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I.

Ein kurzes Klingelzeichen verkündete dem Hause der Abgeordneten einen neuen Redner. Oberlehrer Doktor Dritt erstieg mit einem dicken Schriftenbündel die Tribüne. Sofort erhob sich am Tische der Regierungsvertreter die Riesengestalt des Ministers des Innern. Graf Feldstein verließ den Saal nach einigen leisen Worten an den neben ihm sitzenden Kultusminister, der beruhigend und zustimmend nickte. In der Schar der vortragenden Räte und Hilfsarbeiter hinter der Ministerbank entstand Bewegung. Die Angehörigen des »Innern« drängten ihrem Chef nach, der sich im Türrahmen behaglich lächelnd umwendete: »Herrschaften, ich glaube gern, daß ihr lieber frühstückt, als den lehrreichen Darlegungen über das humanistische Gymnasium lauscht, aber einer muß schon da bleiben und für mein Ressort aufpassen.« Landrat von Werden, der unmittelbar vor der Ernennung zum vortragenden Rat stand, verbeugte sich diensteifrig:

»Ich werde Acht geben und sofort Nachricht senden, wenn das Eingreifen Ew. Exzellenz erforderlich werden sollte!«

»Gott behüte«, winkte der Minister ab und verschwand. Werden nahm in einer Ecke der Ministerbank Platz, rief seinen Hilfsarbeiter, Regierungsassessor Berenberg, heran und erklärte: »Verehrter, ich werde mich jetzt eingehend mit der Tischordnung für Königs Geburtstag beschäftigen, haben Sie die Güte aufzupassen, ob Herr Doktor Dritt etwas aus der Verwaltung des Innern berührt. Es besteht zwar im allgemeinen keine Gefahr, daß er mit seinem humanistischen Steckenpferde ausbricht, aber es sollen schon Nachtwächter bei Tage gestorben sein.«

Ernst Berenberg begab sich in die Nähe des Rednerpultes. Ihm war die Luft des Parlamentes noch neu, die Tätigkeit dort wichtig und bedeutungsvoll, und so folgte er aufmerksam den etwas eintönigen Ausführungen des Redners, obwohl bei dessen Verherrlichung der griechischen Tragödien und ihrer erzieherischen Wirkung die Erinnerungen an bleischwere Schulstunden in ihm aufkeimten. Eine Viertelstunde verstrich nach der anderen. Der Saal, über dem dumpfe Schwüle brütete, leerte sich merklich, die anwesenden Abgeordneten schrieben Briefe oder traten zu Gruppen zusammen, deren Unterhaltungen als summendes Geräusch über dem Saale schwebten. Aus dem schläfrigen Zustande, der auch den Posten stehenden Assessor ergriffen hatte, schreckte ihn plötzlich die drohend hervorgestoßene Frage des Redners: »Wo bleibt die Polizei?« – die von den Parteifreunden mit lebhaftem, langgedehntem »Seehr richtig!« beantwortet wurde. Von seiner Verherrlichung des griechischen Dramas war Doktor Dritt in kühnem Sprunge, zu den Darbietungen der »Neuen Bühne« übergegangen, deren realistische Aufführungen klassischer Dramen er als Sünde wider den heiligen Geist des Griechentums geißelte.

»Es ist eine Schande, mit anzusehen, wie die Werke des Sophokles mißbraucht werden, um durch Scharen höchst mangelhaft bekleideter Chormädchen ein sensationslüsternes Publikum anzulocken. Die Krone setzt aber allem der neueste Plan dieser geschäftstüchtigen Direktion auf, die nach Zeitungsmeldungen beabsichtigt, im Prolog zur Phädra des Euripides die Göttin Aphrodite in völligem Naturzustande auftreten zu lassen. Melpomene verhüllt bang ihr Haupt! Wozu haben wir eine Zensur? Wo bleibt die Polizei?«

Landrat von Werden war bereits zum Kultusminister getreten und hatte im Vorbeigehen dem Assessor zugeraunt:

»Schnell, holen Sie Exzellenz, Theaterzensur!«

Zwischen Werden und dem Chef des geistlichen und geistigen Ressorts fand unter Zuziehung einiger Geheimräte dieser Behörde eine kurze, etwas erregte Besprechung statt, als deren Ergebnis der Kultusminister durch eine Kopfbewegung zum Präsidenten des Hauses sich zum Worte meldete. Mit klarer weitklingender Stimme, die niemand in dem gebrechlichen Körper vermutet hätte, und vollendeter Beherrschung seines Stoffes setzte sich der schlanke alte Herr zunächst mit einigen früheren Sprechern auseinander. Er hatte sofort das Ohr des Hauses. Die Unterhaltungen der Abgeordneten verstummten und lautlose Stille herrschte im schnell wieder gefüllten Saale, als der gewandte Beamte sich mit verbindlichem Lächeln des klugen Greisengesichtes an Doktor Dritt persönlich wendete, um seine volle Übereinstimmung mit dem sehr verehrten Herrn Vorredner in der Wertschätzung der Antike als Erziehungsfaktor auszusprechen und die Notwendigkeit zu betonen, dieses Erbe rein und unberührt zu erhalten.

»Ich bedaure lebhaft, daß meine umfangreichen Amtsgeschäfte mir den Theaterbesuch so gut wie gar nicht gestatten, so daß ich mir ein persönliches Urteil über die Klassiker-Renaissance in der »Neuen Bühne« versagen muß. Leider bin ich auch durch die bekanntlich meinem Herrn Kollegen vom Innern unterstehende Polizei nicht so eingehend informiert, wie es mir wünschenswert erscheinen würde, um zu den angeregten Fragen erschöpfend Stellung nehmen zu können. Ich stehe aber nicht an, bei aller Achtung vor der Freiheit der Kunst zu erklären, daß jeder Mißbrauch der nach Schiller als moralische Anstalt zu betrachtenden Bühne schärfster Zurückweisung bedarf, und glaube, meine Zuständigkeit nicht zu überschreiten, wenn ich die Erwartung ausspreche, daß der Herr Polizeiminister alsbald in der Lage sein wird, dem hohen Hause nach dieser Richtung durchaus beruhigende Zusicherungen zu geben.«

Unter allgemeinem Beifall nahm der Regierungsvertreter sehr befriedigt Platz. Er hatte mit möglichst vielen Worten möglichst wenig gesagt, allen Seiten des Hauses einige Körnchen Weihrauch gestreut, sein Ressort gedeckt und dem Kollegen vom Innern die Verantwortung für die angeschnittene heikle Frage zugeschoben, deren Anziehungskraft auf die Volksvertretung seine lange parlamentarische Schulung wohl zu würdigen wußte.

Indessen hatte Assessor Berenberg eilenden Schrittes den Weg zum Ministerzimmer angetreten, um seinen Chef von dem im hohen Hause aufziehenden Unwetter in Kenntnis zu setzen. In den Diensteifer des jungen Beamten mischte sich auch ein Tropfen, persönlicher Sorge. Sechs Monate fleißig wahrgenommener Hilfsarbeiterschaft im Ministerium hatten ihm genügende Kenntnis der politischen Lage verschafft, um beurteilen zu können, daß Graf Feldstein nicht mehr allzu fest im Sattel saß und von jedem parlamentarischen Sturme hinweggefegt werden konnte. Das bedeutete aber auch für den Assessor Verzicht auf den ersehnten Landratsposten, der als Lohn am Ende der »Ministerialschufterei« winkte und erst den Weg zu den großen Stellen eröffnete. Kam ein neuer Minister, so mußte der für seine Leute sorgen, und Berenbergs Beziehungen reichten nicht sehr weit. Sein Vater war Inhaber einer Tuchfabrik, deren große technische und wirtschaftliche Erfolge ihm wohl eine geachtete Gesellschaftsstellung in der Provinzstadt erworben hatten. Für die Laufbahn des Sohnes aber lag in der kaufmännischen Herkunft bei dem Wettstreite mit den Nachkommen der alten Offiziers- und Beamtenfamilien doch eine nicht zu unterschätzende Belastung. Ernst hatte es ausschließlich seinen tüchtigen Leistungen als Assessor bei der Regierung zu verdanken, daß er die Aufmerksamkeit seines Präsidenten, des Grafen Feldstein, auf sich zog, und daß dieser bei seiner Ernennung zum Minister den brauchbaren jungen Juristen mit in die Zentralbehörde nahm. Dabei war Ernst nicht eigentlich eine schöpferisch veranlagte Persönlichkeit; aber er verband mit gutem juristischem Verständnisse einen offenen Blick für wirtschaftliche Verhältnisse, gewann durch liebenswürdiges, frisches Wesen die Menschen für sich, verfügte über eine gewandte Feder und eine gewisse Rednergabe. Was ihm mangelte, war die Fähigkeit, sich selbst durchzusetzen und an erste Stellen zu dringen. Er war der geborene »Zweite«, wie ihn schon sein Ordinarius in Tertia charakterisiert hatte, und war denn auch auf dem Gymnasium stets unter den Ersten gewesen, ohne jemals den Ehrenposten des Primus zu erreichen. Auch später hatte er es meist zu hübschen Erfolgen gebracht, denen nur ein Geringes zum vollen Siege fehlte. Das Korps, in dem er aktiv wurde, war gut, aber jung. Er verlebte eine fröhliche Studentenzeit mit netten Burschen, ohne jedoch die Verbindungen zu erreichen, die von den alten Herren der Feudalkorps ausgingen. In seinem Dienstjahre bei den Gardeulanen tat er seine Pflicht und Schuldigkeit, wurde flott befördert, doch als Reserveoffizier zur Linien-Kavallerie überführt. Die Referendar- und Assessorprüfung bestand er rechtzeitig, wenn auch ohne auszeichnende Prädikate. Und so war die Fahrt im Kielwasser, in dem das Ministerium Feldstein segelte, für ihn wichtig genug, um ihn aus ehrlichem Herzen wünschen zu lassen, daß seinem Chef ein erfolgreiches Eingreifen gegenüber den Beschwerden des Abgeordneten Doktor Dritt beschieden sein möge.

Der Graf saß im Ministerzimmer in einen bequemen Ledersessel vergraben und teilte seine Aufmerksamkeit redlich zwischen einer wundervollen Importzigarre und den Ausführungen seines Unterstaatssekretärs Doktor Karge, der sich bemühte, den Minister zu einigen Erwiderungen auf vorgebrachte Beschwerden zu bewegen, bei dessen bekannter Abneigung gegen rednerische Betätigung aber auf wenig Gegenliebe stieß.

»Was geht mich die Verwahrlostenerziehung an? –« tönte es aus des Sessels Tiefen. »Das ist doch Erziehung, Kultussache.« Der Staatssekretär widersprach höflich:

»Verbrechensprophylaxe, Exzellenz, Abwendung der dem Publikum drohenden Gefahr, Polizeiaufgabe gemäß § 10 Teil II Titel 17 des Allgemeinen Landrechtes, die gesamte Linke des Hauses legt größten Wert auf baldige Verabschiedung des Gesetzes.«

»Und ich soll mir die Konservativen auf den Pelz locken? Ich denke nicht daran, außerdem hatte ihr Vertreter doch ganz recht, fünfundzwanzig hinten drauf sind die beste Fürsorgeerziehung für alle verwahrlosten Burschen. – Was haben Sie weiter?«

»Die Beschwerden des Abgeordneten Christoph über Nachlässigkeit der Kriminalpolizei bei Aufklärung von Vermißtensachen. Zwei Fälle. Seit acht Tagen ist ein hiesiger Arbeiter spurlos verschwunden, seit Jahresfrist wird die neunzehnjährige Tochter eines Lehrers in einer östlichen Provinzialstadt vergebens gesucht. Da beide Fälle bereits in der Presse erörtert sind und größeres Aufsehen erregen, habe ich mir gestattet, den Polizeipräsidenten zum Vortrag hierher zu bestellen. Er hat gebeten, mit einem Beamten der Kriminalpolizei erscheinen zu dürfen, der über die Einzelheiten genauer unterrichtet ist.«

Der Minister lachte dröhnend:

»Das sieht meinem braven Barneck ähnlich … ließ immer gern andere für sich arbeiten!«

»Aber Exzellenz haben ihn doch selbst auf seinen Posten berufen«, wendete der Staatssekretär etwas erstaunt ein.

»Natürlich, mußte doch etwas für meinen Leibburschen tun, ist auch sonst ein lieber Kerl, trank bildschön Sektjungen und schlug die elegantesten Hakenquarten, die ich je gesehen habe. Und schließlich für das Juristische und Technische hat er doch seine Leute, er soll bei Hofe die Fühlung halten.«

Doktor Karge hüstelte:

»Bei der letzten Cour soll S. M....«

»Ja, ja, ich weiß«, winkte der Minister ab, »schlechte Figur gemacht in der neuen Uniform, hat eben zu lange als Landrat auf seiner Klitsche gesessen, bevor ich ihn heranholen konnte. Na, also herein mit der heiligen Hermandad.«

Auf ein Klingelzeichen des Staatssekretärs ließ der Diener zwei Herren eintreten. Polizeipräsident von Barneck war ein langer, hagerer Fünfziger im hechtgrauen zweireihigen Überrock, der den Provinzschneider verriet. Er trug das dünne rötliche Haar in der Mitte gescheitelt und glatt gestrichen. Der lange Schnurrbart hing zu beiden Seiten des schmalen, eingekniffenen Mundes herab und gab dem Gesichte mit den wasserblauen Augen einen etwas trübseligen Ausdruck. Den Gruß, den der Minister ihm mit seiner großen fleischigen Hand zuwinkte, erwiderte er mit korrekter Verbeugung, dann stellte er vor:

»Kriminalinspektor Doktor Stretter, einer meiner tüchtigsten Beamten.«

»Also schieß los, Barneck«, begann der Minister, wo stecken die beiden Unglücksmenschen?«

Der Polizeipräsident berichtete: »Ich bin in der angenehmen Lage melden zu können, daß der Arbeiter Karl Otto Lehmann bereits gefunden ist; er befand sich im Städtischen Krankenhause, in dem er nach einem Straßenunfalle Aufnahme gefunden und einige Tage besinnungslos gelegen hat.«

»Na also – erledigt«, stellte die Exzellenz erleichtert fest.

»Nur etwas spät«, ergänzte der Staatssekretär, »und wie steht es mit der Lehrerstochter?«

Diesmal überließ der Polizeichef den Vortrag seinem Untergebenen. Doktor Stretter trug vor:

»Es handelt sich um einen Fall aus der Provinz. Anhaltspunkte, die nach Berlin führen, sind nicht bekannt. Der Herr Präsident hielt es daher nicht für geboten, die ohnehin stark in Anspruch genommenen Kräfte der hiesigen Polizei mit dieser Sache zu befassen.«

Der Unterstaatssekretär griff abermals ein:

»Wie ist Ihre persönliche Auffassung, Herr Inspektor?«

»Ich habe einige private Erkundigungen am Heimatsorte der Vermißten eingezogen. Anna Lenndorf ist zwanzig Jahre alt, war Verkäuferin in einem Papiergeschäft, stand in gutem Einvernehmen mit den Eltern, die in beschränkten Verhältnissen leben und stark pietistisch gerichtet sind. Sie hat sich vor etwa einem Jahre unter Mitnahme ihrer Habseligkeiten entfernt. Ein hinterlassener Brief verspricht Nachrichten, sobald sie ihr Ziel erreicht habe. Das Mädchen soll auffallend schön sein.«

»Offenbar Mädchenhändlern in die Hände gefallen!« warf der Polizeipräsident ein. Die ganze Hofgesellschaft brachte seit einiger Zeit dem Kampfe gegen den »Weißen Sklavenhandel« ein lebhaftes, aus sittlicher Empörung und gespannter Neugier gemischtes Interesse entgegen, das sich auf Bazaren und Kongressen, in Aufklärungsschriften und Vorträgen äußerte. Der Kriminalinspektor bat, eine abweichende Auffassung vertreten zu dürfen:

»Über den Ruf der Anna Lenndorf verlautet nichts Ungünstiges. Aus meinen langjährigen Erfahrungen ist mir kein Fall bekannt, daß eine anständige Person von sogenannten Mädchenhändlern verschleppt worden ist. Sie entnehmen ihre menschliche Ware ganz ausschließlich aus den der Prostitution bereits angefallenen oder doch sehr nahegerückten Kreisen. Die Lenndorf folgte höchstens einem Geliebten aus Neigung, wenn es sich nicht nur um die Flucht aus einem aussichtslosen Milieu und den Versuch eines selbständigen Kampfes ums Dasein handelt, wofür die Großstadt natürlich den gesuchtesten Boden und zugleich das sicherste Versteck bietet.«

»Gleichviel«, entschied der Minister, »der Fall wird hier mit allen Mitteln bearbeitet; ein sozialdemokratischer Abgeordneter hat die Anfrage gestellt, und es ist immer gut, wenn man denen auch mal einen Gefallen tun kann.«

In diesem Augenblicke betrat Assessor Berenberg das Zimmer und meldete:

»Exzellenz, der Abgeordnete Doktor Dritt hat die Frage der Theaterzensur angeschnitten, er verlangt das Verbot des Auftretens einer unbekleideten Schauspielerin, das an der ›Neuen Bühne‹ geplant sein soll. Se. Exzellenz der Herr Kultusminister hält das persönliche Eingreifen Ew. Exzellenz für geboten.«

Der Minister war aufgesprungen:

»Dunnerslag, total nackig! Sind die Komödianten denn ganz verdreht geworden? Stimmt das, Barneck?«

Der Polizeipräsident erklärte, sofort den zuständigen Dezernenten mit der Schließung des Theaters beauftragen zu wollen, stieß aber auf den energischen Hinweis des Unterstaatssekretärs, daß wohl das Verbot dieser Vorstellung oder sogar die Vorschrift ausreichender Kostümierung der Darstellerin genügen dürfte.

»Selbstverständlich, nur vorsichtig mit der Presse und allem, was drum und dran hängt«, meinte der Minister mit ängstlicher Bewegung seines gewaltigen Armes, »aber was sage ich denen da drinnen, weiß denn kein Mensch, was an der Chose ist?«

»Vielleicht kann Prinz Périgord Auskunft geben«, warf Berenberg ein, »er erzählte mir neulich, daß er einer interessanten Probe in diesem Theater beigewohnt habe.«

Der Minister brach in sein dröhnendes Gelächter aus: »Der Kunstprinz, natürlich, das schlägt ja in sein Schönheitsfach, da kann er sich auch mal nützlich machen, also schickt ihn nur in den Sitzungssaal, ich muß ja nun doch wohl reden« …, und mit einem betrübten Abschiedsblicke auf seinen Ledersessel verließ Graf Feldstein das Zimmer, während Berenberg in das Restaurant des Hauses hinabstieg, um den Prinzen zu holen. Der Staatssekretär winkte dem Polizeipräsidenten und dessen Begleiter, ihm zu folgen, und schloß sich dem Chef an. Unterwegs machte er seinem Herzen gegenüber dem Polizeipräsidenten Luft. Prinz Périgord-Trauberg-Geyerstein bedeutete keine leichte Zugabe für das Ministerium. Aber der alte Herzog war der größte Grundbesitzer der Monarchie und zudem durch seine ausländischen Ländereien und die internationalen Beziehungen seines uralten Geschlechtes eine maßgebende Persönlichkeit in der hohen Diplomatie. Eine Ablehnung war daher nicht möglich, als er den Wunsch äußerte, seinem einzigen Sohne und Erben Gelegenheit zu geben, sich etwas in die innere Verwaltung einzuarbeiten und sich damit für die künftige Übernahme des ungeheuren Fideikommisses vorzubereiten. Der junge Prinz hatte aber von seiner Mutter, einer russischen Großfürstin, einen kräftigen Starrkopf überkommen und seine Bedingungen gestellt. Wenn er schon nicht auf eigenem Grund und Boden weilen solle – so hatte er erklärt – dann dürfe es keine noch kleinere Stadt als die Hauptstadt sein; zuvor müsse er aber drei Jahre zu einer Weltreise haben. Von der war er nun zurückgekehrt, hatte eine Villa mit märchenhafter Einrichtung bezogen, in der es von Dienerschaft in allen Hautschattierungen wimmelte, und seinen Dienst zur informatorischen Beschäftigung im Ministerium des Innern angetreten.

»Und das Schlimmste ist«, fuhr der Unterstaatssekretär fort, »er ist nicht etwa faul; er arbeitet wirklich und mit Interesse. Aber ihm fehlen alle Grundlagen der Verwaltungstradition; er faßt jede Angelegenheit von seinem ureigenen Standpunkte auf, dem bald eine Erinnerung an die Regierungsprinzipien eines Renaissancefürsten, bald Vorbilder zugrunde liegen, die er am Hofe von Siam oder in Ohio kennengelernt hat. Der vortragende Rat, dem er zugeteilt ist, befindet sich im Dauerzustande heller Verzweiflung, dazu der Verkehr, den er meistens in Künstlerkreisen pflegt, und sonst sein Privatleben! Aber was sollen wir machen; es ist doch der Universalerbe von Périgord-Trauberg-Geyerstein.« *

Der glückliche Inhaber aller dieser Eigenschaften war jetzt mit Berenberg herangekommen, neben dessen hoher Gestalt seine zierliche Figur im Homespun-Jackettanzug ziemlich klein erschien. Sein straffes schwarzes Haar, das er im Gegensatz zu den Scheitelfrisuren seiner Umgebung glatt nach hinten gestrichen hatte, sowie die bräunliche Hautfarbe ließen die südliche Abstammung der Familie erkennen, während der leicht verschleierte Blick die slavische Blutmischung verriet.

Im Vorraume, der sich an der Ministerbank hinzog, vom Sitzungssaals durch schwere Vorhänge abgetrennt, nahm der Prinz neben dem Minister auf einer der gepolsterten Wandbänke Platz. Er sprach mit etwas leiser, hoher Stimme, die Worte deutlicher artikulierend, als es im Deutschen üblich ist, aber vielfach von solchen sujets mixtes geschieht, die mehrere Sprachen ganz gleichmäßig beherrschen und gewöhnt sind, sich bald dieser, bald jener zu bedienen:

»Aber gewiß, ich bin glücklich, Ew. Exzellenz dienen zu können. Eine ganz neue Erfindung eines jungen, sonst unbekannten Malers … Beleuchtung durch mehrfarbige Scheinwerfer, gibt dem menschlichen Körper völlig das Aussehen alten parischen Marmors. Wir haben sehr interessante Versuche im Kunstsalon von Fischert und Bremer gemacht. Da hat nun mein guter Freund, Direktor Sartori, den hübschen Einfall gehabt das für die Bühne zu verwerten, bei der Erscheinung der kyprischen Göttin im Prologe zur Phädra. Es wird sicher Effekt machen.«

Der Minister schüttelte das gewichtige Haupt:

»Prinz, wie denken Sie sich das, vor allen den Menschen?«

»O Exzellenz, niemand wird Anstoß nehmen. Es besteht Aussicht, daß Fräulein Langlot die Rolle übernimmt, und sie ist ein wirklich schönes Mädchen und sehr gut gewachsen.«

»So, die kennen Sie also auch schon, Sie Schönheitssucher?« seufzte Graf Feldstein, »und das ist nun ein Mitglied meines Ministeriums … also was raten Sie, liebster Karge?«

Der Unterstaatssekretär hatte an einem Tische geschrieben, jetzt erhob er sich:

»Ich meine, Ew. Exzellenz sollten zunächst mit einigen Worten auf die Vermißtensachen eingehen, gleich im Eingange mitteilen, daß der Arbeiter von der Polizei bereits gefunden ist, und daß Ew. Exzellenz selbst angeordnet haben, den gesamten Apparat der hauptstädtischen Polizei für die Ermittelungen nach der Lehrerstochter einzusetzen, das wird gute Stimmung auf allen Seiten des Hauses machen. Im Anschlusse daran dann etwa die Erklärung, daß es sich bei der ›Neuen Bühne‹ um ein ernstes künstlerisches Unternehmen handelt und daß auch die beabsichtigten, den Erscheinungsformen des klassischen Altertums angenäherten Darbietungen auf Anregungen eines hervorragenden Malers beruhen. Es sei vorerst kein Anlaß, zu bezweifeln, daß bei dem Hinaustreten dieser künstlerischen Versuche in die Öffentlichkeit jede den Landesgesetzen entsprechende Rücksicht auf die Sittlichkeitsbegriffe der Gesamtheit genommen werde, so daß es der Anwendung der dem Staate zur Verfügung stehenden polizeilichen Machtmittel hoffentlich nicht bedürfen werde.«

Das Antlitz des Ministers hatte einen beseligten Ausdruck angenommen:

»Ausgezeichnet, mein lieber Karge! Sie sind wie immer der Helfer in der Not, wie war das doch mit den klassischen Erscheinungsformen?«

»Ich habe mir gestattet, die wichtigsten Stichworte zu notieren«, erwiderte der Staatssekretär, indem er das Blatt, das er in der Hand hielt, überreichte. Der Minister schwenkte es hoch in der Luft und wendete sich mit dem Ausrufe: »Auf in den Kampf!« zum Sitzungssaale, von wo bald das lange Klingelzeichen den »Redner vom Ministertische« ankündigte.


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