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Am Ausgange des Abgeordnetenhauses trafen Ernst Berenberg und Prinz Périgord mit Doktor Stretter zusammen, dem sie sich anschlossen.
»Sie haben einen interessanten Beruf, Herr Kriminalinspektor; welche Verbrechen bearbeiten Sie?« fragte der Assessor.
»Ich leite die Inspektion, die für das Berufsverbrechertum zuständig ist; persönlich habe ich mir die schwierigeren Betrugsfälle vorbehalten. Eben bin ich auf dem Wege, eine merkwürdige Angelegenheit zu untersuchen, bei der ich raffinierte Kunstfälschung vermute.«
»Erzählen Sie,« bat der Prinz, »Sie wissen wohl, daß ich selbst ein alter Sammler bin.«
Der Kriminalinspektor griff in die Tasche seines Mantels und nahm aus Seidenpapier einen schmalen Gegenstand heraus.
»Was halten Ew. Durchlaucht hiervon?«
»Das ist eine Bronzeplakette, eine herrliche Renaissancearbeit!« rief Périgord begeistert.
»Echt?«
Der Prinz war stehen geblieben, hatte eine kleine Lupe hervorgezogen und betrachtete aufmerksam Vorder- und Rückseite, dann erklärte er:
»Das Stück ist aus der Zeit, die Patina ist alt und nicht künstlich erzeugt. Sie tritt besonders an den Stellen hervor, an denen die Prägung durch häufiges Anfassen abgegriffen ist, was den Edelrost bekanntlich fördert.«
Aber der Kriminalinspektor schüttelte den Kopf und entwickelte die Gründe für seinen Verdacht. Die Plakette war vor wenigen Wochen dem Kommerzienrat Rothagen von einem jungen Manne verkauft worden, der ihn nach einer Bilderauktion angesprochen hatte. Der geforderte Preis war hoch gewesen, aber schließlich für das außergewöhnlich schöne Stück gezahlt worden. Schon am nächsten Tage war ein Brief des unbekannten Verkäufers eingetroffen, in dem er dringend um die Rückgabe gegen Wiedererstattung des Preises bat, da er das Kunstwerk, von dem er sich nur in höchster Not getrennt habe, doch nicht missen könne. Der Brief hatte eine postlagernde Deckadresse angegeben und war unbeantwortet geblieben. Seitdem wiederholten sich solche Schreiben in kurzen Zwischenräumen, Rückgabe begehrend und immer höheren Rückkaufpreis anbietend. Schließlich wurden sogar versteckte Drohungen eingeflochten, so daß der Besitzer die Hilfe der Polizei angerufen hatte. Der Prinz war der Erzählung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Jetzt begann er etwas kleinlaut:
»Sie machen mich ordentlich ängstlich. Auch ich habe nämlich kürzlich von einem Unbekannten eine kleine griechische Bronzefigur erstanden. Er berief sich zur Einführung darauf, daß er mich bei Versteigerungen gesehen und meine Adresse von Kommissionären erfahren habe. An der Echtheit habe ich allerdings keinen Zweifel.«
Der Kriminalist nahm die neue Spur sofort auf und meinte:
»Die Art der Anknüpfung ist sehr ähnlich, ich wäre dankbar, wenn ich die Figur einmal sehen könnte.«
Périgord versprach, auf das Polizeipräsidium zu kommen, um das corpus delicti vorzulegen, und erkundigte sich, wohin Doktor Stretter mit der Plakette gehe. Als er vernahm, daß der Beamte die Bronze dem Eigentümer zurückbringen und die Drohbriefe prüfen wolle, äußerte er den Wunsch, mitzugehen, um die berühmte Rothagensche Gemäldegalerie zu besichtigen, wozu er auch Berenberg dringend aufforderte. Dessen Bedenken gegen solchen unangemeldeten Besuch wies Doktor Stretter lächelnd zurück:
»Der Herr Kommerzienrat wird entzückt sein, zwei Angehörige des Ministeriums und noch dazu eine leibhaftige Durchlaucht bei sich zu sehen.«
Tatsächlich empfing Rothagen die Herren hocherfreut. Sein gesellschaftlicher Ehrgeiz begegnete noch immer Schwierigkeiten, obwohl er durch seinen gewaltigen Reichtum und seine weitverzweigten geschäftlichen Beziehungen maßgebenden Einfluß auszuüben vermochte. Er führte die Besucher in die Gemäldegalerie seiner Villa, deren Glanzstück ein herrliches Selbstbildnis von Rembrandt bildete. Das Erscheinen und das Auftreten des Finanzmannes waren eindrucksvoll. In dem glattrasierten Gesicht unter den dichten schneeweißen Haaren funkelten die stahlgrauen Augen klug und nur etwas zu unruhig durch die goldene Brille. Um den Mund lag ein Zug zielsicherer Willenskraft, der durch ein darüber spielendes verbindliches Lächeln kaum gemildert wurde.
Nach wenigen Minuten hatte Rothagen die Beamten in einen lebhaften Meinungsaustausch über die Aufgaben und die Tätigkeit der Polizei gezogen. Er verfocht lebhaft seine Ansicht über die Reformbedürftigkeit der Organisation:
»Zunächst sind die Besoldungen zu erhöhen. Vertreter einer Behörde, die so im Mittelpunkte des großstädtischen Lebens stehen und an die solche Versuchungen herantreten, müssen hervorragend bezahlt werden. Hohe Belohnungen für Erfolge! Große Summen als Bewegungsgelder! Kann alles wieder eingebracht werden, wenn die Polizei Prozentsätze vom wiederbeschafften Gut, Bezahlung für Bewachungen und für besondere Aufträge nimmt. Kaufmännischer Betrieb muß eingeführt werden! Jeden Morgen Konferenz, Verteilung der Aufträge, mündliche Berichte und Entscheidungen statt des Aktenverkehrs, geheime Überwachung auch der uniformierten Polizei durch hohe Zivilbeamte, – das wären Aufgaben für einen Organisator!«
Dann zog er sich mit dem Kriminalinspektor, der an die Durchsicht der Drohbriefe erinnert hatte, in sein Arbeitszimmer zurück. Périgord folgte, da er feststellen wollte, ob es sich um den Verkäufer seiner Bronze handele. Der Kommerzienrat bat Berenberg für einen Augenblick um Entschuldigung, seine Tochter werde sofort erscheinen, um ihn weiter zu führen.
Gleich darauf betrat Agnes Rothagen die Galerie. Und nun ereignete sich etwas Seltsames und Schönes. Zwei junge Menschen, die sich nie zuvor gesehen hatten, fühlten sich mit einer Gewalt zueinander hingezogen, als wären wirklich die beiden Hälften, von denen die Lehre Platos kündet, zur Vereinigung gelangt. Wie lange sie zwischen den schwarzen und goldenen Rahmen auf und nieder gingen, kam ihnen nicht zum Bewußtsein. Gebannt hingen Ernst's Blicke an der schlanken Mädchengestalt mit dem zarten Profil, in dem die orientalische Rasse sich in unberührter Reinheit verkörperte. Und Agnes empfand an der Seite dieses großen und ruhigen Mannes ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das sie in allem Glanze ihrer viel beneideten und viel umworbenen und doch oft einsamen und schwierigen Stellung bisher vergeblich ersehnt hatte. Das Gespräch war schnell von der Betrachtung der Kunstwerke zum Persönlichen übergegangen. Der Assessor schilderte die Freuden und Leiden seiner Tätigkeit im Ministerium und äußerte seine Genugtuung, aus dieser Welt der Vorträge und Berichte, der grundsätzlichen Entscheidungen und der parlamentarischen Rücksichten bald wieder in die lebendige Verwaltungspraxis mit eigener Verantwortung zurückkehren zu dürfen. Am Schlusse der Sitzung im Abgeordnetenhause hatte der Unterstaatssekretär ihm eröffnet, daß er für die Leitung einer neugeschaffenen Polizeidirektion im Industriegebiete in Aussicht genommen sei und deshalb jetzt noch einige Wochen im Polizeipräsidium der Hauptstadt beschäftigt werden solle. Ernst war sichtlich froh, sich über diese wichtige Änderung seiner Laufbahn mit dem jungen Mädchen, aussprechen zu dürfen, zu dem sich seine plötzlich erwachte Neigung drängte:
»Ich hatte ja eigentlich auf den Landrat gerechnet. Ich hatte es mir so schön gedacht, in einem ländlichen Kreise der Vertrauensmann der ganzen Bevölkerung zu werden, jedem mit Rat und Tat in allen großen und kleinen Nöten zur Seite zu stehen, Wohlstand und Kultur, Ordnung und vaterländische Gesinnung zu fördern.«
»Und die geheimnisvollen Aufgaben der Polizei reizen Sie nicht?« fragte Agnes. Er sann einen Augenblick nach, dann erwiderte er:
»Die Polizei hat es meist mit den Schattenseiten des Lebens zu tun. Ihre Pflicht ist es, hemmend und hindernd, strafend und verfolgend in die Kreise der Menschen einzugreifen. Alle bösen und häßlichen Leidenschaften und Triebe enthüllen sich vor ihr.«
»Böse und häßlich … sind das nicht nur ästhetische Begriffe, Herr Assessor? Ist dafür in den Gedanken eines praktischen Staatsmannes Platz? Ich meine, gerade der Verbrecher, überhaupt der an den Klippen des Lebens gescheiterte Mitmensch ist unserer sorgenden Aufmerksamkeit wert, und die Aufgabe, ihm aufzuhelfen oder noch besser ihn vor dem Falle zu bewahren, scheint mir eine der schönsten, die sich der Staatsgewalt bietet.«
Agnes mußte lächeln, denn über das Gesicht ihres Begleiters verbreitete sich ein Ausdruck unverhohlener Anbetung:
»Ich bewundere Ihr Verständnis für dieses entlegene Gebiet, gnädiges Fräulein, und wäre wirklich glücklich, diese Unterhaltung bald einmal fortsetzen zu dürfen.«
Die Antwort wurde durch den Wiedereintritt Rothagens und des Prinzen abgeschnitten. Die Besprechung mit dem Kriminalinspektor hatte mit Sicherheit ergeben, daß beide ihre Antiquitäten von demselben Verkäufer erhalten hatten, der durch dichten schwarzen Vollbart, blaue Brille und Anklang harten ausländischen Dialektes unverkennbar gezeichnet war. Doktor Stretter war nun in seinem Zweifel an der Echtheit der beiden Kunstwerke noch bestärkt. Er hatte die Plakette wieder an sich genommen und den Prinzen an die Vorlage der griechischen Antike erinnert, da er die Stücke im Museum begutachten lassen wollte.
Ein Diener meldete, daß der Wagen des Prinzen vorgefahren sei und überreichte zugleich dem Kommerzienrat die Abendnummer des ›Telegraphischen Pressedienstes‹. Rothagen überflog das Blatt schnell.
»Sehen Sie, meine Herren«, rief er lachend, »Sie haben sich heute im hohen Hause mit meinem Theater beschäftigt und wollen die Phädra verbieten.«
»Also Theaterdirektor sind Sie auch, ich gratuliere zu Ihrer Vielseitigkeit, Herr Kommerzienrat«, scherzte Périgord. »Da werden Sie uns am besten Auskunft geben können, was es mit dieser Aufführung und ihren besonderen Ausstattungsreizen für eine Bewandtnis hat. Unser guter Minister ist in Todesängsten und hat mich fast kniefällig um Beschaffung von zuverlässigen Nachrichten angefleht.«
Rothagen wehrte lebhaft mit beiden Händen ab:
»Machen Sie keine schlechten Witze, Durchlaucht. Ich finanziere die ›Neue Bühne‹, habe aber keine Ahnung von dem Mummenschanz, den sie dort treiben; mich interessieren nur die Kassenrapporte. Aber wenn Sie wirklich Näheres wissen wollen, gehen Sie heute abend in den Künstlerklub, da treffen Sie die ganze Bande. Der Klubvorsteher beehrt öfter mein Geschäft mit Börsenaufträgen, ich lasse ihm telephonieren, daß die Herren kommen. Sie werden einen vergnügten Abend bei dem Völkchen verleben.«
Ernst und der Prinz waren dankbar für die Einführung und verabschiedeten sich, nachdem sie gern der nicht unerwarteten Bitte des Kommerzienrates zugesagt hatten, sich wieder sehen zu lassen. Im Auto rauchten beide schweigend ihre Zigaretten. Ernst sann vor sich hin. Périgord beobachtete ihn ein Weilchen von der Seite:
»Die kleine Rothagen gefällt Ihnen, Berenberg?« Der Angeredete fuhr auf, dann sagte er mit kurzem Entschluß:
»Ehrlich herausgesagt, ja, ich weiß überhaupt nicht, wie mir ist. Nie hätte ich einen solchen Eindruck beim ersten Begegnen für möglich gehalten.«
»Doch, doch«, nickte der andere, »so etwas kommt vor und muß sehr schön sein. Also heiraten Sie den Goldfisch, Sie werden nicht vergebens anklopfen, sind ein gemachter Mann und können auf die Ochsentour im Amte pfeifen.« Ernst runzelte die Stirn:
»Weshalb soll ich die Karriere aufgeben? Was ist gegen Herrn oder Fräulein Rothagen zu sagen?«
»Fräulein Agnes ist natürlich ein Engel«, begütigte ihn Périgord, »und der Alte ein Finanzgenie, für dessen Besitz unser Vaterland dem Himmel danken sollte, statt über die Quellen seiner ersten Million zu witzeln, die nun mal am schwersten zu erwerben ist. Ich bin durch unseren Kammerpräsidenten orientiert. Aber die Rothagen sind Juden.«
»Und Sie Antisemit, Prinz?«
»Ich? Im Gegenteil, ich liebe die wohlgeratenen Vertreter dieser alten Rasse, die an Kultur und Degeneriertheit mit uns vom hohen Adel allein wetteifern kann. Ich glaube, schon im ersten Kreuzzuge sind ein Périgord und ein direkter Vorfahre der Rothagen von den Seldschucken gemeinsam gepfählt worden. Aber Sie wissen doch, der Wald- und Wiesenadel und die übrigen Tonangebenden in der Bürokratie denken anders. Landrat oder Polizeipräsident werden Sie mit der geborenen Rothagen als Gattin kaum werden. Schließlich gibt es ja noch andere ganz nette Tätigkeiten.«
»Ich liebe meinen Beruf«, erwiderte Ernst etwas erregt, doch der Prinz unterbrach ihn:
»Und die kleine Rothagen lieben Sie auch! Übrigens brauchen Sie sich nicht sofort zu entscheiden und sind vorläufig zu Hause angelangt. Jedenfalls holen Sie mich heute Abend um 10 Uhr ab, wir fahren dann zusammen auf Recherche in Sachen wider die ›Neue Bühne‹ wegen unzüchtiger Darstellungen usw.«
* * *
Der Künstlerklub von 1905 hatte sein Heim in einer Seitenstraße des alten Westens aufgeschlagen, im Dachgeschoß eines hohen, schmalen Hauses, das meist Geschäftsräume enthielt. Ursprünglich war dort das Atelier des Kunstmalers Werner gewesen, eines wohlhabenden jungen Mannes, der sich zwei prächtige Säle geschaffen hatte, mit zahllosen Altertümern, Raritäten, Schnitzereien und bunten Glasfenstern ausgestattet, in denen er seinen beiden Leidenschaften, der Malerei von Kircheninterieurs und dem Börsenspiel, fröhnte. Aber keine dieser Beschäftigungen hatte ihm Glück gebracht. Ein »schwarzer Mittwoch« der Börse hatte sein Vermögen verschlungen, und da der Absatz der gotischen und romanischen Dombilder von Anfang an ein recht bescheidener gewesen war, sah Werner sich vor die Notwendigkeit eines Broterwerbs gestellt. Schnell gefaßt, lud er den großen Freundeskreis, der sich bei ihm zu versammeln pflegte, zu einem Festabende ein, und als die Stimmung den Höhepunkt erreicht hatte, erklärte er mit einer humorvollen Ansprache das Mißgeschick, das ihn ereilt hatte, woran er die hoffnungsvolle Bitte um Rat und Hilfe knüpfte. Seine Erwartung hatte ihn nicht getäuscht. Nachdem die fröhliche Schar von bildenden, musizierenden und darstellenden Künstlern beiderlei Geschlechts sich von der ersten Überraschung erholt hatte, entstand ein befeuerter Wettstreit vernünftiger und unsinniger, möglicher und unmöglicher Vorschläge, aus dem schließlich als Sieger die Gründung des »Künstlerklubs 1905« hervorging, der die Wohnung des verunglückten Spekulanten mit der gesamten Einrichtung als Klublokal übernahm und ihn selbst zum Wirtschaftsleiter einsetzte. Werner bewährte sich glänzend. Er sorgte für Küche und Keller, war unerschöpflich in der Erfindung von festlichen Anlässen, im Arrangieren von Maskeraden, Bällen, Ausstellungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen und hatte seine beiden großen Räume – neben denen er selbst eine kleine Kammer bewohnte – schnell zu einem einzig dastehenden mixtum compositum von Museum, Kirche, Atelier, Gerichtslaube, Kneip- und Wohnzimmer umgestaltet mit Plauderecken, Vortragspodium, Flügel und Harmonium, Karzerstube und sonstigem Brimborium. Er führte dabei ein ganz vergnügliches und auskömmliches Leben, fand auch Zeit, die Welt weiter mit farbenprächtigen Domschildereien zu erfreuen; hin und wieder glückte es ihm sogar, kleine Ersparnisse zu machen, die er dann so schleunig wie möglich an der Börse verpulverte. Den Kummer seines Daseins bildeten nur die stets sich wiederholenden Kämpfe mit der Schank- und Baupolizei, die bald Konzessionsschwierigkeiten machte, bald mit der Polizeistunde drohte, dann wieder ihn mit Bedenken gegen die Feuersicherheit des Betriebes schreckte.
Der Name »Künstlerklub« prangte übrigens nur als Aushängeschild an der Tür. Für die Eingeweihten hieß das Lokal »Sodom«, die Klubabende »Orgien«.
Eine solche hatte soeben ihren Anfang genommen. Der Kapellmeister einer Operettenbühne, der seit drei Monaten verdammt war, Abend für Abend die Tanz- und Marschrythmen des Saisonschlagers zu dirigieren, saß am Flügel und erfrischte sein musikalisches Empfinden in einer freien Phantasie über Isoldes Liebestod. Auf einem großen Perserteppich hinter dem Instrumente lauschten einige junge Männer und Mädchen – in Gruppen hingelagert und kauernd, die meist allerdings auf gesundes Liebesleben hindeuteten. Werner selbst waltete seines Amtes hinter einer Riesenbowle, die er gerade mit neuer Mischung füllte, was ihn nicht hinderte, gleichzeitig mit dem Handelsredakteur einer Tageszeitung eifrig die Aussichten der neuesten Aktienausgaben zu erörtern. An einem kleinen Tische brütete der beliebteste Komiker der Residenz mit finsterem Gesicht über einer für ihn verzweifelt stehenden Schachpartie. Sein Antlitz erhellte sich daher merklich, als sein Gegner, der Maler Rosenberg, bat, das Spiel abbrechen zu dürfen:
»Seien Sie nicht böse, Paddy, aber dort kommt Tilldorf von der ›Neuen Bühne‹, den muß ich noch wegen der Phädra-Dekoration sprechen.«
Der eben eingetretene Oberregisseur, dessen kahler Schädel wie ein Käppchen aus dem umgebenden grauen Lockenkranze hervorragte, hatte den Maler auch bereits erblickt und zu sich gewinkt:
»Kommen Sie her, Rosenberg; wie steht es mit dem Zwischenvorhang, haben Sie sich nun für rosa oder gelb entschieden? Ich muß das für die Beleuchtung der folgenden Chorszene wissen.«
Der Angeredete war zu ihm getreten, und beide nahmen auf den schön geschnitzten, wenn auch nicht übermäßig bequemen Sitzen eines Chorgestühls Platz, wohin Werner alsbald zwei Pokale sandte.
»Unsinn, du siegst« – deklamierte Rosenberg – »triumphieren Sie, eigensinnigster aller Spielleiter, ich gebe nach, gelb sei die Losung. Nun nehmen Sie aber auch Vernunft an, und verzichten Sie für den Prolog auf den schwarzen Hintergrund. Wir werfen blauen Wolkenhimmel auf den Kuppelhorizont und davor die Aphrodite im Goldschleiergewand.« Tilldorf schüttelte seinen Lockenkahlkopf:
»Wäre sehr hübsch, aber nicht zu machen. Unser Alter wünscht die Göttin in puris naturalibus nur mit Scheinwerfer bekleidet … weiß auf schwarz.« Der Maler schlug auf den Tisch:
»Wollt ihr denn wirklich den Unfug machen, das Mädel ganz nackt auf die Bühne zu stellen?«
»Jawohl«, bestätigte Tilldorf, »Klassiker in realistischer Aufmachung, Kunst und Natur, Lessing kennen Sie ja.«
»Blödsinn, Lessing würde mit dem Krückstock dazwischen fahren; ich habe doch wahrhaftig manchen Akt gemalt, aber wirkliche Nacktheit auf der Bühne ist genau so eine verschrobene Forderung, wie wenn der Held im Trauerspiele eines wirklichen Todes verbleichen sollte. Mit Kunst hat das nichts zu tun.«
»Natürlich nicht«, meinte der Regisseur seelenruhig, »aber Sie wissen doch so gut wie ich, daß wir mindestens dreißig Aufführungen brauchen, um nur die Unkosten der Inszenierung rauszuschlagen. Ich bitte Sie, wo sollen die Besucher für dreißig Euripides-Abende herkommen, wenn man dem Ungeheuer Publikum nicht ein Extrafressen bietet.«
»Kunstwucherer, Kapitalsbestien, Fleisch- und Seelenverkäufer«, schimpfte der Maler, »aber euer Register hat ein Loch, die Polizei wird euch einen Strich durch die Rechnung machen. Ich nehme öffentliches Ärgernis!«
»Die Polizei wird sich hüten, sich an Euripides zu vergreifen. Außerdem finden die ersten Vorstellungen vor geladenem Subskribentenpublikum in geschlossenem Kreise statt, dann wird die Öffentlichkeit allmählich zugelassen, leise und schmerzlos, so etwas fingert der Alte prächtig. Na, und sollten wir gar das Glück haben, daß ein Verbot der Zensur erfolgt, das wäre eine bessere Reklame als alle Ihre stilvollen Plakate, teuerster Raphael. Im übrigen Prosit.«
Rosenberg stieß ärgerlich lachend mit ihm an, dann fragte er:
»Habt ihr auch schon ein gut gebautes Schaf gefunden, das sich für diese göttliche Dirnenrolle hergibt?«
»Die Langlot soll die Rolle spielen, sie ist bildhübsch und jung, spricht Verse ganz leidlich und wird froh sein, einmal in einer Premiere vor die Kritik zu kommen.«
»So, die Langlot, schade um das frische Mädel.«
Tilldorf hob die Schultern:
»Die geht doch vor die Hunde, dafür sorgt schon Ihr Kollege Nadasny, der Bildhauer. Der Kerl hat sie so fest in den Klauen, daß sie ihrem Schicksal nicht mehr entrinnen kann. Seine rasende Eifersucht hält sie zwar von anderen Liebeleien fern, gelernt hat sie auch manches von ihm in den paar Monaten – denn als sie herkam, war sie eine Gans ersten Ranges, trotz allen Talentes. Aber der Nadasny ist ein Verbrecher, der die übelsten Sachen macht und das Mädel sicher mal mit ins Unglück reißt. Sehen Sie, da hinten sitzt er mit ihr und der verdrehten Burg-Böhme. Kommen Sie mit rüber, ich will gleich mal mit ihr reden.«
»Nadasny ist mir auch ein Rätsel«, erwiderte der Maler, »kein Mensch weiß, wovon er eigentlich lebt, der Verkauf seiner Kleinplastiken kann unmöglich viel abwerfen.«
Beide erhoben sich und gingen in den zweiten Saal hinüber. Das Klavierspiel hatte geendet, und Werner forderte auf, sich um das Podium zu versammeln, wo der Dramaturg Doktor Stein einige Bemerkungen über ein neues russisches Nihilisten-Schauspiel vortragen werde. Als er Tilldorf und seinen Begleiter bemerkte, zog er sie bei Seite:
»Kinder, seid nett, helft mir ein bißchen. Kommerzienrat Rothagen hat telephonieren lassen, daß Prinz Périgord und noch ein Assessor aus dem Ministerium hierher unterwegs sind; irgend ein Schweinehund hat gegen unser ›Sodom‹ gehetzt, weil neulich die Russen hier das Ding vorgelesen haben, das Stein jetzt besprechen will. Unser Revierschutzmann, mit dem ich gut stehe, hat mich gestern schon gewarnt, daß wieder etwas gegen uns im Wege ist. Die beiden Ministerialonkel sollen wohl schnüffeln. Laßt etwas los, macht Stimmung, glücklicherweise ist unser großer Alfred da, vorläufig döst er zwar noch, aber vielleicht kommt er in Laune und sprudelt Geist.«
Er zeigte nach dem großen Kneiptisch, an dessen oberen Ende der jugendliche Held des Hof-Theaters Alfred Warmeister hinter einer Batterie Rheinweinflaschen thronte, von denen er eine nach der anderen schweigend leerte, wobei er, ohne eine Miene seines Apollokopfes zu verziehen, den Gesprächen der um ihn Gescharten zuhörte. Tilldorf grüßte achtungsvoll und erhielt als Erwiderung ein hoheitsvolles Nicken. Werner schritt zur Tür, um die angemeldeten Gäste zu empfangen, während der Regisseur und Rosenberg zum Tisch Nadasnys getreten waren.
»Nun Kind, was sagst du zu der Rolle, die ich dir geschickt habe?« redete Tilldorf die schöne Schauspielerin an, die mit einem etwas gelangweilten Ausdruck an einem Glase Eiscreme löffelte. »Schon recht gut memoriert … Die Göttin Kypris bin ich, deren Namensruhm auf Erden und im Himmel … usw.?«
Aida Langlot antwortete mit einer vollen Ladung aus ihren strahlenden blauen Augen, indem sie ihm die Hand reichte:
»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, endlich einmal eine Möglichkeit, zu zeigen, was man kann …«
»und wie hübsch man gewachsen ist«, ergänzte Tilldorf, geschickt auf sein Ziel lossteuernd. Er wußte, daß die Langlot einen wahren Kult mit ihrem Körper trieb, auf dessen Pflege und Ausbildung durch Turnen, Schwimmen, Fechten, Sport aller Art sie jede freie Minute verwendete. Es war auch kein Geheimnis, daß sie Nadasny als Modell für seine Tanagra-Figuren diente. Die Zumutung, sich auf der Bühne ganz ohne Bekleidung zu zeigen, brachte sie dennoch in Verlegenheit. Aber der Regisseur setzte ihr mit großer Geläufigkeit auseinander, daß die Prologszene völlig auf primitive Wirkung gestellt sei:
»Musikalische Untermalung auf einem einzigen festgehaltenen Orgelton, einfarbiger schwarzer Prospekt, davor eine Sprecherin bewegungslos, nur durch das Wort wirkend, jedes Kostüm ist da unmöglich, störende wesensfremde Zutat, die Kunst fordert das Opfer, außerdem mildert der Scheinwerfer.«
Er hatte den richtigen Ton getroffen, der seine Wirkung nicht verfehlte. Die junge Schauspielerin nickte überzeugt und warf nur einen fragenden Seitenblick auf Nadasny, dessen mageres, glattrasiertes Antlitz Unbehagen und Ärger zeigte, bis er schließlich hervorstieß:
»Das wird sich finden; wir sind ja hier nicht auf der Probe.«
Das Gespräch erhielt eine Wendung durch den Eintritt Berenbergs und Perigords, die von Werner an den Tisch geführt wurden. Der Prinz schwamm gleich in seinem Elemente. Er beglückwünschte die Burg-Böhme zum Erfolg ihres neuen Couplets mit dem Kreischrefrain, bewunderte ihre durch Tituskopf, Monokel und Stehkragen auf männliche Wirkung abgestimmte Erscheinung und machte sie schließlich ganz glücklich, indem er eine ihrer berüchtigten schweren Zigarren rauchte. Mit Rosenberg unterhielt er sich über die große Kunstausstellung, mit Nadasny über griechische Skulpturen. Dabei behauptete er, daß ihm dessen Aussprache so bekannt vorkomme, als ob er sie schon gehört hätte. Aber der Bildhauer blieb ablehnend, zumal er bemerkte, daß der kleine Prinz sich an Aida heranschlängelte und ihr seine schrankenlose Bewunderung als glühender Schönheitsanbeter zu Füßen legte. Ernst blickte etwas verdutzt in diese ihm neue und fremde Welt, zu der seine gesetzte und geordnete, durch Korps, Regiment und Behörde beeinflußte Lebensauffassung zunächst keine Brücke fand. Dann fesselten die Ausführungen Doktor Steins seine Aufmerksamkeit, in dessen Zuhörerkreis er sich begab. Werner rieb sich vergnügt die Hände und flüsterte Rosenberg zu:
»Sie kommen gar nicht wegen der Russen, sie wollen bloß wissen, was in der ›Neuen Bühne‹ vorgeht, Tilldorf wird ihnen Auskunft geben.«
Doktor Stein hatte seinen Vortrag beendet und war von Ernst angesprochen worden, der bald mit ihm in angeregter Unterhaltung über die Lehren Tolstois zusammensaß. Der Assessor richtete seinen Angriff gegen die zerstörenden politischen Folgen des Anarchismus, während der Dramaturg den verklärten Typus des »Edelanarchisten« als des reinsten Verkörperers der Lehre Christi pries. Aber bald bereitete die sich nun wirklich entwickelnde »Stimmung« diesem ernsten Meinungsaustausch ein Ende. Die Burg-Böhme sang ihr Kreischcouplet mit Einschluß einiger besonders wirkungsvoller Strophen, die das unbarmherzige Walten der Zensur leider vom öffentlichen Vortrage fernhielt. Périgord war begeistert und sagte seine Verwendung beim Polizeipräsidenten für die Freigabe zu. Der Kapellmeister spielte Tanzvariationen, in die er geschickt Motive aus einer neuen tragischen Oper verwob – zum Entsetzen des anwesenden Komponisten, der noch dazu von einer niedlichen Angehörigen des Balletts gezwungen wurde, seine dicke Figur nach diesen Klängen im Foxtrott zu bewegen. Der Tanz wurde allgemeine Périgord versuchte der Langlot habhaft zu werden. Aber Nadasny hatte sie in einen Winkel gedrängt, wo er lebhaft auf sie einredete:
»Lasse dich nicht mit diesen Laffen von Juristen ein, die sich doch nur über uns lustig machen. Ich will das nicht! Ich dulde auch nicht, daß du dich nackt auf der Bühne zur Schau stellst. Mir gehört deine Schönheit, die ich entdeckt habe, keinem anderen!«
Das junge Mädchen warf den Kopf zurück:
»Bin ich deine Sklavin, kann ich nicht tun und lassen, was mir beliebt?«
Das Antlitz des Bildhauers verzerrte sich in so grauenhafter Wut, daß die Schauspielerin zurückbebte.
»Hüte dich! Aida bist du von meinen Gnaden, versuche, was du ohne mich erreichst!«
Dann stieß er sie fort. Tilldorf setzte sich zu der Schauspielerin, die halb ohnmächtig in einen Sessel gesunken war, und versuchte, sie zu beruhigen:
»Laß dir raten, mache dich von diesem Menschen frei, der dich zugrunde richtet. Die Reise mit ihm nach Bayern war ein glatter Kontraktbruch und hätte dir ohne meine Fürsprache übel bekommen können.«
»Er hatte doch künstlerisch in München zu tun und brauchte mich unbedingt, dazu«, entschuldigte sich die Schauspielerin. Aber dann geriet sie in Zorn:
»Es muß anders werden, ich will diese Tyrannei nicht mehr, wenn ich nur los könnte von ihm!« Und mit einem nervösen Auflachen umfaßte sie den Regisseur, mit dem sie sich in das Gewühl der Tanzenden stürzte. Der Lärm wurde größer, Sektpropfen knallten, Pärchen verloren sich in den Ecken, und als der Kapellmeister in die Walzerweise des zweiten Finales aus der Fledermaus überging, erscholl vielstimmig das »Brüderlein, Schwesterlein« aus einer dichtverschlungenen Gruppe, die sich um den mit Krone und Purpurmantel herrlich drapierten Werner gebildet hatte.
Plötzlich drängte sich der Klubdiener heran: »Die Polizei ist da!« Am Eingange erschienen drei Schutzmänner, geführt von einem jungen Polizeileutnant, der mit Kommandostimme in den Saal rief:
»Niemand verläßt das Zimmer, alle Anwesenden sollen festgestellt werden und haben sich zu legitimieren.«
Die Musik brach ab. Es entstand ein tolles Durcheinander. Die einen wollten sich totlachen über den prächtigen Spaß, andere wüteten über Polizeigeist und Willkür, einige Damen weinten und begehrten nach Hause. Alfred Warmeister blieb in olympischer Ruhe auf seinem erhöhten Sitze und schenkte sein Glas voll. Werner hatte die Maskerade von sich geworfen und fragte etwas gereizt nach dem gesetzlichen Grunde für das polizeiliche Eindringen in die Privaträume des Klubs. Der Polizeioffizier setzte Dienstmiene auf:
»Bedaure keine Auskunft geben zu können, Auftrag der politischen Polizei, im übrigen, da ist deren Kommissar selbst.«
Ein sehr gut gekleideter Herr im schwarzen Paletot und Zylinderhut, mit kurzem blonden Spitzbart und randlosem Kneifer, war eingetreten und wendete sich sofort verbindlich an Werner:
»Ich bedaure lebhaft, die Herrschaften stören zu müssen. Nur eine kleine Formalität, die Herren vom Revier haben der Ankündigung unseres Besuches wohl zu große Bedeutung beigemessen. Ich möchte nur wissen, ob Herren oder Damen russischer Nationalität anwesend sind, da wir für einige Persönlichkeiten besonderes Interesse haben. Ich bitte um Legitimation durch Briefe, Pässe oder sonst durch Auskunft und werde gar nicht lange aufhalten.«
Périgord, der mit Ernst im Hintergrund geblieben war, fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Die Langlot stand leichenblaß hinter ihm und flüsterte ihm zu:
»Um Gottes Willen, Durchlaucht, helfen Sie, die Polizei darf meinen richtigen Namen nicht wissen. Ich schwöre Ihnen, es ist nur meine Privatangelegenheit, mit der Politik habe ich nichts zu tun.«
»Ich bin davon überzeugt«, begütigte sie der Prinz, »aber ich kann beim besten Willen nichts tun. Ich darf mich in politische Sachen nicht einmischen. Das habe ich fest versprechen müssen. Sie verstehen mich, Berenberg«, wandte er sich an diesen. Der Assessor nickte:
»Ich werde mit den Beamten sprechen.« Er wies dem Kommissar einige Papiere aus seiner Brieftasche vor, die dieser mit höflicher Verbeugung zurückgab. Ernst rief noch Tilldorf heran und verkündete dann als Ergebnis der Unterredung:
»Der Herr Kommissar ist zufriedengestellt durch meine und Herrn Regisseur Tilldorfs Bürgschaft, daß alle Anwesenden Deutsche oder Österreicher und hier persönlich bekannt sind. Herr Nadasny ist serbischer Nationalität und wird sich gewiß ausweisen können.«
»Aber selbstverständlich«, versicherte der Bildhauer und überreichte lächelnd einen Paß, der in Ordnung befunden wurde. Unter wiederholter Bitte um Entschuldigung verließ der Vertreter der politischen Polizei den Saal, aus dem die uniformierten Beamten sich bereits vorher zurückgezogen hatten.
Die fröhliche Stimmung war verflogen. Man stand in Gruppen umher, aufgeregt durcheinandersprechend. Der Kapellmeister klimperte auf dem Flügel das Holländermotiv. Aida hatte Ernsts beide Hände ergriffen, die sie dankbar drückte, auch viele andere traten heran, ihm für sein Eingreifen zu danken. Werner wies betrübt auf die eben frisch gefüllte Bowle und beschwor einen nach dem andern, das herrliche Getränk nicht umkommen zu lassen.
Jetzt erhob sich – zum ersten Male an dem ganzen Abend – Alfred Warmeister von seinem Platze. Schweren Schrittes und nicht ohne leises Schwanken ging die hohe Gestalt auf die zusammengescharten Gäste zu, die ihm eine breite Gasse öffneten. Seine großen Augen mit dem unergründlichen Blicke schossen zornige Strahlen. Fast lallend rangen sich die ersten Worte aus der mächtig atmenden Brust hervor:
»Was ist? Was zagt ihr Kleinmütigen? Kümmert uns irdischer Gewalten Hohn?«
Er hatte eine Säule erreicht, an die er sich einen Augenblick mit geschlossenen Augen lehnte. Nun verbreitete ein Leuchten klarsten Frohsinnes sich über sein Gesicht, wie aus tiefem Traume erwachend, strich er sich über die hohe Stirn.
»Auf, lasset uns beten zu der Macht, an die wir glauben!«
Und unter atemlosen Schweigen der ihn Umdrängenden begann er Hölderlins Hymne an die Schönheit:
»Hat vor aller Götter Ohren,
Zauberische Muse! dir
Treue bis zu Orkus' Toren
Meine Seele nicht geschworen?
Lachte nicht Dein Auge mir?
Ha! so wall ich ohne Beben
Durch die Liebe froh und kühn,
Zu den ernsten Höhen hin,
Wo in ewig jungem Leben
Kränze für den Sänger blüh'n.«
Wie langsame schwere Glockentöne ertönten die ersten Verse. Ein Schauer ergriff die Herzen, als der begeisterte Künstler die offenen Hände nach griechischer Beter Art zum Himmel streckend fortfuhr:
»Waltend über Orionen,
Wo der Pole Klang verhallt,
Lacht, vollendeter Dämonen
Priesterlichen Dienst zu lohnen,
Schönheit in der Urgestalt;
Dort im Glanze mich zu sonnen,
Dort der Schöpferin zu nah'n,
Flammet stolzer Wunsch mich an,
Denn mit hohen Siegeswonnen
Lohnet sie die kühne Bahn.« –
Draußen war die Nacht heraufgezogen, zu deren Sternenhimmel gewendet der Sprecher die letzte Strophe erklingen ließ:
»Rein, wie diese Sterne klingen,
Wie melodisch himmelwärts
Auf der kühnen Freude Schwingen
Süße Preisgesänge dringen,
Naht sich mir des Sohnes Herz.
Schöner blüht der Liebe Rose,
Ewig ist die Klage stumm!
Aus des Geistes Heiligtum,
Und, Natur! in deinem Schoße
Lächelt ihm Elysium.«
Alfred Warmeister blickte mit seinem berühmten Siegerlächeln um sich. Dann schritt er zu seinem Platze zurück und griff nach einer frischen Flasche.