitten, mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden oder mich kreuzigten. Was ich fürchte, ist nur die Anstalt. Denken Sie! Ich – in eine Irrenanstalt! Es ist empörend! Ich sah einige Fälle in den Sanatorien. Sie waren furchtbar. Das Blut erstarrt mir, wenn ich daran denke. Und für den Rest meines Lebens inmitten von Tobsucht und Wahnsinn eingesperrt zu sein! Nein! Nein! Nur das nicht! Nur das nicht!«

Er war bemitleidenswert. Seine Hände zitterten, sein ganzer Körper bebte zurück vor dem Bild, das er heraufbeschworen hatte. Aber im nächsten Augenblick war er wieder ruhig.

»Verzeihen Sie«, sagte er schlicht. »Ich bin so nervös. Und wenn das Werk des Herrn mich dorthin führt, so mag es sein. Wer bin ich, daß ich klagen dürfte.«

Als ich ihn ansah, hätte ich laut rufen mögen: Großer Bischof! Held! Held Gottes!

Im Laufe des Abends erfuhren wir noch mehr über sein Tun.

»Ich habe mein Haus – oder vielmehr meine Häuser –« sagte er »und meinen ganzen Besitz verkauft. Ich wußte, daß ich es heimlich tun mußte, weil man mir sonst alles weggenommen hätte, und das wäre schrecklich gewesen. Ich denke in diesen Tagen oft darüber nach, welch ungeheure Menge Kartoffeln oder Brot, Fleisch, Kohlen oder Holz man für zwei- oder dreihunderttausend Dollar kaufen könnte.«

Er wandte sich an Ernst.

»Sie haben recht, junger Mann. Die Arbeit wird schrecklich bezahlt. Ich habe nie in meinem Leben gearbeitet, außer, daß ich an die Pharisäer in ästhetischem Sinne appellierte – ich dachte, die göttliche Botschaft zu predigen –, und doch hatte ich eine halbe Million Dollar. Ich habe nie gewußt, was eine halbe Million Dollar bedeutete, bis ich ausrechnete, wieviel Kartoffeln, Brot, Butter und Fleisch ich dafür kaufen könnte. Und da machte ich mir noch etwas klar. Ich dachte darüber nach, daß all diese Kartoffeln, all dieses Brot, diese Butter und dieses Fleisch mir gehörten, und daß ich dabei nichts für ihre Erzeugung getan hatte. Es wurde mir klar, daß andere es getan hatten, und daß es ihnen geraubt worden war. Und als ich zu den Armen herabstieg, fand ich die, welche man beraubt hatte, und die dadurch hungrig und elend geworden waren.«

Wir veranlaßten ihn, den Faden seiner Erzählung wieder aufzunehmen.

»Das Geld? Ich habe es in vielen verschiedenen Banken unter verschiedenen Namen deponiert. Man kann es mir nie nehmen, denn man findet es nicht. Und Geld ist doch etwas so Gutes. Man kann soviel Nahrung dafür kaufen. Nie habe ich gewußt, wozu Geld gut ist.«

»Ich wünschte, wir hätten etwas davon für unsere Propaganda,« sagte Ernst sinnend.

»Meinen Sie?« sagte der Bischof. »Ich habe nicht viel Vertrauen zur Politik. Ich glaube, daß ich eigentlich nichts von Politik verstehe.«

Ernst war in solchen Dingen sehr zartfühlend. Er wiederholte seine Anspielung nicht, obgleich er die arge Verlegenheit, in der sich die sozialistische Partei durch ihren Geldmangel befand, nur zu gut kannte. »Ich schlafe in billigen Logierhäusern«, fuhr der Bischof fort. »Aber ich fürchte mich und bleibe nie lange an einer Stelle. Ferner habe ich zwei Zimmer in Arbeiterkasernen in verschiedenen Stadtgegenden gemietet. Das ist eine große Extravaganz, ich weiß, aber es ist notwendig. Ich mache es aber wieder gut dadurch, daß ich selbst koche, nur manchmal esse ich in billigen Restaurants. Und ich habe eine Entdeckung gemacht. Tamales Ein mexikanisches Gericht, das gelegentlich in der Literatur jener Zeit erwähnt wird. Man nimmt an, daß es sich um eine warme, starkgewürzte Speise gehandelt hat. Ein Rezept davon ist uns nicht überliefert.] sind ausgezeichnet, wenn die Luft spät abends kühl wird. Nur sind sie so teuer. Aber ich habe ein Lokal ausfindig gemacht, wo ich drei für zehn Cents bekomme; sie sind nicht so gut wie anderswo, aber sie wärmen doch.

»Und so habe ich endlich, dank Ihnen, junger Mann, meine Arbeit in der Welt gefunden. Das ist das Werk des Herrn.« Er sah mich an und zwinkerte mit den Augen. »Sie haben mich dabei erwischt, wie ich seine Lämmer weidete. Aber Sie werden mein Geheimnis sicher wohl verwahren.«

Er sprach scheinbar sorglos, aber hinter seinen Worten war doch die Angst zu spüren. Er versprach, uns wieder zu besuchen, aber eine Woche später lasen wir in der Zeitung den traurigen Fall des Bischofs Morehouse, der ins Napa-Asyl eingeliefert worden war, und für den es nur noch eine schwache Hoffnung gab. Vergebens versuchten wir zu ihm zu dringen. Und ebenso vergebens bemühten wir uns durchzusetzen, daß die Sache wieder aufgenommen und er nochmal untersucht würde. Wir konnten nichts weiter über ihn erfahren, außer der wiederholten Versicherung, daß noch eine schwache Hoffnung für seine Wiederherstellung vorhanden sei.

»Christus sprach zu dem reichen Jüngling, er solle all seinen Besitz verkaufen«, sagte Ernst bitter. »Der Bischof hat dieser Aufforderung gehorcht und ist in ein Irrenhaus gesperrt worden. Die Zeiten haben sich seit Christus geändert. Ein reicher Mann, der alles, was er hat, den Armen gibt, ist heute verrückt. Darüber ist nicht zu streiten.«


 << zurück weiter >>