Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Fünftes Kapitel

Die Jakobiner

Dämonen durchstreiften das Land und suchten ihre Opfer: Köpfe, die sie verwirren oder abhacken konnten, Herzen, die sich dem Haß oder der Furcht zugänglich erwiesen. Wo Dämonen an der Arbeit sind, haben Engel keine Stätte. Die Geister der Liebe warten, bis die düsterflammende Kraft jener Zerstörer verbraucht ist; dann treten sie in einem wunderbar milden, neuartigen Lichte hervor und richten auf, was noch der Aufrichtung zu harren fähig ist, und dienen den Menschen, die in der Prüfung standgehalten haben.

Vater Hartmann wanderte durch das Steintor in die ernste Herbstlandschaft, um auf dem Friedhof das Grab seiner Gattin zu besuchen. Er trug einen Kranz am Arm, den er selber in seinem Ruprechtsauer Garten geflochten und mit Blumen durchwoben hatte. In der schweren müden Luft standen im Westen, unter dem bleichen Himmelsgrau, die ausdruckslos verschwimmenden Berge. Der Alte dachte an die drei weiblichen Wesen drüben am Gebirge und dachte an seinen fernen Sohn.

Wenn Papa Hartmann tagsüber in seinem Garten saß, zog er mitunter die Psalmen, das Neue Testament oder Thomas a Kempis, »Die Nachfolge Christi«, aus der Tasche und las wohl auch einmal ein kernhaft Gesangbuchslied. Seine Frau hatte ihn hierin beeinflußt; sie war dem Pfarrer Lorenz in der Jung St. Peterkirche zugetan gewesen und hatte den Herrnhutern und dem Pietismus Einflüsse zu verdanken. So hatte sich seine Liebe zur Natur vermischt mit der Liebe zum Garten Gottes. Dies vollzog sich bei ihm in der Stille. Abends beim Stammschoppen war der aufgeweckte Mann wieder der helläugige Diesseitsbürger. Nicht viele kannten seine Innenwelt.

Er hatte am heutigen Todes-Gedenktage seiner Gattin den neunzigsten Psalm gelesen. Und ahnungsvoll klangen ihm die Worte nach:

»Ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

»Der du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

»Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache« ...

Vater Hartmann hatte seine weiche Stunde. Er fühlte sich sehr allein. Und er schalt sich selber ob dieser Gemütstrauer; denn dieser Charakterkopf pflegte seinem persönlichen Schicksal kühl und sachlich gegenüberzustehen. Er entdeckte denn auch bald, daß es das Schicksal der Zeit sein mochte, was so drückend über ihm lag. Und in dies Schicksal der Zeit sah er nun auch den Sohn versponnen.

Denn Viktor war auf dem Schlachtfeld. Viktor war in die Wirbel des französischen Kriegsfeuers mitfortgerissen, wie einst in die Wirbel der französischen Marquise.

Eines Tages hatte der junge Elsässer, der seine Entschlüsse im Innern zur Reife brachte und dann entschlossen hervortrat, seinen Vater zwiefach überrascht. Er trat, von der Akademie zurückkommend, im Feiertagsgewand in die Stube, bleich, abgearbeitet und stolz, und rief: »So, Papa! Fertig!« – »Womit?« – »Mit dem Examen! Kannst mich Doktor und Magister nennen; ich hab' Anatomie genug, ich darf Botanik und Naturlehre unterrichten, beherrsche Französisch, Englisch, Deutsch, habe weder Latein oder Griechisch noch Philosophie, Theologie oder Geschichte vergessen – und kann nun junge Menschen formen nach Herzenslust!« Der Alte hatte es geahnt, war aber doch auf das angenehmste verblüfft. Sie besprachen dies bedeutende Ereignis mit aufgeregter Freude. Und plötzlich sprang der Sohn, dessen Nerven noch in hoher Spannung waren, mit der zweiten Überraschung heraus: »Und jetzt, Papa, werd' ich Soldat!«

Das gab eine harte Stunde. In jenen Zeiten wurden zwar, vom Jüngling bis zum Greis, alle Männer zum städtischen Waffendienst herangezogen; aber ein Zwang zum feldmäßigen Kriegsdienst bestand noch nicht. Bürger Hartmann hatte in Geldbeiträgen Erkleckliches geleistet; er wollte nicht auch noch den einzigen Sohn opfern. Doch Viktor war des Papieres ebenso satt wie der erbitternden politischen Zustände; und in Addys weichflutender Liebe auszuruhen, schien ihm unmännlich und für das Kind bedenklich. Hier mußte zeitweilige Trennung stattfinden. Er war dort nicht notwendig; Frau Frank war stark genug. Doch im Felde – da konnte man dem Ganzen dienen, da konnte man sich heroische Pflichten aufpacken. »Frühinsholz hat mir geschrieben und ebenso Albert. Die Hochschulen leeren sich, die Lehrer tragen den Waffenrock oder können nicht mehr bezahlt werden. Soll ich nun bei den Frauen in Barr Mirabellen pflücken und Nüsse schlagen? Soll ich auf den Wällen die Störche zählen? Du erwartest das nicht, Papa. Ist die Gefahr an den Grenzen überwunden, so kommt um so rascher Ordnung ins Land!« Dem allem war schwer zu widersprechen. Der alte Mann hielt seufzend inne, schnupfte und sprach endlich langsam und mit gleichsam belegter Stimme: »Du hast recht, aber ich habe nur dich auf der Welt. Dort in der Schublade liegen alle deine Briefe und deine Spielsachen von Kindheit an, schön in Päckchen geordnet und mit Aufschrift. Ich muß gestehen, Viktor: es fällt mir ein wenig schwer.« Die drei letzten Worte – er sagte nur: »ein wenig schwer« – mit der hindurchzitternden Gemütsbewegung fielen dem Jungen mehr aufs Herz als die ganze vorausgehende Zwiesprache. «Doch mit zarter Festigkeit setzte Viktor die Erörterung fort und riß endlich den Vater in seine Kampfstimmung mit; er verabschiedete sich in herzlichen und zuversichtlichen Briefen vom heiligen Hain zu Barr, besonders von Addy – und umarmte wenige Tage danach stürmisch den hageren und abgeschabten, doch frohgemuten Albert Frank.

In Straßburg selbst bildete sich noch im Laufe des Jahres ein neues Freiwilligenkorps aus guten Bürgersöhnen; die Bataillon marschierte nach Fort Louis in der Sesenheimer Gegend, um später nach dem Fall der Feste von den Österreichern gefangen in die Ferne geschleppt zu werden. Auch einer der Zwillinge entschwand um diese Zeit endgültig. Das Ehepaar Hitzinger aber schob den Möbelkarren nach der Weißturmstraße. Und unten im Hartmannschen Hause verkaufte fortan Witwe Kraus mit ihren Töchtern Obst und Gemüse. ...

Indes der stille, alte Herr seines Weges schritt, ward er eines Staubgewölkes ansichtig, das von fern auf der Landstraße heranzog. Im Begriff, nach dem Helenen-Friedhof abzubiegen, blieb er stehen und beobachtete das herankommende Getöse.

Einige bewaffnete Reiter eröffneten und beschlossen den Zug. Auf einem kleinen Wagen saß hinter dem Fuhrmann und einem jungen Menschen, der ein Schreiber sein mochte, ein einzelner Mann im Rock der Nationalgarde, zwei Pistolen in der dreifarbigen Gürtelschärpe, auf dem Haupt eine rote, mit Pelz verbrämte Jakobinermütze, den Kavalleriesäbel vor sich auf den Knien. Der Mann war kurz und stämmig, feist und fest. Buschige rote Augen flammten aus dem blatternarbigen Gesicht; um den sinnlichen, schnurrbärtigen Mund lagerte ein herausfordernd ironisches Lächeln. Hinter seinem Gefährt rasselte ein Leiterwagen; dort saßen, zu je zweien, gebundene Bauern: trübselige Gefangene, die jener Mann nach Straßburg brachte.

Es war der ehemalige Mönch und Professor, nachmalige bischöfliche Vikar und jetzige öffentliche Ankläger, Eulogius Schneider.

Gassenjungen aus den Vororten und verworfenes Volk schwärmten um den Leiterwagen her und sangen den Marseiller Marsch; vorübergehende Bürger blieben stehen; und in einiger Entfernung folgten, matt vom langen Laufen, mit verweinten Augen und verstörten Gesichtern, Angehörige der gefangenen Familienväter, besonders ein immer noch stoßweis herausheulendes junges Weib, um den Kopf das Bauernhalstuch, den Schürzenzipfel an die Augen pressend vor Scham und Herzeleid. Sie war vom Waschtrog weg im Hauskleid den weiten Weg mitgelaufen, um zu sehen, was mit ihrem Manne geschehen würde. Wo der Mönch Eulogius zog, blieben Tränen zurück und Blut.

Das Flammenauge des accusateur public, der eher barock als bedeutend wirkte, hatte den einfachen alten Herrn erspäht, der, mit seinem stillen Totenkranz am Arm, einen seltsamen Gegensatz bildete zu diesem lärmenden Aufzug.

»Bürger Hartmann, was machen deine Assignaten?«

Scharf klang es herüber. Der Gärtner hatte sich in seiner innerlichen Welt abgeschieden gefühlt von diesem wüsten Treiben und fuhr zusammen, als von diesen Lippen sein Name fiel. Er stellte sich in Positur und schob die Unterlippe vor, als gälte es einen Angriff abzuwehren. Aber der joviale Staatsanwalt lachte nur verfänglich und drohte mit dem Zeigefinger herüber. Und schon war der Zug ins Steintor eingebogen.

»Will er mich schröpfen?« dachte Bürger Hartmann. »Hab' ich nicht einen Sohn im Feld und der Republik alles entbehrliche Geld geschenkt? Sollt' er's riskieren und mich nichtsdestoweniger einen schlechten Patrioten nennen? ... Männel, Männel, paß dü uff dich selber uff! ... Alles an diesem Heillosius ist frech und rund, Kopf, Brustbau, Hände, Vorder- und Hinterbacken!«

Die derbe Stimmung rückte wieder an.

So ging Papa Hartmann in die Totenstadt, hängte seinen Kranz über das Steinkreuz seiner Liesel, neben der noch zwei früh gestorbene Kinder begraben waren, und setzte sich auf das Bänkchen, das am Fußende stand. Düstren Mutes saß er und schaute mit gefalteten Händen bald auf den nahen Grabstein unter dem Akazienbäumchen, bald auf jenes andere Kreuz, das fern und klein auf der Münsterturmspitze in der farblosen Luft stand.

»Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,« murmelte der Greis, »und sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird; das da frühe blühet und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret. ... Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre; und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. ... Siebzig Jahre?... Ich bin auch mit fünfundsechzig zufrieden.«

* * *

In den nächtlichen Gassen der Stadt Straßburg staut sich ein fester und finsterer Nebel. Die spärlichen Laternen sind machtlos gegen die fahle Finsternis. Mit Handlaternen huscht hier und dort ein Bürger über die Gasse; hohl schallt mitunter ein Husten durch die feuchte Nachtluft an den Häuserwänden empor. Die Masse des Münsters ist nicht zu sehen, nur zu spüren. Selbst die Glocken scheinen ihre Klangkraft verloren zu haben; und es mag wohl die Befürchtung aufsteigen, daß die tote Stadt – wie mancher Kirchturm im Elsaß – der Glocken beraubt sei, damit sich deren Metall in der Stückgießerei in Kanonen verwandle.

Die Wohnung des öffentlichen Anklägers lag in der Blauwolkengasse, an der Ecke des Jung St. Peter-Plätzchens. In einem Zimmer brannten Kerzen, um etwas wie festliche Beleuchtung herzustellen für die Männer, die soeben gespeist hatten und nun ihre Tonpfeifen in Brand setzten. Der lastende Nebel von draußen schien auch die Stubenluft zu verdichten; im aufwirbelnden Tabaksqualm wirkten die Revolutionsmänner gespensterhaft. Ihre vielfältigen Schatten, von den Flämmchen der Kerzen zurückgeworfen, tanzten an den Wänden einen unrhythmischen Totentanz. Und so waren auch ihre Gespräche auf Blut und Tod gestimmt und ihre Einfälle ohne Harmonie und Rhythmus.

Man sprach anfangs über die gefährliche Kriegslage. Diese Männer wußten deutlich, woran sie waren; sie hatten jede Nacht ihre Pistolen schußgerecht neben dem Bett liegen und hätten sich bei siegreichem Vordringen der Österreicher selber entleibt, um nicht von den Feinden gerädert zu werden. Und nicht minder umdroht waren sie im Innern. Denn dumpfer Groll erfüllte die Straßburger, die man ihrer alteingesessenen, erprobten Führer beraubt hatte und durch hergelaufene Abenteurer auf das bitterste drangsalieren ließ. Die zwölf Bürgersektionen setzten den Kampf fort, in dem altstraßburgische Aristokratie, vertreten durch Dietrich und Türckheim, erlegen war. Und besonders haßte man Eulogius Schneider.

Das verworrene Gespräch der rauchenden und trinkenden Revolutionäre sprang auf Dietrich über. Monet, der junge Savoyarde, der jetzt Maire der alten Reichsstadt war, spähte mit listigen kleinen Augen zu Schneider hinüber, der heißblütig den Rock abgeworfen hatte und rittlings auf einem Stuhl saß; und er warf die spöttische Bemerkung hin: man munkle, Eulogius habe der hübschen Frau Dietrich den Hof gemacht und einen Korb erhalten.

»Er gefällt mir, unser Maire, wenn er Spaß macht,« versetzte Schneider, die Arme auf der Stuhllehne und seinen Pfeifenkopf beobachtend. Seine Augen funkelten rot und scharf. Doch sein Pockengesicht zuckte nur wenig; er paffte mit einem gewissen Ingrimm – und es schien, als ob sich das Temperament des sinnlichen Mannes durch das enge Pfeifenrohr dampfend einen Ausweg suche. »Dann wäre wohl Neid auf Dietrich der Schlüssel zu meiner revolutionären Gesinnung, heh? Nicht schlecht!«

»Hast du nicht als Mönch und Professor anakreontische Lieder gedichtet auf hübsche Mädchen?« rief einer aus dem Hintergrunde.

»Womit du sagen willst, daß mich vielleicht unterdrückte Sinnlichkeit zum Revolutionär gemacht hat?« rief Schneider zurück. »Auch nicht übel! ... Ich will euch etwas sagen: wer meinen revolutionären Zorn verstehen will, der betrachte die stupiden und genußsüchtigen Luxushöfe zu Köln und Bonn und schon zu Stuttgart. Je älter der Adel, um so dümmer der Schädel! Der Hochmut wetteifert dort mit der Dummheit, und die Unzucht ist allen beiden kongenial. Ich habe zu Bonn vom Katheder herunter die Revolution verherrlicht. Und als mich hier eine dieser Damen in einem Dietrichschen Zirkel verwundert fragte: ›Es ist Ihnen also Ernst mit Ihren revolutionären Ideen? Aber dergleichen druckt man doch nur!‹ – hab' ich dem Dämchen geantwortet: ›Verflucht ernst, Madame! Ich gedenke für mein Revolutionsideal zu leben und, wenn es sein soll, zu sterben!‹ ... Und feig, denk' ich, hat mich noch keiner genannt.«

Es war nur ein flüchtig Vibrieren, ein kaum wahrnehmbares elektrisches Jucken, was zwischen dem Savoyarden und dem mainfränkischen Winzersohn hin und her flog. Doch es genügte. Etwas in ihnen, feiner als das Bewußtsein, wußte, daß sie nicht aufeinander gestimmt waren.

Und das Gespräch summte weiter. Der Exmönch, trotz aller Bildung und Belesenheit von einem fleischlichen Temperament, geriet leicht in ein jovial übermütig Wesen und herrschte gern beim Bankett wie im Klub. Es wölkte sich wie ein Dampf um das ungesammelte, versprühende Lebensfeuer des oft zynischen Mannes, dessen ehrlicher Republikanismus ebensowenig zu bezweifeln war wie sein Mut und seine sanguinische Eitelkeit.

»Daß sie den Verräter Dietrich nicht gleich zu Besançon vom Zahnweh kuriert haben,« fuhr er fort, »verdankt er seinen eleganten Phrasen, seiner schönen Geste. Ein Blender! Typus der hierzulande reich gewordenen Rasse! Immer Er selber im Mittelpunkt, Er, der Sultan von Straßburg! Und nette Weiber, die ihn vergöttern, gerührte Matronen, gefütterte Waisenkinder, Ergebenheitsadressen, Denkmünzen, Bürgerkronen – und edle Pose, mit der er theatralisch alle seine Verdienste ablehnt! Im Grund ein Schwächling, vielleicht ganz gutmütiger Art, ohne republikanisches Rückgrat! Wer ihm schmeichelte, der hatte ihn. Er paßt zu dem Theaterhelden Lafayette. Diese ganze fettgemästete Sippschaft der Reichen hier in Straßburg spielte mit der Revolution; wir machen Ernst damit. Dieser Schönredner war Lyriker: wir Demokraten sind Dramatiker – und zwar der Tragödie fünfter Akt mit wirklichem Blut! Ich kenne die lyrische Feigheit, ich habe die neun schönsten Jahre meines Lebens in einem finstern Kloster verbracht und anakreontisch den Musen unters Kinn gegriffen; aber ich brauche jetzt derbere Kost. Vive la république

Der kurze, stämmige Mann hob das Glas mit dem funkelnden Rotwein. Und die Freunde, immer bereit, sich zu erhitzen und zu betäuben, stießen ermunternd im Chor mit an: » Allez, c'est cela, la république, la sainte montagne

Clavel, ehemals Vergolder und Bilderhändler, jetzt Richter, schrie herüber, daß man in Paris diesen verfluchten Feuillant und Verräter Dietrich nicht entschlüpfen lasse.

»Teterel schreibt von dort: ›ich bring' ihn eigenhändig um, wenn sie ihn laufen lassen‹!«

Dietrich war in Besançon freigesprochen worden. In glänzender Rede hatte er sich der Richter und der zahllosen Zeugen noch einmal erwehrt. Aber der öffentliche Ankläger hatte dekretiert: des Verrats ist er frei, nicht aber als Emigrant; er ist nach Paris zu überführen!

»Und an dem Tage,« warf ein anderer ein, der im Hintergrunde auf einem Diwan lag, »an dem in Paris Dietrichs Kopf fällt, arrangieren wir hier wieder einen Ball – wie am Charfreitag!«

Die Baßstimmen lachten im Chor. Und Eulogius rief: »Oho! Auf daß wir wieder eine Kapuzinerpredigt heraufbeschwören wie damals? Um Gotteswillen – das heißt, wenn Sie noch an einen Gott glauben! Haben Sie doch zum öffentlichen Beweis vom Gegenteil einen Ball gegeben am Charfreitag und drei arme Unschuldige am heiligen Ostersonntag geköpft! Um Gotteswillen, seid doch gescheit!« Der ehemalige Mönch karikierte dies Zitat aus einem Briefe, wobei er besonders das »um Gotteswillen« zu komischer Wirkung brachte. »Dem erbaulichen Stil nach kann der anonyme Briefschreiber ein hiesiger Bürger aus der Langstraße sein, den ich längst als Dietrichianer und Assignatenverächter in meinem Notizbuch liebend vermerkt habe und mir nächstens einmal heranwinken werde. Das Männchen saß früher im Jakobinerklub, ist aber vor moralischer Entrüstung aufgesprungen, weil ihm mein Gedicht auf den Maire Simoneau auf die Nerven fiel. Haha, mein Gedicht hat gesessen!«

Monet lachte nicht mit. Ihn störte nicht der Hohn an sich; er stand der Kirche innerlich ebenso fern wie sein Vater, der in Zabern mit Kirchengewändern Handel trieb. Doch Schneiders Bauernhumor war nicht seine Art. Schon tauchte in den Kreisen der geborenen Franzosen, die in dieser jakobinisch regierten Stadt herrschten, gelegentlich die Wendung gegen Eulogius auf: » ce capucin de Cologne«, dieser Kölner Kapuziner! War er ihnen zu derb? War er ihnen zu mittelalterlich-deutsch und offen? War er ihnen zu mächtig? Oder mißtraute man dem ehemaligen Kuttenträger, weil die Sprache der unfreien Preußen und Österreicher seine Muttersprache war?

Das ziellose Gespräch flackerte weiter. Der massive und ehrliche Schuhflicker Jung, jetzt Munizipalbeamter, hielt dafür, daß die Guillotine, die mit drohend hochgezogenem Fallbeil auf dem Paradeplatz stand, eine pädagogische Notwendigkeit sei. »Denn der revolutionäre Gedanke ist noch nicht durchgedrungen hier in Straßburg. Wir haben zur Ersparung des Mehls den Puder abgeschafft; es soll sich auch auf das Gesetz kein Puderstaub legen! Wir müssen die Straßburger Geldmacher und Aristokraten zur Höhe des republikanischen Ideals hinaufprügeln, sonst –«

»Verprügeln sie uns!« rief schlagfertig der sonst etwas indolente Taffin, ehemals bischöflicher Vikar, jetzt Gerichtspräsident. Und Jung schalt zornig in das abermals anschwellende Gelächter. Er war trotz Gemeinderatsschärpe in einer Klubsitzung verprügelt worden und ein andermal knapp einem Säbelhieb entgangen.

»Ihr kennt die elsässischen Dickköpfe noch lange nicht!« schrie er in die rauchende, zechende und lachende Bande. »Ihr seid zu kurze Zeit im Elsaß! Zu Molsheim habt ihr ein riesengroßes Komplott gewittert – ach was, Komplott! Der Elsässer jäscht, schimpft und händelt, wenn er eins im Dach hat – aber dann geht er wieder querköpfig und eigensinnig seinem Handwerk nach und läßt Republik Republik sein. Dem ist's Wurst, ob Republik oder Monarchie, wenn er nur brav Geld verdient und sein Schöppel in Ruh' trinken kann. Aber eine elsässische Rebellion und Vendée? Dumm!«

»Du widersprichst dir ja, Bürger Jung!« rief Schneider seinem Freunde zu. »Bald verteidigst du deine Landsleute, bald schiltst du teufelsmäßiger als wir alle. Was hat denn die revolutionäre Idee damit zu tun, ob wir andern hier in eurem Winkel geboren sind oder nicht? Die meisten Straßburger sind österreichischer gesinnt als die Bewohner Wiens, das steht fest. Haufenweise wandern sie im unteren Elsaß aus. Und neulich beim Umzug, als du, Edelmann und ich vor der Köpfmaschine herritten – wie viel Zustimmung habt ihr denn wohl auf den Gesichtern abgelesen? Das guckte sich unwirsch um, als wollten sie sagen: ›was sind denn das jetzt wieder für Plän?‹ Und als wir auf der Finkmatte Marats Gedächtnis feierten und reihenweise die Carmagnole um den Freiheitsbaum tanzten – wo blieben denn da die vornehmen Damen und Herren, die sonst zu Dietrichs pompösen Festen geströmt sind? Und auf dem Paradeplatz, als wir die sieben Bataillone der Nationalgarde nebst Reiterei und Artillerie versammelt hatten – haben Monet und ich etwa schlechter gesprochen als ehedem Dietrich? Und unter Dietrich meldeten sich Hunderte von Freiwilligen, bei uns aber ganze zweiundzwanzig! Pfui Teufel, und wer hat mir denn die Guillotine zerschlagen und nachts mit Spektakel vor mein Haus geführt und am Tor gelärmt und des öffentlichen Anklägers Kopf verlangt? Es ist mir verdrießlich, die Straßburger Luft zu atmen. Das sind hier Menschen, die durch lange Privilegien und aufgehäufte Reichtümer und liederliches Genußleben für das republikanische Ideal verdorben sind!«

»Sei gerecht, zum Donnerwetter!« schrie da der ältere der Brüder Edelmann, der etwas stotterte, und die Brillengläser des Komponisten funkelten wie seine ehrlich ergrimmten Augen. »Wir Republikaner sind auch – sind auch Straßburger! Mein Bruder und ich sammeln – sammeln unermüdlich für die Armee. Und Straßburg hat Geld, Effekten und Truppen so gut gegeben wie – wie irgend eine andere Stadt. Andre Volksrepräsentanten loben – loben den aufopfernden Dienst unserer Nationalgarde – was Teufels sollen uns diese Beschimpfungen und – und unschickliche Reden? Ich ehre die Wahrheit, aber man sage sie mit Würde! Sind etwa in Lyon, Nantes, Marseille – sind etwa in Toulon keine Verräter?!«

»Die Munizipalität wird schon« – – er wollte »wachsam sein« hinzufügen, der Maire Monet; jedoch Eulogius war in Hitze, seine roten Augen glühten, er fiel dem Chef des Gemeinderats fast mit Wut ins Wort:

»Ach was, die Munizipalität! Die zerhackte Guillotine – hast du sie mir nicht bis an den hellen Tag hier liegen lassen, Bürger Maire?! Und wäre Jung nicht gekommen und hätte sie weggeräumt – sie läge heute noch hier! Die Munizipalität? In Zabern hat einer gesungen: ›Es lebe die Munizipalität, die hinten und vorn nichts versteht!‹ Und eine Frau hab' ich eingesteckt, weil sie zu sagen wagte: ›nachdem der Maire Dietrich den Karren aus dem Dreck gefahren, kann jetzt jeder Lausbub Maire sein!‹«

Das war deutlich. Der junge, ehrgeizige Mann, den man über Nacht zum Bürgermeister einer alten Reichsstadt ernannt hatte, zuckte empfindlich zusammen. Er fühlte, daß ihn der Schatten seines bedeutenden Vorgängers erdrückte; er hielt sich scheu und intrigant im Hintergrunde; Schneider durchschaute seinen Mann und hatte Monets verletzbare Stelle getroffen.

Der arglistige Savoyarde mit dem rundlichen Mädchengesicht und den runden, scharfen Äuglein war schlau genug, sich nichts merken zu lassen. Er rauchte und hüllte sich und seine letzten Gedanken in ein Gewölk. Später erst, als das Gespräch ins Harmlose weitergerollt war, begann er ganz sachte, gleichsam zur Probe, zwischen den Zähnen nur, einen furchtbaren Plan anzudeuten, der ihm selber noch dunkel war, und den später erst andre Fanatiker scharf und unverworren herauszusprechen wagten. Von Massenvernichtungen murmelte er, die man auch in Straßburg anwenden müsse – – Es war jener Herbst, da man in Nantes ganze Schiffe voll Rebellen ersäufte und im verwüsteten Lyon durch Blut stampfte – –

Ein gestaltlos unbestimmtes Grauen ging durch die Stube, besonders durch die geborenen Straßburger. In seiner Sonderung, wieder dem Bewußtsein kaum bemerkbar, schoben sich zwei bis drei Gruppen auseinander, die sich untereinander trotz aller Einheit der Schlagworte als etwas Fremdes betrachteten: Elsässer, Franzosen und deutsche Eingewanderte. Weder die Elsässer noch die Deutschen waren geneigt, Monets Andeutungen aufzunehmen und gesprächsweise weiter zu verarbeiten. Es lag einen Augenblick ein dumpfes Schweigen über der Versammlung. Man stellte sich, als hätte man nicht verstanden. Und aus dem Rauchgewölk bildete sich ein unförmlicher Drache; und der Drache hing hämisch über den verstummten Gästen und zählte die Köpfe derer, die hier noch zu fällen waren: Schneider, Jung, die Brüder Edelmann ...

Dann warf Monet den Mantel um, steckte seine Pistolen ein und verabschiedete sich; mit ihm seine Freunde, denen die übrigen bald folgten. Die Lichtflämmchen zuckten bei der Luftbewegung; die Schatten an den Wänden tanzten toller; und Schneider sah sich im rauchigen Zimmer zwischen leeren Gläsern sich selber überlassen. Wie ein Geist trat seine hohe und düstre Schwester ein, neigte den dunklen Lockenkopf mit dem roten Bande und blies schweigend eine Kerze nach der andren aus, bis auf eine. Sie dachte im stillen, daß alle diese Revolutionsmänner, die nun in den Nebel entschwunden waren, vom Odem der Zeit ausgepustet würden wie diese Lichter. Nur ihr Bruder, wähnte sie, würde alle andren überleben, wie diese letzte Kerze, die sie für ihn brennen ließ.

»Vor diesem savoyischen Mausfallenhändler muß ich mich hüten, Marianne«, sprach Schneider, stämmig und erhitzt in Hemdärmeln und Stulpenstiefeln im Zimmer auf und ab schreitend. »Ich lade mir an meiner ausgesetzten Stelle den Haß des gemeinen Volkes zu und mache mich bei den Straßburger Aristokraten, Assignatenverächtern und Wucherschelmen, die das gesetzliche Maximum übertreten, verhaßt genug. Diese da bleiben im Hintergrund und lassen mich's ausfressen. Weißt du das Neueste? Es werden wieder zwei Volksrepräsentanten mit außerordentlichen Vollmachten vom Konvent gesandt werden, einer davon der eisige Saint-Just, Busenfreund Robespierres. Na, willkommen! Auch mit euch wird im ›Argos‹ deutsch geredet, wie mit euren Vorgängern, wenn's euch hier nach Despotismus juckt!«

Die Schwester war nach einigem murrenden Schelten über das ganze Treiben davongegangen.

Eulogius war allein.

Es war eine Stunde, die zur Einschau herausforderte, eine Stunde zwiefacher Stille nach verklungenem Lärm. Auch hatte der Mönch von ehedem in der Tat eine sekundenlange Vision: war diese große, leere Stube nicht das mitternächtige Refektorium eines Klosters? Die Brüder waren in ihre Zellen gegangen; der Abt wandelte noch betend im Kreuzgang; Nachklänge der Gespräche rauchten noch die Stubendecke entlang. Es wuchsen manche fromme Stätten der Urbarmachung und Vergeistigung am Wasgenwald: von Neuweiler oder Maursmünster mit ihren herrlichen Kirchen bis hinauf nach Pairis und Murbach. Doch es war nur eine Sekunde. In Schneiders sinnlichem und im Grunde nüchternem Temperament, das sich in Reimen und Reden ergoß, hatte wahre Poesie keine Bleibekraft. Er hatte die Fühlung mit den Melodien der Seele ebenso verloren wie die Fühlung mit den Feinheiten und den heimlichen Stimmen der Natur und der Sprache. Der haltlos dahintreibende Mann brauchte Lärm und Umwelt, Widerspruch und Betäubungen. Auf dem Tische lag kein Brevier, sondern eine doppelläufige Pistole; an der Wand hingen zwei gekreuzte Säbel, kein Kreuz. Und die Klöster im verödeten Frankreich standen verwüstet und seelenlos.

So setzte sich denn der Politiker an seinen Schreibtisch und verfaßte, noch dampfend von Wein, Rauch und Gesprächshitze, einen Kampfartikel für sein republikanisch Blättchen »Argos«, das am Alten Fischmarkt erschien – in der Nähe des Hauses, das einst den sonnigen Dichterjüngling Goethe beherbergt hatte. Monet aber, mit seinen Begleitern durch den nächtlichen Nebel nach dem Stelzengäßchen heimstapfend, erwog in seinem Herzen, daß es günstig und geraten wäre, insgeheim dem kommenden Saint-Just nach Zabern entgegenzureisen und sich beizeiten mit dem mächtigen Volksrepräsentanten anzufreunden.

* * *

Die Weißenburger Linien, diese Verschanzungen vom Hardtgebirge bis zum Rhein, waren auf das äußerste bedroht. Man hatte versucht, mit einem der großartigen, aber in ihren Wirkungen so minderwertigen Gewaltmittel jener Zeit die ganze Bevölkerung gegen den Feind aufzurufen. Drei Tage läuteten in allen Ortschaften des Elsasses die Sturmglocken. Die Bauern und Bürger strömten mit Piken, Heugabeln, Sensen und Äxten ihren Sammelorten zu und wälzten sich mit ihren Proviantwagen nordwärts, angeführt von Bürgermeistern oder Gemeinderäten in dreifarbigen Schärpen. Dort lagerten sie, in ungeordneten und kaum zu ordnenden Massen und Klumpen; und die viertausend Sundgauer schimpften mit dem General herum, warum er sie nicht sofort gegen den Feind führe und der Sache ein Ende mache, sie müßten heim, die Ernte warte. Solche Truppen gegen die Flinten und Kanonen eines geübten Feindes führen? Es wäre Massenmord gewesen. So verkrümelte sich denn ein Haufe nach dem andren; die Laubhütten, die sie sich erbaut hatten, leerten sich; und die Liniensoldaten waren froh, diese Schwärme von Bauern mit ihrem kräftigen Appetit los zu sein. Bald war alles wieder nach Hause hinweggeschmolzen. Das Massenaufgebot war gescheitert.

Mehr Erfolg hatte man mit einem dreitägigen Bombardement auf Kehl; man schoß es in Grund und Boden, um die Österreicher zu verhindern, dort Fuß zu fassen. Aber die Entscheidung lag an den Weißenburger Linien ...

Um jene Zeit saß Vater Hartmann in der Dämmerung am Fenster und las einen Brief seines Sohnes. Das Haus war ruhig; Frau Frank weilte noch in Barr; Tante Lina war ausgegangen.

»Wir zehren uns auf«, schrieb Viktor, »in erbitterten Kleinkämpfen. Wir verlassen abends, was wir am Morgen eingenommen haben. Was wird aus Landau werden? Schick mir Schuhe, Hemd, Gamaschen – vor allem Schuhe! Rauhes Wetter, kümmerlich Obdach! Aber ich bin gesund, Albert auch. Das Einerlei der täglichen Attacken wird selten durchbrochen. Ich sah, wie man den Grafen Mouny erschoß, einen Emigranten, der in unsre Hände gefallen. Er starb furchtlos mit vive le roi! wir antworteten: vive Ia république! Man liest im Lager den » Père Duchesne« und andre republikanische Blätter, man wird von der Energie der Volksrepräsentanten angefeuert, – und so erzieht das Heer zu einem kameradschaftlichen Republikanismus. Im Bienwald haben unsre Sansculotten einen der berüchtigten Rotmäntel gekreuzigt, das ist eine türkische Truppe der Österreicher, barbarische Menschen! Er litt, bis ihn zufällig eine österreichische Kanonenkugel in Stücke riß. Die Preußen unter dem Herzog von Braunschweig gehen zögernd vor; übrigens ist auch der Herzog von Weimar darunter, der irgendwo bei Bitsch manövriert. Es kommt mir vor, als wären Wurmser und Braunschweig aufeinander eifersüchtig; jeder möchte das Elsaß einstecken; und zwischen beiden operiert der Emigrantenchef Condé und mißgönnt unser Ländl allen beiden. Ich schreib' ein bißchen durcheinander, lieber Vater, ohne logische Folge und ordentlichen Zusammenhang. Noch eins muß ich dir sagen, was mich in aller Fühllosigkeit, zu der man hier verhärtet, sehr erschüttert hat. Es hat's mir einer vom dritten Bataillon erzählt. Die lagen bei Bergzabern in scharfem Gefecht. Aber die Vordren hatten sich verschossen. ›Wer trägt ihnen Patronen in die Gefechtslinie?‹ wird gefragt. Es meldet sich ein junger Unteroffizier zu dem gefährlichen Gang, bringt die Patronen glücklich in die Front, erhält aber dann einen Schuß in den Unterleib und stirbt tags darauf zu Weißenburg. Dieser tapfere Junge war der älteste Sohn des Pfarrers Oberlin von Waldersbach im Steintal. Erst einundzwanzig Jahre alt! Es hat mich sehr bewegt. Ich habe eine schlaflose Nacht hindurch das Heimweh nach der stillen ›Zeder‹ dort auf ihren Bergen nicht aus dem Herzen bannen können. Lieber Vater, das muß halt hier durchgebissen werden. Adieu, Du guter, lieber, alter Papa! Dein Viktor.«

Papa Hartmann saß lange ohne Licht und ließ sich dies alles durch den Kopf gehen.

Da wurde draußen die Schelle gezogen. Der Alte begab sich hinaus und öffnete selber. Ein kräftiger Metzgerknecht in rötlicher Bluse stand vor ihm.

»Kann ich mit 'm Citoyen Hartmann e paar Wort' rede'?« fragte er auf elsässisch.

»Der bin ich. Un' was jetzt?«

Der Fleischer schloß die Türe, folgte dem Hausherrn in die Stube und fragte gedämpft:

»Kennen Sie mich noch?«

»Um's Himmels willen – Leo Hitzinger!«

»Still, Mann!« rief der hohläugige Abbé. »Wollen Sie mich aufs Schafott bringen?«

»Aber, Leo, ungeschworener Pfarrer, du wagst dich nach Straßburg?! Weißt du, daß du guillotiniert wirst, wenn sie dich erwischen? Und weißt du, daß sie mir's ebenso machen, wenn ich dich bei mir verstecke?«

»Ich kann nichts dafür«, sagte jener und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich hab' mich mehr als ein Jahr in Verkleidungen herumgetrieben, heimlich Kranke besucht, Sterbende mit dem Sakrament versehen und Messe gelesen. Jetzt bin ich verbraucht. Will meine Eltern noch einmal sehen, Geld bei ihnen holen und mich von einem guten Freund bei Wanzenau über den Rhein setzen lassen, um drüben im Badischen in Frieden zu sterben. Find' nun aber da unten fremde Leut'. Und so bin ich heraufgekommen. Haben Sie – vielleicht – eine Kleinigkeit zu essen?«

Er hatte kaum ausgesprochen, so lag er auch schon ohnmächtig am Boden.

Das war für den Alten kein geringer Schreck. Er lief an den Schrank, holte Kirschbranntwein und rieb dem Erschöpften die Stirn.

»Jeden Augenblick kann Tante Lina zurückkommen – Sackerlot – die wird ein Geschrei machen!«

»Ich kann nicht gehen,« murmelte der hagere, todbleiche Abbé, »bringt mich um – aber ich kann nicht.«

»Was machen wir denn aber mit dir?«

Der Amerikaner schaute sich einen Augenblick ratlos um. Dann ließ er den Leidenden ein Schlückchen Schnaps trinken, richtete ihn auf und half ihm mühsam die Treppe empor in eine Dachkammer. Es war eine Art Fremdenzimmer, voll Bücher und Gerümpel, und enthielt ein einfach Lager.

»Leg dich hin, Leo – knüpf das Halstuch auf – ich bring' dir zu essen. Heut' nacht aber gehst du mir aus dem Hause!«

Er wollte dem Kranken Halstuch und Bluse öffnen, um ihm Luft zu machen. Doch der Priester griff hastig nach der Brust. Und Vater Hartmann zog taktvoll die Hände zurück: er hatte gespürt, daß der verkappte Geistliche ein Kruzifix auf der Brust trug. Dann schleppte er Wein und Essen herauf; der Ausgehungerte aß hastig und schlief fast noch über dem Essen ein, zugedeckt vom Alten, der ihm Vorsicht einschärfte und die Kammer hinter sich abschloß.

»Kein übler Witz!« dachte Papa Hartmann im Hinuntergehen. »Daß ich zäher Lutheraner in Lebensgefahr komme, weil ich einen katholischen Priester beherberge – kein übler Witz!«

Um Mitternacht schlich der alte Herr, in Hausrock und Zipfelmütze, mit der Laterne hinauf, um den gefährlichen Gast auszuwerfen. Aber als er vor der Türe stand und drinnen den heftigen und kurzen Atem des Schlafenden vernahm, übermannte ihn das Mitleid. Der alte Mann dachte an seinen Sohn. Ein Weilchen hielt er den Schlüssel zaudernd an die Öffnung; dann aber steckte er ihn wieder in die Tasche und ging beschämt hinunter. Es war nicht ehrenhaft, die Gastfreundschaft zu verletzen ...

Und die Weißenburger Linien fielen.

Die bedrängte republikanische Armee wich hinter die Moder zurück; und Preußen und Österreicher strömten durch den zerrissenen Damm ins Elsaß nach.

In Paris, das von den Fiebern parlamentarischer Parteiwut durchzuckt war, beantwortete man den Fall der berühmten Linien damit, daß man die »Österreicherin« tötete: die Königin. In Straßburg ernannte man ein außerordentliches Volksgericht, das fortan mit der Wanderguillotine, begleitet von berittenen Gendarmen, durch das Land ziehen und innerhalb vierundzwanzig Stunden verhaften, urteilen und hinrichten sollte. Öffentlicher Ankläger auch dieses Gerichts wurde Eulogius Schneider, der bereits das niederrheinische Departement zu richten hatte. Auch ein Wachsamkeitsausschuß war an der Arbeit. Verhaftungen und Bestrafungen rasselten aufs Geratewohl Tag und Nacht über die betäubte Stadt hernieder. Man lauschte kaum noch aus halbgeöffnetem Fenster, wenn nachts aus dem Nachbarhause mit Gepolter und Wehklagen der Familienvater herausgerissen und in die überfüllten Gefängnisse abgeführt wurde. Das Priesterseminar ward in einen Kerker verwandelt; das Lyzeum füllte sich mit gefangenen Frauen. Ob schuldig oder unschuldig, wurde nicht untersucht; der Verfolgungswahn erspähte in allen Ritzen Verräter.

Und vor den Wällen wurden die Gebäude und Bäume hinwegrasiert, die bei etwaiger Belagerung den Ausblick hindern konnten. Denn schon war die Armee hinter die Suffel zurückgedrängt. Hier fiel auch Hartmanns Gartenhaus. Seine Zwetschgen, Reineclauden und Mirabellen, seine Aprikosen und sein Spalierobst wurden ebenso zerstampft wie seine vielen Rosenstöcke. Es hatte sich raublustiges Gesindel zu dieser Art von Arbeit eingefunden, da es an redlichen Handlangern fehlte; und die Räumung war gründlich. Wogen von Schmerz und Entrüstung gingen über den alten Gärtner hinweg, der seines Lebens edelste Stunden in diesem Garten verbracht hatte.

Der Dietrichsche Kreis war ebenso zersprengt wie seine Familie. Aiguillon und Broglie hatten auf die Frage der Volksrepräsentanten, ob sie der Republik zu dienen gedächten, mit nein geantwortet; der erstere sollte in der Fremde, der zweite auf dem Schafott sterben. Mit nein hatte sich auch Rouget de l'Isle in Hüningen dem Dienste der Republik entzogen, ward abgesetzt und durchstreifte als Flüchtling die Südvogesen; von den Lippen seines Führers vernahm er eines Tages sein eigen Lied; es duldete ihn nicht mehr in der Verbannung, er trat abermals in das Heer ein, führte aber ungebärdig wieder seine Absetzung herbei, geriet in den Kerker und kehrte später in unfrohe Freiheit zurück. Mit einem langen unbedeutenden Leben bezahlte Rouget jene geniale Aprilnacht. Zwischen zwei Gendarmen ist der stolze Stettmeister Dietrich, der Greis, in das Gefängnis marschiert. Türckheim und Frau Elisa sind nach Lothringen verbannt und entfliehen von ihrem Gute Postorf unter Gefahren nach Deutschland. Im Kerker sitzt Frau von Oberkirch und kann von Glück sagen, daß man in einem Geheimfach ihres amtlich versiegelten Schreibtisches nicht den Brief der Königin Marie-Antoinette gefunden hat, den sie dort seit langem aufbewahrt. Im Kerker sitzt auch die Gattin des Rittmeisters Dietrich mit ihrer Tochter Luise, der älteren Nichte des Maire, die freiwillig die Gefangenschaft ihrer Mutter teilt. Die Familie Birkheim bleibt im ruhigeren Kolmar im ganzen unbehelligt, hat sich aber doch zeitweise sicherheitshalber nach Basel zurückgezogen. ...

Nun schlug auch Vater Hartmanns Stunde.

Als der Alte am Morgen nach Hitzingers Ankunft zu seinem bedenklichen Gast hinaufschlich, fand er den Entkräfteten im Fieber. Der Gärtner war kräuterkundig; er knurrte, aber er pflegte. Er verfiel auf den Gedanken, Blumenstöcke hinaufzuschaffen, die eine tägliche Beobachtung verlangten. Und so saß denn der Lutheraner oft stundenlang am Lager des körperkranken und seelenwunden Katholiken, erstaunt über Leos Zartheit hinter der groben Außenseite. Er unterhielt sich mit ihm über einfache oder ernste Dinge, las ihm auch wohl einmal aus Thomas a Kempis vor und schmuggelte ihm listig die Nahrung zu. Leo aber erfuhr mit Verwunderung und Entzücken, daß Adelaide im Lande sei und in den Gemächern unter ihm zu wohnen pflege.

Eines Nachts erschollen am Haustor die bekannten Kolbenschläge. Ehe Papa Hartmann sich recht den Schlaf aus den Augen gewischt hatte, standen Gendarmen in seinem Zimmer und verhafteten den Alten.

»So, so,« sagte der Gefangene, »was hab' ich denn ang'stellt?«

Seine Kniee zitterten, sein Herz pochte vor Entsetzen, daß sein heimlicher Gast verraten sei. Aber er behielt äußerlich Fassung.

»Citoyen Hartmann,« sagte der Gendarm, der ihn kannte, »eigentlich geht mich das nichts an. Ich hab' meine Leute ins Cachot zu holen, und damit gut. In deinem Fall weiß ich zufällig, daß du schon lang von Schneider als suspect notiert bist: bedank dich dafür bei der Bürgerin Hitzinger, die dich denunziert hat! Allons jetzt, en avant

Man durchsuchte, durchwühlte, versiegelte Stuben und Schränke. Der Hausherr hatte sich erholt und wanderte würdig zwischen seinen Begleitern in die Nacht hinaus. »Vergiß d' Blume nit ze spritze!« schärfte er jedoch der jammernden Tante Lina ein. Und draußen besah er sich noch einmal sein Haus, als ob er geahnt hätte, daß er es nicht wiedersehen würde.

Als sich die Tante so weit erholt hatte, daß sie in die Dachkammer zu den Blumen emporklettern konnte, wäre sie vor Bestürzung beinahe umgefallen. Da war ein zerwühltes, noch warmes Lager, da waren Arzneigläser und Geschirre. »Was für Gesindel, um Gottes willen, haust denn da oben?!« Sie trug hastig alle Blumenstöcke hinunter und riegelte ihr mageres Persönchen ein, tagsüber mit Ängsten darauf gefaßt, daß auch sie arretiert würde. Als jedoch nichts erfolgte, ging sie aus und dingte sich eine entfernte Verwandte, die ihr fortan die Ausgänge besorgte.

Der Sohn der Frau Hitzinger hatte den nächtlichen Lärm vernommen. Es war ihm nicht zweifelhaft: das galt ihm und seinem Pflegevater Hartmann! Leo sprang auf, zog sich taumelnd an und griff nach dem Metzgerstock, bereit, sich zu verteidigen. So stand er bebend und lauschend. Es ward unten still. Der junge Priester ließ den Stock fallen, riß sein Kruzifix unter der Bluse hervor und kniete zu inbrünstigem Gebet für sich und seinen Wohltäter vor dem Lager nieder.

Endlich schlich er wankend hinunter, fand das Tor offen und tastete sich in der Morgendämmerung an den Häusern entlang nach seiner Eltern Wohnung.

* * *

Der Volksrepräsentant Saint-Just durchmißt mit festen Schritten seine Wohnstube im Tribunalgebäude von Straßburg.

Manchmal bleibt er am Fenster stehen; der Balkon geht auf die Blauwolkengasse und liegt dem Schneiderschen Hause gegenüber. Noch häufiger tritt er vor den Spiegel. Dem Schreiber, der zwischen zwei Armleuchtern am Tische zu schaffen hat, daß die Feder saust, diktiert er seine straffen Dekrete.

Der elegant gebaute junge Republikaner mit dem hübschen, blassen und kalten Gesicht legt Wert auf seine stramm sitzende Kleidung. Er wirkt verschlossen und vornehm. Besonders fällt die große, vielverschlungene Krawatte auf, die bis an das starke Kinn hinan Kopf und Hals umpanzert, so daß er, nach Camille Desmoulins' Wort, den Kopf wie eine Monstranz trägt. Um die mädchenhaft jungen Züge des sechsundzwanzigjährigen Mannes hangen wie pechschwarze Eisendrähte die langen Haare straff herunter. Die ungewölbten Augenbrauen haben die Eigenart, daß sie sich bei jeder Verfinsterung des Gesichts zusammenziehen und eine einzige schwarze Querlinie bilden, während an ihrem Vereinigungspunkt eine Zornfalte steil in die Stirn fliegt. Er trägt den langen, braunen Frack der Volksrepräsentanten mit der dreifarbigen Schärpe; die Frackschöße reichen bis an die Stulpstiefel herunter.

Neben diesem raschen und eiskalten Revolutionsmann mit den Manieren des Marquis, der alles Gefühl und Gewissen der abstrakten Idee geopfert hat und die Menschheit ausrotten möchte, um eine neue an deren Stelle zu setzen, wirkt Schneider wie ein Jahrmarktsprediger: feist, laut und formlos. Es scheint, als hätte die Natur in Saint-Just und seinem hageren Meister und Freund Robespierre Versuche und Ansätze zum Diktatortypus gemacht. Doch erst in Napoleon gelang der Versuch.

Mit imponierender Einseitigkeit diktierte der junge Volksrepräsentant seine Erlasse.

»Die Verwaltung des niederrheinischen Departements wird abgesetzt; die Mitglieder derselben, ausgenommen die Bürger Neumann, Didier, Mougeat, Teterel, Berger, sollen auf der Stelle angehalten und sogleich nach Metz geführt werden. ... Die Munizipalität von Straßburg ist gleichfalls abgesetzt, der Bürger Monet, Maire, ausgenommen. ... Die Straßburger Distriktsverwaltung ist gleichfalls abgesetzt und soll in Verhaft nach Besançon geführt werden. ... Der Kommandant von Straßburg, General Dièche, hat den Auftrag, gegenwärtigen Schluß also zu vollziehen, daß die Mitglieder der abgesetzten Gewalten morgen früh um acht Uhr außerhalb der Stadt sind.«

Saint-Just blieb stehen und griff nach einigen Notizen.

»Weiter! An die Munizipalität! Zehntausend Mann sind bei der Armee barfuß, ihr müßt heute noch allen Aristokraten in Straßburg die Schuhe abnehmen, und bis morgen früh um zehn Uhr müssen die zehntausend Paar Schuhe auf der Reise nach dem Generalquartier sein.«

Wieder ein Blick in die Notizen und Papiere.

»Ihr seid ersucht, Bürger, uns zu wissen zu tun, wie weit es mit Eintreibung des Anlehens der neun Millionen gediehen ist.«

Dazwischen eine Proklamation, an die Mauern anzuschlagen, in derselben lakonischen Kürze:

»Die Bürgerinnen Straßburgs sind eingeladen, die deutsche Tracht abzulegen, da ihre Herzen fränkisch gesinnt sind.«

Es klang imponierend; es wirkte. Wie weit die Befehle vernünftig, gerecht oder sogar ausführbar waren, fiel nicht ins Gewicht.

Ein Beamter meldete den Bürger Taffin, Präsidenten des Revolutionstribunals. Saint-Just, der vor dem Spiegel stand und seine Krawatte ordnete, drehte sich erst um, als der Gemeldete längst im Zimmer stand. Da er den Kopf nicht hätte wenden können, so fuhr der ganze Saint-Just herum und machte Front gegen Taffin, die Hände auf dem Rücken, immer mit dem gleich strengen und kalten Blick. Er und Lebas, ein gleichfalls junger Mann von geringerer Entschiedenheit, hatten absichtlich keine Antrittsbesuche der Behörden erwidert, um schon dadurch ihre Ausnahmestellung zu betonen.

»Wieviel Köpfe?« rief er Taffin entgegen.

Der ehemalige Priester und jetzige Revolutionsrichter stand verblüfft.

»Ich komme,« sprach er, »um über die vollzogene Errichtung unseres Revolutionstribunals Bericht zu erstatten.«

»Eben darum frag' ich: wieviel Köpfe?«

»Aber wir haben uns erst vor zweimal vierundzwanzig Stunden konstituiert.«

»Und habt noch keine zweimal vierundzwanzig Köpfe springen lassen?«

»Wir haben uns bemüht, den Kurs der Assignaten zu erhöhen, und hoffen, daß wir das nationale Papier – –«

»Was singst du mir da? Seid ihr eingesetzt, um euch mit Papier zu beschäftigen? Sag den Leuten deines Gerichts, wenn sie nicht Köpfe nehmen wollen, so nehm' ich die ihrigen! ... Also konstituiert habt ihr euch? Und wie das?«

Der angedonnerte Taffin stand wie ein gescholtener Junge vor diesem Ahriman der Revolution. Er berichtete, daß man zunächst einmal mit der Guillotine durch die Stadt gezogen sei. Danach habe man etliche Urteile gefällt. Ein Mehlhändler hatte nach der Verkündigung des amtlichen Maximums seinen Laden geschlossen, weil er bei solcher niedrigen Verkaufstaxe nicht bestehen könne: »verurteilt zu 1000 Livres und vierzehn Tagen Gefängnis. Ein Bäcker in der Weißturmstraße desgleichen: 1500 Livres Strafe. Eine Krämerin desgleichen: 600 Livres Strafe. Ein Tabakshändler desgleichen: 300 Livres Strafe und drei Tage Turm. Eine Gärtnerin aus der Ruprechtsau, die etliche Salatstöcke zu teuer verkauft hat: 3000 Livres und sechs Monate Turm – – –«

Hier unterbrach der Repräsentant, der mit Ungeduld diesen Bericht entgegengenommen hatte.

»Mehlhändler, Bäcker, Gärtnerin – sind das die Aristokraten von Straßburg, vor denen man in Paris zittert?! Sind das die Dietrichianer, die Wucherer und Verräter, von denen diese Stadt wimmelt?! Der Konvent will, daß man mit der Schärfe des Beils die Aristokraten ausrotte, sag das den andern!«

Taffin zog sich zurück. Saint-Just diktierte weiter. Bogen auf Bogen flog beiseite; und im Nebenzimmer wartete bereits der Übersetzer, der sie ins Deutsche zu übertragen hatte, damit die Erlasse in beiden Sprachen öffentlich angeschlagen würden.

Nach einiger Zeit stellte sich der Vertreter des Militärgerichts vor.

»Nun, Bürger Schramm, ich fragte soeben den Bürger Taffin: wieviel Köpfe? Der Konvent legt dir dieselbe Frage vor: wieviel Erschießungen?«

»Wir haben einige Individuen zu Gefängnis, andere zur Deportation verurteilt – –«

»Ach was, Gefängnis, Deportation! Braucht man dazu ein besonderes Gericht? Erschießen! Erschießen!«

Auch der militärische Richter zog sich nach erstattetem Bericht in Bestürzung zurück.

Unmittelbar hernach, als schon der frühe Abend sein grelles Feuerwerk über die Stadt ergoß, tauchte der Maire Monet auf. Als einen Bekannten begrüßte ihn der Repräsentant. Der Sekretär wurde ins Nebenzimmer geschickt. Die beiden blieben allein.

Sie kannten sich von Zabern her. Monet war den beiden Volksrepräsentanten entgegengereist und hatte sie die elsässischen Verhältnisse mit seinen Augen schauen gelehrt. Mit bösen Vorurteilen gegen die Elsässer kamen die Pariser an.

Monet berichtete, daß der angesehene Kaufmann Mayno – während Pasquay, zu 150 000 abgeschätzt, und andere sofort bezahlten – von den 200 000 Livres, die er zu den neun Millionen beizusteuern habe, erst 180 000 aufgebracht habe; das übrige innerhalb vierundzwanzig Stunden zu zahlen, sei er jedoch nicht gewillt oder nicht vermögend.

»Gut, so ist der alte Herr morgen früh von zehn bis ein Uhr an der Guillotine auszustellen! ... Im übrigen hast du recht, Bürger Maire: dieser ehemalige Pfaff und geborene Österreicher Schneider und sein Freund Jung sowie Anhang sind kleine Geister, die sich an die großen Spitzbuben nicht heranwagen. Entweder aus Mangel an Scharfblick oder aus Mangel an Größe. Oder sie sind Kompromissen zugänglich. Er ist wohl für fette Mahlzeiten und hübsche Frauen empfänglich? Ich habe mir übersetzen lassen, was er in seinem ›Argos‹ gegen die früheren Volksrepräsentanten geschleudert hat. Und ich wundere mich, daß man sich solche Angriffe gefallen ließ. Man muß diesen meineidigen Expriester im Auge behalten. Er ist geborener Österreicher – Geburt und Erziehung streifen sich nicht ab wie ein Kamisol.«

»Dietrich hat ihn hergerufen«, ließ hier der kluge Savoyarde einfließen; »Dietrich und dessen Freund, der Prediger Blessig, der als verdächtig im Seminar sitzt.«

»Aha! Der deutsche Charakter dieser halsstarrigen Bevölkerung wird durch solche Mitläufer der Revolution verstärkt«, fuhr Saint-Just fort, immer straff und donnernd auf und ab schreitend, indes das zornrote Sonnenauge über der vielzackigen Jung-Sankt-Peter-Kirche glühte. »Man spricht in diesem Lande äußerst spärlich die Sprache der freien Franken. Ich gedenke folgendes vorzuschlagen: Die reichen Gegenrevolutionäre werden guillotiniert; die reichen Teilnahmlosen werden um ihr Vermögen gebracht und als ruinierte Leute einflußlos; bezüglich der übrigen Bevölkerung wäre eine Verpflanzung nach dem innern Frankreich erwägenswert; im Elsaß könnte man dafür Kolonien aus dem Innern ansiedeln. Dem platten Lande werden wir französische Schulen aufzwingen, damit jeder ohne Ausnahme Französisch lernt. Sodann hab' ich soeben dem Schreiber einen Erlaß in die Feder diktiert, daß die jetzigen Behörden – mit Ausnahmen, die ich namentlich angebe – abzusetzen sind; sie sind trotz wiederholter Ein- und Absetzung offenbar noch nicht geläutert genug. Du erschrickst, Bürger Maire? Beruhige dich, du bist nicht dabei. Ferner muß aus dem Innern ein Schock zuverlässiger Patrioten, echte Jakobiner, als Propagandisten hierherkommen. Sie müssen reden können. Sie sollen die Bevölkerung, die Armee und den Jakobinerklub durchsäuern. Die deutsche Sprache ist in den Volksgesellschaften zu verbieten; wer nicht Französisch kann, bleibt draußen. Helfen alle diese Mittel nicht – nun, so bleibt uns noch das Gewaltmittel von Lyon.«

So sprach der furchtbare junge Mann, der noch vor wenigen Jahren, ebenso wie Eulogius Schneider, als Dichter in die Öffentlichkeit getreten war und sich nun in einen Richter verwandelt hatte. Und es war keine Redensart. Dem Fanatismus jener Zeit war jedes Mittel willkommen; auch im Elsaß wurde mit gefälschten Briefen und bezahlten Denunziationen gearbeitet. Und Saint-Just, unbeweglich sein Programm entfaltend, war sich seiner Wirkung bewußt. Man hätte sagen können: es war Pose in dem jungen Mann. Aber seine Herzensmeinung war um nichts milder als seine Sprache. Seine Pose war echt.

»Vorerst muß ich mein Augenmerk der erschlafften Armee zuwenden«, sprach er weiter. »Gestern begegnet mir ein Kapitän der Chasseurs auf der Straße, kennt mich nicht und fragt mich nach dem Weg zur Komödie. Ich hab' ihn sofort arretieren lassen. ›Was? Der Feind ist bis Wanzenau vorgedrungen, und du hast Zeit zum Amüsement? Dein Posten ist am Rhein, nicht im Theater!‹ Ich will die Armee säubern und stählen, die Österreicher aus dem Lande jagen, dann seh' ich mir die Herren Straßburger an.«

Lebas trat ein, der andere Repräsentant, jung wie Saint-Just, doch zu seinem düstren Gesellen der etwas hellere Hintergrund. Er war noch nicht lange verheiratet, hatte mit Verdruß sein Weib zu Hause gelassen und spielte mit seinem Hund »Schillickem«, den er nach dem nahen Dorf Schiltigheim benannt hatte. Er fragte nach der Straßburger Musik und plauderte von den Hauskonzerten, die sie in Paris bei Robespierres Wirtsleuten, den Duplays, veranstaltet hatten; er sprach von Racines Tragödien, die man mit verteilten Rollen gelesen hatte, unter Mitwirkung des Advokaten von Arras; er rühmte Saint-Justs Dichtung, eine Nachahmung von Voltaires »Pucelle«.

»Wir spielen und lesen nicht mehr, mein lieber Lebas,« warf Saint-Just ein, »wir machen Tragödie.«

So wehte der Westwind durch Straßburg ...

In der Nacht noch wurden die Verwaltungsbehörden verhaftet. Freund und Feind waren bestürzt. Am Morgen lief Schneider zu Saint-Just, um noch einige wenigstens loszubitten; auch Monet tat unbefangen und schloß sich der Bitte an. Der Repräsentant lag zu Bett, hörte mit halbem Ohr herüber, drehte sich endlich zu dem stämmigen Bittsteller um und erwiderte kalt: »Es mögen ein paar Unverdächtige darunter sein. Aber wir sind in Gefahr und wissen nicht, wo zugreifen. Nun, wenn ein Blinder im Staub eine Nadel sucht, so packt er die ganze Handvoll Staub, und er hat sie sicher...«

Kinder und Frauen jammerten inzwischen am geschlossenen Gittertor jenes glänzenden Stadthauses zwischen Münster und Ill. Aber man ließ den Gefangenen, worunter Professor Oberlin, keine Zeit selbst zu den nötigsten Bedürfnissen. Der ewig betrunkene Stadtkommandant Dièche kam fluchend an, ordnete die Verpackung, und die gestopft vollen Wagen rollten davon ins innere Frankreich.

Eulogius Schneider und die Seinen spürten die neuen Energien. Mit diesen Repräsentanten »deutsch zu reden«, war weder ratsam noch notwendig. Die Guillotine trat wieder in Tätigkeit; sieben Bürger von Geispolsheim ließen auf dem Paradeplatz das Leben; ihnen folgte eine Frau Poirson aus Illkirch, der alte Schaffner Rausch, der Einnehmer Ehrmann aus Buchsweiler, vier Bürger aus Oberschäffolsheim, der betagte Pfarrer Fischer aus Dorlisheim. So regneten in jenem November die Todesurteile. Verhaftet wurden die Führer der Sektionen; verhaftet die Chefs der Nationalgarde. Hinter den Wällen aber knallten die Flinten und räumten unter den Offizieren auf.

Und der öffentliche Ankläger Eulogius Schneider rüstete seine Wanderguillotine zu einer Fahrt über Land.

Er richtete sein Augenmerk auf das Städtchen Barr.


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