Hermann Löns
Kraut und Lot
Hermann Löns

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Ein rohes Vergnügen

Eine Menge von den Leuten gibt es, die von der Jagd sagen, sie sei ein rohes Vergnügen, ein Sport, nicht würdig eines gebildeten Menschen. Hasenbraten essen sie aber sehr gern, lassen auch Rehrücken und Rebhühner nicht stehen; aber nachdenken tun sie nicht gern, denn sonst würden sie einen solchen Unsinn nicht daherreden.

Die Bedeutung der Jagd wird im allgemeinen viel zu gering eingeschätzt. Ihr reiner Nutzwert in volkswirtschaftlicher Hinsicht entzieht sich zu sehr der allgemeinen Kenntnis, da wir weder im Reiche noch in Preußen eine Jagdstatistik besitzen. Die von Preußen alljährlich veröffentlichte Zusammenstellung des in den Staatsforsten erlegten Wildes gibt nur einen ganz schwachen Einblick in die wirtschaftliche Bedeutung der Jagd und ihrer Nebenzweige.

Man hat schätzungsweise den Geldwert der Jagd festzustellen versucht und ist zu folgenden Zahlen gekommen, die aller Wahrscheinlichkeit nach aber viel zu niedrig sind. Die jährliche Nutzwildbeute im Reiche soll danach betragen: 22.400 Stück Rotwild, 13.600 Dammwild, 14.400 Sauen, 19.200 Rehe, 4.000.000 Hasen, 500.000 Kaninchen, 14.500 Auer-, Birk- und Haselhühner, 400.000 Rebhühner, 160.000 Wachteln, 240.000 Fasanen, 1.300 Trappen, 6.400 Waldschnepfen, 80.000 Bekassinen, 400.000 Enten, 2.000.000 Kramtsvögel; das sind nach Abzug von zwei Hundertstel Abfall jährlich 20 Millionen Kilo Wildbret im Werte von über 25.000.000 Mark.

Die Decken, Schwarten und Bälge von Nutzwild, also von Rot-, Dam- und Rehwild, Hasen und Kaninchen werden auf 2.500.000 Mark geschätzt. Bei der großen Preissteigerung, die die Bälge von Raubwild seit ungefähr zehn Jahren erfahren haben, ist auch das Raubzeug von bedeutendem volkswirtschaftlichem Werte. Die Ausbeute an deutschen Rauchwaren beziffert sich im Durchschnitt auf jährlich 11.000 Haus- und 6.000 Baummarder, 130.000 Füchse, 8.000 Dachse, 6.500 Ottern, 1.000 Wildkatzen, 4.000 Iltisse und 360.000 Hermeline, was bei Annahme von Durchschnittspreisen einen Marktwert von l.430.000 Mark ergibt.

Eine große Bedeutung hat ferner noch die Verarbeitung der Decken und Bälge, ebenso die des Haares, besonders der Hasenwolle, doch ist deren Abschätzung nur annähernd möglich, ebenso, wie der durch den Verkauf, die Verarbeitung und Zurechtmachung der Jagdtrophäen entstehende Volksverdienst. Man schätzt die erbeuteten Rothirschgeweihe und Damschaufeln auf jährlich 15.000, die Rehkronen auf 75.000 Stück, wozu noch die Abwürfe kommen, die beim Rot- und Damwild von ziemlich großer Bedeutung sind. Der Handelswert wird auf nur 200.000 Mark veranschlagt; da aber der Liebhaberwert durchschnittlich fünfmal so hoch wie der Materialwert zu veranschlagen ist, so ergibt sich immerhin schon mehr als eine Million Mark Erlös allein aus den Geweihen und Gehörnen. Andere Jagdtrophäen und der dadurch erzielte Umsatz, wie Keilerköpfe, gestopfte Bälge usw., sind noch gar nicht auf ihren wirtschaftlichen Wert eingeschätzt, doch kann man getrost annehmen, daß ungefähr die Hälfte aller der Objekte, die von den deutschen Ausstopfern zugerichtet werden, als Jagdtrophäen anzusprechen sind, während die andere Hälfte auf die Seite der Wissenschaft, Sammlerei und Liebhaberei zu schreiben sind.

Die unmittelbaren Einnahmen, die der Staat und die Gemeinden aus der Jagd ziehen, werden folgendermaßen abgeschätzt: Das Reich nimmt durchschnittlich 6 Millionen Mark aus Jagdscheinen ein. Vom 1. April 1904 bis zum 31. März 1905 gab Preußen 151.282 Jahresjagdscheine, 22.647 Tagesjagdscheine für Reichsangehörige und für Ausländer 387 Jahres- und 1.113 Tagesjagdscheine aus, wofür 2.360.626 Mark einkamen. Hiervon entfielen für die Provinz Sachsen 282.520, für Hannover 270.443, für Brandenburg 219.558, für Westfalen 212.072 Mark. Der Erlös, den die Gemeinden aus den Jagdpachten herausschlagen, wird für das Reich auf 40 Millionen Mark geschätzt. Aller genauen Berechnung entziehen sich die Summen, die von den Jägern für die Jagdreisen mit der Eisen- und Straßenbahn und mit Gespannen ausgegeben werden, desgleichen die Unkosten, die ihnen aus der Besoldung von Jagdaufsehern, Treibern, für Hundehaltung, Eingatterung, Wildfütterung und Fanggeräte erwachsen. Die Kosten für Jagdverwaltung, Jagdschutz, Jagdbetrieb, Wildhege und Raubzeugvertilgung werden auf 15 Millionen Mark angeschlagen, sind aber sicher viel zu niedrig genommen. Der durch die Zucht von Jagdhunden verursachte Güterumlauf wird auf 17 Millionen Mark eingeschätzt, die Einnahmen aus der Besteuerung von Jagdhunden auf eine Million.

Eine Statistik über die mit der Jagd zusammenhängenden Industrien und Gewerbe besitzen wir nicht, also über die Waffen-, Munition-, Fallen-, Jagdbekleidungs- und Lockinstrumentefabrikation. Der Jagdschriftsteller D. Brock nimmt an, daß alljährlich 80.000 neue Gewehre im Reiche verkauft werden, die einen Wert von 4 Millionen darstellen; der Munitionsverbrauch wird auf 2 Millionen veranschlagt, die Jagdausrüstung auf 6 Millionen, der dem Gastwirtgewerbe durch den Jägerverkehr, das Jagdvereins- und Ausstellungswesen zufallende Verdienst auf 2, die Reise- und Wildversandkosten auf 1 Million. Die wirtschaftliche Bedeutung der Jagdliteratur und der damit verbundenen Papierindustrie und des jagdlichen Kunsthandels beziffert man auf ungefähr 6 Millionen Mark. Die meisten dieser Zahlen dürften zu gering bemessen sein. Ihr Gesamtergebnis ist folgendes: Wildbret: 25 Millionen, Häute, Bälge, Geweihe: 5, Jagdscheine: 6, Jagdpacht: 40, Jagdverwaltung: 15, Hunde: 18, Ausrüstung usw.: 12, Vereins- und Austellungswesen: 2, Reise, Wildversand usw.: 1, Literatur und Kunst: 6, zusammen 130 Millionen Mark, wovon 30 Millionen auf den Kapitalwert und 100 Millionen auf den Arbeitswert entfallen, während außerdem der Wildvorrat des Reiches auf 75 Millionen Mark geschätzt wird. Gegenüber dem Fleische von Vieh und Geflügel spielt das Wildbret im Volkshaushalte nur eine verhältnismäßig geringe Rolle. Der größte Teil unsere Wildes wird bei uns verbraucht, doch geht auch eine ganze Menge davon ins Ausland, besonders das wildarme Frankreich ist auf deutsche Hasen angewiesen. Anderseits beziehen wir sehr viel Wild aus dem Auslande, Böhmen, Niederösterreich und Ungarn liefern uns Massen von Fasanen und Rebhühnern, die Mittelmeerländer Wachteln und Schnepfen, Rußland und Skandinavien Wald- und Schneehühner, sowie Rennwildbret, Schottland Moorhühner.

In ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung liegt aber bei weitem nicht der Hauptwert der Jagd, sondern dieser dürfte noch von ihrer rassestärkenden, rasseerhaltenden Wirkung übertroffen werden. Wenn ein Volk, wie das deutsche, zu einer so hohen Kulturstufe gelangt ist, wird es notwendigerweise zu einer Vernachlässigung und Geringschätzung der körperlichen Arbeit kommen und immer mehr in eine künstliche, unnatürliche und auf die Dauer ungesunde Lebensführung hineingeraten. Jede Naturentfremdung aber führt zu Entartung. Aus einem ganz gesunden Gefühle heraus neigt nun besonders die städtische Bevölkerung dazu, den durch ihre vorwiegend geistige Beschäftigung vernachlässigten Körper durch den Sport zu seinem Rechte kommen zu lassen. Jeder Sport, welcher Art er aber auch sein mag, ist immer nur ein Notbehelf, ist ein Selbstbetrug, der einem ernsthaft veranlagten Volke auf die Dauer nicht genügen kann; zudem liegt uns Deutschen der Sport im Grunde gar nicht, allein schon deshalb, weil der Durchschnitt unserer Bevölkerung noch nicht so verkünstelt in seiner Lebensführung ist, als daß ihm nicht die Beschäftigung in und mit der Natur als schönste Erholung erschiene.

Wenn nun auch in den letzten Jahrzehnten, in denen die Lebensführung der Bevölkerung Deutschlands viel künstlicher geworden ist, der rein städtische Sport eine gewaltige Ausdehnung erfahren hat, so haben doch die ursprünglichsten Sportarten, die Jagd und die Fischerei, in demselben Maße an Umfang gewonnen. Die Kultur drängt unser Volk immer mehr von der Natur ab; darum greift es begierig nach allem, was es wieder der Natur, dem großen Körper- und Seelenbade, zuführt. Wenn auch scheinbar vielfach der Wunsch, den Kavalier zu spielen, so manche Leute bewegt, die Flinte in die Hand zu nehmen, schließlich liegt darin doch das unbewußte Bestreben, sich aus der Kompliziertheit des städtischen Lebens und der Hetzjagd des Berufes in einfachere Verhältnisse zu retten und durch eine urwüchsige Beschäftigung das Gleichgewicht zwischen dem überreizten Geiste und dem vernachlässigten Körper wiederherzustellen. In dem Maße, wie die Jagdleidenschaft zunimmt, werden große, zum größten Teil städtische Schichten des Volkes wieder an die Natur gewöhnt, werden durch sie in ihrem Denken und Empfinden umgestaltet, kommen von der Überschätzung der Überkultur zurück, werden also einfacher und gesunder. So ist die Jagd ein wichtiges Mittel, die Schäden der Überkultur abzuschwächen und der Rassenentartung vorzubeugen.

Noch in anderer Weise ist sie von der größten volklichen Bedeutung. Wildhege läßt sich zum großen Teil nur in einem Gelände ausüben, das im allgemeinen das Gepräge der Urwüchsigkeit zeigt. Die Forst- und die Landwirtschaft sind ihrem innersten Wesen nach aber Todfeinde aller urwüchsigen Bodenbeschaffenheit. Andererseits ist die Wirkung urwüchsigen Geländes, ursprünglicher Wälder, Moore und Heiden von nicht zu unterschätzender Wirkung auf die Ausbildung der Volksseele. Die kahle Ackerbausteppe, der durchforstete Wald langweilen auf die Dauer das Gemüt; es will ab und zu wilde Natur haben, will die Kultur vergessen. Nicht zum geringsten Teile haben wir es der Jagd zu verdanken, daß unsere Wälder, Moore und Heiden vielfach noch das urwüchsige Gepräge zeigen; die Rücksicht auf das Wild hielt den Staat und den Großgrundbesitz ab, aus dem Walde eine reine Nutzforst zu machen, und so haben Staat und Großgrundbesitz unbewußt schon seit Jahrhunderten Heimatschutz und Naturdenkmalspflege getrieben, die heute von dem Staate als wichtige Aufgabe betrachtet werden.

Hand in Hand mit dieser unbewußten Naturdenkmalspflege ging der heute erst planmäßig betriebene Schutz der einheimischen Tierwelt. Hätte es keine staatliche Jagdpflege gegeben, so wären mit dem Hirsche und der Sau viele schöne und seltene Vogelarten verschwunden, die mit dazu beitragen, uns die Heimat lieb und wert zu machen, und mit den urwüchsigen Beständen wären viele schöne und seltene Pflanzen vernichtet worden. Jede Beraubung unserer Natur bedeutet aber eine Verarmung des Volksgemüts, eine Schwächung des Heimatsgefühls und eine Verringerung der Vaterlandsliebe. Je bunter, mannigfaltiger und abwechslungsreicher eine Landschaft ist, um so lieber ist sie ihren Bewohnern, um so fester hält sie diese, denn wenn es auch oft so scheint, als seien die rein wirtschaftlichen Verhältnisse allein dafür ausschlaggebend, in Wirklichkeit ist es nur zum Teil der Fall, und somit ist der Einfluß, den die Jagd seit Jahrhunderten mittelbar auf die Gestaltung unseres Vaterlandes und dadurch auf das Heimatsgefühl und die Bodentreue ausübte, nicht hoch genug anzuschlagen. Und so ist die Jagd doch wohl mehr als bloß ein rohes Vergnügen.


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