Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Siebentes Kapitel

Vom Grenzland ins Hochland

An einem ärmlichen Lager im Bürgerspital sitzt der halbgeheilte Viktor Hartmann und hält mit der gesunden Linken die Hand eines abgezehrten Kranken.

Vom fadenscheinigen blauen Rock der Felduniform hängt der rechte Ärmel lose herunter; der Arm steckt noch in Bandage. Die Hand, womit einst Viktor Hartmann in die Dornen gegriffen, ist auf lange hinaus wund; das Schultergelenk ist kraftlos.

Alle vier Betten im Zimmer sind besetzt, denn Straßburg hat in jenem Unglücksjahr fast doppelt so viel Todesfälle zu verzeichnen als sonst. Und so spricht Viktor, um nicht zu stören, mit dem Kranken nur flüsternd.

Der Kranke, der bereits als Sterbender vor ihm in den Kissen lehnt, ist Vater Hartmann.

Als Viktor aus dem Militärspital entlassen war, galt sein erster Ausgang dem gefangenen Vater. Langsam und fast schleichend erreichte er das Seminar; da bedeutete man ihm, daß der Sträfling Johann Philipp Hartmann krankheitshalber ins Bürgerspital überführt worden sei. Und so saß jetzt der Sohn, selber bleich und verfallen, vor dem sterbenden Vater und versteckte die pressende Fülle seines Kummers unter einem lächelnden Gesicht.

Papa Hartmann konnte nicht mehr sprechen. Doch sein Geist war klar; seine braunen Augen leuchteten mit unnatürlicher Helle. Ein milder, fast kindlicher Zug hatte in sein ehedem strenges, oft sarkastisches und dann wieder sehr gütiges Antlitz Einkehr gehalten. Nichts von Trauer; nichts von Angst.

Neben ihm auf dem Tischchen lag zwischen den Arzneigläsern das Neue Testament. Er deutete darauf; Viktor reichte es ihm dar. Mit zitternden Händen blätterte der Greis darin und entnahm dem Buch einen Zettel, den er Viktor übergab. Durch Gebärdensprache machte er ihm deutlich, daß er ein Abschiedswort aufgeschrieben habe, da er nicht mehr zu sprechen imstande sei.

Es waren draußen Sturmregen über das schneelose Land gegangen. Die Straßen waren aufgeweicht; die Baumreiser feucht und schwarz. Doch heute war der Himmel weich und mild.

Viktor neigte sich dem Fenster zu und las, während der sehr schwache Vater mit etwas ängstlichem und fast kindlichem Ausdruck auf den Sohn schaute, als wollte er um Entschuldigung bitten, falls er zu zittrig und schwer lesbar geschrieben habe.

»Mein lieber Viktor! Es ist mir in diesem Christmond nunmehr beschieden, die Erde zu verlassen. Ich will Dir daher danken für die Treue, welche Du Deinem einfachen und ungelehrten Vater gehalten hast. Mein Leben ist hart gewesen, und das Deine läßt sich nicht leichter an. Aber Du hast echte Freunde, der liebe Gott möge sie segnen, sonderlich die brave Frau Frank, Leonie und die liebe Addy. Mach Deinem irdischen Vater Ehre und sei ein Wohlgefallen Deines himmlischen Vaters, auf daß ich samt Deiner Mutter Dich dermaleinst an der Pforte des ewigen Lebens freudig empfangen darf. Mein zerstörtes Gartenstück verkaufe; den alten Joseph, der mir treu dort gedient hat, bring als Portier bei uns unter. Gehe zu Hitzingers und erkundige Dich nach Leo. Unsere Finanzen sind in Unordnung; sieh zu, was Du daraus machst. Danke meiner Schwester Lina für allen Fleiß im Haushalt. Meine Grabstätte weißt Du, meine wahre Heimat weißt Du auch. Gott führe Dich in die Höhe, lieber Viktor, dorthin, wo der Friede des Herzens wohnt, den die Welt nicht trüben kann. Ich bin und bleibe bis zum Wiedersehen im Himmel Dein Dich herzlich liebender und für Dich betender Vater.«

Viktor war noch wenig widerstandsfähig. Er ließ mit gepreßten Lippen die Tränen rinnen und schaute lange auf diese zitternde Handschrift, auf diese schlichten Worte. Und indem er sich auf eine Antwort besann, fiel ihm sein Goldring ins Auge. Leicht streifte er ihn mit dem Daumen von dem mageren Ringfinger ab und zeigte seinem Vater die Inschrift, die er ihm leise vorlas: »Durch Reinheit stark«. Es klang wie ein Gelübde. Der Vater verstand, nickte lächelnd, streichelte segnend über den Ring und steckte ihn mit schwachen Fingern seinem Sohn selber wieder an die Hand. Dann faltete er die Hände und verlor das Bewußtsein. Bald wandten sich die Augen nach oben; das Herz arbeitete stärker. Der vorbeikommende Arzt warf einen Blick herüber und bemerkte halblaut zu Viktor: »Laß ihn schlafen, er erwacht nicht mehr.«

Nach einer halben Stunde hatte Vater Hartmann ausgeatmet.

* * *

Als Viktor das Bürgerspital verlassen hatte und nun verwaist durch Straßburg schlich, mutete ihn dieser ganze politische Wirrwarr mit dem Herzeleid, das er im Gefolge hatte, unsagbar nichtig an. Er kam aus einer andren Welt. Sein Auge hatte sich in Tränen reingewaschen und sah nun still und unverworren in die Wirklichkeit der Dinge. Seine Seele hatte sich durch Schmerzen verfeinert und war nun für die groben und heftigen Leidenschaften dieser Zeit nicht mehr empfänglich.

Er trat vor das erhabene Münster. Mit seelischen Organen erfaßte er diese Symphonie der Jahrhunderte.

Die gewaltige Lichtrose über dem mittleren Portal bildet das Herz des Münsters; aber auf dem Gipfel des wolkenragenden Gebäudes, das von Stangen und Zacken umflogen ist und trotz aller Massigkeit den leichten Lichtgestalten überall Durchlaß gewährt, erhebt sich das Kreuz. Sieghaft und dankbar wird dieses Symbol der Schmerzen von der steinernen Riesenhand emporgehalten: »Da hast du wieder das Erdenkreuz, das du mir auferlegt hast, Vater der Liebe! Ich danke dir dafür, denn es hat mich geübt und gestählt, es hat mich geläutert und vertieft.«

Der braunrote Stein flammte in einem violetten Abendlicht, als der bleiche Krieger davorstand. Auch an diesem Riesenwerk hatte das Geziefer der Revolution herumgeknabbert. Die Steinfiguren der Könige und Heiligen waren zertrümmert oder der Köpfe beraubt. Quer über die Portale hinweg lief eine breite Tafel mit der Aufschrift: Tempel der Vernunft. Und das Steinkreuz der Spitze – wo war das Kreuz? Eine große rote Blechmütze war über das Kreuz gestülpt. Auch das Münster sollte der Partei dienen; den Ausweg in die Ewigkeit sollte eine Jakobinermütze zusperren. Im verödeten Innern aber, wo sonst in den kraftvollen Farben alter Kirchenfenster Ornate geblitzt und Weihrauchkessel ihre bläulichen Düfte um uralte Kultushandlungen gehüllt hatten, erhob sich ein künstlicher Berg mit revolutionären Symbolen, den Sieg der Bergpartei darstellend.

Der Elsässer betrachtete diese Geschmacklosigkeit ohne jede Erregung. Die Revolution war ihm gleichgültig geworden.

»Es ist ein stümperhafter Dilettantismus«, sprach er zu sich selber; »er sucht durch lärmende Greueltaten seine Unfähigkeit zu verdecken; wir warten immer noch auf das Aufblitzen des Genies. Das Genie, das diesen Untaten ein Ende macht, wird nicht mit Engelzungen sprechen, sondern mit Kanonenzungen. Es wird dort einsetzen, wo der König versagt hat: mit Kartätschen wird er diesen Pöbel in seine Löcher zurückjagen. Aber ich – was hab' ich mit diesem blutgierigen Staatswesen zu schaffen? Kann ich meinen Seelenhunger bei Saint-Just, Schneider oder Monet stillen? Mag der Berufene mit ihnen sprechen. Ich habe das Meine getan. Nun steh' ich endlich dort, wo ich theoretisch in den Gesprächen mit Humboldt und Oberlin schon vor drei Jahren gestanden. Ein weiter Umweg!«

Eine geistige Geographie ward ihm offenbar. Was das stürmische Mittelalter eines Walther von der Vogelweide und der Hohenstaufen-Kreuzzüge »Frau Welt« nannte, das trennte sich nun von ihm und trat zurück. Die bleibende Kraft aber wuchs herauf, die sich ehedem in der Kirche sammelte und alle Philosophie und Weisheit umfaßte. Seine Heimat war nicht mehr dieses äußere Elsaß, nicht mehr Politik noch Partei, nicht mehr Frankreich noch Revolution; seine Heimat war das Land der Weisheit und der besonnen tätigen Liebe. Vorhin am Krankenbett des nunmehr freien Vaters, drüben im heiligen Hain zu Barr – überall, wo Bedürftige zu stärken oder Hilfeflehende zu ermuntern waren, überall, wo Unmündige Erziehung und Wißbegierige Unterricht brauchten, überall, wo ein edles Verlangen Stillung wünschte – – da war seine Heimat.

Es fiel ihm auf, wie viele Fensterläden geschlossen waren; vornehme Häuser standen lichtlos und verwaist; die winterlich feuchte Stadt war grau und still.

Ein Bekannter kreuzte seinen Weg. Es war ein ungeklärter, leicht erregbarer junger Gelehrter, der ebenso wie Hartmann in Kolmar und in Jena geweilt und von Friederike Pfeffel einen starken Herzenseindruck erhalten hatte, ein aus Dänemark verflogener Schöngeist, der in Schneiders Gefolge den Besessenheiten der Zeit erlag. Hastig schoß er dahin, einen journalistischen Artikel im Kopfe wälzend, als wäre das Wohl der Menschheit davon abhängig, daß dieser Leitartikel im »Argos« oder im »Weltboten« erschiene.

»Nun, Hartmann, verwundet? Bravo, bist ein Patriot! Woher? Wohin?«

Viktor beschaute den Unsteten mit ruhiger Verwunderung.

»Noch immer im Fieber, Butenschön? Ich meinerseits komme vom Totenbett meines Vaters; den habt ihr in der Kerkerluft des Seminars getötet, während ich auf dem Schlachtfeld blutete. Nun such' ich eine reinliche Stätte, wo ich meine Wunden ausheilen und von eurer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genesen kann. Willst du mit?«

»Das wäre! Wo hier alle Hände voll zu tun sind! Wo Freund Schneider, der auf dem Land Widerspenstige straft, in Gefahr schwebt, dem Einfluß eines Saint-Just oder Monet zu erliegen! Denn Saint-Just kehrt übermorgen von Paris zurück, mächtig wie zuvor; die Ausschußwahlen sind zu Robespierres Gunsten ausgefallen. Und ich traue dem Repräsentanten nun einmal nicht. Unser Schneider ist ihnen zu bieder, zu brav, zu tugendhaft, zu deutsch«

Viktor mußte in aller Trauer lächeln über den Mißbrauch dieser herauspurzelnden Worte, vor allem der Worte »tugendhaft« und »deutsch«. Doch schwieg er gelassen; die Revolution zeichnete sich ja gerade durch dieses Spiel mit tönenden Worten aus; und vor allem das Wort »Tugend« nahm sich in diesem blutigen Spiele besonders drollig aus.

Ein Trupp grotesker Schnauzbärte wanderte schwatzend und fuchtelnd vorüber. Diese abenteuerlichen Gestalten trugen faltige Mäntel, im Gürtel Pistolen und Säbel, und auf den langen Haaren die Rotmütze mit großer Kokarde.

»Kennst du die?« fragte Butenschön. »Sind Franzosen aus dem Innern. Mitglieder der sogenannten Propaganda. Wohnen im ehemaligen Jesuitenkollegium am Münster, füttern sich vortrefflich, saufen in diesen Zeiten der Teurung unendlich viel Wein und fühlen sich hier als Halbgötter. Na, die solltest du in der Volksgesellschaft hören! Es darf dort nur noch Französisch gesprochen werden, und so hält sich die Mehrzahl der Bürger fern. Wir um Schneider herum sind diesen Burschen gegenüber gemäßigt.«

»Ihr gemäßigt? Nicht schlecht!«

Man hatte in der Volksgesellschaft, die von einigen sechzig eingewanderten Propagandisten aus dem inneren Frankreich vergewaltigt war, offen für die Tötung sämtlicher Straßburger Gefangener gestimmt; es mochten zweitausend Menschen eingekerkert sein. Und im Kreise der Intimen, um Dièche und Monet, raunte man von einem Plan, die sechstausend Nationalgardisten der Stadt Straßburg auf großen Booten im Rhein zu ertränken, indem man sie anscheinend gegen die Österreicher senden und dann vom eigenen Ufer aus in Grund bohren wollte. Doch fanden sich keine ausführenden Leute, die mit solcher Greueltat die Ehre des Krieges zu beflecken und das Vertrauen des Heeres zu täuschen wagten. Viktor, der mit seinem verbundenen Arm unter dem übergehängten Mantel unbeweglich vor dem erregten Revolutionär stand, brach das Gespräch ab.

»Auf die Gefahr hin,« sprach er, »daß du mich wehleidig schiltst, muß ich dir bekennen, daß ich mich innerlich von diesem Chaos gelöst habe. Ich kann meiner Vaterstadt nicht mehr dienen und muß halt warten, bis sie mich wieder braucht. Ihr seid terrorisiert von der Pariser Partei des sogenannten Heiligen Berges und von der Partei des Pariser Pöbels. Straßburg ist terrorisiert von Paris. Ihr seid Affen des Pariser Blutsystems, du magst mich meinetwegen denunzieren. Aus nichtigen Anlässen bringt dein Eulogius Schneider Menschen um, und unreife junge Leute wie Saint-Just und Monet gebärden sich, wie sich eben bösartige Knaben gebärden, wenn man sie plötzlich über eine würdige Stadt setzt. Ist das Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit? Nein, das ist Fieber. Ihr habt Angst voreinander, ihr habt Angst vor aller Welt – und nun schlagt ihr tot, ihr Kleingeister, um nicht selber getötet zu werden. Gott befohlen, mein Lieber! Ich mache nicht mehr mit.«

»Du hast ja allerdings ein Recht auf Mitleid, armer Bursch, du bist Invalide,« warf der Journalist achselzuckend hin.

»Mitleid?! Versuchst du mich durch Mitleid zu beleidigen? Du kannst dir wohl nicht vorstellen, daß es Stolz ist, wenn ich mich von euch trenne? Ich bin Invalide, aber nicht am Geist. Der ist nüchtern und klar, denn er ist fieberfrei. Und nicht am Willen bin ich Invalide. Nur richtet sich mein Wille fortan auf reinere Ziele. Leb' wohl!«

Sie gingen auseinander.

Noch ein markantes Vorkommnis drängte sich dem Heimkehrenden auf, unmittelbar vor dem Vaterhause. Inmitten eines Menschenanlaufes wetterte und fluchte dort ein Soldat in Generalsuniform, aber mit den Manieren eines Unteroffiziers. Es war der Stadtkommandant Dièche. Derb und polternd, stets in halbem Rausch von den vielen Flaschen im Keller des Darmstädter Hofes, hatte er mit seinem Adjutanten eine Bürgerin zur Rede gestellt. Die Frau trug trotz des Verbotes die altreichsstädtische Schneppenhaube. Mit einem unverständlichen Wortschwall riß der General die Haube herab, warf sie zu Boden und stampfte sie mit seinen Stiefeln in den Schmutz. »Was steht an den Affichen?!« schrie er in französischer Sprache. »Die Bürgerinnen sind ersucht, die deutsche Tracht abzulegen, da ihre Herzen fränkisch sind. Steht's nicht deutsch daneben?! Kannst du nicht lesen, Canaille, so laß' dir's vorlesen!« Doch der Kommandant war an eine aus dem Finkweiler oder aus der Krutenau geraten, die zwar kein Wälsch verstand, aber in ihrem Zorn, daß man auf ihrem Wege zu einer Kindtaufe derart in ihren besten Kleiderstaat fahre, in dampfende Wut geriet. Alemannische Schimpfworte prasselten kübelweise auf den Angreifer herab. Sie riß die Haube aus dem Schmutz empor, zeigte auf die Kokarde und schrie: »Was, du trittst auf der Kokard' herum?! Du willst General sein und trittst auf der Kokard' herum?!« Und machte das durch Gebärdenspiel so anschaulich und sammelte durch ihr Ungestüm so rasch um sich her eine Zuhörerschaft, daß der Stadtkommandant vorzog, seinen Rückzug durch ein bärbeißig Lachen zu verbergen und rasch zu entrinnen.

Auf den Treppen des Vaterhauses drohte den Invaliden der Schmerz zu übermannen. »O du altvornehme Reichsstadt! O du braver Vater, du letzter Reichsstädter! In welche Schande sind wir geraten!«

Oben jedoch fand er einen unvermuteten Gast, der ihn mit willkommenem Frohmut ablenkte. Es war Hans von Uhrweiler, der ehemalige Kutscher Jean der Marquise von Mably!

Viktor freute sich über den hellen und offenen Hanauer Bauern, der nun mit seinem Bischhölzer Käthl zu Imbsheim am Bastberg hauste und mit zwei Schimmeln zu Felde fuhr.

»Du weckst mir alte Erinnerungen, Hans. Aber das ist dahinten und gründlich überwunden. Ich bin in einer Lage und Stimmung, die man nur einmal im Leben durchmacht. Ich habe meinem nächsten und ältesten Freund und Blutsverwandten, meinem Vater, die Augen zugedrückt, wie man zu sagen pflegt; doch ist das in diesem Falle nicht ganz richtig, denn mein sorgfältiger Papa hat die seinen eine Minute vor dem Tode selber geschlossen ... Du braver alter Mann! So charaktervoll und so weitherzig, so voll Fehler eines hitzigen Geblüts und doch so gut und fromm! ... Ich bin selber noch elend, nehmt's nicht übel, wenn man da weich wird! ... Tante Lina, er hat mir's aufgeschrieben, ich soll dir danken für deine Treue ... Ach Leute, Leute, mir ist, als hätt' ich einen neuen Blick in den Augen: alles Irdische fern und klein, wie wenn man ein Fernrohr um ein paar Schrauben weiterdreht. Und der Tod dieses guten Mannes war so einfach ... Bring' etwas zu trinken für Hans, Tante! ... Bleibst ein paar Tage bei uns, bist mein Schreiber; dann fahren wir zu den Franks nach Barr, Addy wird sich freuen, wenn sie dich sieht ... Gutes tun, Hans, das ist fortan mein ganzer Wahlspruch. Und dann unauffällig heimgehen wie mein stiller Vater.«

Dies war Viktors Totenrede. Sie ermangelte der pathetischen Sprache. Doch spürte man, wie die Flut des Unausgesprochenen hinter diesen Worten emporwühlte, wie es in ihm würgte, um die Lippen zuckte und feucht in die Augen stieg. Er trug viel mehr in sich, als ihm jemals auszusprechen vergönnt war.

Der lange Hans, ein ausgeprägter Republikaner, war samt Gespann und Schimmeln auf der Flucht vor den Österreichern, die das untere Elsaß bis auf den Bastberg und an den Bergrand von Ernolsheim und Sankt-Johann besetzt hielten. Doch war er heiter und unverzagt und trug seine Hakennase hoch im Wind. Er wußte sein Haus und sein Weib im Schutze Gottes und eines rüstigen alten Vaters. Nur er selber hatte zu hitzig für die Republik Partei genommen und hatte mithin Grund, die Rache der Emigranten und Österreicher zu fürchten.

»Jetzt kommandiert der Pichegru bei der Rheinarmee,« sprach er zuversichtlich, »und der Hoche bei der Moselarmee. Das sind tüchtige Generale. Jetzt geht's druff! In vierzehn Tagen ist Landau entsetzt, parole d'honneur

Unter seinen Landsleuten war Hans eine Ausnahme; die Bauern jenes patriarchalisch regierten hessisch-darmstädtischen Bezirkes, ehedem Grafschaft Hanau-Lichtenberg, wollten von Republik und Wälschtum nichts wissen.

»Und ich muß sagen,« fügte Jean hinzu, »wenn die hergelaufenen wälschen Kindsköpf' hier in Straßburg noch lang so fortmachen, so tut's mir leid, daß ich mein' Haut aufs Spiel setze. Aufgeblasenes Wesen kann ein richtiger Elsässer nit leiden. Da hat gestern einer von diesen Propagandisten, so ein junger Naseweis, von der Tribüne herunter Jesus einen Charlatan genannt und auf Gott und Welt geschimpft – Sackerlot, ich wäre dem Wagges fast an die Gurgel gefahren. Dafür hat ihm dann freilich ein Elsässer namens Jung geantwortet. Und saftig! ›Das muß eine kleine, eine niederträchtige Seele sein, die über den besten aller Menschen spotten kann. Den Buben hätte man in der Wiege ersticken sollen!‹ So hat er's ihm gesteckt. Es fehlt diesen Wälschen etwas. Wissen Sie, was ihnen fehlt? Ehrfurcht. Diesen Mangel nennen sie Freiheit. Es ist aber ein Schreibfehler für Frechheit

»Es ist ein Mangel, der eine Nation vernichten kann«, bestätigte der Erzieher Hartmann.

Hans hatte im Hotel de France, im sogenannten »Fufzehnsoustückl«, wo man für fünfzehn Sous übernachten konnte, Quartier bezogen. Aber Viktor bat ihn, im Hartmannschen Hause Gast zu sein.

»Du kannst mir manches besprechen helfen, Hans. Auch bin ich in Sorgen um Addy. Eulogius Schneider streicht mit der Guillotine in der Gegend von Barr herum. Bedenk', das Kind ist herzkrank. Wenn es Aufregungen durchmachen müßte!«

Sie ordneten des Vaters Papiere. Friedensrichter Schöll hatte die Siegel abgenommen und nichts Verdächtiges gefunden. Alles Kirchliche war damals verboten; und so war der stille Gärtner sang- und klanglos beerdigt worden. Die lebendige Gegenwart rief rasch wieder alle Spannkraft auf den Plan. Überall wo Viktor Besuche machte, traf er Trauer in den Familien. Professor Hermanns begabter Sohn, der junge Arzt, war einer Epidemie erlegen. Die Familie Hitzinger war ruiniert; die Madame lag krank zu Bett; der Bäcker saß verbittert am erkalteten Ofen. Hier erst erfuhr Viktor die Geschichte Leos, der nicht über den Rhein geflohen, sondern sich in neugekräftigter Verwegenheit abermals nach dem oberen Elsaß gewagt hatte. Viktor lief von Haus zu Haus, um seine Bekannten und Freunde zu trösten und sein Bargeld zu verteilen.

Und als er spät und erschöpft nach Hause kam, traf er den Kutscher von Barr: – der war als reitender Eilbote gekommen und brachte einen Brief von Frau Frank.

»Mein guter Viktor! Wir sind mit Tränen des zartesten Mitgefühls bei Ihnen, den wir als unsren teuersten Freund lieben und verehren, und wir gedenken Ihres heimgegangenen Vaters mit inniger Achtung und Dankbarkeit. Ich selbst bin noch vom Schmerz um Albert betäubt. Indessen läßt das Schicksal uns allen keine Muße, der Bekümmernis nachzuhängen. Denken Sie sich, Kuhn in Epfig soll guillotiniert werden! Ebenso etliche andere hier und in Oberehnheim! Und dem Städtchen sind ungeheuerliche Geldlasten auferlegt, so daß ich fast alles hergegeben habe. Besonders aber bin ich in Angst um unsere Addy. Es waren neulich einige Jakobiner hier und forschten ziemlich grob, was an dem Gerücht sei, daß ich eine Emigrantin beherberge. Zum guten Glück waren die Kinder schon zu Bett gegangen, und ich konnte die Klubisten mit einigen Flaschen Wein und guten Worten fortschicken, ohne daß Addy davon erfahren hat. Ich zittre jedoch bei dem Gedanken, daß noch einmal irgendwelche Roheit, wie zu Ostern dieses Jahres, sei es von Schneider oder von andren, in mein stilles Haus eindringen könnte. Mit einem Wort, werter Freund, Addy ist bei mir nicht mehr sicher. Und sie nach Straßburg zu bringen, hieße sie vollends dem Verderben ausliefern. Erwägen Sie, guter Viktor, sobald es Ihnen die so traurigen Umstände und Ihre Gesundheit erlauben, was hier zu tun sei. Für mich und meine Leonie seien Sie nicht besorgt; wir wissen uns zu wehren; aber die kranke Addy darf nicht der Möglichkeit einer Aufregung oder gar Verhaftung ausgesetzt werden. Besprechen Sie alles mit dem Kutscher Jacques. Ich erwarte sehnlich Ihre Antwort.«

Viktor wurde durch diese Nachricht nur wenig überrascht; ein Notruf dieser Art lag in der Luft, seit er vernommen, daß Schneider jenen Bezirk heimsuchte. Nun aber, als die Tatsache vorlag, sprang seine Energie hervor. Addy war sein empfindlichster Punkt; er fühlte sich verantwortlich für des Kindes Wohl. »Kommt her, wir müssen das sofort besprechen!«

Und er setzte sich zu Hans und dem Kutscher Jacques, einem gebürtigen Lothringer von den Kirschbaumhügeln bei Büst und Wintersberg, wo der Pfalzburger Wind über die Hochebene läuft. Beides waren zuverlässige Männer. Man konnte offen reden.

Der Lebenskandidat Hartmann fühlte, daß wieder ein wichtiger Wendepunkt gekommen war. Nachdenklich stützte der vorerst noch einarmige Kriegsmann den Kopf in die Hand und sann. Sollte er für Addy kämpfen? Konnte hier überhaupt von Kampf die Rede sein? Oder war entschiedene Trennung von den Blutregionen der Revolution ein für allemal auch hier der gebotene Ausweg?

»Man sollte den Astrologius Schneider zu Fall bringen«, riet der unverbrauchte Hans. »Man sollte dem Monet oder dem Saint-Just ein Bein stellen.«

»Meinst du, daß dies nicht schon genug versucht wird?« versetzte Viktor. »Und meinst du, daß mit Vernichtung einiger Personen das System vernichtet wäre? Nein, Hans, ich habe in den letzten Wochen über dies alles bis zum Bodensatz nachgedacht. Straßburg wird schimpflich behandelt, das ist wahr; der Name ›Freiheit‹ wird fratzenhaft mißbraucht, wir sind einer Partei von Bluthunden ausgesetzt – alles zugegeben. Ich habe Blut geopfert, ich habe den Vater verloren, ich sehe nun das Zarteste bedroht, was ich kenne. Was nun dagegen unternehmen? Hierüber nachzusinnen, über das Rätsel des Dämonismus, könnte einen tiefen Menschen krank und wahnsinnig machen. Eingreifen aber und durch Schurkereien und Kniffe diese Kniffe und Schurkereien übertrumpfen – nein, das muß ich den Bürgersektionen, den Parteien, den Volksrepräsentanten und andren politischen Faktoren überlassen. Ich bin kein Politiker. Dieser Kampf ist und bleibt unreinlich; selbst der Sieg befleckt. Meint ihr, ich würde mich fürchten, vor Monet oder Saint-Just zu treten? Der Erfolg wäre, daß ich im Seminar den Platz einnähme, der durch meines Vaters Tod frei geworden ist. Und dann? Was wäre gewonnen? Darum heißt es: ruhig überlegen und rasch und fest ausführen! Als ich vorgestern aus dem Schlaf erwachte, hatte mir von einer Lerche geträumt, die aus düstren Frühnebeln singend emporflog ins Morgenrot der wahren Freiheit. Es war meines Vaters Sterbetag. Es kann sich aber auch auf die Lerche Addy beziehen, die sich gern in eine freie, reine Höhe emporschwingen möchte – so wie sich mein eigenes Herz hinaufsehnt nach Licht und Himmelsluft.«

Und ihm klang, noch während er sprach, ein Wort des Pfarrers Stuber blitzhaft in das Ohr, ein Vorschlag, den der Geistliche damals in der Frankschen Wohnung geäußert hatte, als es sich um Addys Zufluchtsort handelte. Taghell stand mit einem Male vor Viktors innerem Auge das Hochland des Friedens. Er wußte plötzlich: in jenem Hochland wartet die Erfüllung! Dort leuchtete jetzt ein glänzend reiner Schnee über der unbefleckten Gebirgslandschaft; der Wintertag verglomm in wundersam zarten Farben. Die Rehe standen oben am Saum der dunklen Tannenwaldung, und in der Tiefe floß, schwarz inmitten des weißen Schneelichtes, ein rauschend Wasser. In den Hütten blitzten frühe Lichter; groß und blank funkelte über den Salmschen Bergen der Abendstern. Erste Weihnachtslieder sammelten sich in harmonisch bewegter Luft; im Hochwald fanden sich Geister der Liebe zusammen und beredeten, wie sie den Menschen des Tales Weihnachtsfreude bereiten könnten. Dort wohnte kein Dämon des Hasses. Vielmehr stand in edlen Gebetsgedanken am Fenster, in die beginnende Wintermondnacht hinausschauend, der geistige Führer jenes Hochlandes: Pfarrer Oberlin.

»Ich bringe Addy ins Steintal!« rief Viktor laut und freudig. »Nun ist es klar und sicher: dahin geht der Weg! Unser braver Oberlin hat Schützlinge genug, er wird auch für mich und dieses Kind Unterkunft schaffen. Du hast deinen Wagen mit, Hans, du wirst Addy und mich fahren. Du aber, Jacques, reitest nach Barr zurück und bringst sie in aller Heimlichkeit nach Molsheim, wo wir sie in Empfang nehmen. Und das alles ohne Zaudern, sofort morgen! Wenn ich frisch genug bin, nehm' ich einen deiner Schimmel, Hans, und reite selber mit Jacques nach Barr.«

* * *

Eulogius Schneider war am Schloßplatz zu Barr im Hause des Lohgerbers Lanz abgestiegen. Die zusammenlegbare Guillotine, die hinter ihm herzufahren pflegte, wurde aufgerichtet; die übrigen Richter wohnten im Gasthof zum Hechten; die Soldaten verteilten sich in benachbarte Quartiere.

Ein Wagner aus Dambach war der erste, der unter dem Fallbeil starb. Das Gefängnis war nebenan; um jedoch den Eindruck zu verstärken, führte man den einfachen, ärmlichen Mann, der vor Todesangst zitterte, vorher mit Trommelgeräusch durch den ganzen Ort und verlängerte so seine Todesqual. Hernach fuhr das Gericht nach Oberehnheim, köpfte dort zwei Bürger und kehrte nach Barr zurück. Gleichfalls in Oberehnheim ward ein zweiundsiebzigjähriges Mütterchen aus Mittelbergheim vorgeführt; zitternd löste sie die Haube und legte sich unter das Beil; ihr Verbrechen bestand darin, daß sie ihrem Sohne, der bei den Emigranten weilte, einen Brief geschrieben und etwas Geld geschickt hatte. Ihre erwachsene Tochter wurde mit ihr getötet. Desgleichen der Friedensrichter Doß, der sie beraten hatte, und ein andrer Bürger.

Dazwischen feierte man in Barr das Fest der Vernunft.

Bei dieser Feier schwor der dortige katholische Priester seinen Glauben ab. Nach ihm betrat Eulogius die Kanzel und kündigte den Versammelten an, daß sich jener Priester zu vermählen gedenke; möge die Jungfrau, die er wählen werde – so klang es drohend – nicht zaudern, sein Weib zu werden; mögen die Einwohner Barrs durch reichliche Brautgeschenke ihre patriotische Denkart bekunden! Dies war eine Einleitung zu seinen eigenen Hochzeitsplänen. Ihm gefiel die blühende, kräftige Sarah Stamm, eines dortigen Steuerbeamten Tochter. Doch rasselte seine Guillotine vorerst nach Epfig: dort guillotinierte man drei Bürger, darunter den Friedensrichter Kuhn. Er zog weiter nach Schlettstadt – und zwei unbedeutende alte Bäuerlein aus Scherweiler fielen unter dem Beil ...

Mitten unter diesen Blut-Orgien saßen die drei weiblichen Wesen, die dem Herzen Viktors am nächsten waren, in ihrem heiligen Hain zu Barr, am äußersten Rande des Städtchens, dort wo der Weg nach Heiligenstein durch die Reben läuft. Es war spät in der Nacht. Sie saßen eng aneinandergeschmiegt in ihrem warmen Wohngemach. Eine rosige Ampelbeleuchtung umschimmerte die trauliche Gruppe. Sie hatten mit Lesen und Arbeiten aufgehört und schwiegen nun miteinander. Die uralte Wanduhr tickte; der Wind schlich leise um das Haus. Addy saß der Pflegemutter auf dem Schoß und hatte die Arme um ihren Hals geschlungen; Leonie hatte auf dem Stuhl daneben Platz genommen, legte den linken Arm um die Schulter der Mutter und hielt mit der Rechten Addys schmale liebe Hand. Noch wirkte der Tod Alberts nach; sie waren alle in dunkler Kleidung und in trauervoller Gemütsverfassung. Und aus der feindlichen Umwelt konnte jeden Augenblick neue Gefahr hereindringen.

»Viktor zeichnet manchmal hübsch,« sagte Frau Frank, um ein wenig abzulenken. »So wie wir drei nun hier beisammen sitzen, sollte er uns zeichnen. Nicht wahr, mein Jüngstes, meine Addy?«

»Liebe Mutter,« flüsterte Addy in einer zärtlichen, aber etwas angstvoll unruhigen, weich andringenden Stimmung, »ihr verwöhnt mich, ach, aber es tut mir so wohl, mich von euch verwöhnen zu lassen, ich bin so gern geliebt. Nur diese gute Schwester Leonie kommt dabei zu kurz. Alles dreht sich immer um mich, weil ich leider krank bin. Und dabei übersieht man leicht den Wert unsrer braven Leonie, die immer so fleißig ist, immer ganz still neben mir zurücktritt. Liebe Leonie, du machst das absichtlich und meinst, ich merke das nicht, aber ich merke es wohl.«

Und Addy ließ sich vom Schoß der stattlichen Mutter heruntergleiten und umschlang plötzlich Leonie in einem jener krankhaft stürmischen Anfälle von Innigkeit, die das leidende Kind mitunter befielen. Doch ihre Liebkosungen gingen in heftiges Schluchzen über. Sie lehnte den Kopf an Leonies kräftige Schulter und weinte krampfhaft, geschüttelt von Schmerz.

Erschreckt suchte man sie zu beruhigen. Die Mutter wollte sie wieder zu sich nehmen, aber Leonie ließ sie nicht los.

»Was hast du denn, meine Addy? Bin ich vielleicht zu kalt gegen dich gewesen? Hab' ich dich irgendwie gekränkt?«

»Nein, nein, du bist immer gleich gut, du stille Leonie, bist besser als ich, bist nicht so weichlich, nicht so verzärtelt wie ich. Ach, aber du bist gesund! Leonie, du bist gesund! Du darfst leben, ihr alle dürft leben, ihr alle dürft ihn lieben und dürft geliebt werden, und ich muß sterben« – –

Das Wort »sterben« hallte laut und unsagbar wehvoll durch das nächtliche Zimmer. Das kranke Mädchen weinte fassungslos. Es war ein Anfall, wie ihn Addy nie zuvor gehabt hatte. Heute zum ersten Male schien der Ärmsten die Tatsache bewußt zu werden, daß sie dem sicheren Tode geweiht sei. Mutter Frank nahm das unglückliche Kind tröstend in die Arme und trug sie unter vielen Küssen und Koseworten in das Schlafzimmer. Bestürzt blieb Leonie am Kamin zurück.

Leonie Frank war eine unbefangen fleißige, auf Ehrfurcht und Gehorsam eingestellte Tochter und Schwester, voll von natürlicher Lebenswärme, mit herzlichen blauen Augen voll Gemüts- und Seelenkraft. Sie war immerzu im Haushalt beschäftigt, doch gleichsam geräuschlos, und behielt dabei ein aufmerksames Ohr für geistige Gespräche. In ihrer natürlichen Unschuld hatte sie über sich und Addy und das Verhältnis all dieser Menschen untereinander nicht weiter nachgedacht. Sie hatte das Rechte unbewußt getroffen; sie hatte sich neidlos zurückgehalten, damit sich alle Sorgfalt der Mutter und Viktors auf die Kranke sammeln konnte. Jetzt ward es ihr fühlbar, wie sehr sie durch das Geschenk einer kernhaften, blühenden Gesundheit bevorzugt sei vor der todgeweihten Pflegeschwester. Ihr Herz erfloß in Mitgefühl; sie klagte sich der Kälte an; neben der wortefeinen und wortewarmen Französin Adelaide schien sie gewiß oft kühl und herb, zu still und zu verschlossen. Dazu rund herum die schreckliche Zeit! Und Albert tot! Und Viktors Vater! Und Viktor selber wund! ... Und so saß auch Leonie Frank am Kaminfeuer und weinte vor sich hin.

In diesem Augenblick erklangen Hufschläge auf der nächtlichen Straße, und gleich darauf wurde die Schelle des Hoftors in Bewegung gesetzt. Leonie sprang ans Fenster: zwei Reiter hielten am Tor. Ein tödliches Entsetzen durchrieselte das junge Mädchen. Ihr erster Gedanke, wie immer bei allem Ungewöhnlichen, war der Ruf nach der Mutter. Doch die Mutter war bei Addy, und Addy durfte nicht erschreckt werden. So warf denn Leonie ein Tuch um und rannte mit verweinten Augen, bebend und beherzt zugleich, die Treppe hinunter.

Drunten lief bereits die Kutschersfrau mit der Laterne über den Hof und rief erregt: »'s isch der Jacques!«

Das Tor ging auf: und Jacques und Viktor ritten herein.

Eine ungeheure Last fiel vom Herzen der zitternden Leonie. In heftigster Erregung klammerte das große, schön gestaltete Mädchen beide Arme um den todmüden Kriegsmann, preßte das verweinte Gesicht an Viktors eingefallene Wange und rief immerzu: »Gott sei Dank, o, Gott sei Dank!« Und als er ihr Gesicht emporhob und erschrocken fragte: »Tränen, Leonie?«, riß sie sich hastig los, stürmte die Treppe hinauf und rief in einem Freudensturm: »Viktor ist da!« ...

In der nächsten Morgenfrühe, noch vor Tagesanbruch, verließ Addy nach vielen Umarmungen, gestärkt durch die Freude, mit ihrem Freund und Beschützer zusammen reisen zu dürfen, das stille, hohe Haus. Jacques führte die beiden an den Eingang des Breuschtals. Im Rebstock zu Molsheim wartete Hans von Uhrweiler; und nach einer kräftigenden Rast drang man in das Tal ein, hinweg aus den blutigen Revolutionsbezirken der elsässischen Ebene.

Hinter ihnen feierte der Mönch Eulogius seine Bluthochzeit.

Mitten in der Nacht wurde der Steuereinnehmer Stamm von zwei Richtern aus Schneiders Gefolge herausgeklopft. Die ganze Familie zog sich an und kam ins Wohnzimmer. In zwei knappen Briefen an Vater und Tochter ließ der öffentliche Ankläger um Sarahs Hand ersuchen. Das beherzte Mädchen sagte zu. Tags darauf, von den Hinrichtungen in Epfig und Schlettstadt kommend, zog der Bräutigam selber in Barr ein. Der Maire nahm die Trauung vor. In sechsspännigem Wagen, um der aufgeweichten Straßen Herr zu werden, trat die Familie samt Brautpaar, begleitet von Guillotine, Scharfrichter und dem militärischen Gefolge, die Hochzeitsfahrt nach Straßburg an. Unterwegs gesellte sich die berittene Nationalgarde von Barr zu dem bereits bemerkenswerten Zuge; die übermütigen Burschen gedachten den Hochzeiter zu ehren und ihre patriotische Gesinnung zu bekunden, aber sie trugen zu seinem Verderben bei. Denn in großem, allzu großem Gepränge, mit gezogenem Säbel und geschwungener Fahne, rollte der Troß an der präsentierenden Torwache vorbei in Straßburgs Mauern ein.

Der Volksrepräsentant Saint-Just stand am Fenster und sah aus unmittelbarer Nähe mit an, wie der kotbespritzte Hochzeitswagen rasselnd und lärmend die Blauwolkengasse herunterfuhr und inmitten einer Menschenmenge vor dem Hause Halt machte. Das Haus des Repräsentanten – der damalige Tribunalpalast – und des öffentlichen Anklägers Haus lagen sich verhängnisvoll gegenüber. Dieser unrepublikanische Aufzug, eines Königs würdig, aber die spartanische Strenge des Saint-Justschen Staatsideals gröblich verletzend, bot sich als ausgezeichneter Anlaß dar, den längst verdächtigen »capucin de Cologne« einzustecken.

»Will uns der Deutsche da verhöhnen? Will er uns seine Machtstellung recht pompös vor Augen führen? Oho, er irrt sich, dieser kosmopolitische Hanswurst! Dieses Schneiderlein flickt an kleinen Leuten herum und wagt sich nicht an die Großen heran – voyons, wir werden ihn lehren!«

Sofort diktierte der Repräsentant eines seiner straffen Dekrete.

»Die zur Rhein- und Moselarmee außerordentlich abgesandten Repräsentanten des Volkes, unterrichtet, daß Schneider, Ankläger beim Revolutionsgericht, vormals Priester und geborener Untertan des Kaisers, heute in Straßburg mit einer übermäßigen Pracht eingefahren, von sechs Pferden gezogen, von Gardisten mit bloßen Säbeln umgeben – beschließen, daß gedachter Schneider morgen, von zehn Uhr des Morgens bis zwei Uhr nachmittags, auf dem Schafott der Guillotine dem Volke zur Schau ausgestellt werden soll, um die den Sitten der entstehenden Republik angetane Schmach abzubüßen, und soll alsdann von Brigade zu Brigade zu dem Komitee des öffentlichen Wohls der Nationalkonvention geführt werden. Dem Kommandanten der Festung ist die Vollziehung dieses Schlusses aufgetragen.«

Nachts um zwei Uhr drang der Stadtkommandant Dièche mit seinen Soldaten in Schneiders Haus ein. Der öffentliche Ankläger hatte bis Mitternacht seine Gäste bewirtet; er wurde gepackt, von der jammernden Schwester und der ohnmächtigen jungen Frau hinweggerissen und nach dem Gefängnis an den gedeckten Brücken gebracht, dort wo Breusch und Ill, an finstren und hohen Türmen vorüber, ihre vereinigten Gewässer in die Stadt einwälzen. Am andren Vormittag führte man den ungewöhnlichen Gefangenen unter starkem Zusammenlauf des Volkes auf den Paradeplatz und auf das Gestell der Guillotine. Mit forscher Dreistigkeit betrat der redegewandte Priester und Professor von ehedem das Gerüst; unstete Blicke der roten Flammenaugen durchirrten die Menge; er trug einen Mantel, darunter die Uniform der Nationalgarde und darüber die jakobinische Pelzmütze. »Uniform herunter!« schrie es aus der Menge. »Ich bin noch nicht gerichtet!« schrie Schneider zurück. Aber die wilden Rufe »Uniform herunter!« häuften sich so drohend, daß er zornig Mantel und Uniform abwarf. Und in Hemdärmeln wurde nun der todbleiche Mann an den Pfahl der Guillotine gebunden.

Er stand dort vier Stunden, Beschimpfungen und Wurfgeschossen ausgesetzt. Die Menge staunte, wogte, summte um ihn her. Endlich um zwei Uhr fuhr an der nahen Hauptwache ein geschlossener Wagen vor. Schneider ward hineingetan, an den Füßen gefesselt und unter Bedeckung davongeführt nach Paris – in dasselbe Abtei-Gefängnis, wo noch immer sein Gegner Dietrich saß.

* * *

Viktor aber fuhr mit Addy vom Grenzland ins Hochland.

Im Tal waren die Wege mühsam; von den Bergen herab grüßte glänzender Neuschnee. Als der Wagen in Fouday über die Brücke rollte, einkehrend in das Land reiner und natürlicher Menschlichkeit, vernahmen sie von einem vorübergehenden Bauern, daß Pfarrer Oberlin in einer benachbarten Hütte weile. Sogleich sprang Viktor vom Wagen und trat ein. Und bald kam er heitren Angesichtes wieder heraus, und mit ihm der gute Vater Oberlin, der die leichte Addy vom Wagen hob, auf beide Wangen küßte und mit seiner festen, herzlichen Stimme rief: »Willkommen im Steintal!«

Ende des zweiten Buches.


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