Hermann Löns
Kraut und Lot
Hermann Löns

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Hahnenfieber

Es gibt unterschiedliche Arten von Hähnen: Zins-, Mist-, Gewehr-, Kampf-, Kirchturm-, Manöver-, Kanarien-, Haupt- und andere Hähne. Im Vordergrund des jagdlichen Interesses steht in der demnächstigen Zukunft der Birkhahn.

Die Farbe des Birkhahns ähnelt im großen und ganzen denen des Deutschen Reiches, doch ist das Schwarz mehr ein schillerndes Blau. In der Jugend ist er etwas weniger patriotisch gefärbt. Das Gefieder der Birkhenne ist politisch indifferent.

Das Beste am Birkhahn ist nächst dem Braten das Spiel, worunter man den Stoß begreift, denn einen Schwanz hat er bekanntlich ebensowenig wie die übrigen jagdbaren Tiere, z. B. das Reh. Sonstige Eigentümlichkeiten des Birkhahnes sind, daß er auf jeder Feder ein Auge hat, wodurch er stets in der Lage ist, sich über alles, was um ihn vorgeht, so gut zu orientieren, als ob er ein Orientale wäre. Ferner besitzt er eine große Abneigung gegen Schrotkörner, die er nur dann annimmt, wenn es gar nicht anders geht.

Lange bevor Ernst von Wolzogen und die sieben Scharfrichter auftraten, erreichte der Birkhahn schon Überbrettl, indem er mit mehreren von seinesgleichen jeden Morgen um dieselbe Stunde zusammenkam und mit Spiel und Tanz sich und die im Kreise versammelten weiblichen Festteilnehmer ergötzte. Wie sein Gesang dem Schnadahüpfl, so ähnelt sein Tanz dem Schuhplattler. Der Hahn macht bald einen langen Hals und bläst sein Tschuhuit, oder er trommelt wie unklug und rutscht dabei über die Erde. Manchmal hopst er in die Höhe, manchmal läßt er es bleiben. Zu diesen Überbrettlvorstellungen ladet sich der Jäger gern zu Gast. Er macht sich in der Nähe der Bühne ein Loch in die Erde, steckt Wachholderzweige herum und bezieht bei nachtschlafender Zeit diese Parterreloge, um der Dinge zu warten, die da kommen sollen.

Meist kommt erst eine ganze Weile gar nichts, nur daß irgendwo im Hintergrunde die Mooreule seufzt. Dann geht in der Luft das Gemecker der Bekassinen los. Darauf macht sich der Wind auf, worauf der Jäger kalte Füße bekommt, weswegen er einen Schnabus trinkt, infolgedessen es ihm nach einer Viertelstunde so kalt über den Rücken läuft, daß er noch einen trinken muß. Eine ganze Weile kommt dann weiter nichts als eine Gänsehaut nach der anderen. Die kalten Füße verlängern sich bis an die Gegend, wo die Hosenträger ihr Ende finden. Auch die Finger werden bis an die Schultern kalt, das, was zwischen den Zehen und Fingern sitzt, schließlich auch, und der Jäger stellt mit Entsetzen fest, daß seine Pulle nichts mehr enthält.

Um sich zu erwärmen, raucht er, worauf sich jener Zustand einstellt, der den spanischen König seinerzeit veranlaßte, auszurufen: »Der Aufruhr gärt in meinen Niederlanden.« In diesem schönen Augenblick geht es: »Dß, dß, dß« über den Jäger hin, »buff« sagt es, denn nun wird die Sache erst richtig, denn der Hahn ist da. Wo, das weiß der Jäger nicht, er weiß nur, daß er sich jetzt nicht rühren darf. Eine Viertelstunde vergeht; dem Jäger wird elend. Es folgt eine zweite Viertelstunde; dem Jäger wird nicht besser. Eine dritte Viertelstunde sinkt im Meere der Vergessenheit; der Jäger nimmt alle fünf Sinne zusammen, aber sowohl der Un- wie der Schwach-, der Stumpf- wie der Blöd-, ja sogar der Irrsinn lassen ihn im Stiche. Er hört nichts als das Schweigen, und er sieht nichts als die Dunkelheit.

Endlich hört er halblinks einen Ton, ähnlich dem eines Menschen, dem etwas übel wird. Erst denkt der Jäger, sein eigener innerer Mensch sei es, denn ihm ist danach zumute, aber bei reiflicher Überlegung kommt er zu dem Ergebnis, der Hahn müsse es gewesen sein. Nach einer Viertelstunde hört er den Ton wieder. Und dann ist abermals alles still. Endlich, als der Jäger schon im Hintergrunde seiner Seele den freventlichen Wunsch äußert, im warmen Bett geblieben zu sein, hört er halbrechts einen andern Ton. Der Hahn schüttelt sein Gefieder. Dem Jäger läuft es so warm über den Rücken wie beim Kaisergeburtstagsessen, als ihm der Lohndiener die Suppe hinter den Halskragen goß.

Mittlerweile wird es auch ein wenig heller. Durch die Schießlücke zwischen den Wacholderbüschen seines Schirmes sieht der Jäger einen dunklen Fleck, der sich bewegt. »Er ist es!« frohlockt des Jägers Herz. Da geht, es rechts: »Tschuhuit.« Also ist er es nicht, sondern ein Busch Heide. Aber nun wird die Szene lebendig. Die Mooreule gibt ein ulkiges Couplet zum besten. Der Kiebitz trägt eine rührselige Romanze vor. Alles bei verdunkelter Bühne. Endlich wird es etwas heller, so hell, daß der Jäger sagen kann: »Wenn das da vor mir kein Binsenbusch ist, dann ist es der Hahn oder ein Heidbult, wenn es überhaupt etwas ist.« Und nun balzen auf einmal zwei Hähne bei ihm, nein drei, oder sogar vier, wenn nicht fünf. Einen sieht er genau.

Wäre der Jäger nun schlau, dann schösse er. Er schösse ja vorbei, denn das, was er sieht, ist der Hahn nicht, und wenn er es wäre, so knallte er erst recht daneben. Aber dann jagte er wenigstens alle Hähne fort und könnte ohne Gewissensbisse machen, daß er fortkäme; denn in seiner rechten Keule zwickt es ihn bedenklich und in der linken Schulter auch, und ein siebenmal verlöteter Backenzahn, der seit Wochen keinen Spur von eigenem Leben mehr verriet, beginnt, sich auf seine alten Rechte zu besinnen, und verlängert sich ein wenig. Aber der Jäger bleibt sitzen, teils weil er zuviel Charakter, teils weil er zu wenig eigenen Willen mehr hat. Die vier Hähne um ihn herum haben ihn mit ihrem Blasen und Kullern so hypnotisiert, daß er die freie Selbstbestimmung völlig verlor. Und so sitzt er und beobachtet teils die dunklen Klumpen, die er für Hähne hält, teils die Fortschritte, die die Ischias in seiner rechten Lende und der Rheumatismus in seiner linken Schulter machen.

Ein scharfer Wind pustet über das Moor. Das Heidkraut bedeckt sich mit Reif, der Jäger mit einer neuen Gänsehaut. Es scheint ihm allmählich, als hätte er längst jeden inneren Zusammenhang mit seinen Zehen verloren. Am Himmel taucht ein Rosenschimmer auf. Ergriffen von der Schönheit des Vorfrühlingsmorgens klappert der Weidmann heftig mit den Zähnen, wobei er feststellt, daß die siebenmal plombierte Festruine in der letzten Viertelstunde um das Doppelte ihrer vorschriftsmäßigen Länge zugenommen hat.

Die Sonne geht mit einem plötzlichen Ruck auf. Ringsum balzen die Hähne, nur die nicht, die irgendwo um den Schirm des Jägers sein müssen. Der Brachvogel flötet so jämmerlich, als hätte er sich die Zehen erfroren. Ein vorüberfliegender Schwarzspecht lacht den Jäger aus, desgleichen eine Krickente, desgleichen eine Mooreule, desgleichen die Bekassine, desgleichen der Kiebitz, desgleichen die Krähe, desgleichen die Schwarzdrossel, desgleichen der Pieper, desgleichen der Würger, desgleichen der Grünspecht. Der Jäger lacht hysterisch in sich hinein. Er sieht eine Fata Morgana vor sich, bestehend aus einem warmen Bett, und darin liegt er, und seine Frau bringt ihm heißen Kaffee mit zwei dick belegten Brötchen, oder Kakao, oder Tee, oder Punsch, oder Grog, oder Fleischbrühe, oder seinetwegen auch heiße Milch, kuhheiße Milch, wenn möglich mit einem Kognak oder zweien; drei schaden auch nicht.

Er strengt seine Augen an, daß sie wie bei einem Hummer aus dem Kopfe kommen. Er versucht seine Ohren zu verlängern. Alles balzt herum, nur seine vier Hähne balzen nicht. Aber auf hundert Schritt balzt einer. Der Jäger überlegt, ob er nicht mit einer Kugel hintupfen soll. Beinahe ist er entschlossen, da balzt es dicht bei ihm. Er stößt einen lautlosen Fluch aus. Da balzt nun ein Hahn zu weit und einer zu nahe. Wenn er will, kann er ihm einen Tritt geben. Aber schießen? Kein Schimmer von einem Schein von einer Spur von einer Ahnung von einem Dunst von einer Idee einer Möglichkeit. Erstens würde der Hahn in tausend Fetzen geschossen und zweitens geht es überhaupt nicht. Der Jäger hat das Gefühl, als habe er einen Ameisenhaufen unter dem Hut, dessen Einwohner zur Gründung einer Zweitniederlassung über seinen Rücken marschieren. Ein wohltätiger Schweiß stellt sich ein. Ihm folgt ein weniger wohltätiges Frostgefühl. Der Senior der Hähne macht sich immer bemerkbarer.

Der Hahn balzt vor den eiskalten Zehen des Jägers und nun balzt auch unmittelbar hinter dem Rücken des Jägers ein Hahn. Eine Henne fußt auf dem Schirm unmittelbar über dem Kopfe des Jägers und macht sich in der gemeinsten Weise über den unglücklichen Menschen lustig. Weit weg fällt ein Schuß. Das Herz des Jägers ist eine Mördergrube. Da streicht die Henne fort und die Hähne folgen ihr. Der Jäger kann nun singen: »Ich bin allein auf weiter Flur«, aber er tut es nicht. Er trampelt sich die Eisbeine warm und stellt mit Befriedigung fest, daß der Hahn vor ihm, von dem er glaubte, daß er nicht mehr da sei, nun auch abstreicht. Wutentbrannt steckt er seinen Kopf aus dem Schirm. Da geht noch ein Hahn ab. Der Jäger sinkt in sich selber hinein. Er schnürt den Rucksack auf und langt ein Butterbrot heraus. Gerade hat er sein Butterbrot ausgekramt, da fällt in guter Schußnähe ein Hahn vor ihm ein. Er hat das Knittern des Papiers vernommen und äugt scharf nach dem Schirm hin. Der Jäger sitzt da wie eine ägyptische Königsbildsäule, nur daß er kein Sichelschwert, sondern ein Schinkenbutterbrot in der Hand hat. Das Gewehr liegt gesichert zu den Füßen des Jägers. Die Sachlage ist einfach niederziehend und bleibt es eine ganze Viertelstunde.

Fünfzehn geschlagene Minuten äugt der Hahn nach dem Schirme. Fünfzehn geschlagene Minuten sitzt der Jäger da, ein Viertel des Schinkenbutterbrotes im halboffenen Munde, den Rest in der fieberisch zitternden Männerhand. In allerliebster Abwechslung laufen ihm kalte und warme Schweißausbrüche über die gerunzelte Epidermis. Zur richtigen Zeit stellt sich ein Hustenreiz ein und nötigt den Jäger, seine Backentaschen schnell von ihrem Inhalte gemischter Nahrung zu befreien. War die Situation bisher shakespearisch, so wird sie jetzt sophokläsisch, entwickelt sich zum Schicksalsdrama schwerster Gattung.

Der Jäger denkt: »Nun brauchte ich nur noch zu niesen, dann war es richtig.« Die durch diesen Gedanken beeinflußte Nase beeilt sich ihn in die Tat umzusetzen. Er sucht sie daran zu verhindern, indem er sie mit Daumen und Zeigefinger krampfhaft schließt. Aber die Nase niest nun gerade, und nicht zu knapp, nur infolge der Fingerpressung etwas außergewöhnlich, so daß es klingt, als ob ein Birkhahn blase. Der Hahn da drüben fällt auf den Schwindel hinein. Er hält die Nase des Jägers für einen Nebenbuhler und beeilt sich, den Nebenbuhler, daß heißt in Wirklichkeit die Nase, aus dem Felde zu schlagen. Er reckt den Hals, sperrt den Schnabel auf und zischt. Der Jäger macht ein Gesicht wie ein Schafottanwärter, dem der Staatsanwalt die Begnadigungsurkunde vorliest. Aus jedem Auge laufen zwei dicke Tränen, von denen je zwei die Freude, je zwei die Nasenexplosion zur Ursache haben. Der Jäger, bis eben noch ein willenloser Spielball unlenkbarer körperlicher Kräfte: Epidermisrunzelung, Schweißdrüsentätigkeit, Hüftnervenaffektion, Zahnwurzelhautentzündung, Hustenreiz und Nieszwang, ist mit einem Male wieder ein höheres, mit freiem Willen und Vernunft begabtes Wesen. Ruhig und besonnen bückt er sich, nimmt das Gewehr auf, spannt es, zieht den Kolben an die Backe, schiebt die Mündung durch die Schießlücke, krümmt den Drückefinger und nimmt den Hahn auf das Korn.

In demselben Augenblick streicht der Hahn ab und fällt zwanzig Schritte weiter rechts ein. Das Antlitz des Jägers, das eben die Siegesfreude mit purpurner Glut bedeckte, wandelt sich mit affenartiger Plötzlichkeit zu fahlem Asch- oder Eselgrau um und der Ausdruck seines Gesichtes weist neunzig Prozent Intelligenz weniger auf, als von einem zum aktiven und passiven Wahlrechte befähigten Staatsbürger billig verlangt werden kann. Was er denkt, ist nichts Christliches. Der Hahn sitzt in der langen Heide. Der Jäger sieht nichts als den Kopf mit feuerroten Rosen. »Oller Siegellackkopp,« knirscht er vor sich hin, und frißt erst seinen Grimm, dann sein Schinkenbutterbrot in sich hinein, und als er damit fertig ist, tut er so, als pfiffe er auf alle Birkhähne, wappnet sich angesichts der Fatalitäten dieses Morgens mit Fatalismus und steckt sich eine Zigarre in die verlängert Physiognomie. Kaum brennt sie, da balzt der Hahn los. Einen Hopser nach dem anderen macht er, und bei jedem kommt er dem Jäger besser. Der hat längst die Zigarre in den feuchten Boden gesteckt, wo sie ächzend und stinkend ihren blauen Geist aufgab, und nun sitzt er da, hat den Kolben an der Backe und wartet, daß der Hahn schußgerecht kommt.

»Jetzt,« denkt er, »nur noch einen Hopser, dann hab' ich dich.« Aber der Hahn macht keinen Hopser mehr, sondern einen langen Hals. Der Jäger bekommt es mit der Angst und denkt: »Der Hahn hat mich geäugt.« Kreidebleich wird ihm zumute. Das Herz klopft dem Jäger erst im Halse, dann im Flintenkolben, dann im Gewehrschaft, dann im Gewehrlauf, so daß der hin und her pendelt wie ein freudig erregter Hundeschwanz. Jedes Glied gibt sich auf eigene Kanne Bier dem Veitstanze hin. Der Jäger ist kein Mensch mehr. Was er ist, weiß er nicht genau, aber er hat so eine Ahnung, daß er eine Kreuzung von Kamelelefantenkalb und Hammelkuh sei, ein Riesen- oder Abgottsidiot in idealer Konkurrenz mit einem Gummizelleninsassen hoch Vier, ein zielbewußter Idiot, ein konsequenter Gehirnweichling, ein umgekehrter Übermensch oder sonst etwas Außergewöhnliches. Fünf Minuten später sind seine Gefühle anderer Art. Denn der Hahn gibt einen seltsamen Ton, ein giftiges, haßerfülltes Girren von sich, und fortwährend girrend, schiebt er sich, einer schwarzweißroten Schlange ähnelnd, durch das Heidkraut, und gerade wie der Jäger den Finger krumm machen will, da kommt der selbe böse Ton von links, und von da schiebt sich auch ein Hahn näher, und jetzt stehen sich beide gegenüber, zischend, girrend, kullernd, und nun fahren sie aufeinander los, ein schwarzweißroter Ball wirbelt in dem Heidkraut umher, merkwürdige Laute erschallen, Federn, Grasblätter, Heidkrautstengel, Sand und Steine sausen in der Nachbarschaft herum, im Hintergrunde applaudieren sieben Hennen laut und anhaltend, und jetzt hält es der Jäger für angebracht, der häßlichen Szene ein Ende zu machen. Er krümmt den Finger, es knallt, rundherum ist alles blau und es riecht beträchtlich nach Pulver.

Der Jäger steht auf. Langsam verzieht sich der Dampf. Da liegt ein Hahn; er rührt sich nicht mehr. Der andere kam mit dem Leben davon. Schade! denkt der Jäger und geht hin, seinen Hahn zu holen. Da liegt der andere Hahn auch, ebenso tot wie der andere. Der Jäger nimmt die Hähne auf. Er hat alles vergessen, Hunger, Kälte, Übelkeit, allgemeine geistige Körperschwäche, sogar den Zahnveteranen. »Das Weidwerk das ist voller Lust und alle Tage neu,« denkt er und sucht im Rucksack seine Zigarrentasche. Die Tasche ist da, die Zigarren sind hin; sie vertragen es nicht, tritt man sie mit Füßen. Aber selbst über diesen Schmerz setzt er sich hinweg. Er hat zwei Hähne. Und was für Hähne! Alte Haupthähne! Mit Spielen, so lang, und mit Rosen, wie Daumendöppe dick!

Vor einer Stunde schwor er noch, sofort nach Hause zu fahren und nie wieder zur Balz zu gehen. Jetzt denkt er anders; er will noch einen Tage draußen bleiben, vielleicht auch zwei, wenn nicht gar drei.

Denn nun hat es ihn erst recht, das Hahnenfieber.


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