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Ernst schlenderte behaglich durch den warmen Herbstnachmittag, der sich zum Abend neigte. Er liebte diese Dämmerstimmung, diesen bläulichen Schimmer, der sich weich über Straßen und Plätze legte, alle Linien auflöste. Vor seinem inneren Ohr erklangen ruhige Akkordfolgen – »Der Traum durch die Dämmerung.« Auch er folgte selig dem Zuge des samtenen Bandes, sicher, das geliebte Mädchen am Ziele der Wanderung zu treffen, glücklich in der Gewißheit ihres Besitzes und ihrer Gegenliebe. Er hatte völlig vergessen, daß er bereits für die Abendfeier des Königsgeburtstags die Reserveoffiziersuniform angelegt hatte. Den strammen Gruß mehrerer ihm begegnender Soldaten hatte er gar nicht auf sich bezogen und schrak leicht zusammen, als er plötzlich mit einem lauten »N' Abend, Herr Kamerad von den Ulanen« angeredet wurde und von Werden als Dragonerrittmeister neben sich erblickte, der freudestrahlend seine soeben eingetroffene Ernennung zum vortragenden Rat mitteilte. Gemeinsam setzten sie den Weg zur Wohnung des Polizeipräsidenten fort, bei dessen Gattin an diesem Tage nach alter Gewohnheit ein Nachmittagstee stattfand.
In den großen Räumen der Dienstwohnung herrschte eine starke Fülle. Außer der Behörde und einigen Ministerialgästen hatte Frau von Barneck auch die wichtigsten Mitglieder des »Vereins zur Verbreitung sittlicher Kunst« geladen, dessen Vorsitz sie führte und den sie tatkräftig leitete, da die Ehrenvorsitzende, die verwitwete Herzogin Christine, nur bei besonderen Anlässen erschien und sich im übrigen darauf beschränkte, bei ihrem Bruder, dem regierenden Fürsten eines Kleinstaates, von Zeit zu Zeit einige Orden- oder Titelverleihungen an bewährte Vereinsdamen oder -herren zu erbitten. Als Ernst und Werden eintraten, klang durch das Geklapper der Tassen, Teller und Löffel gerade die etwas scharfe Stimme der Dame des Hauses, die für eine kurze Ansprache des Vereinsschriftführers, Pastor Stuch, um Gehör bat. Der Redner lehnte leicht an der Tür zwischen Speisesaal und Musikzimmer, ein Mann von etwa dreißig Jahren, gut gekleidet, im zweireihigen schwarzen Überrock mit seidenen Aufschlägen, dunkler, von goldener Nadel gehaltener Krawatte; das kluge, einnehmende Gesicht von lockigem braunen Haar und kurzem Bart umrahmt. Vor zwei Jahren war Stuch nach der Hauptstadt gekommen, voll Eifers für soziale Rettungsarbeit und hatte als Helfer der Mission seine Tätigkeit bei der Sittenpolizei begonnen. Aber er hatte schnell begriffen, daß bei den unglücklichen Geschöpfen, die ihm hier zwischen der Untersuchung durch den Polizeiarzt und der Aburteilung durch den »schleunigen Amtsrichter« auf wenige Minuten zur religiösen Beeinflussung vorgeführt wurden, auf diese Weise wenig Erfolge zu erzielen waren. Er zog zwei in der Armenpflege erfahrene Frauen hinzu, die durch Angebot von Unterkunft oder Arbeit, durch Mittelgewährung zur Heimreise und zur Rückkehr in die Familie praktische Hilfe leisteten. Daß er seine eigene Stellung dadurch aushöhlte, sorgte ihn wenig. Der Weg nach oben, den er suchte, führte durch andere Kreise. Unermüdlich stellte er seine Rednergabe in den Dienst der zahlreichen Wohlfahrts- und Wohltätigkeitsvereine; seine Fähigkeit zur Organisation wurde bald erkannt und geschätzt, zumal Stuch es wohl verstand, sein Äußeres wie seine Lehre den verfeinerten Bedürfnissen der neuen Umwelt anzupassen. Nicht nur der strenge Lutherrock, der lange Vollbart wichen der weltmännischen Erscheinung; auch Wort und Schrift wandelten sich vom bibelfesten Bekehrungstone zu durchgeistigten, literarisch und künstlerisch verbrämten Vorträgen und Broschüren, die, anregend und überzeugend geschrieben, willige Hörer und Leser bis in die höchsten Gesellschaftsschichten fanden. Heute hatte er das Thema gewählt »Gott und Goethe«. Mit bemerkenswerter Belesenheit und Gedächtniskraft gruppierte er alle Stellen aus den Werken, Briefen und Gesprächen des großen Heiden, die irgendwie mit dem Glauben an einen persönlichen Gott vereinbar waren. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten die Gäste und folgten hocherfreut auf die Brücke, die so gewandt und einladend zwischen Bildung und Religion vor ihnen geschlagen wurde.
Ernst hatte Agnes in einem kleinen seitwärts belegenen Zimmer entdeckt. Dort improvisierte Prinz Périgord, der sich unter allen Uniformen und strengen Gesellschaftsanzügen durch Teejacket mit gestreiften Beinkleidern auszeichnete, vor einigen jungen Damen einen Sondervortrag, um »Gegengift zu verabreichen«, wie er sich ausdrückte. Er behauptete, daß nur Goethes Verhalten im Pfarrhause richtige Schlüsse auf seine Religiosität gestatte, und erörterte aus diesem kühnen Gesichtspunkte die Sesenheimer Idylle, wobei er in seiner liebenswürdig unbekümmerten Weise dem Schönheitssucher der »Sturm- und Drangperiode« auf den geheimsten Pfaden folgte. Als Ernst eintrat, löste sich Agnes aus dem lachenden Kreise und trat ihm entgegen. »Wie gut Sie in Uniform aussehen, Herr Berenberg«, sagte sie freundlich zu ihm aufblickend. »Die kriegerische Tracht wird Sie aber hoffentlich nicht hindern, mir vom Fortschreiten unseres Settlementplanes zu berichten.« Ernst empfand das warme Glücksgefühl, das jedem Manne das Interesse der Geliebten an seiner Berufsarbeit erregt. Eifrig berichtete er von den Verbindungen, die er bereits angeknüpft hatte und schlug Agnes vor, jetzt gleich gemeinsam sich auch der Mitwirkung des Pastors Stuch zu vergewissern, der seine Ansprache unter den Beifallsbezeugungen der Zuhörer beendet hatte. Der gewandte Geistliche griff den Gedanken lebhaft auf:
»Ein wundervolles Unternehmen, mein gnädiges Fräulein, ein Angriff gegen eine Hauptstellung des bösen Feindes. Welche herrliche Gelegenheit für alle drei Konfessionen zu einträchtiger Zusammenarbeit, denn selbstverständlich muß den polnischen und den jüdischen Familien der Zuspruch ihrer Seelenhirten werden. Oh, ich habe gute Freunde in der katholischen Geistlichkeit und auch unter den Rabbinern.«
Ernst dankte erfreut. Aber die Fortsetzung seiner Rede wurde durch ein hinzutretendes Hausmädchen verhindert, das einen für ihn abgegebenen kleinen Zettel überreichte. Ernst las:
»Revier 82 an Alle. Kanalufer 24, anscheinend Mord.« Dahinter war mit Bleistift von Doktor Stretters Hand vermerkt:
»Es geht los, kommen Sie gleich mit, ich erwarte Sie beim Kriminalkommissar vom Dienst.« Er verabschiedete sich schnell und eilte hinunter. Im Vorbeigehen bat er Périgord, sein Ausbleiben bei dem Festmahle des Polizeipräsidiums zu entschuldigen, versprach aber, wenn irgend möglich, noch im Gardeklub zu erscheinen, wo sich viele Offiziere und Beamte nach den offiziellen Regiments- und Behördenfeiern zu treffen pflegten.
Das Zimmer des diensthabenden Kommissars lag im Halbdunkel des späten Abends. Nur die Lampe auf dem Arbeitstische gab ein gedämpftes Licht. Von der »fieberhaften Tätigkeit der Polizei«, die in den Berichterstattungen über Mordfälle eine große Rolle spielt, war hier nichts zu spüren. Der Kommissar war mit der Durchsicht der sogenannten »Rotzettel« beschäftigt, d. h. der Begleitakten, mit denen die im Laufe der letzten Stunden festgenommenen Personen der Staatsanwaltschaft und den Gerichten vorgeführt wurden. Doktor Stretter saß in einer Ecke des alten schwarzledernen Sophas, das fast die ganze Seite des kleinen Raumes ausfüllte und musterte den Inhalt eines Kastens mit der Aufschrift: »Vermißte weibliche Personen«. Er begrüßte den Assessor in ausgezeichneter Laune, sichtlich befriedigt über das pünktliche Eintreffen seiner Prophezeiung:
»Nun, was habe ich gesagt? Da ist die Mordmeldung – weiblicher Rumpf ohne Kopf, Arme und Beine vom Kanal angeschwemmt – schöner Fall, interessante Arbeit – sobald der Erkennungsdienst fertig ist, fahren wir los. Ich sehe gerade nach, ob eine der als vermißt gemeldeten Frauen oder Mädchen mit der Ermordeten identisch sein kann.«
Dann erklärte er auf Ernsts erstaunte Frage über die hier herrschende friedliche Ruhe den Ablauf der Alarmierung:
»Für jeden Monat wird im Voraus die Mordkommission bestellt, der zwei Kommissare, eine Anzahl von Kriminal-Wachtmeistern und -Schutzmännern und ein Gerichtsarzt angehören. Das Verzeichnis hängt in jedem Revier aus. Sobald nun eine Dienststelle durch Runddepesche Mordmeldung gibt, benachrichtigt jedes Revier die in seinem Bezirke wohnenden Angehörigen der Mordkommission, die sich sofort an den Tatort begeben. Von der Zentrale wird nur der Erkennungsdienst entsendet, der das technische Rüstzeug für die Tatbestandsaufnahme mit sich führt – photographischen Apparat, Beleuchtungsvorrichtungen, Material zur Herstellung von Abgüssen, Zeichnungen und Ausmessungen, Kursbücher, Stadtpläne, Verzeichnisse und dgl.«
Ein Beamter meldete:
»Erkennungsdienst zur Abfahrt bereit.« Doktor Stretter sprang auf, steckte einige der durchgesehenen Karten zu sich und bestieg mit Ernst das erste der im Hofe wartenden Automobile, im zweiten folgte mit zahlreichen Taschen und Kästen der technische Dienst.
Während die Wagen dahinrollten, berichtete der Kriminalinspektor das Ergebnis seiner Ermittelungen über das Vorleben Nadasnys. Der Bildhauer hatte tatsächlich die Akademie in der Provinzhauptstadt besucht aus der Anna Lenndorf stammte, und sein Abgang von dort fiel, wie Stretter richtig vermutet hatte, mit dem Verschwinden des jungen Mädchens zusammen, das dort in einem Papiergeschäfte tätig gewesen war. Kurz nach dem Auftauchen Nadasnys in der Residenz war aber auch Aida Langlot als Anfängerin bei der »Neuen Bühne« angestellt worden, so daß an ihrer Identität mit der vermißten Anna Lenndorf kein Zweifel mehr bestand. Charakteristisch war die Übereinstimmung in den Anfangsbuchstaben des richtigen Namens und des angenommenen Bühnennamens – ein in solchen Fällen häufig zu beobachtendes Auskunftsmittel. Aber auch die Täterschaft Nadasnys an dem Münchener Museumsdiebstahl sowie die Mitwirkung Aidas standen bereits fest, da eine Nachfrage im Theater ergeben hatte, daß sie vor kurzem mit ihrem Freunde für mehrere Tage ohne Urlaub dorthin gereist war. Der Kriminalinspektor hatte deshalb für den nächsten Morgen gleichzeitige Haussuchungen bei Nadasny und in der Wohnung der Schauspielerin angeordnet, wovon er wertvolles Überführungsmaterial für den gewerbsmäßigen Kunstschwindel des Bildhauers erwartete.
Eine Menschenmauer, die sich quer über die Mündung der Straße am Kanalufer zog, hielt die Wagen auf. Die Beamten stiegen aus und wurden von dem absperrenden Schutzmann durch die Zuschauermenge geleitet. Vor ihnen breitete sich im Scheine weniger Straßenlaternen die Uferstraße aus, die in Länge von etwa fünfzig Metern völlig leer lag, während an beiden Seiten dichte Ansammlungen von Neugierigen, ebenfalls durch uniformierte Polizei zurückgehalten, den Raum begrenzten. Nur an der Uferböschung stand eine kleine Personengruppe über einem am Boden liegenden, von einer Leinwand bedeckten Gegenstand beschäftigt. Doktor Stretter gab seine Befehle:
»Erkennungsdienst dort an der Laterne aufstellen und auspacken. Blitzlichtaufnahme vorbereiten. Wachtmeister Ulrich, bitte die eintreffenden Patrouillenbeamten an der Straßenecke sammeln. Große Azetylenlampe und Utensilientasche mit mir kommen.«
Gefolgt von den Trägern beider Gegenstände überschritt er mit Ernst den abgesperrten Uferteil. Aus der Gruppe kam ihnen der Dirigent der Kriminalabteilung entgegen:
»Guten Abend, Herr Inspektor, schön, daß Sie da sind, schwerer Fall, vorläufig fehlt jeder Anhalt um nur die Person, der Toten zu bestimmen. Ich möchte Sie doch bitten, die Sache selbst zu übernehmen. Die beiden Herren vom Monatsdienst und der Reviervorsteher werden Ihnen das vorläufig Ermittelte vortragen.«
Doktor Stretter verbeugte sich zustimmend.
Was er erfuhr, war folgendes: Vor etwa einer Stunde war ein Kahn durch den Kanal gefahren. Dicht hinter der Brücke hatte die lange Stange eines der stakenden Schiffer sich mit der eisernen Spitze in einen schweren Gegenstand verfangen, der sich beim Herausziehen als ein Sack aus derbem Stoff erwies. Die Schiffer hatten das zugeschnürte Ende geöffnet und zu ihrem Entsetzen einen menschlichen Rumpf gefunden. Das sofort benachrichtigte Revier hatte sich vorschriftsgemäß auf Festhaltung dieser wichtigen Zeugen sowie auf die Absperrung der Fundstelle beschränkt und Morddepesche gegeben. Die zuerst eingetroffenen Kriminalbeamten hatten bisher nur feststellen können, daß der Sack die eingedruckte Firma einer großen Kohlenhandlung trug, auch kleine Reste von Koks enthielt, und daß der zum Zubinden benutzte ziemlich dicke Strick an einem Ende eine glatte Schnittfläche aufwies. Doktor Stretter wendete sich an einen der beiden Kommissare:
»Lieber Kollege, nehmen Sie genaues Protokoll mit den Schiffern auf und senden Sie den Sack durch einen Radfahrer zu der Kohlenfirma, ob dort irgendetwas über die Lieferung bekannt ist, aus der er herrührt. Der Strick soll sofort in unser Laboratorium gebracht werden zur mikroskopischen Begutachtung. Nun wollen wir die Leiche sehen und den Gerichtsarzt hören – bitte die große Lampe.«
Ein Beamter hob die deckende Leinwand. In dem grellen Lichtkegel des Azetylenbrenners lag der Torso eines menschlichen Wesens. Der Arzt erläuterte:
»Weibliche Person im Anfang der zwanziger Jahre, guter Ernährungszustand, gepflegter Körper von auffallend schönen Formen, sehr weiße, pigmentarme Haut, typisch für Rothaarige oder Hellblondinen; die Abtrennung des Kopfes zwischen dem dritten und vierten Halswirbel sind ebenso wie die Loslösung der Arme und Beine von sachkundiger Hand erfolgt, die Gelenke sind genau an den richtigen Stellen durchtrennt, ohne daß zuvor an anderen Stellen angesetzt worden ist. Sonst finden sich keine Verletzungen, nur hier unter der Schnittstelle des Halses sitzen zwei halbmondförmige Abschürfungen – anscheinend Fingerspuren, die auf Erwürgen schließen lassen. Näheres wird die Obduktion ergeben.«
»Auf deren Beschleunigung ich größten Wert lege«, fiel Doktor Stretter ein. »Herr Kommissar von Erdmann, bitte fahren Sie sofort zur Staatsanwaltschaft und verabreden Sie den Termin möglichst für morgen früh. Der Erkennungsdienst kann jetzt Fundstelle und Leiche photographieren. Der Körper wird dann zum Leichenschauhaus gebracht, bitte dorthin Telephondepesche zum Abholen geben. Die Patrouillenführer sollen zu mir kommen, auch die anwesenden Herren von der Presse lasse ich bitten.«
Gleich darauf sah der Kriminalinspektor sich von einem Kreise schreibbereiter Männer umgeben, denen er in großen Zügen das bisher Ermittelte schilderte. Daran knüpfte er die Aufträge für die Patrouillen, von denen ein Teil mit den Polizeihunden die Ufer nach weiteren Funden absuchen und die Schiffer befragen sollte, während die übrigen in Kaschemmen, Nachtasylen und anderen Treffpunkten der Verbrecher herumhören sollten, welche Gerüchte in diesen Kreisen umliefen.
»Und nun noch ein Wort an die Herren Berichterstatter. Wir haben Ihnen alles mitgeteilt, was wir selbst wissen und sind für schnelle Verbreitung außerordentlich dankbar. Nur bitte, keine allzu sensationelle Aufmachung. Besonders wollen Sie freundlichst beachten, daß kein Anhalt für einen Lustmord vorliegt, d. h. für eine aus perverser Lust verübte Tötung. Ich rechne vielmehr mit einem im Streite oder sonst in der Aufwallung verübten Totschlag, bei dem der Täter dann, um die Leiche und damit die Gefahr der Entdeckung zu beseitigen, notgedrungen den Körper zerteilt hat zur Erleichterung des Fortschaffens. Säulenanschlag erfolgt morgen früh. Ich bleibe vorläufig hier im Revierbüro und stehe jederzeit auch telephonisch zur Verfügung.«
An der Fundstelle waren indessen mehrmals die blendenden Flammen des Blitzlichtes aufgezuckt, in deren Schein die photographischen Aufnahmen erfolgten. Dann fuhr das Automobil des Leichenschau-Hauses vor und nahm die schaurige Last auf. Gleich darauf wurde die Absperrung aufgehoben, und der Strom der Schaubegierigen ergoß sich über den Platz, aber nur um festzustellen, daß dort nichts mehr zu sehen war. So zerstreute sich die Menge bald und das Ufer lag wieder still und leer im trüben Lichte der spärlichen Straßenbeleuchtung. Nur in einem Hausflure standen bewegungslos zwei Männer – Patrouillenbeamte auf der Wacht, ob doch etwa der Mörder, von der inneren Unruhe getrieben, den Schauplatz des Verbrechens wieder aufsuchen werde.
Es war fast Mitternacht und für Ernst zu spät geworden, noch das Festmahl des Polizeipräsidiums aufzusuchen. Er wollte aber an diesem Tage nicht ganz im Kreise der Behörde fehlen und fuhr deshalb in den Gardeklub, obwohl ihn die Aussicht nicht sehr reizte, nach den furchtbaren Eindrücken der Tatbestandsaufnahme sich unter die fröhlichen, von der Weinlaune erfüllten Menschen zu begeben. Im Vorraum der mit etwas veralteter Pracht ausgestatteten Klubräume erfrischte er sich durch Waschen und ließ die Uniform abbürsten. Er erfuhr, daß es nicht mehr sehr voll sei. »Kgl. Hoheit, Prinz Theodor sind anwesend«, berichtete der Diener, »Kgl. Hoheit haben einen Kommers arrangiert. Es wird Türkenblut getrunken, die älteren Herren sind meist schon gegangen.« Der Assessor verstand die Andeutungen. Diese Trinkabende erfreuten sich keiner großen Beliebtheit, da die hochfahrende Art des prinzlichen Leiters unter der Wirkung des Alkohols sich leicht zum Ausfallenden steigerte und schon mehrfach zu sehr unangenehmen Zusammenstößen geführt hatte. Ernst durchschritt das Spielzimmer. Aus dem Saale herüber drang Lachen und lautes Gespräch, in dem die tiefe Stimme des Prinzen vorherrschte. Im anstoßenden Lesezimmer brannten nur einige Tischlampen, in deren Schein Ernst den Geheimrat von Werden in halblauter Unterredung mit Périgord bemerkte. Werden winkte den Assessor heran:
»Helfen Sie mir, Berenberg, und reden Sie Ihrem Freunde zu, sich zu entfernen. Prinz Theodor ist etwas erregt und hat schon mehrfach darauf angespielt, es wäre schön, an solchem Tage nur Uniformen um sich zu sehen.«
Périgord zuckte die Achseln und meinte ruhig:
»Ich fühle mich sehr wohl in meinem Frack. Ich bin reichsunmittelbarer Fürst und hätte ebensogut wie die Mitglieder der regierenden Familien als Offizier in die Armee treten können. Aber ich habe vorgezogen, diesem Milieu fernzubleiben, das mir wenig liegt. Auch Prinz Theodor wird sich an diesen Anblick gewöhnen können.«
Damit schritt er in den Saal hinüber. Der Geheimrat folgte ihm, indem er Ernst am Arme zog:
»Wir wollen versuchen, Se. Kgl. Hoheit abzulenken. Ich fürchte, es gibt ein Unglück.«
Über dem großen Tische des Speisesaales lagerte dichter Zigarrenrauch. Etwa zwanzig Herren in den verschiedensten Uniformen saßen an den beiden langen Seiten. Den Querplatz hatte der Prinz inne, ein junger, hochaufgeschossener Mann von etwa dreißig Jahren. Er trug die Uniform eines Obersten der Leibkürassiere und mehrere Ordenssterne. Sein Antlitz mit den herabgezogenen Mundwinkeln unter dem kleinen hochgedrehten Schnurrbart zeigte eine starke Röte. Er beobachtete streng blickend einen ziemlich beleibten Artillerieoffizier, der stehend mit merklicher Anstrengung einen großen, bis zum Rande gefüllten Pokal zu leeren bemüht war und auf das Kommando: »Geschenkt!« des Prinzen aufatmend in den Sessel zurücksank. Prinz Theodor hatte von diesem Opfer aber nur abgelassen, weil er Périgords Eintritt bemerkt hatte, an den er die Frage richtete:
»Nun, wo haben Euer Durchlaucht gesteckt? Ich dachte, Sie hätten sich umgezogen und endlich auch des Königs Rock angelegt.«
Périgord verbeugte sich liebenswürdig lächelnd:
»Wenn ich Farben tragen will, Kgl. Hoheit, bevorzuge ich die meines eigenen alten Hauses vor den Abzeichen späterer Jahrhunderte.«
Der Prinz rang in fassungsloser Wut nach Worten. Diesen Augenblick benutzte Werden, um das gefährliche Gesprächsthema zu wechseln. Er trat mit Ernst heran:
»Gestatten Ew. Kgl. Hoheit, daß ich Herrn Assessor Berenberg vorstelle, Hilfsarbeiter im Ministerium des Innern, zur Zeit dem Polizeipräsidium zugeteilt.«
Prinz Theodor nickte nachlässig.
»So, vom Polizeipräsidium, da scheint mir auch die nötige Zivilkourage zu fehlen. Warum hat Ihr Präsident die Demonstrationen heute geduldet, statt die Bande vom Militär zu Paaren treiben zu lassen?«
Ernst verbarg sein Erstaunen über den unfreundlichen Empfang.
»Soweit ich unterrichtet bin, Kgl. Hoheit«, erwiderte er, »ist es gelungen, alle Ansammlungen in Ruhe aufzulösen.« Geheimrat von Werden mischte sich gewandt in das Gespräch:
»Assessor Berenberg kommt soeben von einem nächtlichen Lokaltermin, anscheinend liegt ein furchtbarer Lustmord vor.«
Jetzt zeigte der Prinz Interesse. Er erkundigte sich nach Ernsts Tätigkeit und hörte ziemlich aufmerksam die Erzählung von dem Leichenfunde an, wobei er jedoch fortfuhr, bald diesen, bald jenen durch Zutrinken oder Befehl zur Leerung des Glases zu nötigen. Immerhin schien eine friedlichere Stimmung Platz zu greifen. Nur der dicke Artillerist war tief betrübt, sich so plötzlich der glänzenden Rolle als Mittelpunkt des Interesses und Gegenstand der prinzlichen Beschäftigung beraubt zu sehen und schoß finstere Blicke auf Ernsts Ulanka. Werden war von dem erreichten Erfolge befriedigt und bemühte sich, durch Zwischenfragen Ernst zu weiteren Mitteilungen aus der Polizeipraxis anzuregen. Der Assessor ging bereitwillig darauf ein und sprach von seinem Besuche in der Försterstraße. Die Schilderung der Gaunertypen und ihres Treibens vermochte noch die Aufmerksamkeit des Prinzen zu fesseln, aber seine Teilnahme ermüdete, als Ernst zu einer Darstellung der geplanten sozialen Rettungsarbeit überging. Er unterbrach brüsk:
»Lächerlich, dem Gesindel noch Wohltaten erweisen, das ist überspannte moderne Humanitätsduselei; ausgeschlossen, dafür Staatsgelder rauszuschmeißen.« –
»Vergebung, Kgl. Hoheit«, wagte Ernst zu entgegnen, »das ganze Liebeswerk soll aus freiwilligen Spenden unterhalten werden, Kommerzienrat Rothagen hat bereits einen Betrag zugesagt, der für die ersten Monate ausreicht.«
Durch den Widerspruch gereizt, fiel der Prinz sofort wieder in seine üble Laune zurück. Er goß ein volles Glas des rötlichen Gemisches von Sekt und Burgunder hinunter, dann klemmte er das Monokel ein und sagte, während er Ernst von oben bis unten musterte:
»So, mit Judengeld wollen Sie christliche Liebestätigkeit finanzieren, merkwürdiger Einfall für einen königlichen Beamten!«
Ernst war blaß geworden und preßte die Lippen zusammen. Der Artillerieoffizier triumphierte innerlich und nahm die Gelegenheit wahr, dem schnell gestrauchelten Nebenbuhler um die Gnadensonne den Todesstoß zu versetzen. Er neigte sich gegen den Prinzen vor und bemerkte möglichst obenhin:
»Der Herr Kamerad von den Ulanen steht mit der Familie Rothagen überhaupt in sehr guten Beziehungen. Poussierten Sie nicht gestern die kleine Sarah auf dem Tennisplatze?«
Ernst wendete sich erregt zu dem Frager:
»In welchem Tone erlauben Sie sich von der Dame zu sprechen?«
Die Antwort wurde durch den Prinzen abgeschnitten, der wütend aufgesprungen war und Ernst anfuhr:
»In welchem Tone erlauben Sie sich in meiner Gegenwart zu reden? Wollen Sie hier vielleicht eine Lanze für die Sarah oder Rebekka brechen?«
Ernst hatte sich ebenfalls erhoben:
»Ich muß auch Ew. Kgl. Hoheit bitten, Achtung vor einer Dame zu bewahren, die …«
Er konnte den Satz nicht vollenden. Der Prinz zitterte vor Wut, sein Gesicht verzerrte sich.
»Sie sind ein respektloser Bursche, der eine Züchtigung verdient«, stieß er mit drohend erhobener Faust hervor. Ernst wich zurück und streckte abwehrend die Hand vor. Aber in demselben Augenblicke traf ihn der Schlag des Prinzen in das Gesicht. Es entstand Totenstille. Dann trat Périgord an Ernst heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Kommen Sie, Berenberg«, sagte er in freundlichem bestimmten Tone, »alles Weitere wird sich finden.« Er nahm den Arm des fast bewußtlos dastehenden Assessors und führte ihn schnell aus dem Saale. Werden hatte dienstliche Haltung angenommen:
»Wir bitten Ew. Kgl. Hoheit gehorsamst, uns entfernen zu dürfen.« Der Prinz zögerte kurz.
»Lassen Sie sich nicht stören«, erklärte er etwas unsicher, »ich wollte doch gerade fort – bitte, meinen Wagen.« Er deutete eine Verbeugung an und ging, gefolgt von seinem Adjutanten, der gewaltsam die Ruhe bewahrte, aber im Vorbeischreiten einen bittenden Blick auf Werden richtete. Dieser verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Erst als die Tür sich hinter den beiden geschlossen hatte, nahm er das Wort:
»Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, meine Herren, daß wir alle unverbrüchliches Schweigen über diesen tief traurigen Vorfall zu bewahren haben. Wir wollen hoffen, daß es dem Ehrengericht gelingt, eine Lösung zu finden.«