Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Viertes Kapitel

Lebenswende

Es war am Abend nach Addys Begräbnis. Der Versammelten bemächtigte sich eine weiche und gütige, nicht durch Trübsinn niedergedrückte Stimmung. Ein Klang und Duft von Liedern und Blumen war in den Seelen und Sinnen zurückgeblieben. Es hatten gute Geister mitgefeiert; von solchen Gästen der unsichtbaren Welt pflegte Oberlin zu sagen, daß sie einen »Vorschmack des Himmels« mitbrächten und auf der Erde zurückließen.

Als man miteinander von Rothau, wo man den Begräbnistag verbracht hatte, durch die Waldung zurückschritt, von den befreundeten Schloßdamen ein Streckchen begleitet, war allen zumute, als ob sie von einer gemeinsamen Abendmahlsfeier nach Hause gingen. Mit Addy war ein Harfenklang dahingegangen, dessen Grundton Liebe war. Dieser vergeistigte Ton umkoste noch nachschwingend die Lebendigen, veredelte ihre Trauer und verband sie um so inniger untereinander.

Dann trennte sich die Gesellschaft. Viktor, Leonie, Hans und Katharina wanderten nach Fouday und Waldersbach.

Käthl, die sich denn doch entschlossen hatte, ihren lichten Rock mit dem dunklen einer Steintälerin zu vertauschen, trug nach elsässischer Sitte noch ein Büschel Rosmarin in der Hand. Hans, ein bibelfester Christ, der sein deutsches Gesangbuch kannte, fühlte sich angeregt durch die religiöse Luft im Steintal und führte das Gespräch. Doch besaß er Takt. Er wurde bei aller Freude an süddeutschem Räsonieren nicht vorlaut.

Auch Viktors Gedankenstrom geriet nach und nach wieder in stärkere Bewegung. Er hatte jene schirmende Pflege, die er als Pflicht empfand, bis zu Ende durchgeführt; er hatte es gern getan; er fühlte sich reifer in dieser Hingabe. Nun aber war ihm doch leicht zumute. Der letzte Nachhall einer unruhvollen Epoche verwehte nun und löste sich auf im spätsommerlichen Abendwind. Gegenwart nahm ihn wieder an der Hand, klare, gesunde Gegenwart.

»Pfeffel hat mir in diesen Tagen geschrieben«, sprach er. »Man trägt sich in Kolmar mit dem Gedanken, eine Zentralschule ins Leben zu rufen, wenn die Verhältnisse ruhiger geworden sind. Und Professor Hermann in Straßburg lud mich gleichfalls in einem ehrenden Angebot zur Mitarbeit ein. Gott sei Dank! Endlich doch werd' ich meinen Platz einnehmen dürfen, und sei er noch so unscheinbar, und werde meine Studien und Erfahrungen in Erziehungsarbeit umsetzen. Ich lebe noch!«

Der lange schmale Hauslehrer von ehedem reckte sich, breitete die Arme in den Abendwind und rief noch einmal aus tiefster Brust: »Ich lebe noch!«

»Jeden Morgen dank' ich unsrem Herrgott, daß ich lebendig bin und schaffen darf,« stimmte Hansjery bei, der mit dem Käthl auf dem Waldweg voranging.

Sie unterhielten sich in ihrer unterländischen Mundart und fühlten sich einander traulich nahe. Zwischen dem elsässischen Bürgertum und der vornehmen Einfachheit des unterelsässischen Bauernstandes, wie er dort im Hanauerlande gedeiht, wurde kein Standesunterschied empfunden.

Viktor erzählte in liebevoll abgeklärter Weise von Addy. Immer wieder fielen ihm kleine Züge ein. Und immer wieder glitt das Gespräch dankbar in Oberlins Revier hinüber. Des tiefen und doch so einfachen Mannes Persönlichkeit stand beruhigend neben Addys Leidensbild.

»Ich habe mein Bestes von Oberlin gelernt«, bekannte Viktor. »Lebensmut und Todesernst in natürlicher Weise zu verbinden und in Einklang zu bringen: das ist das Geheimnis des Seelenfriedens. Dieser Mann hat mit seiner gläubigen Festigkeit das ganze Steintal angesteckt.«

»Es ist merkwürdig«, sagte die aufmerksame Zuhörerin Leonie. »Wir gehen immer von Addy aus und enden immer bei Pfarrer Oberlin.«

Sie wanderte elastisch und leicht wie ein französisches Mädchen, aber zugleich hoch, aufrecht und ruhig wie eine deutsche Jungfrau. Sie wanderte neben Viktor einher als das verjüngte Ebenbild ihrer Mutter. Manchmal warf sie den glänzend-blauen Blick aus etwas verweinten Augen auf den Freund hinüber; doch im ganzen pflegte sie vor sich hinzuschauen und zu schweigen, überschattet von dieses Tages Trauer, und verriet dann nur durch das Lächeln ihres ausdrucksfeinen Gesichtes ihre innere Anteilnahme. Überhaupt kam ihr jungfräulich rosiges Antlitz leicht ins Glühen vor verhaltener Spannung bei lebhaften Erörterungen der Männer; aber sie griff selten mit Worten ein.

»Wissen Sie, was Ihr schönstes Talent ist, Leonie?« sagte Viktor plötzlich.

»Was denn?«

»Sie können zuhören«, erwiderte er.

»Ist das ein Talent?« fragte Leonie.

»Ein großes Talent«, versicherte der Philosoph. »Man muß nur dabei spüren, wie jemand innerlich mitgeht. Ihnen liest man das alles vom Gesicht ab; nein, vielmehr ich spüre Ihre Zustimmung oder Ihr Bedenken, ohne daß ich Sie überhaupt ansehe, als gäb' es noch andre Strahlen, übersinnlicher als die Strahlen des Auges und die Schallwellen der Ohren. Sie und Ihre Mutter haben dies Talent des Zuhörens. Es geht mir damit eigen: das Zuhören von Ihnen beiden macht mich schöpferisch, nämlich es belebt mich, es regt mich an, es gibt mir Gedanken ein, die mir erst während des Sprechens kommen. Es ist mir dann, als hätten Sie die Gedanken gehabt und ich hätte sie nur in Form gebracht und ausgesprochen. Oft, wenn ich von Gesprächen mit Ihnen und Ihrer Mutter nach Hause kam, habe ich meine besten Gedanken niedergeschrieben.«

»Das muß ich Mama schreiben, das wird sie freuen«, versetzte Leonie, die alles Erfreuliche mit ihrer Mutter zu teilen gewohnt war.

Es war zwar draußen in den Städten das republikanische »Du« im Umlauf; doch Viktor hatte sich nie entschließen können, Leonie oder Frau Johanna so vertraulich anzureden. Addy war in ihrer zarten und zuletzt kranken Weichheit zum traulichen »Du« übergegangen. Aber bei dieser bürgerlichen Leonie hielt ihn merkwürdigerweise ein Abstandsgefühl zurück, über das sich Viktor eigentlich wunderte. Brauchten Mutter und Tochter, wie manche Bilder, vom Beschauer einige Entfernung, wenn man ihre sittsam geschlossene Einheit voll erkennen und in sich aufnehmen wollte? Oder fühlte er sich ihnen innerlich so nahe, daß er von außen um so mehr der Schicklichkeit Genüge tun wollte?

Indem Viktor neben Leonie auf dem Waldweg wanderte, fühlte er sich wundersam beruhigt. Es ging von ihr ein magnetischer Strom aus, der bisher gehemmt gewesen war. Es waren zwischen ihm und ihr weder viel Worte noch Betonungen der Freundschaft nötig; auch brauchten die etwa gewechselten Worte nicht besonders laut zu sein; jene geheime Kraft bewirkte leicht die gegenseitige Verständigung. Wie taktvoll hatte sich dieses gesunde Mädchen neben dem umhegten Sorgenkind Addy benommen! Wie übte sie neben dem schönen Zuhören das noch schönere Talent, unauffällig sich auszustreichen, damit sich alle Teilnahme auf die Bedürftige sammle, und dabei dennoch tätig zu sein und gleichsam nur durch Taten zu sprechen: durch Harmonie in der Häuslichkeit. Dies bedachte Viktor in aufwallendem Gefühl des Dankes. And es gingen unsichtbare Funken einer herzlichen Wertschätzung zu dem schlanken Mädchen hinüber, das an Höhe noch die Mutter übertraf. Die Bewegungen ihres Körpers waren rhythmisch; die Art ihres gelegentlichen kleinen Räusperns, wenn sie nach längerem Schweigen bescheiden eine Bemerkung in das Gespräch flocht; die Art, wie sie ihre Füße beim Schreiten nach vorn aufsetzte und nicht etwa nach der Seite ausbog, so daß ihr edelstolzer, gleichmäßig wiegender Gang entstand; oder wie sie manchmal nach dem Hinterhaupt griff, um zu prüfen, ob ihre braune Haarmasse in Ordnung sei – – dies und andere anmutige Kleinigkeiten, aus denen sich eines Weibes Wesen zusammensetzt zur schönen Linie, erfüllten den Genesenden mit einer glücklichen Stimmung, der er sich selber kaum bewußt war. Denn mit ganzer Treue sprachen sie von Addy.

»Wir werden nachher ihren Nachlaß verteilen«, bemerkte Viktor. »Sie hat alles in Päckchen eingebunden.«

Dabei fiel ihm plötzlich der Diamantring ein, den er am kleinen Finger trug und den er an Leonie mit jenen Worten Addys weitergeben sollte. Unwillkürlich hob er die Hand auf, warf einen Blick auf das Kleinod und ließ sie wieder sinken. »Jetzt nicht«, dachte er. Er sann über jene Worte nach, die Addy dabei gesagt hatte: sie wäre oft eifersüchtig gewesen auf die schwesterliche Freundin.

Leonie hatte die Bewegung wahrgenommen und warf einen halben Blick herüber, fragte aber auch diesmal nicht nach dem Ring, den sie von Addy her genau kannte und sofort an Viktors Finger bemerkt hatte. Und doch überschattete sich ihr arglos Gemüt einen Augenblick. Das junge Mädchen erinnerte sich genau, daß Addy ihr häufig versprochen hatte, ihr diesen Ring zu hinterlassen, wenn sie einmal, wie gewiß zu erwarten war, vor Leonie sterben sollte. Nun hatte sie ihn also einem noch lieberen Freunde geschenkt ... der es ja aber auch in der Tat verdiente ... Und Leonie, erzogen und geübt im Niederkämpfen kleinlicher Regungen, schämte sich plötzlich, ergriff unvermittelt Viktors Hand und sagte herzlich:

»Ich bin so froh, daß Addy den Ring Ihnen geschenkt hat.«

»Ja, aber nicht zum Behalten«, versetzte Viktor kurz.

Leonie richtete ihr schönes Auge fragend auf den Freund. Doch dieser schwieg. Und so schwiegen beide und hörten fortan Hans zu, der vom Hanauer Ländl Lebendiges erzählte und dadurch die Trauerstimmung auszugleichen trachtete. »Ich bin Republikaner,« sprach Johann Georg, »weil ich sehe, daß wir anders nicht vom Fleck kommen. Aber wir Bauern aus der Grafschaft Hanau-Lichtenberg haben eigentlich nicht viel Ursache gehabt, gegen unsre Herrschaft Revolution zu machen. Von unerträglichen Lasten war nicht viel zu spüren; und wir hatten unsre Fürsten lieb, wie sie uns auch. Geht einmal durch die Dörfer dort bei Buchsweiler, Ingweiler oder Pfaffenhofen! Geht überhaupt durch das ganze Elsaß zwischen Weißenburg und dem Kochersberg! Da seht ihr saubere Ortschaften, gut bebautes Feld, fleißige Bauersleute und rotwangige Maidle so wie ungefähr mein Käthl!«

Katharina verwies ihm den Scherz, der zum heutigen Tage unpassend sei.

»Es ist kein Spaß«, erwiderte der junge Ehemann, in welchem nach der Gehaltenheit des ernsten Tages die natürliche Lebensfreude wieder zutage drängte. »Es ist nur die Freude an meiner Frau. Und zudem ehrt man die Toten nicht durch Kopfhängen ... Kurz, Monsieur Viktor, stellt Euch einmal auf den Bastberg oder auf den Herrenstein oder auf die Burg Lichtenberg oder auf den Hohbarr bei Zabern und schaut einmal über unser Ländl! Auf jedem Hügel und in jedem Tal ein Kirchturm! Ich hab' einmal vom Hohbarr aus mehr als zwanzig Ortschaften gezählt.«

»Als ob wir das nicht schon lange wüßten«, unterbrach wieder die junge Bäuerin, die dem Gatten gern die Flügel stutzte.

»Ich will ja auch nichts Neues erfinden«, erwiderte Hans gutmütig, indem er zäh bei seinem Gegenstand beharrte. »Aber ich erinnere mich doch an etwas, was ihr gern gesehen hättet. Wie ich nämlich vor ein paar Jahren ums Käthl freite und mich in Buchsweiler aufhielt, um dann zu Pferd nach Bischholz zu reiten, hab' ich zugeschaut, wie sie in Buchsweiler zum letztenmal ihren hessisch-darmstädtischen Fürsten empfangen haben. Das war im Mai des neunziger Jahres, und war das ganze Land voll Blüten.«

Hans erging sich mit Freuden in dieser Erinnerung.

Er hatte sich mit seinem Schimmel andren festlichen Reitern angeschlossen, die den von Norden kommenden Fürsten auf der Grenzhöhe seines Ländchens empfangen sollten. Jene Ecke, beherrscht vom Waldschloß Lichtenberg, hatte eine reizvolle, manchmal derbe und abenteuerliche Geschichte unter den Grafen von Lichtenberg erlebt und manche knorrige Fehde, manchen bizarren chronikalischen Zug zu verzeichnen. Von den Hanau-Lichtenbergern war das fruchtbare Gelände übergegangen an Hessen-Darmstadt; die große Landgräfin Karoline hatte in Buchsweiler residiert; ihre Tochter, die Herzogin Luise von Weimar, Gemahlin des berühmten Karl August, hatte dort ihre Jugend verbracht. Es war ein patriarchalisch Verhältnis zwischen Fürsten und Volk. Und so blieb es bis in die Revolution hinein. An jenem Maientag kam Landgraf Ludwig zum letzten Male in sein elsässisch Residenzstädtchen. Vor allen Dörfern, die er berührte, standen die Bauern aufgestellt, an ihrer Spitze der Geistliche; Frauen und Mädchen überreichten Blumen; eine von ihnen trat an den offenen Wagen heran, Glas und Flasche in der Hand, und sprach treuherzig: »Gnädiger Herr, da Sie von der beschwerlichen Reise und Hitze müde und durstig sein werden, so erlauben Sie uns, daß wir Ihnen ein Glas Wein anbieten.« Und der Fürst nahm gern diese bäuerliche Gastfreundschaft an; er und der mitreitende Präsident der Residenz Buchsweiler – es war ein Herr von Rathsamhausen – tranken auf des Dörfchens Wohl. Und die Reiter jedes Dörfchens schlossen sich an und vermehrten das Ehrengefolge. Nur vier von den Gendarmen, die am Wagen ritten, trugen die neufranzösische Kokarde; sonst niemand. Die andern alle hatten an den Hüten deutsches Eichenlaub und elsässische Blumen. Die jungen Reiter aus Ingweiler trugen blaue Uniform; die von den Dörfern erschienen in schönen roten wollenen Röcken, die mit blauen oder grünen Bändern verziert und weiß gefüttert waren. Auf der Anhöhe zwischen Ingweiler und Niedersulzbach hielten die blau uniformierten Reiter von Buchsweiler in zwei Reihen an der Straße hin, mehr als hundert. Und vor der Residenzstadt selber waren wohl Tausende aus der ganzen Gegend zusammengeströmt, darunter die Schulkinder mit ihren Lehrern. Und alle hatten Blumen, die ganze Straße war mit Blumen bestreut, es war ein Rausch von Duft und Farbe. Die Bürgerschaft stand unter Gewehr – Grenadiere, Jäger und Musketiere – und dabei vierundzwanzig Mann in weißen Kleidern, die dem Fürsten die Pferde ausspannen und ihn in die Stadt ziehen wollten; doch bat der Landgraf, sie möchten bloß als ein Ehrengeleite neben dem Wagen einherschreiten. Und so zog das Gewimmel unter tausenderlei Vivats, Geschützdonner, Glockengeläute und Musik zum Buchsweiler Obertor hinein, die Herrengasse hinunter, auf den Schloßplatz und ins Schloß. Dort, auf der Brücke, standen wieder mehr als siebenzig Mädchen in weißen Kleidern und blauen Schärpen; jede hatte ein niedlich geschmücktes Körbchen; eine überreichte ein Gedicht; und unter einem Blumenregen betrat der Fürst sein Schloß ... Am Abend war die Stadt beleuchtet. Die Juden hatten sogar die Synagoge illuminiert und einen Moses gemalt, der vor einem Altar kniete, worunter dann der Vers zu lesen war: »Hier kniet Moses, seufzt und spricht: Ach Fürst, verlaß auch Israel nicht!« Und vor dem Tor ward ein Freudenfeuer angezündet; zu Fuß ging der Fürst dorthin und zündete den Scheiterhaufen mit einer Wachsfackel an. In allen Wirtshäusern der vielwinkligen Hügelstadt Gesang und Musik, vor allen Fenstern Lichtchen ... Tags darauf besuchte der Fürst, über Imbsheim und den Bastberg fahrend, von vielen Ehrenreitern umschwärmt, den Kardinal Rohan in Zabern und kehrte über Neuweiler zurück. Dann reiste er, gerührt von tausenderlei Beweisen der Anhänglichkeit, nach Norden und – sah sein Land nicht wieder. Bald auch verschwand Rohan nach Baden und kehrte gleichfalls nicht mehr zurück. Das Elsaß mit seinen bunten kleinen Herrschaften verwandelte sich in zwei Departements und ward endgültig ein Teil des französischen Staates.

»Unseren Charakter ändern sie freilich nicht«, fügte Hans hinzu. »Wir sind zäh, wir hanauischen Bauern. Aber vorerst geht's nit anders. Also: vive la république!«

»Bist du nicht auch Soldat gewesen, Jean?« fragte Viktor.

Hans bejahte zögernd. Er wußte nicht recht, ob die Frage neckisch gemeint sei, trotz des gedämpften Tones, in dem diese Gespräche stattfanden. In der Tat hatte Johann Georg am Massenaufgebot teilgenommen, als die Wurmsersche Armee über die Weißenburger Linien vorzubrechen drohte. Mit einer Jagdflinte versehen, war er an die Spitze seiner Dorfmannschaft, die sich mit Sensen, Heugabeln und Äxten bewaffnet hatte, ins Gebirge marschiert und hatte einen Paß besetzt.

»In der Gegend von Bitsch,« erzählte Hans, der gut im Zuge war, »trifft man kein Kruzifix mehr an; die Sansculotten, unsre Volontärs, haben alle Statuen und Heiligenbilder im eigenen Lande in Stücke geschlagen. Es tat im Lager jeder, was er wollte; ihr konntet den Tambour mit dem Hauptmann Arm in Arm marschieren sehen. Ich hab' die lustige Anordnung mit angesehen. Na, dann also wurden wir Bauern selber unter die Waffen gerufen, lagerten irgendwo beim Schloß Lichtenberg, zwischen Lützelstein, Bitsch und Bärental, und haben uns aus Baumästen Hütten gebaut, wie Israel beim Laubhüttenfest. Zwei Kanonen mit zweihundert Mann hätten uns tausend Bauern leicht über den Haufen geblasen. Wir waren denn auch einmütig zum Ausreißen entschlossen, blieben aber in unsren Schanzen, solange der Proviant reichte. Unsere Heldentaten waren nicht gering: einmal zum Exempel schlugen wir einigen Waldarbeitern die Schlapphüte von den Ohren, weil sie keine Kokarde trugen, wobei wir auf unsrer Seite keinen einzigen Mann verloren; eines Nachts gab eine Schildwache Feuer, alles stürzt unter die Waffen, soweit man sich nicht ins Stroh verkroch – und was war's? Auf einem Meierhofe hatte ein Hund gebellt. Ein andermal wieder ein Schuß, Generalmarsch, Pikete werden ausgesandt – und das Resultat der Untersuchung? Ein Igel hatte unsere Vorräte gewittert, und Igel tappen bekanntlich wie Menschen, so daß die Schildwache krampfhaft mit ihrem bissel Französisch rief: › Qui vit? Qui vit? Herr Jerum, bin ich denn allein verloren?!‹ – und also Feuer gab und davonrannte. Das Ding wurde nach und nach langweilig; auf den Feldern warteten die Herbstgeschäfte; also brannte man Nacht für Nacht einfach durch, wobei es zerstoßene Schienbeine, verlorene Uhren und andere Mißhelligkeiten gab, aber keinen einzigen Toten. Noch einmal aber wurde die Sturmglocke geläutet, und wir sammelten uns diesmal am Schloß Waldeck, hinten bei Niederbronn. Wir waren anfangs an achthundert Wann und legten derartige Verhaue an – daß unsrem eigenen, vor uns operierenden Korps der Rückzug gründlich erschwert wurde. Bald aber hatten sich wieder alle nach Hause vertröpfelt – außer etwa vierzig Wann; und das waren die Offiziere. Wir beschlossen, uns dem regulären Bataillon bei Reichshofen anzuschließen; ich glaube, es kommandierte dort der General Sauter. Aber zweiundzwanzig von uns letzten Getreuen protestierten durch die Tat und liefen ebenfalls heim. Na, als sich schließlich das französische Korps zurückzog, sind wir auch gelaufen und haben noch gesehen, wie der Tresorier seine Assignaten-Kasse im Stich ließ und mit der Bespannung durchbrannte, während die Chasseurs mit den vordersten Preußen plänkelten. In Buchsweiler haben dann die Österreicher die Sansculotten verjagt und einen Augenblick wieder die hessisch-darmstädtische Regierung eingesetzt; aber seitdem, nach dem verlorenen Gefecht am Bastberg, haben sie wieder zurückgemußt. Saint-Just und Lebas – das muß man ihnen lassen – haben Straffheit in die Armee gebracht.«

Johann Georg hatte sich mit Absicht dieser breiten Plauderei überlassen. Er wollte die Freude am Leben wieder anzünden; er hatte von Natur und von den Vätern her elsässisches Rebenblut in den Adern und war nicht zu Trübsinn veranlagt; und so schnellte er sich durch die Erzählung dieser ungefährlichen Soldatengeschichten wieder in seine natürliche Lebenslust zurück.

Auch Viktor und die andren vergaßen sich ein Weilchen und hörten ihm mit Vergnügen zu. Aber angesichts der ersten Häuser wurde man wieder still. Im Außenzustande als solchem konnte der geistig gestimmte Viktor nie lange verharren. Die Welt der Ideen und die Welt der Seele war seine Heimat. Und die Dinge und Menschen der Außenwelt wurden ihm erst wertvoll oder anziehend, wenn er sie mit seelisch erwärmten Augen betrachten oder zu Ideen in Beziehung setzen konnte. Das ganze sinnliche Geschwätz und Gebaren der Revolution war schließlich ermüdend und belanglos. Aber den inneren Menschen immer reiner und wärmer zu gestalten und dann von innen heraus das Schöne zu schaffen und das Gute zur Tat werden zu lassen: nach dieser edlen Tätigkeit sehnte sich sein Herz.

»Morgen abend sind wir wieder unter den Nußbäumen von Imbsheim«, sagte Hansjery plötzlich.

»Wenn doch auch ich wüßte, wo meine Nußbäume stehen und mein Haus auf mich wartet!« seufzte Viktor. »Du hast's gut, Hans.«

»Viktor Hartmann wird's auch noch gut bekommen«, antwortete Hans mit der ihm eigenen bestimmten Zuversicht.

Die Männer von Waldersbach hatten Feierabend gemacht und saßen in Hemdärmeln vor den Türen; sie rauchten ihre Pfeifen; hier und da hörte man in Stall oder Küche noch ein Holzschuhklappern oder ein Mädchenlied. Alle grüßten höflich. Es war ein milder Abend.

Die Leidtragenden gingen auf Viktors Bitte mit ihm auf seine Stube. Dort lagen auf dem Tisch allerlei Päckchen. Es war Addys Nachlaß.

Die Päckchen waren mit blauen Bändern geschnürt. Auf jedem Paket stand in Addys schöner Schrift der Name des Besitzers; Viktor, Mama Frank, Leonie, Hans und Käthl waren bedacht. And Viktor wußte, daß auch Papa Oberlin und Frau Scheidecker nicht vergessen waren. Bewegt verteilte er die Gaben unter die Anwesenden. Doch konnte sich niemand entschließen, die Bänder jetzt bereits zu lösen.

»Dazu muß man allein sein«, sagte Viktor und verschloß sein Kästchen in den Wandschrank.

Dann gingen alle still und ernst in das Pfarrhaus, dessen frühes Küchenlicht bereits in das dunkelnde Tal herabgrüßte.

Oberlin, der Unermüdliche, war noch auf Krankenbesuchen in Solbach und Wildersbach. Aber Luise Scheppler, die Hände rasch an der Schürze abtrocknend, hieß die Gäste willkommen. Käthl konnte nicht zusehen, wo geschafft wurde; sie warf sofort eine Hausschürze um und griff mit an.

Luise Scheppler war schon als ganz junges Mädchen ins Pfarrhaus gekommen. Sie hing ihrem Herrn und den Kindern in unverbrüchlicher Treue an. Zehn Personen zu logieren, und zwar gemütlich zu logieren, war ihrem Haushaltungstalent eine Kleinigkeit; Betten überziehen, Stuben scheuern, Essen anordnen und tausend ähnliche Dinge des umfangreichen Haushalts brachte sie nicht aus dem Gleichmut. Sie war von immer gleichmäßig freundlicher Gemütsart, dabei gesund und regsam, bis in den Grund ihrer Seele treu und selbstlos. Nicht allein war sie Haushälterin: sie ging auch dreimal wöchentlich in die Dörfer des Steintals und unterrichtete einige fünfzig kleine Kinder, die sich dort versammelten. Eben war sie von Solbach zurückgekommen.

»Was lehren Sie denn die Kinder?« fragte Leonie in schüchterner Bewunderung.

Sie erwiderte einfach:

»Ich lehre sie, was ich weiß. Wir stricken miteinander, und während der Arbeit lasse ich sie Geographie oder Naturgeschichte wiederholen oder erzähle ihnen biblische Geschichten. Denn hier bei Papa im Pfarrhause lernt man immer etwas; man braucht nur ordentlich zuzuhören. Selbst beim Kartoffelschälen sagt man sich einen Psalm oder ein Lied auf. Besonders sing' ich mit den Kleinen Lieder; das macht ihnen viel Freude.«

»Und wie machen Sie's, daß die Kinder das behalten?« fragte Leonie mit entschiedener Zuneigung zu der tatkräftigen Magd.

»Oh, das kommt ganz von selber«, erwiderte Luise in ihrer einfachen und sicheren Heiterkeit. »Es ist kein Unterrichten, es ist ein Unterhalten. Die Kinder merken es kaum; und nach und nach, durch unmerkliche Wiederholungen, prägt es sich ein und sitzt fest.«

Darüber kam der Pfarrer nach Hause. Der vierundfünfzigjährige Mann mochte noch so müde sein: er hielt sich straff und strahlte immer die gleiche Lebensheiterkeit auf die Bedürftigen aus. Er hatte durch viele Jahre das Talent geübt, sein Lebensfeuer in sich gesammelt zu halten, so daß es immer zur Hand war, wenn er Licht und Wärme brauchte. Infolge dieser religiösen Willensübung konnte sich selten üble Laune oder schwüle Stimmung in seinem Bereich verdichten, ohne daß sie rasch und energisch zerstreut worden wäre.

Beim Nachtessen, an dem auch Knecht und Mägde mit um den großen Tisch sahen, sprach der Pfarrer das Tischgebet und gedachte darin nochmals der entschlafenen Addy. »Es ist uns feierlich zumute,« sprach er, »denn der Tod ist ein Geburtstag in die andre Welt. Feierlich ist uns zumute, aber nicht traurig. Wir wären keine Christen, wenn wir jammern würden. Du willst unsre zarte Freundin in unsichtbaren Reichen verwenden, lieber Vater im Himmel, und von uns willst du, daß wir im Sichtbaren weiterwirken. Dein Wille sei gelobt! Amen.«

Es war sonst ein Fest, mit Oberlin zu plaudern. Doch heute sehnte sich Viktor nach seiner Stube. Er war gewohnt, bedeutende Eindrücke in der Einsamkeit zu verarbeiten. So verlangte auch dieser Tag nach Einsamkeit und nach Verarbeitung. Und so verabschiedete sich Viktor frühe.

»Du wirft uns hoffentlich nicht ebenso rasch verlassen wie diese Gäste aus dem Buchsweiler Ländchen?« fragte der Pfarrer.

»Gern will ich noch einige Tage bleiben und in Ruhe alles ordnen«, antwortete Viktor. »Dann bring' ich Leonie persönlich nach Barr zu ihrer Mutter.«

»Und dann?«

»Nun, dann mit Gottes Hilfe nach und nach ins Lehramt, wenn sich im nächsten oder übernächsten Jahre die Kolmarer Zentralschule verwirklicht!«

»Und das Pfarramt?«

»Ich achte es hoch, aber ich habe mich zum Lehramt entschlossen.«

»Nun, greife kräftig zu, sowie es die politischen Verhältnisse wieder erlauben, lieber und wunderlicher Viktor! Vieles wirkt auf den Menschen ein. Freundliches und Grauenhaftes, Erstrebtes und Ungewolltes. Wenn wir nur in uns selber fest und fromm beharren, aufschauend zu den Hügeln der Gnade, so müssen alle Dinge doch zuletzt unsre Erzieher zum Guten werden. Ich bin euch allen und meiner ganzen Gemeinde ebenso zu Dank verpflichtet, wie sie vielleicht mir. Gott wirkt in allen.«

Leonie saß in seiner Wehmut etwas befangen zwischen den Töchtern des Hauses. Links plauderte die zwölfjährige Friederike Bienvenue, rechts bemühte sich Fidelité Karoline um die still-anmutige Besucherin aus dem Elsaß, die so schön zuhören und gleichsam mit dem Gesicht wundervoll antworten konnte, ohne nur den Mund aufzutun, so daß ihre bloße Gegenwart angenehm war. Manchmal suchte ein herzlicher Blick des einfachen und vertrauenden Mädchens ihren Freund Viktor, dem sie von allen Anwesenden doch am nächsten stand, so etwa, als gehöre man in guter Kameradschaft zusammen, auch wenn man nicht miteinander sprach. Aber der Tag war erschöpft. Jeder freute sich auf die Ruhe und Stille der Nacht: die eine, um unbeobachtet der entschwundenen Addy nachzuweinen, der andere, um den Sinn des Tages zu bedenken, die übrigen aber aus Bedürfnis nach Schlaf und Ruhe.

Hans und sein Weib waren denn auch kaum auf ihrem Zimmer angekommen, so löste Käthl mit hastiger Neugier das blaue Band, und sie bewunderten miteinander das Spitzentuch, das ihnen Addy hinterlassen hatte. Hans legte es seiner Ehefrau galant um den Hals. Sie sprachen noch etliches über das Herzensgute Kind und schliefen dann fest und gesund.

Leonie besah im Kerzenlicht ihres Stübchens das verhältnismäßig kleine Päckchen. Aber sie löste das Band nicht; sie las nur wieder die Worte: »Meiner zärtlich geliebten Freundin und Schwester Leonie«, schaute sich in dem einsamen Zimmer um und suchte die Mutter. Und schon hatte sie die Augen voll Tränen. Es war noch kein Jahr her seit des Bruders Tod; und nun war auch Addy dahin. Sie stellte sich ihre Mutter vor, wie sie sich damals über Addy gefreut, wie sie jetzt vereinsamt in die lange Dämmerung hineinträume und über die Ebene horche, ob nicht doch noch ein müder Soldat durch den Staub der Heerstraße wandre und spät am Hoftor poche: »Mach auf, Mama, Albert ist da!« Dann legte sie das uneröffnete Päckchen unter das Kopfkissen, löschte rasch das Licht und weinte sich in den Schlaf, der zum Glück nicht lange auf sich warten ließ.

Viktor allein durchwachte die ganze Nacht.

Auf dem Tische lagen die Gegenstände ausgebreitet, die seine Seele noch einmal zu einem rückschauenden Selbstgericht veranlaßten. Es waren viele Briefe, ein Medaillonbild der Frau von Mably, ein Medaillonbild Addys, geflochtene Haare, Bänder, vertrocknete Blumen und ähnliche sorgsam behütete Erinnerungen einer jungfräulichen Innerlichkeit. Häufig waren die Worte wahrzunehmen: »Nach meinem Tode zu öffnen«. Wohl pflegen gesunde junge Mädchen, die noch fern vom Sterben sind, manchmal mit so feierlichen Aufschriften Sachen zu versiegeln, die ihnen bedeutsam, den Erwachsenen aber kindlich erscheinen. Aber dieses frühreife Mädchen hatte nie getändelt; ihr gaben diese Andenken Seelenkraft; und nahe dahinter stand, von ihr deutlich empfunden und voraus gewußt, der Tod.

Obenauf lag ein Brief Addys: »An meinen geliebten Bruder und Beschützer Viktor Hartmann«.

Viktor glaubte nie etwas Seelenvolleres gelesen zu haben. Um das nächtliche Haus gingen leise Stimmen der Sommernacht, zauberhafte, melodische Stimmen; eine davon, die trauteste, kam herein, umschwebte den Freund und offenbarte sich als Addys Geisterstimme.

»Mein lieber, lieber Viktor! Mein bester Freund auf Erden! Ich werde nun bald hinübergehen. Aber Du sollst nicht traurig sein über meinen Tod, denn auch ich bin nicht traurig. Wir haben beide hier im Steintal gelernt und wissen genau, dank unsrem guten Vater Oberlin, daß Gott uns unaussprechlich lieb hat und in allen Dingen weiß, was unsrer Seele heilsam ist. Darum bin ich glücklich und überlasse mich seiner himmlischen Führung mit ganzem Vertrauen, so ungefähr wie ich Dir vertraue, Du mein treuer Bruder Viktor. O glaube mir, ich habe oft im stillen zugesehen, wie Du zu Sorgen neigst und von geistigen Fragen bedrückt wirst. Ich habe Dir aber leider zu wenig dabei helfen können; ich war nicht gelehrt genug und war nicht gesund. Auch bin ich etwas ängstlich und wagte während Deiner Anwesenheit nicht leicht, Dir all das Innige zu sagen, das ich für Dich empfinde. Doch ich habe jeden Tag für Dich gebetet zu Gott und zur Jungfrau und zum Heiland und allen Heiligen. Du und Leonie und die herzensgute Mama Frank – daß ich euch drei zurücklasse, das allein schmerzt mich ein wenig. Aber nicht sehr. Mein unauslöschlicher Dank bleibt bei euch. Ihr werdet euch gewiß untereinander sehr lieben, und ich freue mich vom Himmel aus über euer gemeinsames Glück. Du leidest oft an einer traurigen Stimmung; Leonie wird Dich fröhlich machen. Sag meiner Leonie, sie soll Dich glücklich machen, so glücklich als man einen Menschen beglücken kann, den man von ganzem Herzen lieb hat. Und ihr beide macht unsere Mutter Frank glücklich; ersetze ihr den verlorenen Albert, lieber Viktor. Ihr habt mir die Welt verschönt, denn ihr hattet mich lieb. Ich aber muß nun hinüber; denn meine Mutter braucht mich. Sie ist mit ihrem schweren Erdenlos auch drüben noch nicht ausgesöhnt; ich muß zu ihr, damit sie wieder an Liebe glauben lernt. Mein Freund, gib Leonie meinen Ring und bitte sie dabei in meinem Namen um Verzeihung. Ich habe schon lange gewußt, daß ihr beide einander durch euer ganzes Leben hindurch lieben werdet, während ich scheiden muß. Das hat mich am Anfang ein wenig eifersüchtig gemacht auf meine glücklichere Schwester Leonie. Aber jetzt schon längst nicht mehr. Du lieber Bruder, ich möchte Dir so gern sehr viel Inniges sagen. Im Grunde Deines Herzens bist Du ganz voll Güte, lieber Viktor; niemand weiß das so sehr wie ich. Süßer Freund, wenn Du an mich denkst, so soll Dir heiter zumute sein, denn ich denke ebenso süß und heilig an Dich. Es war so schön, unser Zusammenleben, daß es mich wie ein Vorhof des Himmels berührte. Du weißt, daß Gebetsgedanken Kraft haben. Sei unbesorgt um Deine Zukunft, ich werde für Dich und euch alle im Himmel beten, wie ich auch euch bitte, meiner in eurer Fürbitte zu gedenken, ihr herzlich Geliebten! Auf Wiedersehen im Himmel! Adelaide. – NB. Du darfst diesen Brief Leonie und ihrer Mutter zu lesen geben. Ich habe vor euch kein Geheimnis gehabt; ihr werdet auch untereinander kein Geheimnis haben. Addy.«

Dies war Addys Brief.

Als der tiefbewegte Viktor diese Worte voll Zartsinn und Liebe gelesen hatte, fiel er an seines Lagers Rand auf die Knie und sprach in Oberlins genialer Art unmittelbar mit Gott. Es war ein Loben und Danken in Worten, die jenseits der Sprache sind. Dieses Kind, aus zu leichten Stoffen gewoben für die grausame Luft der Erde, hatte hienieden eine Mission erfüllt; es ging nun hinüber, um auch dort eine Mission zu erfüllen. Liebe solcher Art ist das Genialste der Menschenseele; Liebe solcher Art ist verwandt mit der geistigen Sonne: sie entzündet die Planeten um sich her und empfängt in belebender Wechselwirkung deren Wärme zurück. »O Wunder des Lebens, Wunder des Menschenherzens! Elinor wurde geadelt durch die Liebe zu dieser Addy; und wir wurden geadelt, indem wir uns üben durften in pflegender Liebe zu diesem reinen Kinde. Liebe ist der wahre Adel, unzerstörbar durch alle Revolutionen der Welt! Vater im Himmel, ich danke dir, du hast mich entsühnt und du hast mich geadelt! Du hast mir die Gnade geschenkt, daß ich dieses Mädchen in edler Freundschaft lieben durfte bis in den Tod! Du haft gute Menschen um mich herum aufgestellt wie Engel um die Pforten des Paradieses!« ...

Und Viktor erhob sich, die Augen voll Tränen der Wehmut und des Dankes, reckte sich mächtig und schüttelte die Last von Jahren ab. Jetzt erst, nachdem diese letzte Welle der Empfindsamkeit über ihn hinweggegangen war, schien er neugeboren zu sein, neugeboren zu einem Leben in mutiger, schaffender Liebe. Er verstand nun, was Oberlin die »Wiedergeburt« nannte.

Noch warf er einen Blick in die fieberhaften Briefe der Frau Elinor, aus dem Gefängnis an Addy gerichtet. Die Briefe waren heftig, stolz, bissig; sie waren voll Auflehnung gegen die Unbilden der Revolution und des Schicksals; dazwischen leidenschaftliches Händeringen der Mutterliebe, wobei auch Viktors Name hie und da fiel, meist jedoch flüchtig hingeschnellt, einmal auch in einer Aufwallung von Dankbarkeit. Und alles wortreich und wortgewandt, in der bekannten kleinen, jagend vornübergebeugten Schnellschrift der Marquise. Die seelenkundige Addy mochte recht haben: diese Frau war noch nicht beruhigt!

Und keine Wendung in diesen Papieren gab ihm die kurze, knappe, endgültige Formel für Frau Elinors widerspruchsvolles Wesen. Gab es denn bei so wechselnder Beweglichkeit überhaupt eine Formel?

Wie graziös und hochgemut lächelte hier, auf dem von Guérin gemalten Medaillonbild, das kokette Gesichtchen mit dem schmalen, scharfen Mündchen, dem weit entblößten Halse, dem kecken großen Federhut! Es war das alte Regime in seiner Luxuspracht, nunmehr erstickt in Blut!

Und der einsame Betrachter ordnete die kleinen Heiligtümer. Da war ein verblaßtes violettes Band, einst von Addy im Haar getragen, jetzt war ein Zettelchen daran: »Dieses Band habe ich aufbewahrt, weil es ihm gefallen hat. Sommer 1789«. Und so noch mancherlei Rührendes. An einer kleinen Strähne von Addys Haar jedoch fand er die Worte angeheftet, die sie wahrscheinlich von Viktor oder Oberlin vernommen hatte: »Ehre den Tod und sei dem Leben treu!«

Dem Leben treu!

»Ich weiß es zwar: ein Ton der Trauer wird niemals ganz aus meinem Leben schwinden. Wer das erlebt hat, wird nie mehr restlos fröhlich werden. Aber dennoch, ja: dem Leben treu!« ...

So verklang dieser ernste Tag.

Lange noch schritt Viktor auf lautlosen Hausschuhen hin und her, begleitet vom Schatten, den das versiegende Öllämpchen an die getünchte Wand warf. Wer anschwellende Nachtwind erinnerte ihn an die Außenwelt; Blumentöpfchen pochten an die Fensterscheiben. Er öffnete und horchte hinaus. Brunnen rauschten, und ein fernes Wasser toste. Er schaute empor in die Stille der Sterne, an deren Stellung er wahrnahm, daß der Morgen nicht mehr ferne sei.

Und in der Tat, schon begann sich um die Randlinien der östlichen Gebirge der Himmel zu versilbern, um dann langsam überzugehen in eines neuen Tages Morgenrot.


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