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In Risch und Rohr

Fern von der lauten Welt liegt mein Unterkriech. Ein Einzelhof ist es, im wilden Bruch belegen. Ganz altväterisch ist das Haus. In einem einzigen Raume wohnt der Bauer samt seinem Vieh und zwei Klucken mit ihren Küken. Keine Stube, keine Lämmer enthält das Haus; die Schränke und Truhen stehen auf der Diele, auf der das offene Feuer unter dem Kesselhaken brennt; die Schlafstätten sind Alkoven in der Wand neben den Viehständen. Einen davon hat man mir eingeräumt.

Wenn ich nicht pirsche, sitze ich auf dem Binsenstuhle am Feuer, rauche aus der langen, angeschwärzten Tonpfeife den krausen Tabak, der neben dem Feuer in einem offenen Fäßchen steht, trinke ab und zu einen Schluck Tee aus dem Köppje, sehe den Küken zu, die zwischen den Stühlen herumpiepen, und lasse mir von dem Beßvater von den Zeiten erzählen, da es hier noch keinen Kanal und so viel Wasser gab, daß die Leute nur hoch zu Roß, Mann und Frau auf einem Pferde, zur Kirche kommen konnten.

Auch heute noch gibt es im tiefen Bruche Wasser genug, und der eine Teil sieht wie ein märkisches Luch aus. Es ist mir die liebste Ecke in der Jagd, denn zwischen ihm und der Heide, in den Porstdickungen, steht der Bock, den ich haben will. Der Bauer kennt ihn schon seit Jahren und behauptet, es sei mit ihm nicht richtig, weil er weder auf Pirsch und Anstand, noch vor Treibern oder Hunden zu Schusse gekommen sei. Als ich ihm sagte: »Bevor er hier nich an der Wand hängt, min leiwe Jan, gah' eck nich weg,« grinste er und meinte: »Dann büst du noch öbers Jahr um düsse Tied hier, Junge!«

Fast will es mich dünken, als solle er recht behalten. Eine volle Woche weidwerke ich hier nun schon in Risch und Rohr und habe den Bock erst zweimal gesehen, einmal im Frühnebel, das andere Mal spät abends. Beide Male war es zu weit für die Kugel. Heute will ich es zur Abwechslung mit der Mittagspirsch versuchen. Es hat von zehn bis elf Uhr gegossen und deshalb glaube ich, daß der Bock aus den tropfenden Dickungen auf die Blößen austreten wird. Wenn ich aber nur wüßte, wo ich ihn suchen soll, im Porstbruch oder auf den Wiesen, im Stangenholze oder auf den Dämmen. Er findet überall Äsung genug, und Deckung ist mehr da, als mir lieb ist.

Ganz sachte und behutsam pirsche ich den Damm entlang, fortwährend nach rechts und links blickend, denn überall kann der Schlaumeier stehen. Neulich äste er sich, wie mir der Hoferbe erzählte, ganz gemütlich auf der Wiese hin, obschon nicht weit davon die fünfzig Gänse des Bauern weideten. Heute steht dort aber nur der Spießbock, und ich schlendere weiter, ohne von ihm gewahrt zu werden. Augenweide habe ich in Hülle und Fülle. Die Gräben sind mit weißen Hahnenfußblüten und den Blumenquirlen der Wasserprimel bedeckt, überall leuchten die gelben Lilien, rote und weiße Kuckucksblumen, Sternkraut und Günsel zieren die Böschungen, und die Maidornbüsche sind beladen mit Blütendolden. Dazu stehen die Eichen im jungen Laube, die neuen Birkenblätter blitzen nur so, und es lebt und webt und singt und klingt in allen Büschen.

Nun bin ich an dem Sumpfe, über dessen blankem, von Weiden, Rohr, Schilf und Risch durchbrochenem Spiegel Dutzende von Trauerseeschwalben auf und ab fliegen, dann und wann herniederstoßend und ein kleines Getier aufnehmend. Eine Wildentenmutter samt ihrer Brut kommt aus dem Röhricht geschwommen, warnt aber sofort und verbirgt sich wieder, weil dort hinten die Rohrweihe heranschaukelt. Ich pirsche langsam weiter, trete einen Reiher vor mir fort, den ich leicht herabholen könnte, aber leben lasse, bekomme dort, wo der Sumpf von dem Porstbruche abgelöst wird, einen leuchtend roten Fleck zu sehen, schleiche mich dichter und dichter heran, ohne erkennen zu können, was es ist, bis er sich endlich, nach halbstündigem Passen, als eine alte, hochbeschlagene Ricke entpuppt, die faul und bequem auf demselben Flecken herumäst. Ich komme an ihr vorbei, ohne daß sie Arg vor mir hat, und bin nun vor dem Porstbruche.

Hier an die Eiche habe ich sieben Knüppel als Tritte genagelt und kann sie so leicht erklimmen und in den Sitz gelangen, den ich mir in ihrer Krone gemacht habe. Abend für Abend habe ich hier gesessen und auf den Bock gepaßt, ihn aber nur zweimal erspäht. Es ist möglich, daß er ein jedes Mal vor mir war, aber an den meisten Stellen stehen die Büsche so dicht, daß man auch vom Hochsitze wenig sehen kann. Ich lasse meine Augen über das grüne Gewirr schweifen, von rechts nach links und von links nach rechts, rauche, denke halbe Gedanken und träume undeutliche Vorstellungen, sehe der Rohrweihe nach, die über das Bruch hinwegschwebt, und bekomme allmählich faule Augen, denn ich habe in dem dumpfen Alkoven und wegen des Gerassels, das das Vieh vollführte, nur wenig schlafen können.

Da leuchtet plötzlich zwischen den Porstbüschen etwas Rotes auf und meine Augen werden wieder munter. Daß es ein Reh ist, sehe ich, und daß es mein Bock nicht sein kann, erkenne ich auch, denn der hat ein viel stärkeres Gebäude. Und nun, da es voll auf die Lichtung tritt, kann ich es genau ansprechen; es ist ein Schmalreh. Und daß es nicht allein ist, merke ich daran, daß es in einem fort hinter sich äugt. Sehr vorsichtig drehe ich mich mehr nach links und spanne den Büchsenlauf des Drillings, des Bockes wartend, der dort kommen müßte. Doch die Schmalricke zieht nach rechts hin, und eine Weile nachher höre ich es rechter Hand brechen, und breit und blank steht der Bock in bester Schußnähe da. Obgleich mir das Herz bis in den Hals hinein schlägt, wende ich mich sehr bedächtig, denn so nahe hatte ich den Bock noch nie, und es ist einer, der sich lohnt; mächtig ist sein Gebäude, eisgrau das Gesicht, und das Gehörn stark, hoch, breit ausgelegt und prächtig vereckt.

Ich warte, daß er etwas mehr nach links hin ziehen soll, aber er tut gerade das Gegenteil, und es ist mir unmöglich, mich so weit zu drehen, ohne Geräusch zu machen. Langsam zieht er der Stelle zu, wo das Reh verschwand, und taucht in den Büschen unter. Mit langem Gesichte sehe ich ihm nach, überlege, wie ich es anfangen soll, um ihm den Paß abzuschneiden, klimme nach einer Weile hinunter und schlage den Damm zur Linken ein, um unter den Wind zu kommen, denn wenn ich nicht sehr irre, wechselt der Bock der frischen Wiese vor der Heide zu. So pirsche ich denn eilig, doch behutsam, voran, immer zwischen den Rohrdickichten hin, die die abgebauten Torfstiche ausfüllen, immer in Sorge, daß ich den Bock überpirschen könnte, fortwährend die Augen nach den Seiten werfend, und Obacht auf jedes dürre Blatt und jeden trockenen Zweig am Boden gebend, denn hier in der Stille geht kein Geräusch verloren, wenn auch Grasmücke und Laubvögelchen, Rohrsänger und Moorammer noch so lebhaft singen.

Flüchtig nur streife ich die veilchenblauen Blüten des Fettkrautes, den zierlichen, hellgrünen Farn, die glitzernde Blattrose des Sonnentaus am Grabenborde, achte des Wiesels kaum, das vor mir über den Damm schlüpft, und der Schlingnatter, die sich eilig zur Seite schlängelt, wie mein Schatten auf sie fällt, bin aber etwas ärgerlich, wie neben mir aus dem Graben eine Ente mit großem Gepolter und viel Geplärre aufsteht, und sehr wenig froh, daß ein Birkhahn, der sich im Torfmull badete, mit Lärm hochgeht, denn alles das könnte den Bock warnen. Darum schleiche ich an dem alten Entenfange, der ganz voll von blühenden Schwertlilien ist, und auf dem die Enten mit Vorliebe liegen, besonders behutsam vorbei, und dann stehe ich hinter einem über und über mit weißer Samenwolle bedeckten Weidenbusche vor der Wiese und mache ein sehr dummes Gesicht, denn in ihrer hintersten Ecke zieht soeben der Bock hinter dem Schmalrehe in das Röhricht. Die Sonne scheint, die Wiese blüht, Falter fliegen, Vögel singen, und mir ist so, als wäre Herbst und der Regen rauschte auf mich herunter.

Doch dann muß ich mich selber auslachen. Solchen Heimlichtuer, wie diesen Bock, binnen einer Stunde in solchem Gelände zweimal zu Blick zu bekommen, das ist schon allerlei, und da aller guten Dinge drei sein sollen, mag es am Ende doch noch schlumpen. Ich schleiche bis dahin, wo ein zu Dreivierteln ausgetrockneter Graben das Röhricht teilt, und in dem pirsche ich mich voran, Schritt um Schritt ganz bedachtsam setzend. Der Schilfrohrsänger schwatzt, irgendwo ruft ein Rohrhuhn, Schwalben zwitschern über mich hin, Spitzmäuse schrillen im Risch, und ganz leise ruschelt der laue Wind im alten Rohr. Ich passe scharf auf den Rauch meiner Pfeife, um nicht mit falschem Winde zu kommen, und horche angestrengt in das Dickicht hinein. Da, ein roter Fleck, der Bock! Aber nein, es ist nur ein krankhaft gefärbtes Blatt, das mich narrte. Aber brach es hier nicht laut genug, hier dicht vor mir, daß es ein Reh sein könnte? Doch nein, es ist nur eine Maus, die dort herumhüpft. Und das, was neben mir im Rohr rispelt und krispelt, ist nur ein Vogel.

Weiter darf ich mich aber nicht vorwärts wagen, sonst komme ich über den Wind. Es ist ja möglich, daß der Bock schon über den Graben gezogen ist, aber nicht sehr wahrscheinlich, denn er hatte es wenig eilig. Ich suche mir eine Stelle an dem Grabenufer, wo ich bequem sitzen und weit genug spähen kann, und dort kauere ich mich hin, mich so klein wie möglich machend und mein Gesicht versteckend, so gut es geht. Die hohen Halme um mich ruscheln leise, die Rohrsänger schwatzen auf eintönige Art, Bienen summen, fern weg flötet der Pfingstvogel immer und immer dieselbe Weise; ich muß mich zusammennehmen, daß ich nicht einschlafe. Zudem brütet die Sonne hier über die Maßen und heftiger Durst brennt mir im Halse. Ich kaue an einem jungen Rohrhalme, sehe bald den Käferchen zu, die auf der Grabensohle umherrennen, bald dem Rohrsänger, der an den Halmen auf und ab klettert, bin froh, daß ein Spitzmauspärchen, das sich zwischen den Rischbülten jagt, mich aus der Schlafsucht reißt, und horche währenddem scharf in das Röhricht, ob ich es darin nicht treten und brechen höre.

Schon ist fast eine Stunde vergangen, daß ich hier bin, und ich habe das Lauern reichlich satt, zumal mir die Beine einschlafen und der Rücken zu schmerzen beginnt von dem regungslosen Sitzen. Aber eine halbe Stunde will ich noch darangeben, und dann noch einmal alle Blößen absuchen, denn ich habe so das Gefühl, als müsse ich heute zu Schusse kommen. Eine Viertelstunde vergeht, ohne daß sich im Geröhr etwas rührt, und noch eine, und schon denke ich daran, aufzustehen und freue mich darauf, wie ich mich recken und strecken will, da bricht es über mir ganz laut, und aus dem Rohr schiebt sich das Schmalreh, äst ein paar Blättchen und tritt über den Graben. Mein Herz beginnt Polka zu tanzen, denn wieder bricht es vor mir, und das ist niemand anders als der Bock. Ich wage nicht, das Büchsenschloß einzustechen, und das leise Beben der Arme verstärkt sich, je länger ich warten muß. Aber es dauert und dauert und dauert, ehe es sich wieder rührt; dann aber steht der Bock breit wie eine Scheibe vor mir, erst nach mir hinäugend, dann nach der anderen Seite, und sobald er das Haupt wendet, habe ich das Korn auf seinem Blatte, drücke und sehe hinter dem Feuer her, daß er gut zeichnet, und wie ich aufspringe und horche, höre ich es einige Augenblicke heftig und regellos rauschen und brechen und dann poltert es, und das Brechen kommt nur noch von derselben Stelle; der Bock liegt.

Ich stecke eine neue Kugelpatrone ein, spanne die Schrotläufe und gehe langsam und mit so wenig Lärm, wie es geht, der Stelle zu, von wo das Schlagen ertönt. Nach dreißig Gängen stehe ich bei dem Bocke, der nur noch mit den Läufen etwas schnellt, und keinen Versuch mehr macht, hochzukommen, als ich ihn an die linke Stange fasse und ihm mit dem Messer den Rest gebe. Dann schleppe ich ihn auf den Damm, breche ihn auf, hänge ihn an eine Eller, rode das Gescheide ein und werfe mich der Länge nach auf den Rücken, bis eine Viertelstunde vergangen ist und der Bock ausgeschweißt hat. Noch einmal betrachte ich das Gehörn, das bei weitem nicht so brav ist, wie es mir am lebenden Bocke vorkam, denn es verliert von der Mitte ab alle Stärke und die Enden sind schlecht vereckt.

Mit dem schweren Bocke auf dem Rücken gehe ich langsam dem Hofe zu, wo die Bäuerin ganz erstaunt die Hände hochhebt, wie ich ihr den Rucksack vor die Füße lege. Aber als ich mit meinem Köppje Kaffee und einem Teller voll Buchweizenpfannkuchen mit Sirup vor dem Feuer sitze und der Bauer hereinkommt, da macht er noch rundere Augen als seine Frau, denn er ist ein ganz guter Jäger, und hat diesen Bock doch nicht bekommen können. »So'n Dusel,« meint er. »Wahrhaftig, es is der olle. Du kannst aber auch mehr, als bloß Brot essen, Junge!« Ich lache und sage: »Ja, Jan, auch Boakweitenjanhinnerk,« auf den Teller weisend, und ich setze hinzu: »Un' Genever drinken kann 'ck ook!«

Da lacht er und holt die Flasche vom Wandbrett, schenkt mir einen Wacholder ein und sagt: »Zur Gesundheit! Und nun kommt der Bock vom Hünenberg an die Reihe!«


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