Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Zeitungsvortrag beim Polizeipräsidenten hatte eben pünktlich um zwölf Uhr begonnen, als Geheimrat von Werden vom Ministerium des Innern sich in dringender dienstlicher Angelegenheit melden ließ. Der Polizeirat, der über den Inhalt der Morgenausgaben Bericht erstattete, mußte den dicken Stoß der von den Lektoren durchgesehenen und mit Zeichen versehenen Blätter liegen lassen und im Vorzimmer warten. Dort wandelte er ungeduldig auf und ab, denn die Zeitungen strotzten heute von wichtigen Mitteilungen. An der Spitze standen die Darstellungen des geheimnisvollen Leichenfundes, die mit eingehenden Schilderungen der nächtlichen Tatbestandsaufnahme einen Hauptteil einnahmen. Dazu kamen die Berichte über das Ausbleiben Aida Langlots bei der Generalprobe zur Phädra. Es fehlte bereits auch nicht an Andeutungen, ob der furchtbar verstümmelte Körper nicht die Leiche der schönen Schauspielerin sei, zumal eine Mitteilung aus dem Theaterbüro bestätigte, daß die Nachforschungen nach ihrem Verbleibe bisher zu keinem Ergebnisse geführt hatten. Damit war natürlich Gelegenheit für die interessantesten und kühnsten Kombinationen gegeben, die zwischen Raub- und Lustmord hin und her schwankten, je nachdem eine Beschreibung märchenhafter Schmuck- und Juwelenschätze oder eine Erörterung krankhafter Sexualempfindungen mit Rücksicht auf den Leserkreis angemessener erschienen war. Demgegenüber traten selbst die Berichte über die Demonstrationszüge zurück, deren Ablenkung und Beruhigung dem geschickten Vorgehen der Schutzmannschaft ohne Zwischenfälle gelungen war.
Jetzt verließ der Ministerialvertreter das Arbeitszimmer des Präsidenten. Aber die Geduldprobe des Polizeirates war noch nicht erschöpft. Denn der Vorsteher des Zentralbüros mußte die eben eingetroffene Krankmeldung, des Assessors Berenberg vorlegen und erhielt den Auftrag, sofort den Kriminalinspektor Stretter zum Vortrag zu bestellen. An seiner Stelle erschien der Kommissar vom Dienst, der aber nur melden konnte, daß Doktor Stretter sich zum Obduktionstermine begeben habe, vor dessen Abschluß eine sichere Identifizierung der Ermordeten nicht möglich sei. Nun erst konnte der Zeitungsvortrag Fortgang nehmen, dem jedoch die rechte Aufmerksamkeit des Hörers fehlte.
»Ich bin heute stark in Anspruch genommen«, meinte der Präsident, »über den Mord und die Demonstrationen erhalte ich auch von der Kriminalpolizei und vom Kommando der Schutzmannschaft direkt Bericht. Also wenn Sie sonst nichts Besonderes haben, wollen wir abbrechen.«
Und selbst der kleine Trumpf, den der Polizeirat sich auf den Schluß verspart hatte, zündete nicht recht. Er kannte die Vorliebe des Präsidenten für Hof- und Gesellschaftsaffären und legte mit erwartungsvoller Spannung die Arbeiterzeitung vor. Eine kurze Notiz teilte mit, daß die Königsgeburtstagsfeier in einem der vornehmsten Klubs ein beschämendes Nachspiel durch eine Prügelei zwischen Offizieren gefunden habe. Zur großen Überraschung des Vortragenden ging Herr von Barneck nicht auf den Vorschlag ein, Nachforschungen nach der Quelle und den Beteiligten anzustellen. Er winkte vielmehr ziemlich ärgerlich ab, indem er etwas von Sensationsmacherei und Hetzarbeit murmelte.
Inzwischen war Doktor Stretter eingetroffen. Er sah blaß und strapaziert aus, da er überhaupt nicht geschlafen, sondern den Rest der Nacht zur Einleitung der planmäßigen Ermittlungen verwendet und dann der gerichtlichen Leichenschau beigewohnt hatte. Er befand sich aber in trefflicher Laune, angeregt und ganz ausgefüllt von Spürlust und Berufsfreude. Der Bericht, den er dem Präsidenten erstattete, klang sehr hoffnungsvoll. Die Identität der Ermordeten mit Aida Langlot war so gut wie erwiesen. Die von den Gerichtsärzten vorgenommenen Körpermessungen und die darauf gestützten Berechnungen der Größenverhältnisse der fehlenden Teile hatten zur Rekonstruktion einer Gesamtfigur geführt, die der Erscheinung der verschwundenen Schauspielerin durchaus entsprach. Dieses Ergebnis wurde durch weitere Berechnungen bestätigt, denen die Fußlänge der Vermißten, entnommen dem Maße eines in ihrer Wohnung gefundenen Schuhes zugrunde gelegt war. Die Länge der Sohle gestattet nach feststehenden Erfahrungssätzen ziemlich sichere Rückschlüsse auf die übrigen Körperverhältnisse.
»Ich habe deshalb«, fuhr Doktor Stretter fort, »den Nachdruck der Ermittlungen darauf gelegt, die Lebensverhältnisse der Langlot zu klären und darf bei dieser Gelegenheit anknüpfen, daß unter dem schön klingenden Künstlernamen sich niemand anders verbarg, als die so lange gesuchte Lehrertochter Anna Lenndorf. Für den Ermittlungsplan sind also von vornherein zwei Wege gegeben. Kommissar Unkermann mit seinen Beamten durchforscht«das hiesige Milieu, in dem Aida Langlot sich bewegte. Kommissar Doktor von Erdmann ist heute früh nach der Heimat der Anna Lenndorf. gefahren, um dort mit Hilfe der Ortsbehörde die etwa aus der früheren Zeit sich ergebenden Spuren aufzunehmen. Kommissar Bonholt bearbeitet die Verdachtsgründe, die mit der Möglichkeit rechnen, daß die Ermordete doch eine andere Person gewesen ist.«
»Wozu das«, fragte der Polizeipräsident, »wenn Sie die Identität mit der Langlot sicher annehmen?«
»Eine kriminalistische Grundregel lehrt, sich nicht von vornherein auf einen einzigen Verdacht festzulegen, sondern auch die scheinbar abseits führenden Spuren zu verfolgen, die später leicht wichtig werden können und dann nur schwer oder gar nicht mehr aufzuklären sind.« Der Präsident nickte zustimmend:
»Ja, und wie steht es mit solchen Nebenspuren?« »Kommissar Bonholt rechnet mit der Möglichkeit, daß die Tote die Geliebte des Schwarzen Müller, die Whiskymieze, ist. Sie hat ihn uns vor einigen Tagen in die Hände gespielt aus Arger, weil er sie verprügelt hatte. Seitdem fehlt sie in der Bar, in der sie Mixerin war. Der Kollege nimmt an, daß Müller von ihrem Verrat gehört und sie aus Rache umgebracht hat, bevor er festgenommen wurde.«
»Sie scheinen diese Ansicht nicht zu teilen, Herr Inspektor?«
»Offen gestanden, nein, Herr Präsident. Ich habe Herrn Bonholt natürlich freie Hand gelassen, der Spur nachzugehen. Er ist heute morgen schon zum Untersuchungsgefängnis gefahren, wo Müller sitzt, um ihn mit Erlaubnis des Richters zu verhören. Ich glaube aber nicht, daß dabei etwas heraus kommt. Solch alter, erfahrener Einbrecher ist an Verrat und Verhaftung gewöhnt. Das rechnet er zu den Geschäftsunkosten und regt sich darüber nicht so auf, um sein Konto noch mit einem Morde zu belasten. Außerdem hatte er kaum Zeit zu einer so raffinierten Beseitigung der Leiche, denn wir haben gleich zugegriffen und ihn sofort geholt, nachdem die Mieze ihn verpfiffen hatte. Und daß ein anderes Mitglied der Bande den Racheakt vollzogen hat, ist mir noch unwahrscheinlicher. Romantisch-sentimentale Treubegriffe gegen den Führer liegen der Wildwest-Kolonne ziemlich fern. Das ist eine moderne Verbrechergesellschaft mit beschränkter Haftung, der Gewinn wird geteilt, sein Risiko trägt jeder für sich, und unnötiges Blutvergießen scheuen sie alle. Bleibt also nur, daß die Whiskymieze rote Haare hat, was nach dem ärztlichen Gutachten auch auf die Ermordete zutrifft.«
»Und daß sie verschwunden ist«, warf Herr von Barneck ein.
»Will bei der Sorte nicht viel sagen, Herr Präsident, die tauchen öfter mal unter und wieder auf. Schließlich einigen Grund, sich in ihren Kreisen jetzt nicht sehen zu lassen, hat die Mieze schon nach dem ungalanten Streich, den sie ihrem Freunde und Beschützer gespielt hat. Kommissar Bonholt dürfte übrigens inzwischen zurück sein. Wenn Herr Präsident gestatten, frage ich ihn telephonisch nach dem Ergebnisse.«
Der Präsident reichte den Hörer seines Tischapparates hinüber, Doktor Streiter ließ die Verbindung herstellen.
»Hallo, Kollege Bonholt, sind Sie da? Nun, was haben Sie festgestellt?«
Die Antwort schien den Inspektor in Erstaunen zu setzen.
»Herr Bonholt bittet selbst heraufkommen und eine wichtige Mitteilung machen zu dürfen«, meldete er dem Präsidenten, der zustimmend nickte. Doktor Streiter gab die Nachricht weiter:
»Der Herr Chef läßt bitten, kommen Sie sofort.«
Der junge Beamte, der nach wenigen Minuten das Zimmer betrat, befand sich in sichtlicher Erregung, die er nur mühsam durch korrekte Haltung bezwang. Sein Bericht lautete kurz und bündig:
»Die Ermordete ist die Bardame Marie Kulawski, genannt Whiskymieze, der Mörder ihr Geliebter, der Schwarze Müller.«
Das ablehnende Kopfschütteln des Vorgesetzten brachte einen leicht gereizten Ton in den weiteren Vortrag des Kommissars:
»Herr Inspektor dürfen mir schon glauben, daß ich über sichere Unterlagen verfüge. Müller hat in meiner und des Untersuchungsrichters Gegenwart ein volles Geständnis abgelegt.« –
»Und das nennen Sie eine sichere Unterlage?« lautete die kühle Frage des Inspektors.
Der Präsident nahm das Wort: »Herr Doktor Stretter, führt Sie Ihr Vertrauen in die von Ihnen verfolgte Spur nicht etwas zu weit? Es spricht doch manches für die Annahme des Herrn Bonholt. Wer wird sich grundlos eines Mordes bezichtigen? Sie wissen ja: confessio regina probationum – das Geständnis ist die Königin aller Beweise!«
»Auch mit dieser Beweisregel hat die moderne Kriminalpsychologie längst aufgeräumt«, widersprach Doktor Stretter höflich, aber bestimmt. »Falsche Geständnisse werden sehr häufig und aus den verschiedensten Gründen abgegeben. Ich halte davon fast so wenig wie von Zeugenaussagen – reale Indizien, Augenschein, Photographie, Mikroskop, chemische Reaktion, Fuß- und Fingerspuren, alles, was ich sehen, hören, riechen – meinetwegen auch schmecken kann, das sind Beweise. Der Teufel mag wissen, welches Plänchen mein alter Freund Müller ausgeheckt hat. Er weiß ganz genau, daß von der Voruntersuchung bis zur Hauptverhandlung und Verurteilung ein weiter Weg ist, mit vielen schönen Gelegenheiten zum Widerruf. Wahrscheinlich will er Herrn Bonholt nur einen Schabernack antun, zum Danke für rauhe Behandlung beim ersten Verhöre.«
Kommissar Bonholt lächelte siegesgewiß:
»In wenigen Stunden hoffe ich auch mit realen Indizien dienen zu können. – Müller wird uns noch heute zeigen, wo er den Kopf und die übrigen fehlenden Körperteile vergraben hat. Vielleicht wird der Herr Inspektor mir dann glauben.«
»Lieber Kollege«, lenkte Doktor Stretter ein, »ich wollte Sie nicht kränken, die Auffindung des Kopfes würde selbstverständlich die Identität ergeben und Ihren Erfolg bestätigen, den ich Ihnen von Herzen gönne. Aber der Schwarze Müller ist ein gefährlicher Gegner für uns Kriminalisten, und ich bin offen gestanden höchst gespannt, zu hören, wie Sie ihn so schnell zur Strecke gebracht haben.«
»Es ging durchaus nicht schnell. Er war zuerst furchtbar frech und abweisend. Lachte uns ins Gesicht und machte unpassende Witze. Wir sollten nur eine Pulle Whisky vor das Polizeipräsidium stellen, dann würde Miezeken sich sofort heil und gesund dort einfinden. Da kam ich auf den Gedanken, ihn auf den Bluffer zu nehmen. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß er die fehlenden Körperteile vergraben habe und dabei beobachtet worden sei. Die Wirkung war ungeheuer. Er war zuerst sprachlos und starrte mich wie entgeistert an. Dann brach er zusammen, wurde ganz klein und demütig, schluchzte beinahe und gestand. Er sehe nun ein, daß kein Leugnen helfe. Seine Wut habe ihn fortgerissen, die Unglückliche zu erschlagen, was er jetzt tief bereue. Er erklärte sich auch bereit, uns an die Stelle in der Wildauer Forst zu führen, wo Kopf und Arme vergraben liegen, und den der Ermordeten abgenommenen Schmuck auszuliefern, den sein Bruder in Verwahrung habe. Der Herr Untersuchungsrichter hat sofort die Fahrt nach der Forst für heute Nachmittag vier Uhr angeordnet und auch gleich den Bruder holen lassen, um die Wahrheit des Geständnisses nachzuprüfen. Er wurde zuerst von mir im Nebenzimmer vernommen und leugnete natürlich alles. Darauf erbot Müller sich zur Gegenüberstellung.«
»Das lehnten Sie selbstverständlich ab«, bemerkte Doktor Stretter.
»Aber weshalb? Ich durfte doch die weiche Stimmung und das Entgegenkommen des Angeschuldigten nicht vorübergehen lassen.«
»Herr des Himmels«, stöhnte der Inspektor und fuhr sich verzweifelt mit beiden Händen in die Haare, deren Fülle wohl unter der Häufigkeit dieser Operation bereits merklich gelitten hatte. »Kollege Bonholt, wo haben Sie Ihr Examen gemacht? Wie konnten Sie während einer anhängigen Untersuchung zwei so ausgekochte Jungen zusammenlassen wie den Schwarzen Müller und Bruder Nante.«
»Ich habe alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um jede Durchstecherei zu verhindern. Ich selbst stand zwischen beiden, ein Auswechseln von Kassibern war ausgeschlossen.«
Doktor Stretter seufzte resigniert: »Müller und Bruder Nante brauchen keine Kassiber. Wenn die sich bloß ansehen, wissen sie schon genug.« –
»Auch das Ansehen habe ich verhindert. Müller mußte seinem Bruder den Rücken zudrehen.«
»Und wie verlief die Unterhaltung? Bitte, um möglichst wortgetreue Wiedergabe.«
»Der Schwarze Müller erklärte ganz kurz: ›Gib das Armband, die Brosche und die Ohrringe heraus, die du von mir bekommen hast. Sie gehörten der Mieze. Ich habe gestanden, daß ich das Mädel totgeschlagen und ihren Kopf in der Wildauer Forst beim Knick der großen Automobilstraße vergraben habe. Sorge für ihr Kind!‹ Dann wurde Müller sofort abgeführt. Der Ferdinand Müller war ganz erschüttert. Dem Beamten, der ihn nach seiner Wohnung zurückgebracht und die Schmuckstücke geholt hat, erzählte er unterwegs immer wieder, daß er so etwas seinem Bruder nicht zugetraut habe, noch dazu gegen die Mieze, in die der Schwarze so vernarrt war.«
»Wo ist der Schmuck? Wo ist Bruder Nante?«, fragte Stretter. –
»Die Schmucksachen hat mein Wachtmeister unten, Ferdinand Müller ist vom Herrn Untersuchungsrichter entlassen worden, da ihm keine Mitwisserschaft nachzuweisen war. Ich selbst, Herr Präsident, bitte mich jetzt entfernen zu dürfen, es ist dreiviertelvier Uhr; in einer Viertelstunde wollen wir mit Müller nach der Forst fahren, um die Leichenteile auszugraben.«
Herr von Barneck hatte sich erhoben.
»Gewiß, Herr Kommissar, gehen Sie. Ich danke für Ihren Vortrag und Ihre eifrigen Bemühungen, denen hoffentlich der Schlußstein des Erfolges nicht fehlen wird.«
Er wendete sich an Doktor Stretter, dem er die Hand reichte:
»Ich weiß, Herr Inspektor, daß Ihnen die Ermittlung des Täters und die sachliche Aufklärung höher steht als alles Persönliche. Sie werden den jungen Kollegen mit Ihrer großen Erfahrung beraten und unterstützen.«
Die beiden Beamten waren entlassen und verabschiedeten sich auf der Treppe schnell voneinander. Der ältere suchte in tiefem Nachsinnen sein Büro auf, der junge Kommissar bestieg glückstrahlend das vor dem Polizeipräsidium wartende Automobil, das ihn mit drei Begleitern nebst Spaten, Hacke und andern Geräten zum Untersuchungsgefängnis führte. Der Wagen fuhr in den inneren Hof ein, der still und düster zwischen den hohen Mauern mit ihren gleichmäßigen Reihen vergitterter und abgeblendeter Fenster lag. Der Schwarze Müller wurde von den Aufsehern übergeben und nahm auf dem Rücksitze Platz, daneben ein Beamter, der ihn an der Handfessel hielt, gegenüber der Kommissar und ein zweiter Beamter, während der dritte sich zum Lenker auf den Bock setzte.
Die Laune des Gefangenen war mürrisch und trübe und wurde anscheinend auch nicht durch den Anblick der Selbstladepistolen gebessert, mit denen die Inhaber des Vordersitzes sich angelegentlich zu schaffen machten. Mit nervöser Lüsternheit sog er den Rauch, der von der Zigarette des Kommissars aufstieg, in die Nase. Aber selbst eine gereichte Zigarre, die er mit Hilfe der freien Hand rauchte, machte ihn nicht mitteilsam. Er verlangte in Ruhe gelassen zu werden, an Ort und Stelle werde er alles zeigen, der Wagen solle auf der großen Autostraße etwa zwanzig Schritte vor der Biegung halten.
Dann brütete er wieder finster vor sich hin. Das Auto durchquerte das Villenviertel im Westen der Stadt, verfolgte die im bunten Herbstlaub prangende Parkallee und bog schließlich in die Fahrstraße, die sich mitten durch die Wildauer Forst bis zu dem Dorfe gleichen Namens hinzog und um diese Stunde nur geringen Verkehr zeigte. Etwa nach zehn Minuten weiterer Fahrt begann Müller aufmerksam zu werden und durch das Fenster zu spähen. Dann erklärte er:
»Hier ist es.«
Zugleich hielt der Wagen schon, da die scharfe Wendung der Straße nach Norden fast erreicht war. Der Beamte vom Bock sprang herab, dem Gefangenen wurde eine zweite Fessel um das andere Handgelenk gelegt, und der Marsch begann. Kommissar Bonholt ging voran, dahinter der Gefangene zwischen seinen beiden Führern, ein Wachtmeister mit den Gerätschaften folgte. Müller gab die Richtung an:
»Gerade aus neben der Autostraße, jetzt links am Knick vorbei, dort auf die Senkung bei den drei Bäumen zu.« Hier machte er halt und begann dann langsam vorwärtsschreitend den Boden mit dem Fuße abzutasten. Plötzlich blieb er wieder stehen und blickte nach seiner Gewohnheit gleichgültig zum Himmel.
»Nun Müller«, mahnte der Kommissar, »keine Müdigkeit vorgeschützt, wo ist die Grube?« Der Angeredete zuckte die Achseln:
»Ich sage überhaupt nichts, wir haben Zuschauer.«
Einige Schritte seitwärts waren ein Herr und eine Dame, beide in guter, unauffälliger Kleidung, erschienen, die mit staunendem Interesse das Treiben des Gefesselten und seiner Wächter beobachteten.
»Bitte, gehen Sie weiter, und stören Sie uns nicht«, rief Bonholt ihnen zu. Der Herr erwiderte ruhig:
»Ich glaube dasselbe Recht zu haben, mich hier zu ergehen, wie Sie.«
Der Kommissar bekam einen roten Kopf:
»Sie sehen doch, daß eine Amtshandlung vor sich geht, also machen Sie, daß Sie weiter kommen. Sie ziehen sich sonst Unannehmlichkeiten zu.«
Jetzt wurde auch der Herr erregt:
»Das möchte ich doch mal abwarten. Zunächst verbitte ich mir diesen Ton. Ich bin in meinem Auto herausgefahren, um mit meiner Frau etwas frische Luft zu genießen und habe nicht die geringste Lust, mich durch Beamtenwillkür um meine Erholung bringen zu lassen.« Bonholt trat drohend auf ihn zu, indem er seine Erkennungsmarke vorwies:
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich nach Paragraph 162 der Strafprozeßordnung befugt bin, Sie wegen Störung einer Amtshandlung festnehmen zu lassen und fordere Sie zum letzten Male auf, weiterzugehen.« Der Herr zögerte noch und maß seinen Gegner mit zornigen Blicken, die Spannung wurde unbehaglich. Nur dem Schwarzen Müller schien das Intermezzo Freude zu bereiten, denn er betrachtete die kleine Szene und die Verlegenheit des Kommissars mit breitem, fröhlichen Grinsen. Seine Hoffnung auf weitere Zuspitzung wurde aber zuschanden, denn jetzt griff die Dame beruhigend ein:
»So komm' doch, Adolf, was siehst du daran, dort fährt auch schon unser Auto vor.« Sie deutete auf einen großen, offenen Rennwagen, der soeben die Biegung der Straße genommen hatte und langsam vorwärtsfuhr.
In demselben Augenblick ertönte ein mehrstimmiger Schrei. Müller hatte blitzschnell hintereinander erst dem einen, dann dem anderen seiner Begleiter furchtbare Fußtritte in den Unterleib versetzt, sich losgerissen und rannte mit großen Sprüngen auf das offene Auto zu. Einer der Beamten wälzte sich stöhnend auf der Erde. Mehrere Schüsse, die von den anderen auf den Flüchtigen abgegeben wurden, knallten vorbei. Dann aber stürzte Müller aufschreiend nieder, sprang jedoch sofort wieder auf und rannte weiter, obwohl am linken Arm verletzt, den er mit der rechten Hand umklammerte. Die Beamten stürmten hinterher, aber ehe sie ihn erreichten, war Müller auf die Chaussee gelangt und in den Wagen geklettert, der in rasendstem Tempo mit ihm davonjagte und bereits den Blicken entschwunden war, ehe das kleine Dienstauto der Polizei angekurbelt und bis zum Straßenknie vorgefahren war. Nach der Stadt zu aber rollte ebenfalls im Geschwindtempo ein dritter Wagen, aus dem Herr Adolf und Frau Gemahlin rückwärtsgebeugt den unglücklichen Polizisten fröhliche Abschiedsgrüße zuwinkten.
* * *
Kriminalinspektor Doktor Stretter hatte lange in seinem Arbeitszimmer gesessen und die Wahrscheinlichkeit der von ihm verfolgten Spur gegen die Täterschaft des Schwarzen Müller abgewogen. Wie der Polizeipräsident richtig hervorgehoben hatte, dachte er wirklich objektiv genug, um dem jungen Untergebenen den Triumph der Entdeckung zu gönnen. Völlige Sicherheit konnte ja erst die Auffindung des Kopfes bringen, zumal auch das Ergebnis der Ermittlungen in der Heimat der Anna Lenndorf noch ausstand. Aber der Schwarze Müller als freiwillig geständiger Mörder – dieses Bild wollte dem Kriminalinspektor gar nicht in den Sinn. Er beschloß, soweit es gegenwärtig möglich war, mit eigenen Augen zu prüfen, und begab sich in das Amtszimmer Bonholts, wo er sich von dem anwesenden Wachtmeister die ausgelieferten Schmuckstücke vorlegen ließ. Ein schmales Armband aus schwarzem sämischen Leder trug abwechselnd schön gerundete dunkelgraue Perlen und in gebrochener Buntheit leise schimmernde Opale. Die einfache Goldfassung der Brosche umschloß einen tiefroten Karneol, in den ein Männerkopf von antiker Arbeit geschnitten war. Die Ohrringe waren zum Einschrauben eingerichtete, mittelgroße, grauglänzende Perlen. Doktor Stretter betrachtete das Geschmeide aufmerksam.
»Also das ist der Schmuck der Whisky-Mieze?« Der Wachtmeister machte ein bedenkliches Gesicht:
»Ich weiß ja nicht, Herr Inspektor, ich bin kein Kenner, aber für die Mieze scheint mir das Zeug da doch ein bißchen einfach.«
»Einfach? Lieber Wachtmeister, das sind sehr schöne und auch sehr kostbare Stücke, mehr wert, als wir beide zusammen im Vermögen haben.«
»Mag ja sein, Herr Inspektor, ich will nicht widersprechen, wie gesagt, ich bin kein Kenner; aber die Mieze habe ich doch oft genug gesehen, und der Schmuck, den sie da am Leibe hatte, machte doch was andres her, schöne große bunte Stücke, an denen man seine Freude haben konnte.«
Doktor Stretter stimmte eifrig zu:
»Sehr richtig, Wachtmeister, ausgezeichnet beobachtet. Tun Sie mir doch mal den Gefallen und sehen Sie drüben beim Erkennungsdienst in der Damnifikatenkartothek nach, ob diese Sachen als gestohlen gemeldet sind, das Armband ist am charakteristischsten und leicht zu finden.«
Während der Beamte den Befehl ausführte, ging der Inspektor unruhig im Zimmer auf und ab. Sein Gesicht nahm dabei einen grübelnden und besorgten Ausdruck an, der sich noch verstärkte, als der Wachtmeister zurückkehrte und ihm schweigend ein Kartonblatt hinreichte. Es enthielt die genaue Beschreibung des Armbandes mit dem Zusatze: Eigentümerin Frau Geheimrat Dietert – worauf die Adresse und das Datum des dort verübten Einbruchs folgten.
»Da haben wir's« rief Doktor Stretter, während er einen seiner beliebten Angriffe auf sein viel mißhandeltes Haupthaar unternahm, »gestohlener Schmuck; nie im Leben hat den die Mieze zur Schau getragen. O, Müller, alter Erzgauner, wie hast du den armen Bonholt reingelegt. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wohin der ganze Schwindel zielt. Auf Entspringen durfte er bei der Bewachung doch nicht hoffen, und Hilfe von außen konnte er auch nicht heranziehen, wenn er Bruder Nante nicht angesehen und ihm nichts andres als die Auslieferung des Schmuckes aufgegeben hat. Sie haben ja die Unterredung mit angehört, Wachtmeister.«
»Gewiß, Herr Inspektor, er hat nur eingestanden, daß der Kopf am Knick der Automobilstraße vergraben liegt und hat angeordnet, der Nante solle Armband, Brosche und die Ohrringe herausgeben. Das schrie er ihm dann nochmals nach, als der andre ging: Also, bring die Sachen her, alle viere und noch heute.«
»Alle viere und noch heute«, wiederholte Doktor Stretter nachdenklich.
»Herr des Himmels« rief er plötzlich, »und für wann war die Abfahrt festgesetzt?«
»Für heute nachmittag vier –«, der Wachtmeister stockte und sah seinen Vorgesetzten kläglich an, der offenbar im Begriff stand, seiner bedauernswerten Frisur den Garaus zu bereiten. Dann zog Doktor Stretter ruhig die Uhr heraus und sagte:
»Es ist bald sechs, sie müssen gleich kommen.« Er setzte sich nieder und blickte erwartungsvoll auf die Tür. Minute auf Minute verging in Stillschweigen. Dann hörte man auf dem großen Lichthofe, nach dem die Fenster des Zimmers sich öffneten, ein Auto vorfahren. Gleich darauf betrat Kommissar Bonholt sein Büro. Etwa mit dem Ausdruck und in der Haltung des Admirals Sidonia, der im dritten Akt des »Don Carlos« den Verlust der Armada meldet, trat er vor Doktor Stretter hin:
»Herr Inspektor, ich bitte, das Verfahren wegen fahrlässigen Entweichenlassens eines Gefangenen gegen mich einzuleiten – der Schwarze Müller ist entsprungen.« –
Der Vorgesetzte nickte bedeutungsvoll:
»Gib die Sachen heraus, alle vier und noch heute! Was habe ich gesagt, lieber Kollege, der Schwarze Müller ist ein gefährlicher Gegner. Nun, beruhigen Sie sich nur; wir haben alle Lehrgeld bezahlen müssen, der alte Einbrecher läuft uns schon mal wieder ins Netz – und mit dem Leichenfund hat er ganz sicher nichts zu tun.«
Der Kommissar atmete erleichtert auf:
»Ich danke Ihnen, Herr Inspektor, und will mich nun auch streng an Ihre Fingerzeige halten. Sagen Sie mir bitte nur, welche Vorstellung Sie sich von dem Fall Langlot machen.«
»Ich rechne weder mit einem Raub- noch mit einem Lustmord«, erläuterte der Kriminalinspektor. »Zu holen war bei der Langlot nicht viel, der geringe Schmuck, den sie besaß, konnte kaum jemanden reizen. Nach den Mitteilungen, die ich aus Bühnenkreisen erhalten habe, war sie in festen Händen und würde von ihrem Freunde, einem Bildhauer Nadasny, ziemlich knapp gehalten. Sie soll ihm aber treu gewesen fern, trotzdem sie häufig Streit mit ihm hatte, besonders in den letzten Tagen, weil er ihr Auftreten als nackte Liebesgöttin nicht dulden wollte. Für ein verübtes oder versuchtes Sexualdelikt hat die Obduktion keinen Anhalt ergeben. Ich nahm zunächst einen plötzlichen Tod etwa durch Herzschlag bei einem verbotenen ärztlichen Eingriffe an. Aber das Obduktionsergebnis spricht dagegen. Wegen der Fingerspuren am Halse sowie nach dem Befunde in den Luftwegen halten die Gerichtsärzte Erwürgen für die Todesursache. Meine erste Vermutung hätte gut zu der Tatsache gepaßt daß die kunstgerechte Zergliederung zweifellos durch eine medizinisch geschulte Persönlichkeit vorgenommen worden ist. Natürlich denke ich dabei nicht gerade an einen Arzt, aber vielleicht an einen Heilgehilfen, eine Hebamme, Masseuse oder sonst jemanden, der von Berufs wegen mit der Anatomie und dem Bau des menschlichen Körpers vertraut …«
Doktor Stretter stockte plötzlich, lehnte sich tief zurück und blickte bewegungslos einige Sekunden vor sich hin.
»Was haben Sie, Herr Doktor«, fragte Kommissar Bonholt erstaunt, »sind Sie krank?« Der Kriminalinspektor hatte sich bereits wieder gefaßt.
»Mir ist sehr wohl, Kollege, es war weiter nichts – ich habe nur eben den Mörder entdeckt und muß schleunigst fort, die Verhaftung muß gleich erfolgen.«
Er war aufgesprungen und stürzte hinaus. Den Korridor durchlief er mit so strahlendem Gesicht, daß ein begegnender Kollege ihm neiderfüllt nachrief:
»Na, Stretter, Sie haben wohl wieder einen Orden bekommen?«
Aber der Kriminalinspektor gab keine Antwort. Er rannte die Treppen hinunter, riß im Vorbeilaufen das Zimmer des Bereitschaftsdienstes auf und rief hinein:
»Bitte gleich sechs Beamte zu mir«, dann eilte er in sein Büro, wo er sofort den Fernsprecher ergriff:
»Bitte Polizeigefängnis. Hier Stretter, ist Schabbesschmuhlchen eingeliefert? Kennen Sie nicht? Aber natürlich, gestern Abend von Revier Försterstraße. Den Namen wollen Sie wissen? Schabbesschmuhlchen, Sch wie Schaf, A wie Adam – ach so, den richtigen Namen, ja so, Samuel Mehlthau. Der ist da? Sofort mir vorführen!«
Die sechs angeforderten Kriminalschutzmänner waren eingetreten. Stretter sprudelte seine Befehle heraus:
»Sie, fahren zur Kunstakademie, ich lasse um ein kurzes Gutachten bitten, ob und welche anatomischen Kenntnisse bei einem akademisch ausgebildeten Bildhauer vorausgesetzt werden können. Sie fahren in das Museum, Antikenabteilung. Herr Direktor Janckow möchte Ihnen sagen, welche Diebstahlsmeldungen noch aus anderen Museen eingegangen sind. Sie holen die Wirtin von Fräulein Aida Langlot und bestellen den Kollegen, die dort Haussuchung halten, sie sollen sorgfältig nach Briefen des Bildhauers Nadasny suchen. Sie fragen telephonisch im Büro der ›Neuen Bühne‹ an, wer bei der Generalprobe mit dem Bildhauer Nadasny verhandelt hat und bringen diesen Herrn sofort zu mir. Und Sie beide per Auto in das Atelier des Bildhauers Nadasny«, – er schlug das Adreßbuch auf – »Akazienallee 35, Hof parterre, verhaften wegen dringenden Verdachtes des Museumsdiebstahles, im Atelier bewachen, nicht die geringste Veränderung dort dulden, mein Hinkommen abwarten – falls Nadasny nicht anwesend, sein Eintreffen abwarten – spätestens in einer halben Stunde Telephonmeldung hierher. Bitte los, meine Herren.«
Er saß bereits wieder am Fernsprecher:
»Bitte Kanzlei. Hier Kriminalinspektor Stretter. Drei Stenotypistinnen für mich bereit halten, auch für Nachtdienst.«
Die Ordonnanz trat mit der Meldung ein:
»Der Gefangene Mehlthau ist da.«
»Herein mit ihm«, befahl der Kriminalinspektor. Er nahm am Schreibtisch Platz, rieb sich vergnügt die Hände und sah erwartungsvoll dem angekündigten Besuche entgegen.
Der kleine Greis schritt zögernd herein in seinen langen Kaftan gehüllt, den er fröstelnd mit beiden Händen zusammengeschlagen hielt. Auf ein Zeichen Streiters sank er auf einen Stuhl zusammen. Dann begann er in klagendem Tone:
»Seit vierundzwanzig Stunden sitze ich alter Mann eingesperrt im Kittchen. Was wollen Sie von mir? Was habe ich verbrochen? Laßt mich doch in Ruhe meinen Handel treiben, der keinem Menschen schadet.«
»Auch darüber kann man recht verschiedener Ansicht sein«, entgegnete der Kriminalinspektor, »aber darauf kommen wir noch zu sprechen. Zunächst einmal Beweissicherung!«
Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer und ließ einen Beamten und ein junges Mädchen eintreten, worauf er erklärte:
»Der Herr Kriminalanwärter wird dem Verhöre als Zeuge beiwohnen, und Sie, wertes Fräulein, wollen Frage und Antwort stenographisch aufnehmen.«
Der Alte blickte verwirrt um sich und stammelte ängstlich:
»Herr Kommissar, was sind das für neue Sachen? Gott der Gerechte, was kann man mir vorwerfen, wenn ich schon habe mal verkauft, was ein anderer gestohlen hat, was ich doch nicht habe gewußt.«
»So, das geben Sie also zu«, fiel Streiter schnell ein, »daß Sie gestohlene Ware verkauft haben. Dann werden Sie uns auch sagen können, wo die Beute der Wildwest-Kolonne geblieben ist.«
»Ich weiß nichts, ich kenne die Sachen nicht«, murmelte Samuel, sich tiefer in den Kaftan verkriechend.
»Sie wissen also auch nichts von dem großen Raubzug der Bande? Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, daß der Schwarze Müller bereits gefangen sitzt?«
Der Alte schoß einen bösen Blick auf den Fragenden.
Dann wiederholte er brummend:
»Ich weiß nichts, ich kenne den Schwarzen Müller nicht.« –
»Also ist es ein Zufall, daß die Diebstähle an Kunstgegenständen gerade jetzt so zugenommen haben, seit Sie wieder im Lande sind?« –
»Warum soll es kein Zufall sein?« lautete die Gegenfrage Samuels, der zu der Überzeugung gelangt war, daß es sich doch um das übliche Verhör wegen Hehlerei handele. Aber dann spähte er argwöhnisch wieder nach der stenographierenden Sekretärin und dem zweiten Beamten und harrte unsicher der schlimmen Wendung, auf die solche ungewohnten Zurüstungen hinzudeuten schienen. Doktor Stretter beobachtete ihn scharf und stellte befriedigt den erwarteten Erfolg seines Vorgehens fest. Einem Fach seines Arbeitstischs entnahm er die von Rothagen gekaufte echte und die gefälschte Plakette aus dem Museum und hielt sie auf beiden flachen Händen Samuel hin:
»Was sagen Sie dazu?«
Der Angeredete betrachtete die Stücke prüfend und erklärte mit bedächtigem Kopfnicken:
»Schöne Bronze, alte italienische Bronze, leider ist das eine gefälscht.«
Sofort stieß der gewandte Kriminalist zu: »Woher wissen Sie das? Äußerlich und ohne Berührung kann man das nicht erkennen.«
Der Alte fuhr mit seinem ruhigen Nicken fort:
»Doch, doch, das sieht man, man kann nicht sagen, woran man es sieht, man sieht es eben, das Stück hier links ist gar keine Bronze, es ist nachgemacht – Tinneff.«
Der Kriminalinspektor mußte lächeln, obwohl er den ersten Angriff abgeschlagen sah. Er beschloß, direkt auf sein Ziel loszugehen:
»Sie kennen den Fälscher?«
Samuel zögerte mit der Antwort. Er empfand instinktiv, daß der Gegner sich jetzt auf festem Boden bewegte und bestimmte Unterlagen für seine Fragen hatte. Es galt also, auf der Hut zu sein und nichts abzuleugnen, was sofort widerlegt werden konnte. Er nahm zunächst seine Zuflucht zu einem furchtbaren Hustenanfall und wand sich krächzend und nach Luft ringend hin und her. Aber bei dem erfahrenen Doktor Stretter verfingen solche Mittelchen nicht. Er benutzte die eingetretene Pause, um die Meldungen der zurückgekehrten Beamten entgegenzunehmen, daß Oberregisseur Tilldorf von der »Neuen Bühne« und die Wirtin der Schauspielerin Langlot eingetroffen seien und ihr Verhör durch Kommissar Unkermann bereits begonnen habe. Dann beschäftigte er sich wieder mit dem immer noch ächzenden Samuel:
»Bemühen Sie sich nicht, Herr Mehlthau, ich verzichte auf Ihre Antwort. Aber sagen Sie nur, wann und wo haben Sie den Bildhauer Nadasny zuletzt gesehen? Oder kennen Sie den auch nicht?«
Der Husten stockte plötzlich. Samuel nahm sein zitterndes Nicken wieder auf und sagte leise, die erste Frage geschickt übergehend:
»Nadasny, ja, den kenne ich, ich sehe ihn manchmal, er ist auch Kunsthändler.«
»Und Aida Langlot ist Ihnen ebenfalls bekannt?«
»Aida? Was soll das sein? Das habe ich nie gehört.«
»Sie wissen nicht, wo Aida Langlot ist, die schöne Schauspielerin, Nadasnys Geliebte?«
Samuel lächelte schmunzelnd. Das Verhör entfernte sich von dem ihm unheimlichen Zusammenhänge mit gestohlenen Kunstsachen, so daß er sich der vorsichtigen Zurückhaltung überhoben fühlte:
»Ach so, die nackte Schickse vom Theater. Ja, er hat von ihr gesprochen, aber ich kenne sie nicht. Wo wird sie sein, bei ihm im Bette.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Doktor Streiter, indem er sich erhob und jedes Wort langsam betonte, »denn Aida Langlot ist tot, ist ermordet und Sie, Samuel Mehlthau, verhafte ich jetzt wegen des dringenden Verdachts, zu diesem Morde angestiftet zu haben. Die Mitwisserin an den von Ihnen geleiteten Museumsdiebstählen sollte beseitigt werden.«
Der Kriminalinspektor war dicht an den Alten herangetreten und forschte gespannt in dem vertrockneten Gesichte nach der Wirkung des abgegebenen Schreckschusses, der den Gegner aus dem Bau hervorlocken sollte. Seine Berechnung hatte ihn nicht getäuscht. Samuel saß schreckensbleich mit offenem Munde da.
»Also darum, also darum«, flüsterte er vor sich hin und richtete scheue Blicke nach dem Tisch, an dem die Stenotypistin und der Kriminalanwärter ihre Notizen machtet. Der Verantwortung für sein Diebes- und Hehlerleben fühlte der alte Verbrecher sich gewachsen, aber die Anschuldigung »Mord« tönte ihm furchtbar, der Gedanke vergossenen Blutes erfüllte ihn mit Grausen, zumal er selbst eine entsetzliche Angst vor dem Tode hegte, der ihm bei seinen hohen Jahren so bedrohlich nahe stand. Er vergaß völlig seine Lage und den Feind, der jeden Zug und jedes Wort belauernd vor ihm stand.
»Tot, tot«, murmelte er, »er hat es getan, er hat sie gemordet, und ich hätte sie retten können, sie und ihn, Allmächtiger Gott, erbarm dich mein, laß ihr Blut nicht kommen auf mein Haupt.«
Doktor Stretter hatte sich über ihn gebeugt und lauschte gespannt, um sich keinen Ton entgehen zu lassen. Der nächste Augenblick mußte ihm den psychologischen Schlüssel zu der Tat liefern, deren äußerer Hergang bereits fest umrissen vor seinem geistigen Auge stand. Jetzt war es auch an der Zeit, die Taktik des Vorgehens zu ändern.
»Ich danke Ihnen für heute«, wendete er sich an die Sekretärin, »übertragen Sie das Stenogramm gleich auf der Maschine. Herr Kollege, sehen Sie bitte einmal nach, ob die Beamten noch nicht zurück sind, die ich nach der Akademie und dem Museum geschickt habe. Ich komme sofort selbst hinüber.«
Er wartete, bis beide das Zimmer verlassen hatten und betrachtete triumphierend das zusammengebrochene Opfer seiner kriminalistischen Geschicklichkeit. Darauf zog er einen Stuhl heran, setzte sich neben den Alten und begann in gänzlich verändertem Tone:
»Nun, beruhigen Sie sich, Schabbesschmuhlchen, es war nicht so schlimm gemeint. Ich weiß ja, daß Sie es nur von den Lebendigen nehmen und blutige Hände nicht lieben. Ich will Ihnen heute sogar die Kolonne Wildwest schenken, aber heraus mit der Sprache. Was wissen Sie von Nadasny und der Langlot?«
Samuel schöpfte tief Atem: »Sie sind ein kluger Mann, Herr Kommissar. Sie sollen hören, was Sie wollen erfahren. Sie haben getroffen in mein Innerstes. Ja, er hat mir gesagt, daß er sie umbringt, wenn sie geht nackend aufs Theater. Ich sollt' ihm Geld geben, damit sie beide könnten nach Amerika, aber bei Gott dem Allwissenden, ich habe nicht geglaubt, daß er ist so vernarrt und macht es wahr. Sonst vielleicht, ich hätte ihm doch helfen können.«
Und Schabbesschmuhlchen erzählte. Von einem jungen Kunststudierenden, dem er oft in Kunst- und Antiquitätenläden begegnet war. Dem der elende Hunger aus den hohlen Backenknochen blickte und gierige Sehnsucht nach Schönheit in den Augen brannte. Der von Geschäft zu Geschäft, von Trödler zu Trödler lief, um seine kleinen, zierlichen Figürchen aus gebranntem Ton anzubieten. Zum Sattessen reichte der Erlös freilich nicht, ging doch der größte Teil immer wieder drauf für Zeichenmaterial und Modellgeld, um einen Galerieplatz im Theater zu bezahlen oder auch ein Konzert zu besuchen, sich voll zu saugen von Klang-, Farben- und Formenschönheit.
»Da sieht er eines Tages bei mir so ein griechisches Püppchen, halbtoll war er danach, obwohl es weder Arme noch Beine hatte. Sehen Sie, junger Mensch, sage ich zu ihm, den zehnfachen Preis könnt' man kriegen, wenn die Arme und Beine dran wären. Nu also, er nimmt es mit und nach ein paar Tagen bringt er es mir wieder – wahrhaftig, ich versteh' mich auf solche Sachen, aber ohne Vergrößerungsglas hätt' ich nicht können sagen, wo das alte Stück hat aufgehört und die neuen Arme und Beine angefangen haben. So was hat er dann öfter für mich gemacht. Manchmal waren die alten Torsos – so nennt man so was – noch kleiner, bloß ein Köppchen war da oder ein anderes Stückchen, manchmal auch gar nichts – was soll ich Ihnen sagen, er hat angesetzt, repariert, schließlich war 'ne schöne Antike fertig. Die Sammler haben sich gefreut, so was zu bekommen, für die modernen Sachen vom jungen Bildhauer Nadasny haben sie nie Geld oder Interesse gehabt. Wir haben Manches schöne Geschäft zusammen gemacht. Aber er hat mir auch ganz echte Ware gebracht, an der er nichts gemacht hat, schöne Museumsstücke – will sagen Stücke, die ein Museum kaufen konnte. Wo er sie hergehabt hat – ich weiß nicht, nach so was fragt man nicht in unserm Geschäft. Er ist dann hierher gegangen und geworden ein ganz bekannter Künstler, der sich nicht mehr viel bekümmert hat um den alten Samuel. Aber vorgestern war er bei mir und wollte haben Geld für die Reise nach Amerika – Gott, o Gott, ich hätt' es ihm geben sollen, ich hab' ja nicht geahnt, daß es ihm war blutiger Ernst.«
Doktor Stretter notierte eifrig.
Eine Viertelstunde später klingelte er:
»Führen Sie Herrn Mehlthau in das Gefängnis zurück«, befahl er der eintretenden Ordonnanz, »er soll sofort entlassen werden. Hier ist die Anordnung.« Er verfolgte den davonwankenden Greis mit zufriedenen Blicken, schlug die Arme übereinander und versank in Überlegung, aus der er aber schnell durch die Klingel des Fernsprechers gerissen wurde, während ihm zugleich eine rote Mappe mit den Worten: »Sehr eilig« vorgelegt wurde. Doktor Stretter ergriff mit der linken Hand den Telephonhörer, mit der anderen öffnete er das Aktenstück. Am Apparat meldeten die zur Verhaftung Nadasnys entsendeten Beamten, daß der Bildhauer bisher nicht zurückgekehrt sei. Die rote Mappe enthielt ein Telegramm mit der Revieranzeige, daß von den Hunden der Streifmannschaften im Stadtparke hinter dichtem Gebüsch ein verschlossener Korbkoffer aufgespürt worden sei, der den Kopf einer weiblichen Person und verschiedene Gliederteile enthielt.
»Na endlich«, rief Doktor Stretter, fügte aber schnell in das Telephon sprechend hinzu:
»Nein, das galt nicht Ihnen – brechen Sie das Atelier auf, nichts anrühren, in einer Viertelstunde bin ich selbst da.« Er riß die Tür zum Nebenzimmer auf:
»Ordonnanz, ein Auto für mich. Kollege Unkermann, Sie müssen sofort wieder zum Leichenschauhaus, eben sind die fehlenden Leichenteile gefunden worden, hier ist die Reviermeldung. Sehen Sie zu, daß die Ärzte gleich an die Arbeit gehen und ihr Gutachten ergänzen.« Er hatte Hut und Mantel ergriffen und eilte den Flur entlang zu den Räumen des Erkennungsdienstes, bei dessen Vorsteher er eintrat, um diesen zu benachrichtigen, daß mit der Flucht Nadasnys gerechnet werden müsse.
»Also bitte, großen Verfolgungsapparat abrollen lassen, Bahnhöfe, Eisenbahnknotenpunkte, Grenzstationen, Häfen sperren, Aufruf in alle Fahndungsblätter mit Bild. Wegen einer Photographie wenden Sie sich an die Beamten, die in der Wohnung der Langlot durchsucht haben, dort müssen Bilder von dem Kerl gefunden sein.«
Er war bereits wieder auf dem Flur:
»Ordonnanz, ist das Auto da? Gut, ich fahre in das Atelier Nadasny, Nachrichten treffen mich dort, Fernsprecher vorhanden, bitte aber nur in dringenden Fällen. Die Herren von der Presse haben angerufen? Ja, selbstverständlich, für die bin ich immer zu sprechen. Drei Dinge braucht der Kriminalist – Glück, Geld und eine gute Presse.«
Doktor Stretter sprang in den Wagen, drückte sich behaglich in die Ecke und betrachtete vergnügt den brausenden Straßenverkehr des Geschäftsviertels, durch das er dahinrollte. Das beruhigte seine Nerven.