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III.

Auf den Fluren des großen, schmucklosen Polizeigebäudes bewegte sich ein lebhafter Verkehr, durch den Ernst Berenberg den Weg zum Zimmer des Präsidenten verfolgte, um sich zum Dienstantritt zu melden. Handwagen mit Aktenstößen wurden geschoben, vorgeladene Personen suchten die ihnen angegebenen Amtsräume, vor dem Paßbüro drängten sich wartende Ausländer, Gefangene wurden vorbeigeführt, Uniformen der Schutzmänner tauchten auf und verschwanden. Im Vorzimmer des Präsidenten, das die Bilder seiner sämtlichen Amtsvorgänger an den Wänden zeigte, saßen und standen die zur Rücksprache befohlenen Beamten herum. In einem anstoßenden Raum, in dem der Bürovorsteher die Ankommenden empfing, gingen Ordonnanzen mit Eilsachen in roten Mappen aus und ein, Postboten brachten Telegramme, Telephone läuteten, Schreibmaschinen klapperten. Der Assessor erfuhr dort, daß gerade »Vortrag beim Chef« stattfinde, Herr von Barneck erwarte ihn aber und lasse bitten. Der Präsident saß mit sorgenvoller Miene hinter seinem großen Schreibtisch, auf dem die Schreibgeräte in Reih' und Glied ausgerichtet standen. Die Beratung betraf die sozialistischen Demonstrationszüge, die für den bevorstehenden Geburtstag des Königs befürchtet wurden. Der Leiter der politischen Polizei, ein Oberregierungsrat, berichtete; außer ihm waren der Oberst der Schutzmannschaft und ein junger Generalstabshauptmann, als Vertreter des Stadtkommandanten, anwesend. Die Stimmung der Arbeiterschaft war schon seit einiger Zeit durch das Ausbleiben der Wahlrechtsvorlage erregt und nach den Berichten der politischen Agenten außerordentlich erbittert durch eine scharfe Rede, die Prinz Theodor, der Bruder des Königs, bei einem Ordenskapitel gegen die Einführung des allgemeinen gleichen Stimmrechtes gehalten hatte. Der Präsident zeigte sich durch diese Mitteilung unangenehm berührt:

»Seine Kgl. Hoheit ist etwas impulsiver Natur und schließlich bei seiner völlig unpolitischen Stellung als Seitenverwandter auch nicht genötigt, seine Worte ängstlich abzuwägen.«

Der Oberregierungsrat bemerkte, daß der Prinz in der Bevölkerung wegen der zarten Gesundheit des Kronprinzen als der voraussichtliche Thronfolger gelte.

»Diesen Gerüchten kann nicht scharf genug entgegengetreten werden«, unterbrach ihn der Chef ärgerlich. »Der Kronprinz hat auf dem letzten »Hofball dreimal getanzt, ohne zu husten.«

Der Generalstäbler bat, seinen Auftrag ausrichten zu dürfen. Auch die militärischen Nachrichtenstellen befürchteten ernsthafte Unruhen. Der Stadtkommandant halte es für zweckmäßig, wenn die Polizei die Demonstrantenzüge zunächst vordringen und sich an einer vorher von Truppen besetzten Stelle versammeln lasse. Dann werde der militärische Befehlshaber unter Verkündung des Belagerungszustandes die vollziehende Gewalt übernehmen, zum Auseinandergehen auffordern und beim geringsten Ungehorsam oder Widerstand scharf schießen lassen, um ein für allemal durch ein warnendes Beispiel jeder Wiederholung solcher Aufsässigkeiten vorzubeugen. Die Blicke Berenbergs und des Oberregierungsrates begegneten sich. Aber ehe noch einer von ihnen das Wort ergreifen konnte, hatte der Polizeioberst sich erhoben. Der rüstige Sechziger stand hochaufgerichtet in der dunklen, streng dienstlich geschnittenen Uniform. Das Gesicht zwischen den grauen, durch das ausrasierte Kinn geteilten Bartstreifen zeigte unter den starken, zusammengezogenen Brauen eine leichte Röte der Erregung, doch klang die Stimme völlig beherrscht, als er erklärte:

»Die von mir seit fünfzehn Jahren geführte Schutzmannschaft hat bisher stets ohne militärische Unterstützung die Ordnung aufrecht erhalten. Der Vorschlag des Herrn Stadtkommandanten ist militärisch gedacht. Feindliche Truppen läßt man so auflaufen und schießt sie dann zusammen. Die Polizei hat die Aufgabe, vorzubeugen. Ich halte für richtiger, die sich sammelnden Demonstranten weit vor dem gemeinsamen Ziele aufzuhalten, die einzelnen Gruppen in Seitenstraßen abzulenken und allmählich zu zerteilen, was ohne Blutvergießen durchzuführen ist.«

Der Polizeipräsident wandte sich an Berenberg:

»Welcher Auffassung wird der Herr Minister zuneigen?«

»Exzellenz wird sicher das schonendere, vom Herrn Polizeioberst vorgeschlagene Verfahren billigen«, erwiderte der Assessor, »das auch nach meiner Auffassung besser dem inneren Frieden dient.«

»So, meinen Sie, und auch Sie sind einverstanden, Herr Oberregierungsrat?« – vergewisserte sich Herr von Barneck. »Also wollen wir doch lieber auf die militärische Unterstützung verzichten, Sie verstehen unsere Gründe, Herr Hauptmann, und sind hoffentlich nicht durch die Zurückweisung Ihres Angebotes verletzt?«

Der Offizier war aufgestanden:

»Ich hatte nur den Befehl auszuführen. Im übrigen sind wir herzlich dankbar, wenn uns solche Aufgaben erspart bleiben.«

Er verneigte sich und verließ mit dem Polizeioberst das Zimmer. Als der Oberregierungsrat und Ernst folgen wollten, hielt der Präsident letzteren zurück, da der nächste Vortrag über die im Landtag erörterte Phädra-Aufführung ihn ebenfalls interessieren werde.

Der Theaterdezernent erschien, ein kleiner, kugelrunder Herr, der alsbald mit lebhaftem Eifer die Geschichte der »Neuen Bühne« seit der Begründung darzustellen begann.

»Bester Herr Regierungsrat«, mahnte der Chef, »ich schätze Ihre Gründlichkeit sehr, bin aber heute etwas in der Zeit beschrankt, könnten wir nicht gleich zur Sache kommen?«

Der Vortragende geriet in große Bestürzung, blätterte verlegen in seinen Akten und setzte schließlich neu ein:

»Gewiß, sofort, Herr Präsident, also es handelt sich um eine Tragödie des Euripides, des bekannten griechischen Dramatikers aus der Zeit des …« Aber nochmals mußte er seine wohlvorbereitete Rede abkürzen und zu den letzten Feststellungen in der »Neuen Bühne« selbst übergehen. Eine Kostüm- und Beleuchtungsprobe hatte stattgefunden, bei der Aida Langlot im langen griechischen Gewand erschienen war. Damit sollte aber nur den polizeilichen Anforderungen genügt und zugleich die rasende Eifersucht Nadasnys beschwichtigt werden, der noch immer die Zurschaustellung seiner Geliebten zu verhindern suchte. Im geheimen war eine Generalprobe vor geladenem Publikum verabredet, zu der die um jeden Preis vorwärts strebende junge Schauspielerin den Einsatz ihrer vollen Schönheit zugesagt hatte.

»Leider ist die Behörde einer solchen Veranstaltung im geschlossenen Kreise gegenüber machtlos«, schloß der Regierungsrat seinen Vortrag, »und nicht einmal zur Anwesenheit berechtigt.« Namentlich hierüber war er offensichtlich tief betrübt und zeigte sich wesentlich beruhigt, als Ernst mitteilte, daß er vom Oberregisseur des Theaters zwei Gastkarten zu der Generalprobe erhalten habe und gern eine davon zur Verfügung stelle.

Der Präsident blickte in eine vor ihm liegende Liste und stellte seufzend fest, daß die nächsten Vorträge Bau- und Wassersachen behandeln sollten. Die Chefordonnanz trat ein und meldete:

»Kriminalpolizei hat soeben den Führer der Einbrecherkolonne Wildwest eingeliefert.«

Diese Bande war in den letzten Wochen der Schrecken des Villenviertels gewesen. Präsident von Barneck beauftragte erfreut den Assessor, dem Inspektionsleiter Dr. Stretter seine besondere Zufriedenheit auszusprechen und an dessen Arbeiten in den nächsten Wochen teilzunehmen, um den Dienst der gerichtlichen Polizei kennenzulernen.

Ernst traf den Kriminalinspektor in einem kleinen einfenstrigen Arbeitszimmer, das außer Schreibtisch, Kleiderspind und Aktenständer nur ein paar Stühle, alles aus einfachem, gelbpolierten Kiefernholz enthielt. An den Wänden hingen Eisenbahnfahrpläne, Dampferübersichten und eingerahmte Gruppenphotographien von Kongressen und Studienkommissionen. Doktor Stretter nahm mit dankender Verbeugung die Anerkennung des Chefs entgegen. Ernsts Glückwunsch lehnte er lachend ab:

»War kein Kunststück, Herr Assessor, verpfiffene Sache, der Kerl hat in einem Anfall von Eifersucht seine Geliebte verprügelt. In ihrer Wut hat sie ihn alle werden lassen, das heißt auf hochdeutsch, sie hat einen meiner Beamten auf die Spur gebracht und die Verhaftung ermöglicht. Jetzt kommt es hauptsächlich darauf an, Mitteilungen über den Verbleib der Beute, meist Juwelen, Kunstgegenstände und Silberzeug zu erlangen. Vieles ist natürlich längst eingeschmolzen oder nach London auf den großen internationalen Edelsteinmarkt spediert. Manches wird doch noch für die Bestohlenen zu retten sein, denen am Wiedererlangen ihres Eigentums mehr liegt als an hohen Strafen für die Täter. Aber es wird nicht leicht sein, unseren Gefangenen zum Reden zu bringen. Ein junger Kommissar hat das erste Verhör bei der Einlieferung geleitet und den alten Banditen leider durch schroffe Behandlung verprellt. Ich will jetzt selbst mein Glück versuchen. Vielleicht nützt Ihre Anwesenheit; der ›Schwarze Müller‹ ist wie viele Verbrecher maßlos eitel.«

Eine Seitentür öffnete sich. Zwei Kriminalbeamte führten einen großen, starken Mann herein mit kurzgeschnittenem, aufwärtsstehenden schwarzen Haar, kleinem hochgedrehten Schnurrbart. Er sah mit gleichgültigem Gesicht zur Stubendecke, ohne den anwesenden Personen irgendwelche Beachtung zu schenken. Auf einen Wink des Inspektors löste der links stehende Begleiter die Knebelkette vom Handgelenk des Gefangenen und verließ mit dem andern Beamten das Zimmer.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Müller«, forderte Doktor Stretter auf. Der Angeredete rieb sich leicht die von der Fessel gedrückte Armstelle, dann versenkte er beide. Hände in die Hosentaschen, ohne im übrigen seine angenommene Stellung zu verändern.

»Seien Sie nicht kindisch«, fuhr Doktor Stretter fort, »wir haben uns doch sonst immer verständigt. Der Herr Assessor ist aus dem Ministerium besonders hergeschickt worden, um den Verhandlungen mit Ihnen beizuwohnen. Er muß ja denken, daß Sie ein grüner Neuling sind, der aus Angst, sich reinzulegen und zu verplappern, nicht zu reden wagt.«

Der Verbrecher drehte langsam den Kopf und musterte Ernst von oben bis unten, dann setzte er sich, beide Beine breit von sich streckend, und brummte geringschätzig:

»Angst? Bei mir doch nicht zu machen! Auf 'ne anständige Frage gibt's auch Antwort. Aber Anschnauzen mit'n Leutnantston und dann noch beleidigende Zumutungen, da kommen Sie beim schwarzen Müller an den Verkehrten. Mir die Personalien abfragen, Vorstrafen soll ich herbeten! Als ob sie 'n schwarzen Müller hier nicht kennen. Lächerlich.«

Der Inspektor beruhigte ihn:

»Gott, Müller, ein junger Beamter, der sich streng an die Vorschriften hält. Das brauchen Sie doch nicht übelnehmen.«

»So, und wenn er meine Leute mit 'n jewöhnlichen Bodendiebstahl verdächtigt, 'ne Fossenjungenssache mit ausjesägten Schloß! Is sowas meine Arbeit?«

Doktor Stretter mußte lächeln:

»Ich werde den jungen Herrn belehren, es soll nicht wieder vorkommen. Nun aber zur Sache, Müller, welche Fälle geben Sie zu?«

»Gar nischt geb' ich zu, weist mir doch was nach mit euern Fingerabdrücken, dann reiße ich die paar Jahre Z Z bedeutet in der Verbrechersprache Zuchthaus. runter. Und nun lassen Sie mich in meine Zelle bringen, ich bin heute früh um vier aus 'n Bett geholt.«

»O, da werden Sie müde sein und sollen etwas Ruhe haben. Kommen Sie, Herr Assessor, wir wollen den Erkennungsdienst besichtigen.«

Der Inspektor rief einen Beamten zur Bewachung in das Zimmer, erteilte einem zweiten einen Auftrag und begab sich mit Ernst in die anstoßenden Räume der daktyloskopischen Registratur. In großen Schränken lagen in Mappen geordnet die Bogen mit den Fingerabdrücken, die hierher von allen Teilen des In- und Auslandes eingesandt wurden. Doktor Stretter ordnete an, die Blätter des schwarzen Müller und aller bekannten Mitglieder der Bande herauszusuchen und mit den Personalakten auf sein Zimmer zu senden. Ebenso ließ er im Nebenzimmer die zutreffenden Photographien aus der Sammlung des Verbrecheralbums zusammenstellen.

»Nun habe ich mein Material«, erklärte er dem Assessor, »und brauche den guten Müller nicht mit überflüssigen Fragen zu stören. Er wird inzwischen auch besserer Laune geworden sein, denn ich habe ihm drüben aus der Kneipe ein Schnitzel und ein Seidel holen lassen, er war hungrig und gereizt. Jetzt wird das Inquisitorium bei einer Zigarre sich friedlicher gestalten.«

Der Korridor vor den Räumen des Erkennungsdienstes, in den sie gelangt waren, trug an beiden Wänden vielfarbige Anschläge und Plakate mit Bekanntmachungen, Belohnungen, Warnungen und Aufrufen. In einem Glaskasten waren Photographien unbekannter Leichen zur Schau gestellt, nach deren Namen und Herkunft die Polizei fahndete. Ein gleicher Kasten enthielt die Bilder gesuchter und vermißter Männer, Frauen und Kinder. Eine großgedruckte Überschrift: »Hohe Belohnung! Wer kennt diese Personen?« lenkte die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden hierher. Auch Ernst blieb stehen und deutete auf den Kopf eines hübschen, etwa sechzehnjährigen Mädchens.

»Ein reizender Backfisch; das Gesicht kommt mir bekannt vor.«

»Das wäre sehr interessant«, erwiderte Doktor Stretter, »es ist die Lehrerstochter Anna Lenndorf, über deren Verschwinden der Minister interpelliert wurde. Können Sie irgendetwas näheres angeben? Die Aufnahme ist allerdings etwa drei Jahre alt.«

Ernst sann nach.

»Dieses Gesicht oder doch ein ganz ähnliches habe ich vor kurzem gesehen, weiß es aber augenblicklich nicht unterzubringen.«

»Erinnern Sie sich vielleicht der Farben?«, fragte der Inspektor, der das Bild aus dem Kasten genommen und umgedreht hatte.

»Ich habe die Vorstellung von etwas Schimmerndem, Blondem und von schönen blauen Augen.«

Doktor Stretter hielt ihm die Rückseite des Bildes hin und wies auf die dort eingetragenen Worte: Haare – goldblond, stark, Augen – blau, groß. Ernst nickte:

»So, goldblond und schöne Augen, aber weiter komme ich auch damit nicht.«

»Prägen Sie sich das Bild nur gut ein und denken Sie öfter daran«, riet der Inspektor, »die Erinnerung wird ganz unvermutet auftauchen, oder noch besser, ich gebe Ihnen einen Abzug mit. Die Ermittelungen haben übrigens meinen ersten Verdacht bestätigt. Das Papiergeschäft, in dem die Lenndorf angestellt war, wurde viel von Studierenden der Kunsthochschule aufgesucht, wohl nicht zuletzt wegen der schönen Verkäuferin. Das Mädchen hat in diesen Kreisen Bekanntschaften geschlossen und verkehrt. Ihr Verschwinden fällt nun gerade mit dem Semesterschlusse der Akademie zusammen. Ich nehme deshalb an, daß sie mit einem der abreisenden Hochschüler geflohen und zusammengeblieben ist. Wir haben das Verzeichnis der abgegangenen Studierenden kommen lassen und forschen jetzt dem Verbleibe jedes Einzelnen nach. Vielleicht kommen wir so auf die Spur.«

Sie hatten das Zimmer des Inspektors wieder erreicht, in dem der schwarze Müller der Fortsetzung des Verhöres entgegenharrte. Seine Stimmung war nach der genossenen Mahlzeit sichtlich milder geworden. Bereitwillig vertiefte er sich mit Doktor Stretter in die Akten, prüfte und würdigte die ihm vorgehaltenen Verdachtsmomente. Seine langjährigen Erfahrungen mit der Praxis der Strafgerichte setzten ihn in den Stand, schnell zu übersehen, in welchen Fällen ein Bestreiten überhaupt noch Erfolg versprach, und danach den Verteidigungsplan einzurichten, dessen Ziel nur noch bilden konnte, die zu erwartende Zuchthausstrafe nach Möglichkeit abzukürzen. Der Wunsch des Kriminalinspektors, Angaben über den Verbleib der gestohlenen Gegenstände zu erlangen, war ihm ebenfalls bald klar geworden und kam ihm gelegen. Sein Gesicht nahm einen lauernden Ausdruck an, als Doktor Stretter bemerkte, es handle sich noch um die Feststellung, ob alle Einbrüche bandenmäßig vorbereitet und gemeinsam ausgeführt seien. Er begriff sofort, daß sich hier bei einigem Wohlwollen seines Gegners die Aussicht öffne, die eigene Person aus einer Reihe von Fällen auszuscheiden und dadurch das Strafmaß zu verringern. Aber das Verbrecherehrgefühl – vielleicht auch Furcht vor Rache – hielten ihn ab, geradewegs den Angeber zu machen und seine Abnehmer zu benennen und zu belasten. Doktor Stretter vermochte als gewiegter Kriminalpsychologe diesen Gedankengängen wohl zu folgen. Er entschloß sich, das Verhör abzubrechen und dem anderen die Vorhand sowie die Wahl des Ausweges zu überlassen. Durch den Fernsprecher ordnete er die Abholung des Gefangenen an und begann eine gleichgültige Unterhaltung, auf die Müller gewandt einging mit Fragen nach dem Ausgange einiger Prozesse und dem Verbleibe der Angeklagten, wobei er ganz nebenbei bemerkte:

»Übrigens, Schabbesschmuhlchen ist seit einigen Tagen hier, Herr Inspektor.« Dann ließ er sich durch die eingetretenen Beamten abführen.

Der Kriminalinspektor hatte bereits wieder das Telephon ergriffen.

»Bitte sofort aus Spitznamenkartothek das Blatt Schabbesschmuhlchen.«

Er durchflog die hereingebrachte Karte und überreichte sie befriedigt nickend dem Assessor. Ernst las:

Schabbesschmuhlchen recte Samuel Mehlthau, 14. III. 1835 in Lodz geb., † Das Zeichen bedeutet: schwer vorbestraft. Personalakten M 32567, Hehler, Spezialität Kunstgegenstände und Juwelen.

»Was gedenken Sie zu tun?« fragte er.

»Mir diesen Mehlthau etwas näher zu besehen«, lautete die Antwort Doktor Stretters, der die Karte in einen Umschlag gelegt und darauf vermerkt hatte: Sofort – Runddepesche, festnehmen lassen.

»Und nun will ich in das Museum fahren und den Professor Janckow über Herrn Rothagens Plakette und über die Bronze des Prinzen Périgord hören. Wenn es Ihnen recht ist, begleiten Sie mich dorthin.«

Der große Kuppelraum der Skulpturensammlung lag, von wenigen Besuchern durchschritten, in stillem Schweigen. Ernst empfand den Gegensatz zu dem eben verlassenen Getriebe des Polizeigebäudes wohltuend. Er blieb aufatmend stehen und ließ den Eindruck dieser Welt von Marmor und Schönheit auf sich wirken, so daß er das Weiterschreiten seines Begleiters zunächst gar nicht bemerkte und Mühe hatte, ihn wieder einzuholen. Sein Erstaunen darüber, daß Doktor Stretter imstande sei, ohne einen Blick an dieser Herrlichkeit vorüberzueilen, wies der Kriminalist lachend zurück:

»Mir geben diese zerbrochenen Steinpuppen gar nichts. Die an ihnen verübten Sachbeschädigungen sind längst verjährt. Viel mehr interessiert mich die lebendige Dame dort drüben im Bronzesaal. Bleiben Sie, bitte, hier in der Nische stehen. Fällt Ihnen nichts auf?«

»Nichts besonderes, als daß sie sehr hübsch zu sein scheint, übrigens ist es die Langlot von der ›Neuen Bühne‹.«

»Eine Bekannte von Ihnen?« fragte Doktor Stretter mit etwas erstauntem Gesichte. »Ich möchte Sie nicht verletzen, Herr Assessor, aber die Dame steht genau so da, als ob sie jemanden verdecken will. Wir nennen das ›Wand machen‹. Sehen Sie, sie bleibt immer vor den Glasvitrinen, aber mit dem Rücken zu den ausgestellten Gegenständen, die Augen wandern aufmerksam im Saale umher und – natürlich, hinter ihr beugt sich ein Mann zu dem Schranke nieder.« Ernst erkannte Nadasny und berichtete kurz, was ihm über die Beziehungen des Bildhauers zu der Schauspielerin bekannt war. Der Kriminalinspektor beobachtete das Paar scharf aus seiner gedeckten Stellung und meinte:

»Wieder die alte Erfahrung bestätigt, daß die schönsten Weiber sich an die häßlichsten Männer hängen, dieser kleine schwarze Affe und das prächtige blonde Mädchen mit den strahlenden Augen.«

»Ja, schimmerndes Blond und schöne blaue Augen«, wiederholte Ernst halb mechanisch. Er brach ab und griff mit der Hand an die Stirne:

»Mein Gott, wem sieht sie ähnlich – aber ja, das ist doch das vermißte Mädchen, dessen Bild Sie mir vorhin gaben!« Doktor Stretter verglich aufmerksam:

»Sie könnten Recht haben. Die Photographie liegt freilich mehrere Jahre zurück, ein Irrtum ist nicht ausgeschlossen. Ich möchte ganz sicher gehen. Bitte, stellen Sie mich vor, als Rechtsanwalt oder dergleichen.«

Sobald sie den Nebensaal betreten hatten, bemerkte die Schauspielerin ihre Annäherung und hustete leicht hinter der vorgehaltenen Hand. Sie erkannte aber schnell den Assessor und schritt ihm mit Nadasny entgegen, der ein Skizzenbuch mit Zeichnungen griechischer Bronzen in der Hand hielt – Studienmaterial, wie er erklärte, für Fräulein Langlots Auftreten als Aphrodite. Doktor Stretter bat um Erlaubnis, die Blätter sehen zu dürfen und reichte das Buch mit höflichen Worten der Anerkennung zurück. Bei aller Bewunderung der trefflichen Zeichnung konnte er aber sein Erstaunen nicht unterdrücken, daß ein so hervorragender Künstler kein besseres Papier benutze. Jedoch Fräulein Langlot wies ihm überlegen seine völlige Unkenntnis des Materials nach:

»Das ist Ingres-Papier, Herr Doktor, feinstes französisches Fabrikat, kann nur aus Paris bezogen werden.«

Der Kriminalinspektor war jetzt seiner Sache sicher, die frühere Papierverkäuferin hatte sich verraten. Trotzdem bat er Ernst, nachdem sie sich am Zimmer des Museumsdirektors von Aida und Nadasny verabschiedet hatten, noch Stillschweigen zu bewahren, da er erst Ermittelungen über das merkwürdige Treiben der Beiden anstellen wollte.

Professor Janckow bestätigte sofort die Echtheit der Plakette, die er für ein gutes, auch im Museum vertretenes Stück erklärte. Ebensowenig schienen ihm die dringenden Briefe des Verkäufers um Rückgabe verdächtig. Wahrscheinlich habe ein anderer Liebhaber einen wesentlich höheren Preis geboten. Dagegen geriet er in Aufregung, als der Kriminalinspektor ihm die von Prinz Périgord erworbene kleine Plastik vorlegte.

»Aber das ist unmöglich, das kann nicht echt sein, diese Figur existiert nur einmal in der Münchener Sammlung, es gibt kein zweites Exemplar. Und doch kann ich kein Zeichen einer Fälschung entdecken. Ich stehe vor einem Rätsel.«

Als er hörte, daß beide Stücke von demselben Verkäufer herrührten, wurde er ängstlich und bat seine Besucher, mit ihm in den Bronzesaal zurückzukehren und nachzusehen, ob die dem Museum gehörende Plakette noch vorhanden sei. Die viereckige, längliche Bronzeplatte, die in erhabener Prägung einen Bacchantenzug zeigte, lag unter Glas auf grauem Samt, von dem sich der warme Patinaton prächtig abhob. Zufrieden lächelnd schloß der Professor den Glasschrank auf und nahm die Plakette heraus. Aber in demselben Augenblick verfinsterte sich sein Gesicht, er winkte, ihm zu folgen, und eilte in sein Arbeitszimmer, wo er bestürzt ausrief:

»Es ist ein Verbrechen verübt, unsere Plakette ist gestohlen und durch einen täuschend gefärbten Gipsabguß ersetzt worden!«

Doktor Stretter schlug auf den Tisch:

»Dachte ich mir's doch. Darum durfte der Verkäufer das Original nicht hier in der Stadt lassen, weil der Fälscher eine Nachfrage im Museum fürchtete.«

Er wog die echte Plakette und den leichten Gipsabguß prüfend in den Händen gegeneinander ab. Beide sowie die Bronzefigur verpackte er sorgfältig in seiner Aktentasche, während er tröstend dem Direktor die baldige Rückgabe des Museumseigentums in Aussicht stellte. Offensichtlich war seine Stimmung eine sehr angeregte geworden.

»Jetzt ein Telegramm nach München« – wandte er sich an Ernst – »morgen wird Schabbesschmuhlchen hoffentlich eingeliefert werden, und dann – ich glaube das Rätsel Ihrer Freundin Aida Langlot alias Anna Lenndorf ist noch nicht gelöst.«


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