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Unter den besonderen Aufgaben, die Ernst vom Polizeipräsidenten zugeteilt erhalten hatte, beschäftigten ihn am meisten die Beschwerden über die Unsicherheit in der Försterstraße. Aus dem dicken Aktenstücke, das ihm vorgelegt worden war, hatte er festgestellt, daß diese Klagen sich seit Jahren wiederholten, bald von einzelnen Bewohnern, Haus- und Ladenbesitzern, dann wieder vom Bezirksverein, von Berufs- und Interessentenverbänden ausgingen. Die enge Straße folgte dem Zuge der ehemaligen Stadtmauer und bestand aus etwa fünfzig schmalen, aber sehr tief verlaufenden alten Häusern. Auf jedem Grundstück lagen mehrere von Seiten- und Quergebäuden umschlossene dunkle Höfe, die untereinander wieder durch Gänge, Durchfahrten und Treppen in Verbindung standen. Die armseligen Inhaber der niedrigen licht- und luftlosen Wohnungen ernährten sich zum großen Teil durch Abvermieten von Zimmern, in denen allerlei Abschaum der Großstadt Unterkunft suchte und fand, Dirnen und ihre Zuhälter, Kuppler, Hehler und Vertreter andrer lichtscheuer Gewerbe. Dazu hatte sich allmählich eine ganze Kolonie polnischer und galizischer Juden gesellt, die der Straße ein richtiges Ghettogepräge aufgedrückt hatten. Gastwirtschaften trugen polnische, russische und hebräische Inschriften, kaftanbekleidete Männer standen vor den Hauseingängen in lebhaften Gesprächen zusammen oder schlichen mit großen Paketen an den Mauern entlang. Den Mittelpunkt bildete die »Große Penne« – eine Stehbierhalle mit anschließenden Schlafsälen. In diesen Räumen herrschte Tag und Nacht Verkehr von Arbeitslosen und Arbeitsscheuen, Verbrechern und Prostituierten. Zu bestimmten Stunden fanden förmliche Börsen statt, gestohlene Waren wanderten von Hand zu Hand, falsche Legitimationspapiere wurden angefertigt und verschachert, Genossen zu Diebeszügen wurden angeworben, Pläne entworfen und vorbereitet.
Der Reviervorsteher, den Ernst schon am nächsten Morgen aufsuchte, bestätigte die Unleidlichkeit dieser Zustände und die Berechtigung der erhobenen Klagen durchaus, mußte aber auch die Erfolglosigkeit aller bisher getroffenen Gegenmaßnahmen anerkennen. Fortgesetzt fanden Aushebungen und Razzien statt, vom Morgen bis in die tiefe Nacht wurden Kontrollen und Durchsuchungen vorgenommen, die auch häufig genug zu Verhaftungen und Beschlagnahmen führten, aber das Gesindel schloß sich sofort wieder zusammen wie zäher Schlamm. Die Revierbeamten stöhnten unter der nie endenden Arbeitslast. Festnahmeersuchen der Kriminalpolizei gingen täglich dutzendweise ein, die Gewerbeabteilung ersuchte um Schließung ungenehmigter Schankstätten und Gasthäuser, der Kreisarzt ordnete Desinfektionen und Reinigungen an, die Baupolizei verlangte Reparaturen, die politische Polizei forderte Auskünfte und Geheimberichte …
Auch bei dem Revierappell, dem Ernst beiwohnte, prasselte ein Hagel von Befehlen auf die Schutzmänner nieder, die in zwei Reihen angetreten waren. Der Reviervorsteher verlas und erläuterte Anordnungen, verteilte Aufträge, gab Anweisungen und Aufklärungen:
»Samuel Mehlthau, genannt Schabbesschmuhlchen, soll festgenommen werden – der steckt sicher in der Försterstraße, ich bitte bei allen Gängen und Patrouillen dort auf den alten Gauner zu fahnden. Försterstraße 17, zweites Quergebäude, soll die Kellerwohnung unbedingt bis morgen Abend wegen Gesundheitsgefahr geräumt sein – Herr Lehmann II, Sie kennen die Leute schon, versuchen Sie nochmal, ob sie nicht gutwillig ausziehen. Försterstraße 23, vorn zwei Treppen links, unverehelichte Frieda Bichert, Einlieferung zur Sittenpolizei – Herr Kraspe, bitte mit aller Energie vorgehen, wenn nötig, aus dem Bette holen, der Kreisarzt hat Haftfähigkeit festgestellt. Wer hat Vormittagsdienst in der ›Großen Penne‹? – bitte jeden Schnapsverkauf verhindern. Der Wirt hat nur halben Schank, darf nur Bier verabreichen.«
Die Beamten notierten eifrig, empfingen Aktenstücke und begaben sich an den befohlenen Dienst. Ein großer, in Zivil gekleideter Beamter wurde vom Reviervorsteher zurückbehalten und erhielt den Auftrag, Ernst bei einer Besichtigung der Försterstraße zu begleiten:
»Der Wachtmeister weiß gut Bescheid, Herr Assessor, und wird Sie sicher führen, weiteren Schutz brauchen Sie nicht, das Gesindel dort ist nicht gewalttätig. Nun entschuldigen Sie mich bitte, meine Sprechstunde beginnt.«
Auf dem Rundgange empfing Ernst trotz aller Vorbereitung einen niederschmetternden Eindruck. In den Häusern Lärm und Gekreisch, keifendes Gezänk, fürchterliche Ausdünstungen feuchter Mauern, gemischt mit Kohl- und Zwiebelgerüchen, schmutzige, hohlwangige Kinder mit krummen Beinen und altklugen Gesichtern. Prostituierte besorgten in Arbeitskleidern mit Schürze und Umschlagetuch ihre Einkäufe, nur die auffallenden Frisuren deuteten auf ihr Gewerbe hin. In der »Großen Penne« wurde der Beamte sofort erkannt und umdrängt. Stürmische Rufe forderten, daß der »Besuch« sich durch eine Lage »Landwehrtöppe« auslösen müsse. Auf Anraten des Wachtmeisters stimmte Ernst zu, worauf mehrere große Weißbiergläser mit Lagerbier gefüllt, die Runde von Mund zu Mund machten. Die Dankbarkeit der Eingeladenen zeigte sich schnell in einigen dem Beamten zugeflüsterten Bemerkungen, sowie in der Verabreichung mächtiger Ohrfeigen an einen halbwüchsigen Bengel, der sich etwas zu nahe an die Taschen des Assessors begeben hatte.
Der Wirt erschien händereibend und katzbuckelnd, beteuerte seine Ergebenheit gegen die Behörde und die strengste Befolgung aller Vorschriften. Die Frage, ob Schabbesschmuhlchen bei ihm wohne, wies er entrüstet zurück:
»Wo werde ich solche gefährliche Verbrecher in mein Etablissement lassen, Herr Wachtmeister! Wo man es jetzt so schwer hat mit der unkonzessionierten Konkurrenz. Sehen Sie da drüben Nummer vierzehn, was steht angeschrieben? – Materialwarenhandlung! Aber was steckt dahinter? – Richtige Gastwirtschaft; Fremde wohnen da, immer mindestens Stücker fünf bis sechs. Da sollte die hohe Polizei mal nachsehen.«
Auf der Straße schlug der Wachtmeister vor, nach Nummer vierzehn hinüberzugehen. Es sei zwar sicher, daß der Wirt aus Geschäftsneid dorthin gewiesen habe, aber man könne in dieser Gegend nie wissen, welches Geheimnis ein Haus berge. Sie betraten einen schmalen Laden, auf dessen Tisch einige Schachteln Seife, ein paar Kartons Schreibpapier sowie mehrere Büchsen mit Putzpulver und Schuhwichse den Eindruck eines Verkaufsgeschäfts zu erwecken suchten. Dahinter saß eine dicke Frau von etwa fünfzig Jahren, die beim Anblick des Revierbeamten und seines Begleiters in große Erregung geriet, mit lebhaftem Wortschwall jede Anwesenheit von Gästen bestritt, aber sofort freiwillig die Wohnung zur Besichtigung anbot. An den Laden schlossen sich zwei ineinandergehende Zimmer und eine Küche. Die Räume erwiesen sich als leer. Nur im zweiten Zimmer lag in einem großen Bett ein krankes, unruhig schlafendes Kind. Der Wachtmeister führte Ernst zum Revier zurück, unterwegs setzte er ihm seinen Plan auseinander. Er wollte sich noch Hilfe holen, um dann eine gründliche Durchsuchung in Nummer vierzehn vorzunehmen, nachdem die Bewohner durch die eben abgehaltene Kontrolle sicher gemacht waren. Daß es dort nicht geheuer sei, habe das aufgeregte Benehmen der Frau im Laden deutlich verraten.
Der Verdacht des erfahrenen Beamten war sehr begründet. Sobald die dicke Verkäuferin gesehen hatte, daß der unwillkommene Besuch um die Straßenecke verschwunden war, stieß sie dreimal mit dem Fuße gegen die zum Zimmer führende Tür. Auf dieses Zeichen kroch aus dem Bette des kranken Kindes ein kleiner Greis hervor. Sein beständig schüttelnder, mit einem schwarzen Käppchen bedeckter Kopf zeigte ein vertrocknetes Vogelgesicht, mit langer herabhängender Nase, fast erloschenen Augen und dünnem eisgrauen Kinnbart. Er schlich zum Fenster, aus dem er nach dem Hof winkte. Ein junger Mann kletterte in das Zimmer und nahm auf einen Wink des Alten, der sich auf eine Fußbank hingekauert hatte, diesem gegenüber auf einem Holzstuhle Platz. Der Greis hustete krächzend, dann sagte er leise in den rauhen Kehltönen des Ostjuden:
»Sie sehen, Nadasny, wie Recht ich habe, wenn ich hier nicht will aufgesucht sein. Was haben Sie so dringend?«
Der Bildhauer beugte sich zu ihm hinab:
»Seien Sie nicht böse, Samuel, ich bin in großer Not, ich brauche Geld, viel Geld und gleich.«
Das Schütteln des grauen Kopfes wurde zu einem Zittern, das krampfartig über den ganzen Körper lief.
»Geld? Ich habe kein Geld. Woher soll ich haben Geld? Warum verdienen Sie nichts mit Ihrer großen Kunst oder mit Ihren kleinen Kunststückchen?«
»Samuel, ich flehe Sie an, helfen Sie mir! Mein Lebensglück, mein Leben steht auf dem Spiele. Ich muß fort, weit fort, nach Amerika mit einem Mädchen, das ich liebe. Man will sie zwingen, sich nackt auf der Bühne zur Schau zu stellen, und sie erliegt der Versuchung, weil sie die Verwirklichung ihrer Künstlerträume erhofft. Ich ertrage das nicht, eher bringe ich das Weib und mich um. Retten Sie zwei Menschenleben, helfen Sie uns fort aus Europa! Drüben will ich wieder ein anständiger Mensch werden und für zwei arbeiten.«
Der Alte blickte ihn mit erstaunter Miene an und erwiderte ruhig:
»Ich verstehe Sie nicht. Wie kann ich Ihnen geben Geld, das ich nie kriege wieder, wenn Sie gehen nach Amerika? Was kümmern Sie sich um die nackte Schickse? Lassen Sie die machen, was sie will, und bringen Sie mir Ihre kleinen Figürchen, dann läßt sich reden über Geld. Ich weiß auch noch ein Geschäft für Sie, wenn Sie mir wollen helfen zu verkaufen schöne alte Kunstsachen an reiche Sammler, die nicht lange fragen, woher ist gekommen die Sore.«
»Geld will ich, auf der Stelle Geld zur Reise!« knirschte Nadasny mit wutverzerrtem Gesichte und ballte die Faust, – »oder ich bringe dich um, verdammter Jude!«
Aber der Alte ließ sich nicht einschüchtern:
»Sie sind meschugge, Nadasny, Sie wissen genau, daß ich nie trage Geld bei mir, also was regen Sie sich auf? Soll ich rufen die Wirtin?«
Nadasny war auf den Stuhl zurückgesunken. Er starrte leer vor sich hin, dann preßte er plötzlich den Hut auf den Kopf und stürzte aus der Tür.
Er kannte Schabbesschmuhlchen genug, um zu wissen, daß sein Begehren endgültig abgeschlagen war. Eine grenzenlose Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Der Gedanke an die Generalprobe der »Phädra«, die für diese Nacht nach der Abendvorstellung angesetzt war, machte ihn rasend. Immer wieder sah er den geliebten Frauenkörper vor sich, der für ihn zugleich Quelle und Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens bedeutete, preisgegeben den Blicken einer von Sinnlichkeit und Sensationsgier aufgepeitschten Menge. Wie Furiengezischel tönten vor seinem Ohre begehrliche und höhnische Ausrufe, rohe Witzeleien und verächtliche Bemerkungen. Seine letzte Hoffnung hatte sich daran geklammert, von Samuel die Mittel zu erhalten und Aida zur Auswanderung zu bewegen, um sie dem Theaterleben ganz zu entreißen, ihre Liebe und ihre Schönheit als Alleinbesitz für sich zu retten und zu bewahren. Nun war auch dieser Anker gebrochen, jeder Ausweg war gesperrt, immer näher rückte die fürchterliche Stunde des Vorstellungsbeginnes! Jede Einzelheit der Vorbereitungen in der Garderobe, des Ganges zur Bühne malte sich ihm in gräßlicher Deutlichkeit mit dem Gipfelpunkt der öffentlichen Zurschaustellung vor dem die Nacktheit verdoppelnden schwarzsamtenen Hintergründe. Dem Gehetzten brach der kalte Angstschweiß aus, sein Herzschlag stockte, er mußte in seinem tollen Vorwärtsstürmen innehalten. Aber schon wieder tauchte vor ihm der Anblick des gefüllten Theaterraumes auf, die Hunderte von Augen und Operngläsern alle auf das eine Ziel gerichtet – er stürzte weiter, nur von der einen Vorstellung beherrscht, zu ihr, noch einmal zu ihren Füßen um Erhörung zu flehen, dieser Qual ein Ende zu bereiten um jeden Preis. –
* * *
Ruhiger hatte sich der Rückweg des Assessors aus der Försterstraße gestaltet. Auch sein Gemüt war lebhaft bewegt und erfüllt von den traurigen Bildern des Elends und der Verworfenheit, die sich ihm gezeigt hatten. Aber zugleich empfand er freudige Genugtuung, hier zur Hilfe berufen zu sein, und den lebhaften Wunsch, diesen Unglücklichen Rettung zu bringen. Daß mit den üblichen polizeilichen und gerichtlichen Mitteln, Verboten und Strafen, nichts auszurichten sei, stand für ihn fest. Die Eindrücke, die er an Ort und Stelle empfangen hatte, erschienen ihm wie ein lebender Beweis für den Ausspruch aus einer Vorlesung des großen Kriminalisten Franz von Liszt: »Ein Paragraph eines Wohnungsgesetzes ist besser als hundert Strafgesetzbuchparagraphen.« Zugleich mußte er der Worte gedenken, mit denen Agnes Rothagen bei ihrem ersten Zusammensein ihn auf die Pflicht des Staates zur Sorge für die im Kampfe ums Dasein Gestrauchelten und Gescheiterten hingewiesen hatte. Ernst hatte das junge Mädchen seitdem schon häufiger wiedergesehen und seine so plötzlich entfachte Liebe war nur beständiger und inniger geworden, zumal seit er das sichere Bewußtsein in sich trug, daß seine Neigung erwidert werde. In den Gesprächen mit Agnes hatte er Klarheit über Hoffnungen und Befürchtungen gewonnen, die sein Inneres verwirrt und beunruhigt hatten. Ihre sanfte, mitfühlende und verstehende Art wirkte mildernd und ausgleichend auf manche, durch Ausbildung und Umgang in ihm erwachsene vorgefaßte Meinung. Er empfand dies dankbar und wünschte nichts sehnlicher, als in einem Zusammenleben und Zusammenwirken mit ihr die Ergänzung und Vollendung seines Daseins zu finden. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, mit ihrer Hilfe unter den Bewohnern der Försterstraße ein Stück sozialer Rettungsarbeit zu beginnen.
Er hatte den Tennisplatz erreicht, auf dem Agnes spielte. Sie bemerkte ihn sofort, winkte ihm fröhlich zu und beendete die Partie, während Ernst unter den Zuschauern wartete. Dann warf sie den Mantel über und setzte sich zu ihm. Der Assessor berichtete von seiner Besichtigung und entwickelte den entworfenen Plan. Er gedachte in der verrufenen Straße selbst ein Volksheim nach Art der englischen Settlements zu begründen, einen Mittelpunkt aufklärender und helfender Arbeit und Tätigkeit, von dem aus Männer und Frauen mit sozialem Verständnis und praktischen Erfahrungen Licht und Reinlichkeit, Gesundheit, Bildung und Freude an ehrlicher Arbeit verbreiten sollten. Umbauten und Wohnungspflege sollten menschenwürdige Behausungen schaffen, Koch- und Wirtschaftsunterricht die Frauen und Mädchen fördern, ein Erholungsheim mit Lesezimmer dem Kneipenlaufen entgegenarbeiten. Ärztliche Beratung und Krankenbesuche müßten das körperliche, Darlehnskassen und Arbeitsnachweise das wirtschaftliche Wohl fördern. Er selbst wollte eine juristische Sprechstunde abhalten. Für Agnes hatte er an die Oberleitung der Jugendfürsorge gedacht – eine Spielschule, um die kleinsten Kinder aufzunehmen, zu nähren und zu pflegen, Jugendklubs für Herangewachsene. Das junge Mädchen ging erfreut auf diese Anregungen ein. Sie versprach, ihren Vater für die Beschaffung der Geldmittel zu interessieren und wurde nicht müde, auf dem Heimwege sich und ihrem Begleiter die Freuden gemeinsamen Schaffens auszumalen.
Den Nachmittag verbrachte Ernst auf dem Polizeipräsidium, eifrig bemüht, aus den Verzeichnissen die wichtigsten Dienststellen und Hilfsorganisationen zusammenzustellen, die er für ein planmäßiges Vorgehen in der Försterstraße zu gewinnen und zu vereinigen hoffte. Er vertiefte sich so in die Arbeit, daß er fast die Stunde übersehen hätte, sich rechtzeitig zum Abendessen und für die nächtliche Generalprobe der Phädra umzukleiden. Doch trat er im Vorbeigehen noch schnell bei Doktor Stretter ein, um den Stand der Ermittlungen nach den Museumsdieben zu hören. Bisher war nur die Bestätigung aus München eingegangen, daß dort die kostbare kleine Bronzefigur der griechischen Göttin verschwunden und auf rätselhafte Weise gegen einen vorzüglich hergestellten und mit Patinatönung versehenen Gipsabguß vertauscht war. Schabbesschmuhlchen war noch nicht eingeliefert. Die Aufmerksamkeit des Kriminalinspektors schien aber gegenwärtig von einem anderen Falle stärker gefesselt. Er betrachtete nachdenklich eine vor ihm liegende Revierdepesche, die er Ernst mit der Frage überreichte:
»Was halten Sie davon?« Der Assessor las:
»Revier 53 an Kriminalpolizei. Soeben 7 Uhr 5 Minuten an Uferböschung neben Neuer Brücke anscheinend weiblichen Oberarm gefunden und in Leichenschauhaus gebracht. Nach Ansicht dortigen Arztes wahrscheinlich fortgeworfenes anatomisches Präparat aus Universitätsinstitut, da Gelenke kunstgerecht getrennt.«
»Die Erklärung erscheint mir sehr einleuchtend«, erwiderte Ernst, »wer sonst als ein Mediziner könnte im Besitz eines Leichenteiles sein und solche geschickte Zerlegung vornehmen?«
Doktor Stretter zog ein krauses Gesicht und schüttelte den Kopf:
»Die Sache gefällt mir nicht. Leichen sind kostbarer Studienstoff. Alle Professoren klagen dauernd über Materialmangel für Sektionen und Präparierübungen. Davon wird nichts unverarbeitet fortgeworfen und so viel anatomische Kenntnisse, um ein Gelenk zu durchtrennen, haben auch andere Menschen. Passen Sie auf, Herr Assessor, wir werden bald mehr solche Stücke finden. Ich will des Teufels sein, wenn dahinter nicht eine böse Geschichte steckt. Jedenfalls rate ich Ihnen, heute und morgen beim Kommissar vom Dienst zu hinterlassen, wo Sie zu finden sind – ich garantiere für eine Mordmeldung. Aber nun lassen Sie sich nicht aufhalten, sonst versäumen Sie den Beginn der Vorstellung, und der soll ja gerade so interessant sein.« –
Der Einfall des Direktor Sartori, die Generalprobe der »Phädra« für die Nachtstunden nach Schluß der Abendvorstellung anzusetzen, hatte sehr verschiedenartige Wirkungen ausgelöst. Der kleine, kugelrunde Dezernent der Theaterpolizei geriet in einen Zustand völliger Fassungslosigkeit. Sein Entsetzen über die zensurfreie Aufführung vor geladenem Publikum war durch die Karte, die Ernst ihm besorgt hatte, eben mühsam beschwichtigt worden. Und nun diese zweite unerhörte Neuerung! In aller Eile hatte er versucht, Verbotsgründe aus gesundheits-, bau-, feuer- und verkehrspolizeilichen Rücksichten geltend zu machen, hatte auf die Unmöglichkeit ausreichender Lüftung zwischen den beiden Vorstellungen, auf den Zusammenstoß der das Theater verlassenden und der neu ankommenden Zuschauer, die Überlastung der Lichtanlagen und die übermäßige Inanspruchnahme der Feuerwehr hingewiesen. Aber Direktor Sartori blieb fest bei seiner Anordnung, die noch dazu der Behörde erst so kurzfristig bekannt geworden war, daß das Eintreffen des Publikums doch nicht mehr verhindert werden konnte. Die Zwangsdurchführung des Verbotes vor gefülltem Hause rückte aber die Möglichkeit eines Theaterskandals nahe, den der Polizeipräsident unter allen Umständen zu vermeiden wünschte. Also blieb dem unglücklichen Regierungsrate keine andere Wahl, als den schönen Entwurf seiner Verbotsverfügung für künftige Fälle bei den Akten zu verwahren und sich in stiller Resignation an den Schauplatz der unerhörten Ereignisse zu begeben, deren schaudernder Augenzeuge er werden sollte.
Im Publikum hatte die Ankündigung mit dein sensationellen Erfolge gezündet, die Sartori als alter Theaterpraktikus vorausgesehen hatte. Die Direktion wurde mit Bitten um Einladungen bestürmt. Eine Probe, ein Blick hinter die Kulissen, der geheimnisvolle Reiz der Nachtstunde, die Gerüchte von der Kostümlosigkeit der Prologsprecherin und von dem Widerstande ihres Liebhabers – und dazu noch die schöne Gelegenheit, sein Interesse für klassische Kunst und griechisches Altertum zu beweisen – gegenüber diesen Verlockungen gab es keinen Widerstand.
So drängten sich denn die glücklichen Besitzer der vornehm lithographierten Einladungskarten schon geraume Zeit vor der Anfangsstunde in dichtem Strom am Eingänge der »Neuen Bühne«. In der Vorhalle hatte sich um den Oberregisseur Tilldorf eine Gruppe von Schauspielern und Kritikern gebildet, in der eifrig die Aussichten der Aufführung erörtert wurden. Die neugierigen Fragen nach dem Aussehen der Langlot als kyprische Göttin, lehnte Tilldorf lächelnd ab. Aida hatte bei allen Proben das lange griechische Gewand getragen und erst für heute die vorgeschriebene Preisgabe ihrer ganzen Schönheit zugesagt. Jemand wies auf Nadasny, der wenige Schritte weiter den Mittelpunkt einer kleinen Ansammlung bildete.
»Die Sache scheint ihm doch sehr nahe zu gehen«, meinte der Regisseur, »sehen Sie nur, wie blaß und verstört er aussieht.«
In der Tat bot der Bildhauer einen unheimlichen Anblick, wie er mit rollenden Augen und wutverbissenem Gesichte durch kurze hervorgestoßene Äußerungen auf die offensichtlich wenig zartfühlenden Bemerkungen seiner lachenden Umgebung antwortete. Dann riß er sich plötzlich los und verschwand im Zuschauerraum. Aber auch Tilldorf wurde gleich darauf abgerufen. Auf der Bühne erwartete ihn sehr aufgeregt der Inspizient mit der Meldung, daß Fräulein Langlot noch nicht in ihrer Garderobe anwesend sei.
»Eine unerhörte Nachlässigkeit, Herr Oberregisseur. Die Hausordnung schreibt vor, daß jedes Mitglied sich spätestens eine halbe Stunde vor dem Aktbeginn einzufinden hat.« –
»Ich weiß, mein Lieber«, beruhigte ihn Tilldorf, »Fräulein Langlot wird gewiß gleich kommen« – und eine vorübergehende Kollegin meinte entschuldigend:
»Sie braucht ja nicht viel Zeit zum Kostümieren.«
Auch der mehrfach versuchte telephonische Anruf bei der Schauspielerin blieb erfolglos. »Dort meldet sich niemand^, lautete die stets wiederholte Auskunft des Fernsprechamtes. Direktor Sartori wurde unruhig und ordnete an, daß der Theaterdiener mit einem Automobil in die Wohnung fahren und Aida möglichst sofort mitbringen solle. Die nervöse Spannung, die bei Generalproben und Premieren hinter den Kulissen zu herrschen pflegt, steigerte sich mehr und mehr. Die übrigen Darsteller hatten inzwischen Maske und Kostüm vollendet und sich auf der Bühne versammelt. Gerüchte schwirrten, bald hieß es, die Langlot habe das hüllenlose Auftreten aus Schamgefühl verweigert, dann wurde ihr Eintreffen behauptet, dann verlautete wieder, Nadasny halte sie zurück. Tilldorf blickte durch das Loch im Vorhang und stellte fest, daß der Bildhauer auf seinem Platze im Parkett saß und finster vor sich hinbrütete. Er sandte einen Boten zu ihm und ließ ihn auf die Bühne bitten. Nadasny erschien sofort und zeigte sich sehr erstaunt, daß nicht Fräulein Langlot, wie er angenommen hatte, nach ihm geschickt habe. Die Nachricht von ihrem Ausbleiben beunruhigte ihn sichtlich, zumal der Theaterdiener mit der Nachricht zurückkehrte, daß Aida schon gegen Mittag die Wohnung verlassen habe und nicht zurückgekehrt sei.
Jetzt wurde die Lage bedenklich. Die Stunde des Vorstellungsanfanges war bereits überschritten. Das Publikum hatte alle Plätze gefüllt. Über dem Zuschauerraum lagerte eine erwartungsvolle, etwas schwüle Stimmung. Gegenstand des Gespräches bildete überall die kommende Zurschaustellung der nackten Schauspielerin. Die Frauen zuckten die Achseln und waren schon im voraus entrüstet, die Männer spotteten oder taten gleichgültig, einige begeisterten sich und sprachen von Schönheitskultur und reiner Kunst, alle waren nervös und erregt. In einer Orchesterloge neben der des Direktors saß Kommerzienrat Rothagen, zu dem Ernst und Périgord getreten waren. Er begrüßte sie in bester Laune:
»Nun, was sagt die hohe Behörde? Ein kapitaler Kopf, der Sartori – geschlossene Vorstellung um Mitternacht, da kann die Polizei nicht dran tippen!« Der kleine Prinz richtete sich stolz auf:
»Meine Idee, Herr Kommerzienrat, ich habe diese köstliche Entscheidung unseres obersten Gerichtes ausgegraben und dem guten Sartori gegeben. Begrüßen Sie also in mir den hohen Protektor der heutigen Fleischwerdung göttlicher Schönheit. Nun stören Sie mich aber nicht in meinen Studien.«
Er setzte sich und begann eifrig sein riesiges Triëderbinocle einzustellen.
»Es fängt ja noch gar nicht an«, lachte Rothagen. Aber Périgord winkte verächtlich ab:
»Die Vorstellung interessiert mich sehr wenig – ich kenne so etwas zur Genüge. Da drüben sitzen meine Studienobjekte.« Er wies auf eine vordere Parkettreihe, auf der Doktor Dritt und andere Abgeordnete Platz genommen hatten. Ihre ernsten, verschlossenen Mienen zeigten die Überwindung, die es sie kostete, auch bei diesem Anlaß ihrer schweren Pflicht als Volksvertreter nachzukommen. Rothagen hatte sich an Ernst gewendet:
»Meine Tochter läßt schön grüßen, Herr Assessor. Sie wissen wohl schon, daß sie nicht mitkommen wollte. Aber sie hat mir von Ihren Plänen in der Försterstraße erzählt. Natürlich mache ich mit. Ich glaube übrigens, daß sich mit Neubauten dort auch ein ganz gutes finanzielles Ergebnis erzielen läßt. Wie denken Sie über eine kleine G. m. b. H. – selbstverständlich mit gemeinnützigem Charakter?«
Ein dumpfes Gongzeichen, das hinter dem Vorhang ertönte, schnitt Ernsts Entgegnung ab. Alle Gespräche verstummten plötzlich. Man setzte sich gespannt zurecht, Augen- und Operngläser wurden nochmals geputzt, im Publikum trat Stille ein. Allmählich erlosch die Beleuchtung, langsam teilte sich der schwere rotgoldene Vorhang. Doch statt der erwarteten griechischen Landschaft zeigte sich nur eine zweite Gardine und an Stelle der enthüllten Körperpracht Aidas erschien die schwarzbefrackte Gestalt des Oberregisseurs Tilldorf, der in tadelloser Verneigung sein kahles Haupt beugte und also sich vernehmen ließ:
»Hochverehrte Anwesende! Durch eine plötzliche Erkrankung ist Fräulein Langlot leider am Auftreten verhindert. In letzter Stunde war ein Ersatz nicht mehr zu beschaffen. Der Prolog muß daher für heute ausfallen. Die Direktion bittet, den bedauerlichen Zwischenfall zu entschuldigen.«
Neue Verbeugung, und der Sprecher war verschwunden. Und ehe noch das verdutzte Publikum die Situation voll begriffen hatte, flog auch der zweite Vorhang in die Höhe: in blendendem Lichte lag die troezenische Ebene da und Hippolytos schritt, vom Jägerchor gefolgt, auf die Bildsäule der Artemis zu:
»Mir nach, mir nach, preiset die hohe Herrin, die Tochter des Zeus.«
Brausender Beifall folgte dem Aktschluß. Aber nach der Pause, beim Beginn des zweiten Auszugs wiesen Logen und Parkett doch manche Lücke auf.