Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Vom Geistersehen

In jener Sonntagnacht träumte dem Hauslehrer von Feen und Königskronen. Er lustwandelte durch persische Rosengärten; er ward in Märchen aus »Tausend und eine Nacht« verstrickt und geriet in wonnige Labyrinthe von Liebesabenteuern mit Prinzessinnen von Bagdad, die in farbigen und kostbaren Gewandstoffen den Träumer umtanzten und nichts von Sünde wußten, sondern nur von Liebe. Ärgerlich sprang der Pädagog aus diesen Traumgebilden in den Wochentag von Birkenweier. Er wusch sich von Kopf zu Fuß und begann mit Entschlossenheit sein Tagewerk.

Es war noch früh. Viktor versuchte erst, eine Zeichnung zu vollenden, die er vor einigen Tagen begonnen hatte; aber die Stimmung fehlte. Und so setzte er denn das Etikettieren der unlängst auf einem Ausflug gesammelten Mineralien fort. Dann begann er einen Marder, den er geschossen, zu präparieren und auszustopfen. Er pflegte sich in solche Arbeiten der Stille so liebevoll zu versenken, daß er manchmal mit seinen Gegenständen vertraulich zu plaudern begann, als wären es lebendige Gesellen. Und so erging es ihm auch in glücklichen Stunden des Unterrichts. Zeit und Ort wurden vergessen; er war Kind mit Kindern; er riß die Jugend mit in seine Welt. Bis dann durch irgend eine Kleinigkeit der Strom unterbrochen und der Menschenfreund in einen Düsterling verwandelt wurde.

Nach dem Frühstück sollte der Unterricht mit den beiden älteren jungen Damen beginnen. Aber der Diener meldete, Fräulein Octavie hätte ein wenig Kopfweh; der Herr Baron ließe bitten, Herr Hartmann möge statt des Unterrichts die Rechnungen des Verwalters von Jebsheim prüfen.

»Und Fräulein Henriette?«

»Ist mit dem Papillotieren der Haare noch nicht fertig.«

»Und die andern?«

»Sind irgendwo im Park.«

»Schicken Sie mir nachher die Kleinen her! Die Rechnungen sind bald erledigt. Fräulein von Rathsamhausen ist zu Nacht geblieben?«

Octavies Freundin Annette war über Nacht geblieben. Und so bestand wohl, nach einem so anregenden Sonntag, nicht viel Bedürfnis bei den älteren Schülerinnen, die Woche mit Geographie, Englisch, Literatur und Religion zu beginnen. Sie waren der Schule im ganzen entwachsen, zumal Octavie; Henriette freilich saß nach wie vor viel über Büchern. Es war schwer, diesen jungen Damen gegenüber, deren älteste bald achtzehn Jahre wurde, Autorität zu wahren und einen planmäßigen Unterricht durchzuführen.

Drüben saßen inzwischen die Nymphen und hatten die gestrige Sonntagsstimmung samt den Festgewändern in den Schrank gelegt. Die müde Octavie, die bis tief in die Nacht mit Annette geplaudert hatte, bemerkte: »Ach, wenn er doch nur mit mehr Poesie und Anmut unterrichten wollte! Manchmal kann ich ihn gar nicht leiden. Wenn er nur nicht gar so trocken wäre!« Doch Henriette, deren Locken in Papierschnitzeln hingen, verteidigte den Lehrer und meinte: »In der Religion ist er nicht trocken; auch nicht in der Literatur oder auf botanischen Ausflügen. Aber du bist mitunter widerspenstig, Octavie.« – »Widerspenstig? Er ist zu Frau von Mably viel liebenswürdiger als zu uns«, versetzte das älteste gnädige Fräulein etwas ungnädig.

Hartmann schlug sich mit den Kleinen herum, die am Montag Morgen, nach einem verwildernden Sonntag, besonders straffe Zügel brauchten. Nach und nach überkam ihn die alte Freude am Unterrichten. Und als Henriette und Amélie eintraten, war er wieder frisch und energisch im Zuge. Es hätte einen erfolgreichen Tag gegeben, wenn nicht die harmlose Henriette die Bewertung hingeworfen hätte: Octavie meinte törichterweise, Herr Hartmann solle zu so jungen, unfertigen Kindern ebenso liebenswürdig sein wie zu – Frau von Mably!

Da blitzte der Getroffene auf.

»Frau von Mably ist eine erwachsene Dame«, erwiderte er gereizt. »Sie aber sind meine Schülerinnen, und ich Ihr Lehrer. Da handelt es sich nicht um Liebenswürdigkeit, sondern um sachliche Arbeit.«

Sein Mißtrauen war jählings wieder aufgewacht. Die Nüstern seiner sanft gebogenen Nase blähten sich; er spitzte die Ohren und schaute sich scharfäugig nach allen Seiten um, wie ein Hase im Kleefeld. Dann ward er wieder mild und überließ sich seiner natürlichen Güte. Denn Octavie und Annette kamen von einem Spaziergang zurück und baten, der letzten Stunde beiwohnen zu dürfen. Es war die Religionsstunde; Viktor sprach nun von den ernstesten Fragen des Lebens und sprach von den großen Geschehnissen des Christentums so warm und so eindringlich, daß sie alle miteinander, Bürgertum und Adel, eine einzige Familie bildeten während dieser schöngestimmten Stunde. Der Hauslehrer pflegte die Größeren in Form eines Vortrags zu unterrichten, an den er dann etwas wie Unterhaltung mit Fragen und Antworten anschloß. Heute ging man ohne Erörterung auseinander. »Es war alles so fesselnd und klar,« sagte Annette, »wir danken Ihnen herzlich.« Und so dankten ihm auch die andern.

Doch es lag etwas in der Luft, das sich nicht mehr bannen ließ. Beim Mittagessen warf die Baronin die Bemerkung hin:

»Herr Hartmann hat sich mit Frau von Mably verständigt und wird ihr und Addy deutschen Unterricht geben.«

Die Kinder horchten auf.

»Ei,« versetzte Octavie verwundert, »das ist mir ganz neu, daß sich die Marquise für deutsche Literatur interessiert.«

Es war arglos gemeint. Doch Hartmann wurde rot. Er hatte jenes Wort des Vormittags nicht vergessen; er empfand dieses neue Wort als spöttisch. Immer wieder Octavie! Er beschloß, ihr bei Gelegenheit anschaulich zum Bewußtsein zu bringen, daß er als Lehrer ihr unbedingt überlegen sei.

Nach dem Essen schien sich zu solcher Demütigung eine kleine Gelegenheit zu bieten. Octavie hatte, wie schon oft, ihr kostbares Federmesserchen irgendwo liegen lassen. Er hatte es gefunden. Und als sie nun vor dem Spiegel den Hut festband, trat der »kleine Pedant« hinzu und sagte:

»Mein gnädiges Fräulein, Sie haben wieder einmal Ihr Messerchen liegen lassen – bitte!«

Er betonte das »wieder einmal« und hielt ihr das Messer hin. Die Zerstreute beeilte sich nicht, es in Empfang zu nehmen. Kurzweg legte er das Messerchen auf ihren großen neuen Hut und schritt die Treppe hinauf.

»Sie verderben mir ja den Hut!« rief die junge Dame zornig. »Wie albern!«

»Octavie, wie sprichst du denn mit unserm Lehrer!« rief Henriette erschrocken und verweisend.

»Albern?!« rief Hartmann und blieb stehen.

»Wenn er sich albern benimmt!« erwiderte die wirklich erzürnte Besitzerin des neuen Hutes.

Hartmann trat einen Schritt näher, blaß vor Zorn. Er suchte nach Worten, ballte die Fäuste, drehte sich dann um und ging schweigend auf sein Zimmer. »Gott im Himmel, so demütigt man mich! So verächtlich, so von oben herab wagt mir dies hoffärtige, unreife Geschöpf ein ›albern‹ ins Gesicht zu werfen – mir, dem Lehrer! Ich hab's hundertmal niedergewürgt – ich kann nicht länger!« Er war über sich selber empört; denn er konnte sich nicht verhehlen, daß er sich ungeschickt benommen hatte. Er schämte sich dieser Kleinkämpfe, die kaum der Worte wert waren und doch von stillen Verärgerungen Zeugnis ablegten. Und inzwischen klang, vom sommerblauen Gebirg herüber, eine fremdartige Melodie. Das Zimmer ward ihm zu eng. Es war nicht mehr auszuhalten in diesen nichtswürdigen Banalitäten des Alltags!

Er warf sein Tagebuch in die Schublade; zu Eintragungen war er fortan nicht mehr fähig.

Es traf sich gut, daß der Baron heraufschickte: Herr Hartmann möge den Nachmittag mit ihm, Octavie und Annette in Kolmar verbringen. »Wohlan! Ich werde mich mit dem Baron aussprechen – und zwar in Gegenwart Pfeffels!« rief Viktor entschlossen. Er zog sich um. Sein Entschluß stand fest. Nach beiden Seiten galt es, von einem Banne frei zu werden, der ihn seit geraumer Zeit lähmte: – von den Lockungen der Marquise, der er grad' und sachlich ins Auge zu sehen beschloß, und von der Schwüle im Verhältnis zur Familie Birkheim, die ihn, wie er meinte, zu den Dienstboten hinunterzudrücken beabsichtigte.

Schon aber meldete sich von der einen Seite her eine Gegenkraft: der Diener brachte einen Brief der Marquise von Mably. »Der Marquise – an mich?!« Halb angezogen griff der Jüngling nach dem duftigen Papier, betrachtete das Wappensiegel, öffnete erregt und las. Dann machte er sich hastig fertig, steckte das Billet zu sich und eilte hinunter.

Im dämmrigen Hausflur erwartete ihn Octavie mit der ängstlichsten Miene von der Welt. Sie war zum Ausfahren angezogen und stand in ihrer ganzen Eleganz vor ihm, so daß ein seltsamer Gegensatz merkbar wurde zwischen ihrer vornehm-schönen Erscheinung und dem kindlichen Ausdruck, womit das weichherzige Mädchen nun um Verzeihung bat.

»Ich war sehr unartig, Herr Hartmann, bitte, verzeihen Sie mir, bitte, sagen Sie Papa nichts davon! Ich wollte Sie gewiß nicht beleidigen, und es tut mir von Herzen leid.«

Sie streckte ihm zögernd, ob er sie nicht zurückweisen würde, die Hand mit dem langen weißen Handschuh hin. Man spürte, daß es ihr aufrichtig leid tat. Und zugleich wollte sie, zumal in Gegenwart Annettens, eine Aussprache mit dem Vater vermeiden, der in solchen Sachen recht ärgerlich werden konnte.

Wenige Sekunden zögerte der Hofmeister. Dann warf er einen Blick in ihre flehenden Blauaugen und ergriff sofort ihre Hand.

»Mademoiselle,« sprach er, »Sie haben mich in der Tat sehr betrübt. Nicht nur heute. Ich gebe mir so herzlich Mühe mit Ihnen allen, und Sie machen es mir oft so schwer. Aber ich will es Ihrer Jugend und Ihrer Lebhaftigkeit zugute halten und – es war auch von mir vielleicht ungeschickt.«

Ihr Dank blitzte auf und sie huschte wieder ins Zimmer.

»Wollen Sie mal einen verliebten Roland sehen?« raunte ihm draußen der Baron gutgelaunt zu. »So betrachten Sie sich unsren Kutscher François! Sehen Sie nur, wie er ingrimmig an den Strängen und Geschirren herumzerrt und immerzu sein Leibwort › Crapule‹ den Pferden in die Ohren wirft! Dieser Pariser ist nämlich eifersüchtig. Er bemüht sich um unser Käthl aus dem Unterland, aber unser Küchenmaidl hält's mit dem Kutscher Hans oder Jean der hübschen und etwas leichten Frau da drüben an den Bergen; der Hans ist auch aus dem Hanauerländchen, so paßt das zueinander. Denken Sie sich, nun denunziert mir der hitzige Bursch da unser rotbackig Käthl: es treffe sich nachts mit dem Hans! Da sei man ja, meint er, seines Lebens nimmer sicher, wenn nachts fremde Leut' im Park herumstreifen dürfen; er werde den Jean zusammenschießen wie einen Marder, wenn ihm der Kerl innerhalb der Grenzpfähle von Birkenweier vor den Schuß gerate. Was sagen Sie zu diesem sonderbaren Stall- und Küchenroman?«

»Der Bonhomme François sollte lieber das Trinken lassen«, versetzte Hartmann kühl. »Sonst richtet er in der Tat noch einmal ein Unheil an.«

»Ich werde heute und überhaupt ein paar Wochen lang allein kutschieren«, erwiderte Birkheim. »Das straft ihn am besten. Einem Menschen, der sich selbst nicht zügeln kann, soll man keinen Zügel in die Hand geben.«

Diese Flutwelle aus den unteren Regionen mutete den empfindsamen Hofmeister nicht eben behaglich an. Er hatte schon mehrfach, im Bunde mit dem Baron, einen Kampf auszufechten gehabt gegen unzüchtige Dienstboten, die den Ton verdarben, so daß man die Kinder diesen verunreinigten Bezirken möglichst entrücken mußte.

Verstimmt durch diesen Zwischenfall, den er mit seinem eigenen Zustand in Beziehung setzte, und aufgeregt durch jenen Brief und die kleinen Vorfälle des Morgens, fuhr er mit nach Kolmar.

* * *

Man sprach unterwegs vom Lebenswerk des blinden Poeten.

Pfeffels Militärschule befand sich in einem hochgiebligen Gebäude der ehemaligen Korngasse. Der bescheidene Mann hatte anfangs nur etwa zwölf Schüler in Aussicht genommen. Rasch aber wuchs die Durchschnittszahl auf vierzig bis sechzig Zöglinge, die Externen oder Stadtkinder nicht mitgerechnet. So wurde denn die Zahl der Lehrer entsprechend vermehrt und das Haus durch Anbau vergrößert.

Die Anstalt des blinden Dichters und Erziehers war eine Notwendigkeit. Da die Königliche Kriegsschule zu Paris keine Protestanten aufnahm, so hatte bisher der protestantische Adel seine Söhne, soweit sie für den Militärstand bestimmt waren, im Ausland vorbereiten lassen. Diesem Notstand half Pfeffel ab. Seine Schüler, etwa im Alter von elf bis vierzehn Jahren, waren die Kinder protestantischer Adligen; und zwar bald nicht nur aus Frankreich, Elsaß oder Schweiz, sondern auch aus dem übrigen Europa, bis hinaus nach Schottland oder den baltischen Provinzen. Und so hatte der liebenswürdige Blinde durch Briefwechsel oder persönliche Besuche Fühlung mit der ganzen Welt.

Des blinden Mannes Tagewerk vollzog sich in genauer Ordnung. Pünktlich mit dem Glockenschlag verließ er sein Lager, kleidete sich an und wartete, bis eine seiner Töchter kam, ihn mit dem üblichen Morgenkuß zu begrüßen. War über Nacht ein Gedicht oder Epigramm entstanden, so schrieb die Tochter diese Verse in ein Buch. Dann wurde etwas Erbauliches als Morgenandacht gelesen, man ging zum Frühstück und dann an die Tagesarbeit. Der Sekretär stellte sich ein und arbeitete mit dem Anstaltsleiter bis gegen Mittag, wo dann Pfeffel regelmäßig kurz vor dem Essen einen Spaziergang oder einen Gang in die Stadt unternahm. Nach Tisch verweilte man in gemächlichem Gespräch; die Töchter lasen aus Journalen oder sonstwie leichtere Sachen vor. Um halb vier Uhr trat der Schreiber wieder an und arbeitete mit seinem Herrn bis sieben Uhr. Die Stunde vor dem Nachtessen wurde gewöhnlich in Gesellschaft von Freunden verbracht, etwa in einem Garten des Doktors Bartholdi oder bei Diakonus Billing. Pfeffel besaß Gesprächstalent; er war immer aufgeweckt und anregend. Die Zeit nach dem Nachtessen bis zum Schlafengehen gehörte ganz der zahlreichen Familie, wo sich dann das eigentliche Wesen des gemütvollen Mannes zu entfalten pflegte.

Aber auch am Unterricht beteiligte sich der Direktor; er hatte sich die Religionsstunde vorbehalten. Da ging dann eine außerordentlich fesselnde Wirkung von ihm aus; kein Schüler hätte Unfug getrieben, wenn der allgemein verehrte blinde Lehrer auf dem Katheder saß. Viele von diesen jungen Leuten nahmen Eindrücke für ihr ganzes Leben mit hinaus auf die Schlachtfelder und blieben zeitlebens in Dankbarkeit mit ihrem Erzieher verbunden ...

Es waren leidigerweise, wie so oft, Besucher bei dem Herrn Hofrat, als Hartmann vorsprach: ein paar junge Schweizer, die von dem befreundeten Ehepaar Sarasin in Basel Grüße bestellten. Der Hauslehrer entwich derweil hinüber in die Schule und wohnte Lerses Unterricht in der Strategie bei, warf einen Blick in den Turnsaal, wo er Sigismund fand, schüttelte ihm und dem Fechtmeister die Hand und verweilte, abermals in die Privatwohnung zurückgekehrt, einen Augenblick bei Pfeffels Gattin und ihren Töchtern. Er war von einem ungeduldigen, ihm selber lästig ungewohnten Suchen umhergetrieben. Die Luft lastete schwül in diesen engen Gassen von Kolmar; der Werktag und all dies Schaffen und Schulehalten tönte freudlos, nüchtern, einförmig. An den Horizonten aber winkte und wartete irgend etwas Neues und Großes, das zugleich von einer reizvoll süßen Gefährlichkeit schien.

Als er sich wiederum anmelden ließ, fand er wiederum Besucher vor: Baron Birkheim war von seinen Gängen zurückgekehrt und hatte die lange, hagere, geistvolle Frau Baronin von Oberkirch mitgebracht. Sie standen grade vor einer Soldatenuniform und ließen sich deren Eigentümlichkeit von dem blinden Fachmann genau erklären; in Uniformen und Wappen wußte Pfeffel Bescheid. Er packte Hartmann am breiten Brustlappen und zog ihn heran.

»Kommen Sie, Freund Tacitus, der Schweigsame, und plaudern Sie ein bißchen mit«, sprach er. »Wir sprechen eben von einer schweizerischen Uniform und von der Schweiz überhaupt. Und wie ich im Begriff bin, den Namen Lavater auszusprechen und über seinen und Oberlins Geisterglauben meine Ansichten zu äußern, treten Sie herein. Nehmen wir's als ein gutes Omen!«

»Von Geistern, Magnetismus, Mesmerismus und dergleichen will unser guter Hartmann nicht viel wissen«, bemerkte der Baron lachend. »Er hält mich für einen ungesunden Mystiker und nennt das alles Aberglauben, weil ich mit einem Medium gelegentlich Versuche angestellt habe.«

Hartmann entschuldigte sich höflich, ob er etwa störe.

»Keineswegs«, entgegnete Pfeffel. »Ich sprach vorhin davon, wieviel gute und bedeutende Menschen ich schon in diesem Zimmer habe empfangen dürfen. So saß zum Exempel da, wo Sie jetzt sitzen, der Diakonus Lavater aus Zürich. Mit welchem Jubel haben wir uns in die Arme geschlossen, als wir uns hier auf diesem Fleck zum erstenmal persönlich kennen lernten!«

»Ja, das war zu niedlich«, fiel hier des Dichters Tochter Peggi ein, die den Hauslehrer hereingeführt hatte. »Papa war ein ganz klein wenig über die Störung verdrießlich, als ich ihn vom Mittagessen herüberholte. Aber er zwingt sich zu seiner gewohnten Freundlichkeit und fragt den Fremden: ›Und wer sind Sie, mein werter Herr?‹ – ›Lavater‹ – ›Welcher Lavater?‹ horcht Papa auf. – ›Lavater aus Zürich‹, erwidert jener. – ›Der Lavater, der in die Ewigkeit geblickt hat?‹ forscht Papa mit Spannung. ›Mein Freund Lavater?‹ – ›Eben der‹ Und da lagen sich denn auch die beiden Männer in den Armen. Himmel, hat sich Vater gefreut! Der arme Lavater mußte was ausstehen, bis er abgetastet, gestreichelt und erforscht war. Du hast ihm während des Gespräches sicherlich zwei Knöpfe abgedreht, Papa!«

Belisar stimmte vergnügt in das Lachen mit ein.

»Meine lieben Freunde,« rief er, »ich kann euch die Versicherung geben, die Unterhaltung mit einem solchen Mann ist ein paar Dutzend abgedrehte Knöpfe wert. Und was wollt ihr denn? Man neckt mich, daß ich mich mit meinem Gegenüber gesprächsweise auch persönlich oder körperlich in Verbindung zu setzen trachte und also gern etwa einen Knopf anfasse, während ich rede. Als ich dem leutseligen Kaiser Joseph II. gegenüberstand, kamen wir derart in eine fesselnde Unterhaltung, daß ich bereits im Begriff war, den Kaiser am Knopf zu fassen; doch zog mich Lerse, der mich am Arm hatte, glücklicherweise oder leider zurück. Erzählt man aber nicht auch vom berühmten Philosophen Kant, dessen alles zermalmende Philosophie jetzt die Welt beschäftigt, daß er während der Vorlesung einen bestimmten Punkt ins Auge zu fassen pflegt und dann gleichsam von diesem Pünktchen aus seine Gedanken entwickelt? Nun, seinem Lehrstuhl gegenüber pflegte ein Student zu sitzen, dem ein Knopf abgerissen war; diese Stelle, den fehlenden Knopf also, pflegte der große Gelehrte ins Auge zu fassen. Mehrere Tage ging's vortrefflich. Da hatte der unselige Studiosus den Einfall, den Knopf wieder anzunähen, und siehe da: Kant erscheint, sucht den abgerissenen Knopf, findet ihn nicht und hat keinen Orientierungspunkt; er wird verwirrt und kommt aus dem Text. Und das ist nun ein Mann mit zwei gesunden Augen und einem eminent gescheiten Kopf! Ist damit nicht der Beweis geliefert, daß selbst der gelehrteste Kopf einen Orientierungspunkt braucht, wenn in sein Leben Logik und Folge kommen soll?«

Die Zuhörer waren amüsiert, und Peggi zog sich lachend zurück, in Begleitung der Frau von Oberkirch, die Pfeffels Gattin zu begrüßen wünschte.

Nun war der Augenblick gekommen. Der beharrliche Viktor erhob sich, runzelte die Stirn und trat mit einem finstern Räuspern ans Fenster, andeutend, daß etwas in ihm zur Aussprache dränge.

Birkheim mit seiner Menschenkenntnis und seinem gesellschaftlichen Takt verstand sofort und kam ihm zu Hilfe.

»Unser Hartmann hat etwas auf dem Herzen. Heraus damit!«

»Ich glaube gleichfalls schon seit einiger Zeit zu bemerken, daß keine rechte Fröhlichkeit in Ihrer Stimme ist«, setzte Pfeffel hinzu. »Überhaupt, mein Lieber, wie ist denn das mit Ihnen? Was geht eigentlich in unserm Hartmann vor? Sie halten sich in unsrem Kreise möglichst am äußersten Rande, als möchten Sie bei der ersten Gelegenheit vollends über den Zaun springen. Einen arkadischen Schäfernamen wollten Sie nicht annehmen, um rein als Lehrer Ihren Schülern gegenüberzustehen. Gut, ich verstehe das, obwohl Tacitus oder Taciturnus, der Schweigsame, ein recht geeigneter Name für Sie wäre. Aber ich selbst vermisse auch ein wenig die geistige Verbindung mit Ihnen, lieber Sonderling und Einsiedler! Freund Lerse hat mir von seinem kurzen Gespräch mit Ihnen und der Baronin Türckheim erzählt und war recht amüsiert darüber. Mich hat es eigentlich ernst gestimmt. Denn, lieber Freund, irgendwo muß unser Herz seine Heimat haben. Weilt es nicht in der Freundschaft der Guten, so irrt es in der Fremde herum und ist in Gefahr, sich zu verlaufen.«

Pfeffel sprach mit gewohnter Güte und Besonnenheit. Birkheim nickte ernst und sah seinen Hauslehrer erwartungsvoll an.

»Sprechen Sie sich aus, Hartmann«, sagte er schlicht.

Viktor setzte sich, schaute zu Boden und versuchte in maßvoller und salonmäßiger Form seine Klagen vorzubringen.

»Ja, unser Herz sucht seine Heimat, ich fühle das wohl, Herr Hofrat. Auch werbe ich seit Jahr und Tag um die Neigung meiner Schüler und Schülerinnen samt ihren Eltern. Oft, in gehobenen Stunden, glaube ich ihnen ganz nahe zu sein; ich bin dann der seligste Mensch und danke in meinem Nachtgebet Gott auf den Knien für einen so gesegneten Tag, der mir die Herzen so empfänglich geöffnet, daß ich mit Lust meine Saat säen konnte. Aber am nächsten Tag ist wieder alles verhagelt.«

Und der junge Mann schüttete nun eine Fülle von Einzelfällen aus, ohne ein einzelnes Kind bloßzustellen, bloß um die Art dieser nichtigen Reibereien und Unarten zu kennzeichnen. Es war mehr als offen: es war peinlich. Aber die dahinter spürbare Gemütsbewegung ließ alles in einem so raschen Zuge vorüberrauschen, daß man die Hauptsache nicht aus den Augen verlor.

»Und die Hauptsache«, endete er, »ist diese: ich stehe mitten zwischen Dienstboten und Herrschaft. Bald werde ich im Empfinden der Kinder als ein Ebenbürtiger geachtet, bald sehen sie mich als bezahlten Dienstboten an. So ist es leider, Herr Baron, ich übertreibe nicht. Und von manchen Gästen des Hauses werden die Kleinen in letzterem Standpunkt bestärkt: so hat sich erst neulich Herr von Glaubitz von allen andren höflich verabschiedet, mich ließ er stehen und würdigte mich keines Blickes. Braucht er mich aber zu einer schriftlichen Arbeit, so kommt er auf mein Zimmer und ist die Liebenswürdigkeit selber. Ich bin Sohn der Reichsstadt Straßburg; mein Vater ist ein unabhängiger Mann; Freiheitssinn steckt uns im Blute. Demnach habe ich für jenes Verhalten kein Verständnis. Und noch eins, um ganz offen zu sein: ich habe Grund zu fürchten, daß manche meiner Anordnungen durch einen Gegenwink der Frau Baronin heimlich wieder aufgehoben werden .... Glauben Sie mir, Herr Hofrat, ich liebe meine Pflicht, ich liebe die Tugend, ich unterrichte gern. Aber mein Geist braucht Freiheit und mein Herz weint nach Liebe, nach Freundschaft, nach Adel der Seele, nach den Wundern und Wonnen eines herzlichen Austausches von Mensch zu Mensch. Ich bin einsam, ich weiß mir nicht mehr zu helfen.«

Der Kandidat schwieg, griff erregt in die lange Rocktasche, um das Taschentuch zu ziehen, und stieß auf ein Papier, das ihn mit elektrischem Schlag berührte. Dann wischte er sich mit dem Taschentuch das schweißtriefende Gesicht und die feucht gewordenen Augen ab. Birkheim war unruhig aufgestanden und ging in aufrichtiger Bekümmernis hin und her. Pfeffel aber umklammerte Hartmanns Arm.

»Mein Lieber«, sprach er herzhaft, »und haben Sie denn schon sich selber abgesucht, ob nicht ein gut Teil dieses Gespenstersehens in Ihrem eigenen unausgeglichenen Wesen liegen mag? Wir Erzieher kennen gar wohl die kleinen Nadelstiche und Nüchternheiten des täglichen Betriebs; Kinder wechseln in ihren Stimmungen wie die Witterung: – darum aber stehe der Erzieher mit ebenmäßiger Spannkraft über dem wechselnden Spiel und sammle seine Kraft auf die Ausbildung der eigenen Harmonie und Stetigkeit, damit er abgeben kann an diese jungen haltlosen Geschöpfe, deren Blutumlauf und geistig-sittliche Entwicklung noch so sprunghaft ist. Oh, wieviel Kummer und Ärger muß der Erzieher insgeheim verarbeiten, um am nächsten Tage wieder ein heitres Gesicht zeigen zu können! Halten Sie sich an das Gebet, mein Freund! Und in Kleinigkeiten versuchen Sie's einmal mit Humor! Dichten Sie sich mit Epigrammen die Leber leicht, Hartmann!«

Belisar hatte während dieser Worte den Kandidaten am Arm gehalten und schüttelte ihn mehrmals fest und freundlich. Zugleich setzte sich nun Baron Aristides wieder neben seinen Hofmeister und gab ihm die Hand. Es war, als kämpften die Mächte des Guten mit vereinten Kräften um den bedrohten Jüngling.

»Ich bedaure,« sprach der Baron, »daß wir unwissentlich der Anlaß zu Ihrer Vereinsamung sind. Seien Sie versichert, ich werde mit meiner Frau und mit den Kindern eingehend über das alles sprechen. Ich schätze Sie herzlich, lieber Hartmann. Und ich weiß auch, daß die Meinen Sie schätzen und lieben. Und wenn da manchmal nicht immer der glückliche Verkehrston gefunden wird – nun, so bitte ich Sie, sprechen Sie's grad' heraus, lassen Sie's nicht zu einer Anstauung kommen! Sie kennen mich genügend, um zu wissen, daß ich einem braven, ehrlichen Manne wie Ihnen ein offenes Wort nicht verarge.«

Frau von Oberkirchs hohe Stirn mit den straff zurückgekämmten Haaren leuchtete wieder im Türrahmen auf. Man brach ab.

»Wir sprachen vorhin vom Somnambulismus«, sprach die lebhafte Frau. »Ich habe in Zabern bei Kardinal Rohan den sogenannten Grafen Cagliostro kennen gelernt. Ein unsympathisches Gesicht, ohne Zweifel, aber – trotz der fatalen Halsbandgeschichte – der Mann bleibt mir ein Rätsel.«

»Ich sah ihn einmal zu Straßburg in der Stallschreibergasse auf dem Balkon sitzen«, bemerkte der Baron, rasch und unbefangen die Unterhaltung wieder aufnehmend. »Er trug ein kostbares rotseidenes Kleid mit goldenen Knöpfen; Manschetten und Halskragen bestanden aus wertvollen Spitzen; an den Händen blitzten schwere Ringe, anscheinend Diamantringe. Und ich entsinne mich deutlich der ungeheuer eindrucksvollen Augen. Ich halte viel vom Mesmerismus und Somnambulismus, wie Sie wissen, bin jedoch geneigt, jenen Sizilianer Balsamo oder Cagliostro für einen Abenteurer zu erklären, trotz seiner Wunderkuren, die er unentgeltlich geleistet hat.«

»Meinen Augen hat er nicht helfen können«, warf Pfeffel zurückhaltend ein.

Hartmann, noch in starker Erregung, hörte ohne Interesse zu. Er hielt die Beschäftigung mit dem Somnambulismus, wie sie damals umlief, für einen Zeitvertreib aristokratischer Kreise.

»Was Cagliostro anbelangt,« wandte sich Frau von Oberkirch an ihren Verwandten Birkheim, »so haben Sie bezüglich der Augen recht: unheimliche Augen, nicht wahr! Wie gesagt, mein Mann und ich haben den Magier im Zaberner Schlosse kennen gelernt. Wir saßen mit Sr. Eminenz dem Kardinal in einer anregenden Unterhaltung, als der Türsteher beide Flügeltüren aufriß und mit lauter Stimme den Anwesenden mitteilte: ›Se. Exzellenz der Graf von Cagliostro.‹ Unwillkürlich fuhr ich herum. Das Auge des Wundermannes, nochmals, hat eine übernatürliche Tiefe; aber der Ausdruck wechselt: bald Flamme, bald Eis; er zieht an und stößt ab. Kardinal Rohan hatte es darauf abgesehen, meinen Gatten und mich mit dem Wundertäter zusammenzubringen. Wohlan, er verwickelt uns denn auch in ein Gespräch. Cagliostro steht vor mir und fixiert mich in geradezu gruseliger Weise. Plötzlich sagt er: ›Madame, Sie haben keine Mutter mehr; Sie haben sie kaum gekannt; Sie haben nur ein einziges Kind; Sie selbst sind die einzige Tochter Ihrer Familie und werden nicht ein zweites Mal Mutter werden.‹ Stellen Sie sich meine Erstarrung vor! Woher wußte das dieser Unbekannte? Woher die Kühnheit, derartiges bestimmt und herausfordernd zu einer Dame von Stand zu sprechen? Der Kardinal hatte gespannt zugehört; nun bat er mich, zu antworten, ob der Zauberer richtig geschaut habe. Aber ich wandte mich ab; wir erhoben uns beide, mein Mann und ich, beleidigt von dieser ganzen formlosen Attacke. ›Nun, nun, entschuldigen Sie nur‹, begütigte Rohan, der ja damals schon in Cagliostros Zauberkreisen war. ›Der Herr Graf ist ein Gelehrter, da nimmt man die Formen des Salons nicht so genau. Und Sie beide als freie Protestanten werden doch wohl unbefangen genug sein, die eben vernommene Aussage vorurteilslos zu prüfen: ist sie wahr oder nicht?‹ – ›Bezüglich der Vergangenheit hat der Herr sich allerdings nicht geirrt‹, entgegnete ich kurz. – ›Und irre mich auch nicht bezüglich der Zukunft‹, fiel Cagliostros umflorte Trompetenstimme ein. Nun, meine Herren, was sagen Sie dazu?«

»Es ist ein merkwürdiges Jahrhundert«, entgegnete Pfeffel, nachdenklich den Kopf schüttelnd. »Die einen beschimpfen Kirche und Christentum, predigen Materialismus und suchen den Menschen zum › homme machine‹, zur Maschine zu erniedrigen. Und hart daneben zwingen uns magische Kuren zum Aufhorchen.«

»Und oft sind es dieselben Leute,« ergänzte die Baronin, »die vom Unterglauben und Unglauben zum Über- und Aberglauben hinüberspringen.«

»Ich sehe keinen Grund ein, warum ich etwa die Wundertaten eines so übermenschlichen Wesens wie Jesus leugnen sollte«, fuhr Pfeffel fort. »Wer ohne Einblick in die Zusammenhänge zum erstenmal vom Luftschiffer Blanchard, von magnetischer Kraft, Galvanismus oder den Wirkungen des Schießpulvers vernimmt, der hält diese Dinge nach seinem bisherigen Verstand gleichfalls für widersinnig und unmöglich. Ich glaube an geheime Gesetze, an eine insgeheim waltende Vorsehung. So entsinne ich mich eines sehr eindrucksvollen Erlebnisses aus meiner Jugend. Ich wollte mit einigen Schulkameraden die Nacht in einem Gartenhäuschen vor der Stadt verbringen. Aber die Mutter widersetzte sich meiner Bitte standhaft und hartnäckig. Ich war über diesen unvermuteten und unbrechbaren Widerstand recht unglücklich. Aber was geschah? In derselben Nacht schlug der Blitz in jenes Gartenhäuschen, in dem wir hatten übernachten wollen! So etwas hat zwar keine mathematische Beweiskraft; aber man lernt doch mit feineren Ohren auf seltsame Zusammenhänge achten, die den ungeübten Organen entgehen. Auch kann ich mir, wie es ja alle Religionen annehmen, das Weltall recht wohl mit Geistern und Engeln, Genien und Dämonen und allerhand ähnlichen Wesen bis hinauf zu den obersten Erzengeln erfüllt denken. Und an Unsterblichkeit zu zweifeln, kann doch wohl einem tiefer empfindenden Menschen, der einmal den Sinn und Gehalt des Wortes ›Leben‹ mit schauerndem Entzücken erfühlt hat, niemals einfallen. Allein gleichwohl: die ganze mystische Richtung von Lavater bis zu Swedenborg, von Jung-Stilling bis zu Oberlin – das ist etwas, was ein wenig außerhalb meiner Vorstellungskräfte liegt. Ich leugne nichts dergleichen. Allein für mich haben Menschenherz und Schöpfung, Kunst und Dichtung, Wissenschaft und Religion schon im Alltag so viel Wunder und Schönheiten, daß ich reichlich dadurch beschäftigt bin.«

»So kommen wir zu keinem Ergebnis,« rief der Baron, »das ist ein Ausweichen, lieber Freund! Es handelt sich bei unseren Sitzungen mit Somnambulen oder bei den Mesmer-Gesellschaften um den Experimentalbeweis, daß die Seele ein selbständiges Wesen sei, mit Fähigkeiten, die über alle Fähigkeiten der Sinne hinausgehen.«

Hartmann hatte aufgehorcht, als der Name Oberlin in sein Ohr fiel. Er verband seit jener belauschten Sitzung im Park mit dem Namen Oberlin den Vollbegriff einer frommen, festen, reifen Männlichkeit; er setzte in Gedanken neben den Namen des Predigers das Wort »die Zeder«. Doch sofort auch tauchte bei dieser Erinnerung das Bild der Marquise auf und stellte sich lächelnd zwischen ihn und jenem Baum. Wie hatte sie gesagt? »Kommen Sie mit fort, sonst flüchten Sie sich unter den Schatten dieser Zeder!« Es hatte vorerst keine Gefahr. Siedend heiß wallte ihm die Empfindung empor: in deiner Brusttasche knistert ein Brief der Marquise! In wenigen Tagen wirst du stundenlang bei der Marquise sitzen! Dann ist all dieser Ärger samt all diesen peinlichen Aussprachen vergessen. Seine Phantasie fing an zu arbeiten.

Er sprang auf, schützte sein tatsächliches Kopfweh vor und verabschiedete sich. Er werde auf der Straße nach Birkenweier vorausgehen, sprach er, der Baron samt den Damen werde ihn mit dem Wagen rasch einholen. Man kannte den Sonderling und ließ ihn ziehen. Pfeffel schüttelte ihm mit Wärme die Hand und flüsterte ihm zu: »Und nicht verstimmt, nicht wahr?«

Als sich Hartmann entfernt hatte, fuhr Frau von Oberkirch fort:

»Nun uns dieser junge Mann verlassen hat, will ich Ihnen noch etwas höchst Merkwürdiges anvertrauen. Die Vorgänge sind nicht etwa nacherzählt, sie sind von mir selber erlebt und mithin buchstäbliche Tatsache. Also, hören Sie zu! Es war am 18. Januar des jetzigen Jahres. Ein Freund von uns, Herr von Puységur, dessen magnetische Experimente mich schon in Paris gefesselt hatten, war nach Straßburg gekommen, und wir veranstalteten nun auch dort Sitzungen. An dem genannten Tage hatten wir eine Somnambule aus dem Schwarzwald, ein etwas kränkelndes Mädchen, das sich aber sehr für dergleichen Experimente eignet. Bei uns waren noch Marschall Stainville, der Kommandant von Straßburg, und der Königsleutnant Marquis von Peschery. Herr von Puységur wollte das Medium eben aufwecken, da kommt Herr von Stainville auf die Idee, der Somnambule Fragen über die Zukunft Frankreichs vorzulegen. Aber er sprach das nicht laut aus; er bat das Mädchen nur, sie möchte ihm sagen, was er in diesem Augenblick denke. ›Sie beschäftigen sich mit den Sorgen der Zeit‹, erwiderte die Somnambule. ›Sie wünschen über die Zukunft Frankreichs und insbesondere der Königin Näheres zu wissen.‹ Erstaunt bejahte der Marschall. Nun laufen ja freilich bereits trübe Weissagungen um; z.B. die unheimliche Weissagung des Herrn von Cazotte, die Herr von La Harpe nach Rußland an meine Freundin, die Großfürstin, gesandt hatte, von wo ich sie erst tags zuvor erhalten und mit Schaudern gelesen hatte. Um so erpichter war ich nun darauf, dies einfache Bauernmädchen zu vernehmen. Sie lag da in ihrem Sessel, mit geschlossenen Augen, und Schatten flogen über ihr Gesicht. ›Wieviel Blut!‹ murmelte sie. Der Marschall wollte Tatsächliches wissen. ›Sind die umherlaufenden Prophezeiungen richtig?‹ – ›In jeder Beziehung.‹ – ›Wie, alle diese Hinrichtungen werden stattfinden?‹ – ›Alle – und noch mehr!‹ – ›Wann?‹ – ›In wenigen Jahren.‹ – ›Und die höchsten Personen werden davon betroffen werden? Von Tod und Hinrichtung?‹ – ›Tod und Hinrichtung‹, wiederholte sie wie ein melancholisches Echo. – ›Und ich? Werde ich das Schicksal meiner Familie teilen?‹ – ›Nein.‹ – ›Was, so und so viele meiner Verwandten und Freunde sollen ihr Leben lassen – und ich alter Soldat soll zusehen? Das ist nicht Soldatenart!‹ Die Somnambule schwieg. Er wurde dringender. Sie schwieg. ›Armer Herr,‹ sagte sie endlich, und Tränen liefen über ihr Gesicht, ›Sie werden das alles nicht mehr erleben.‹ – ›Um so besser, so brauche ich Frankreichs Schande nicht mit anzusehen. Ich werde also vorher sterben?‹ Ganz leise hauchte sie: ›Ja.‹ – ›Wann ungefähr?‹ – ›In wenigen Monaten.‹ Wir alle bebten schon längst; ich versuchte den Marschall zu trösten, es sei ja alles nicht wahr, was die Somnambulen weissagten. Aber der alte Kriegsmann erhob sich. ›An mir liegt wenig. Ich wollte lieber, sie würde sich bezüglich Frankreichs irren ...‹ So verlief diese Sitzung. Und vor einigen Wochen ist, wie Sie wissen, der Marschall Stainville gestorben. Dieser Teil der Prophezeiung hat sich also bereits erfüllt: – wird sich auch der andere erfüllen?«

* * *

Im Blute Viktors und in den Lüften gärten Gewitter.

Er wand sich durch die Gassen der hochmütigen Juristenstadt Kolmar, die des Landes obersten Gerichtshof barg und im Winter von Redouten, Bällen und Geselligkeiten strotzte, und strebte ins Freie hinaus.

Er schritt durch die Judengasse, wo sich die Spitze des gotischen Münsters hereinreckt, bog in die Bäckergasse ein, hielt sich nach rechts und betrat durch das Wassergäßchen den Platz am Kloster Unterlinden. Dann verließ er die belanglose Steinmasse, wanderte auf der Schlettstadter Straße nordwärts und ließ sich vom Hauch der freien, weiten Ebene umspielen.

»Diese Aussprache«, so philosophierte der einsame Wanderer, »hat mein Blut erregt und wird Gutes wirken. Ich bin frei! Aber ich spürte sofort, als die Oberkirch wieder eintrat, wie man mich wieder ausschaltete und als überflüssig empfand. Diese Kreise sind nicht verloddert, wie man das der Pariser Aristokratie nachsagt. Aber auch sie bilden eine Kaste; auch sie sind hochmütig, ohne daß sie's wissen. Diese Frau von Oberkirch ist stolz auf ihre Freundschaft mit der Großfürstin, die aus Montbéliard stammt, mit der Herzogin von Bourbon und anderen Prinzessinnen, Fürsten, Herzögen, Grafen, Vicomtes – und Dichtern wie Wieland und Goethe, deren gelegentliche Briefe sie mit Vergnügen herumzeigt. Unterhielt man sich nicht neulich über die illustren Paten und Patinnen ihrer Tochter und zählte sie immer wieder an den Fingern ab? ›Die Großfürstin Maria Feodorowna, vertreten durch die Baronin von Pahlen, geborene von Dürckheim; die Fürstin Philippine Augusta Amalia, Gemahlin des regierenden Landgrafen von Hessen-Kassel, geborene Markgräfin von Brandenburg-Schwedt, vertreten durch die Frau Baronin von Hahn, geborene Lieven‹ – und der Kuckuck weiß wer noch, bis hinaus zu den Wurmser von Vendenheim! Das ganze Dasein dieser Kaste, die miteinander eine Gemeinschaft bildet und uns andere als minderwertig ausschließt, ist eine Beleidigung des Menschentums und des Christentums, das die Seele ansieht, nicht den Stand ... Nun, ich bin bitter und ungerecht, ich sollte den Mund halten. Will aber diese Marquise mit mir spielen, so irrt sie sich!«

Es war Eifersucht, was den Liebesdurstigen durchglühte: Eifersucht auf den Adel, dem er Diener war, statt geliebter Freund und geachteter Spielkamerad, Eifersucht auf alles Schöne, das seinem harten Beruf so fern schien.

Die sommerlich grünende, wenn auch von schwülem Himmel bleigrau überwölbte Landschaft, überall mit Baumwipfeln durchsetzt, übte beruhigende Wirkung aus. Links und rechts, in weitem Abstand, begleiteten ihn die düsterblauen Berge des Schwarzwalds und der Vogesen. Es öffnete sich zur Linken das Kaysersberger Tal; Zellenberg leuchtete von fern auf seinen Rebenhügeln; weit vorn erhob sich fast als einziger farbiger Gegenstand über der dunkelgrünen Ebene der Kirchturm von Hausen; und zwischen Zellenberg und Hausen hindurch schloß der breite und hohe Berg, der die massigen Trümmer der Hohkönigsburg trug, den Hintergrund ab.

Dort, in der Nähe der Rappoltssteiner Schlösser, wohnte Frau Elinor von Mably. War sie doch vielleicht die einzige, die ihn schätzte? War dort nicht etwas wie ein Zugang zu diesen Kreisen?

Ein Ausdruck stillen Entzückens glitt in sein wandlungsfähiges, eben noch unfreundliches Gesicht. Er verlor sich in Ausmalungen. Ein rieselnd angenehmer Schauer durchwirbelte den Jüngling. Und allmählich, indem er dahinschritt, ward er entlastet; und die ihm eigentlich gemäße Stimmung stellte sich wieder bei ihm ein: anschauungswarme Liebe zu allem Geschaffenen, im Bunde mit feiner Zurückhaltung.

Die Landstraße, anfangs noch hie und da von Wagen oder Fußgängern belebt, bog in ein verstäubtes Gehölz ein. Hier war eine angenehme Schattenstille. Hartmann suchte sich abseits einen Rasen, trocknete die Stirn, schaute sich nach allen Seiten um und holte dann den Brief hervor, der ihm auf dem Herzen brannte.

»Mein sehr schätzenswerter Herr Hartmann! Also schon nächsten Dienstag, den 21. Juli, werde ich Sie mit meiner Tochter Addy im Wagen abholen und nach Feenland und Sorgenfrei entführen. Es ist alles mit den Birkheims besprochen. Und ich darf die Bemerkung hinzufügen, mein Herr, daß ich mich auf diesen Augenblick freue. Mein Eigennutz versteckt sich hierbei ganz und gar nicht, ich will tüchtig von Ihnen profitieren. Aber ich hoffe, daß mein Vorteil und Ihr Vergnügen sich dabei mindestens das Gleichgewicht halten. Vor allem eins: darf ich immer alles frei und keck heraussprechen, selbst auf die Gefahr hin, daß auch Sie mich ein wenig oder sehr oder gänzlich für närrisch halten, wie die andren hierzulande? Halten Sie mich immerhin für eine Närrin, das macht nichts. Nur langweilig sollen Sie mich nicht finden. Ich wäre unglücklich, wenn mich jemand für korrekt, pedantisch, moralisch, vortrefflich, musterhaft – und was weiß ich was alles hielte. Ich möchte das gar nicht sein. Zwar auch das Gegenteil der eben genannten Tugenden ist nicht grade erforderlich oder wünschenswert. Aber wie kann man denn dies unendlich reizvolle, unendlich mannigfaltige Leben überhaupt in irgendeine Tugend einsperren wollen? Ich erlaube mir, heute sanft und morgen toll, heute blauer Himmel und morgen Regen oder Gewitter zu sein – just so, wie es das Wetter oder der Blutumlauf mit sich bringt. Denn ich bin nur ein Mensch, und weiter nichts. Sie aber, mein Herr Hartmann, sind in Gefahr, ein wenig einzustauben und in Moralismus oder Pedanterie zu vertrocknen, wenn ich Sie nicht aus Ihren Grundsätzen und Selbstgerechtigkeiten herausärgere und mit Leben anzünde. So werden Sie mir denn also vom nächsten Dienstag ab schöne Lehren erteilen, und ich gebe Ihnen dafür das bißchen, aber immerhin auch Schätzbare, was ich besitze: nämlich Wärme, Sonne, Feuer, Blut, Herz, Leben – und ein Körbchen Narrheiten oder Teufeleien als Gratisgabe dazu. Haben Sie Angst? Das rede ich nun alles bloß so hin, um Ihnen zu imponieren und meine Unwissenheit zu verschleiern. Denn Sie werden die schmerzliche Entdeckung machen, daß ich schauerlich unwissend bin. Ja, ich bin schauerlich unwissend! Aber das ist im Grunde recht gut so. Nun haben Sie mit mir um so mehr Arbeit, wie ich sicherlich auch mit Ihnen, Sie Inbegriff aller Korrektheit, aller Tugend und Moral! Und Ihr Würdegefühl wird nach gelungenem Unterricht um so aufgeblähter sein. Wollen sehen, wer zuerst mit dem andren fertig wird! Ich kündige Ihnen hiermit so eine Art Kampf an. Gibt es zu Paris eine hübsche kleine Revolution, wenn sich der Bürgerstand mit Adel und Geistlichkeit vermischt – wohlan, warum sollen nicht auch wir zwei eine niedliche Revolution durchmachen? Also, mein Herr, auf Wiedersehen! Ihre E. M.«

Der Empfänger dieses Briefes brauchte Zeit, dies herausfordernde Geplauder zu verarbeiten. Er küßte die dünn und flink dahintanzende Schrift, die nicht der Pfeile, Spitzen und Fanghaken entbehrte, und malte sich die bewegliche kleine Person aus, die dahinterstand. Dies alles war in seinem Leben eine Neuheit. Er las den Brief zum fünften und las ihn zum sechsten Male. Immer blieb der Eindruck einer angenehmen Verblüffung und verfänglicher Verheißungen. Und immer mehr wuchs ein Entzücken heran, mit Bangen gemischt: ein Entzücken, daß es ein solches Menschengeschöpf geben könne – grade für ihn.

Er steckte das Papier ein und wanderte auf der staubigen Landstraße weiter, wanderte schneller und schneller, Hände auf dem Rücken, Nase im Wind, die Augen starr ins wolkenverhangene Abendrot gerichtet. An den Bergen ging das Spätrot in ein Wetterleuchten über: dort, jenseits der Bücherwelt, saß das Leben unter sprühenden Blitzen der beginnenden Sommernacht an einem Waldbrunnen – eine nackte Fee! Du wunderlich Ding, du wildschönes Leben, was ist dein Sinn und Geheimnis? Bist du ein Weib und nicht zu enträtseln? Kannst du nur geliebt, doch nicht enträtselt werden?!

Keine pädagogische Weisheit reichte hier aus, kein reinlich Tagebuchblatt konnte dies feststellen. Dies Neue war größer als alle Literatur und Wissenschaft, als alles Gedachte, Geschriebene, Gedruckte – als alle Milliarden Bücher der Welt! ... Zum Teufel die Milliarden Bücher der Welt!

Das Unglaubliche geschah: der Hauslehrer der Birkheims auf Birkenweier fing an zu singen. Er sang! Er sang laut in die beginnende Gewitternacht. Die Natur um ihn her veränderte sich über seinem Singen. Jenes schwefelgelbe Abendrot im Nordwesten und die schwarzen Gewitter darin sangen; der wuchtige Wasgenwald darunter gab den Grundbaß; so sang auch des Wandrers Blut, so sang sein Mund und stellte den gleichen Rhythmus her mit dem starken Rhythmus der anwachsenden Gewitternacht.

Und horch! Diesem erdentrückten, wildheitren Gesang schien eine magisch heranbeschwörende Kraft innezuwohnen. Aus dem dämmernden Feld antworteten Gegenstimmen. Sofort schwieg Viktor, erschrocken über diese Wirkung. In der Tat, da sang es derb und deutlich herüber; es antwortete die rohe, unvergeistigte Naturkraft. Betrunkene sangen auf einem Feldweg.

Viktor setzte seinen Marsch mit beschleunigter Entschiedenheit fort, um dem Bereich dieser erdgebundenen Geister zu entrinnen. Plötzlich aber blieb er stehen und lauschte; eine der Stimmen klang bekannt. Und als er schärfer zusah, entdeckte er ein überaus drolliges Gebilde.

Es waren drei betrunkene Männer, die dort Arm in Arm über ein Kleefeld heranruderten. Wuchtig und breitschultrig zur Linken ein katholischer Priester, zur Rechten ein spindeldürrer, stangenlanger Küster und Organist, und in der Mitte, von den beiden an den Armen geschleppt, ein sinnlos lachender Holzschuhhändler, der seinen Ballast auf dem Rücken trug. Sie wirkten melodramatisch auf den unangenehm erstaunten Zuhörer ein; mit gerufenen oder durcheinandergesprochenen Worten wechselten Gesänge ab, die der Harmonie entbehrten; und zur Abwechslung setzte dann ein johlendes, alle Kunst vollends verschlingendes Lachen ein.

Der feine Hofmeister hatte sich durch schnellere Gangart diesem Dunstkreis entziehen wollen. Aber die drei verbündeten Mächte kamen ihm zuvor, riefen ihn an, stürmten durch die fahle Dämmerung herbei und fielen in seiner Nähe alle drei platt in den Klee. Es war ein lachendes Knäuel, aus dem sich als erster der Löffelschnitzer und Holzschuhhändler aus den Hochvogesen löste, der wenig Französisch und nicht viel Deutsch konnte und in seinem Kauderwelsch mit fortwährendem Lachen auf die zwei andren zeigte und gegen die Vergewaltigung protestierte. Dann erhob sich der wuchtige Abbé und schwang sich rittlings auf den Küster.

»Leo Hitzinger, bist du's?« rief Viktor, halb belustigt, halb angewidert, dem starken Pfarrer zu.

» C'est cela, Viktor, brav's Lämmel, ich bin's!« antwortete sein Straßburger Schulkamerad aus dem Kleefeld herüber. Dann trommelte er mit der Faust auf sein Reitpferd ein und schrie weiter: »Auf dem Satanas da reit' ich in d' Höll'! Der verführt mich zum Trinken!«

Er warf seinen Löwenkopf empor und schaute mit geblähten Nüstern und weit offenen Negerlippen zu Viktor empor, der am Straßenrand stehen geblieben war. Jäh mußte ihm dabei der Gegensatz zwischen seinem unwürdigen Zustand und der aufrechten Gemessenheit des Jugendfreundes im Bewußtsein aufblitzen; denn ernüchtert stand er auf, suchte seinen Hut und gab dem Daliegenden einen verächtlichen Fußtritt. Der lange Mensch, auf dem er gesessen, erhob den Kopf, blieb aber auf Knien und Händen liegen und stellte sich mit Komik vor: » Monsieur«, lallte er zu Viktor empor und zischte in kräftigem Alemannen-Französisch, » excusez, je m'apelle Jean Jacques Lauth – schreibt sich L-a-u-th, spricht sich awer Loth. Denn mr sen Franzuse un mache e bissel Revolution, vous savez.« Dann prustete er mit einem prasselnden Gelächter heraus, drehte den Kopf nach der Seite, blinzelte den Holzschuhmacher an und wälzte sich mit einer Art Wollust im Klee. Und als nun gar unzüchtige Worte aus dem Betrunkenen empordampften, versetzte ihm der Abbé einen abermaligen Fußtritt, sprang auf die Straße, nahm Viktor am Arm und eilte mit ihm fürbaß. Hinter ihnen verhallte das quietschende Lachen des Humoristen Jean Jacques Lauth, genannt Loth, und das Kauderwelsch des schwachmütigen Nicola.

Viktor empfand diesen Vorgang als grundhäßlich und fühlte sich aus all seinen Himmeln gerissen. Er entzog sich dem Arm seines Jugendkameraden und machte ihm heftige Vorwürfe. »Du entehrst deine Soutane, Leo, du entehrst dein Amt, du entehrst deine Kirche, du machst dem würdigen alten Priester, dessen Gehilfe du bist, Kummer und Verdruß.« Leo Hitzinger versuchte erst, die Sache ins Harmlose umzufärben: der verweichlichte Viktor, meinte er, habe keinen Sinn für volkstümlichen Humor. Aber dann ward er kleinlaut und gänzlich still; er verteidigte sich nicht mehr. Mit schweren Schuhen schlürfte der bauernhafte Recke neben dem schlanken Hauslehrer einher, in sich zusammengesunken, und murmelte von Zeit zu Zeit: »Leider, leider, 's isch wohr.« Die Blitze mehrten sich, die Dunkelheit wuchs. Der junge, starke Abbé wischte mit dem Ärmel über das dunstig feuchte Gesicht, blieb stehen und stöhnte leis und schwer: »O Maria, heilige Mutter Gottes, ich bin ein verlorener Mann!« Dann begann er, dumpf und stockend, und legte dem Schulkameraden eine Art Lebensbeichte ab – gründlich, bis in die Winkel seines Herzens hinein, durchdrungen von einer großzügigen Reue, zur Offenheit gepeitscht von nachwirkender Trunkenheit. Viktor schaute in Abgründe.

Trunksucht und wohl auch Wollust waren hier im Begriff, eine nicht unedle Kraftnatur zu zerstören. »Ich habe zu Hause zwei ältere Brüder, die Zwillinge, du kennst sie«, sagte der Unglückliche. »Diese sind vor Gott verantwortlich für das, was sie an mir getan haben. Die haben schon den Knaben in Laster eingeweiht, haben meine Phantasie vergiftet, haben mein Blut und Denken verunreinigt! Dann hab' ich mich in unsre heilige Kirche geflüchtet. Das hat anfangs gut getan. Und, Viktor, du bist zwar ein Ketzer, aber ich sag' dir: die Kirche ist das ein und alles auf der Welt, sie bleibt heilig, auch wenn sie unheilige Diener hat wie mich. Doch danach bin ich in dies Weinland versetzt worden und hab' den Säufer dort, den Späßelmacher, den Wüstling kennen gelernt. Der hat die Krankheit wieder herausgeweckt. O heilige Mutter Gottes, o mein' Mutter Gottes, du liebe reine Jungfrau, jetzt bin ich wohl ganz verloren.«

Der Abbé setzte sich plötzlich an den Straßenrand und weinte.

Viktor war tief erschüttert. Er bückte sich zu dem Weinenden hinab, zog ihn am Arm empor und tröstete ihn mit treuherzigen elsässischen Worten, wie denn überhaupt dies kameradschaftliche Gespräch in der Mundart des Landes geführt wurde.

»Nimm dich vorm Wein und vor der Sünde des sechsten Gebotes in acht, Viktor!« fuhr Leo Hitzinger fort. »Es verdirbt Leib und Seel'. Anfangs hat das Laster Katzenpfötchen, hernach Krallen. In uns allen sitzen Wölfe, Hexen, Raubvieh, Geister und Teufel! Ich sag' dir, ich bin wie der Sankt Antonius in der Wüste, so zottelt und schnappt das wilde Vieh um mich herum! Jedem Weib schau' ich mit unreinen Blicken durch das Gewand hindurch – verstehst du das? Und wenn's mir zur Qual wird, so stürz' ich mich ins rote Meer – in den Rappoltsweiler Rotwein!«

So zerfleischte sich der kräftige Abbè mit Selbstvorwürfen und wimmerte wie ein Kind. Dann fuhr er mit leiserer Stimme fort, gleichsam noch Tränen verschluckend, aber mit so echtem Gefühl, daß es Viktor nicht minder naheging:

»Vor ein paar Tagen hab' ich ein Mädchengesicht gesehen. Viktor, wie eine Heilige ist das an mir vorübergegangen. Ich hab' ihr nachgeschaut, solang' ich gekonnt, dann hab' ich mich ins Gras gesetzt und hab' weinen müssen wie noch nie. Zum erstenmal ist mir da besser gewesen; da ist Frieden gekommen, schöner, stiller Frieden. Keine Wölfe mehr. Das Kind hat sie verscheucht. Es ist ein Kind noch, ist mit der Mutter gegangen, sie wohnen da drüben an den Bergen, feine vornehme Leut' – aber ich sag' dir, Viktor, als wenn die heilige Jungfrau aus der Dusenbachkapelle leibhaftig über die Erde wandeln tät'. Weißt, ich muß Bilder sehen, dann begreif' ich die Dinge. Wenn ich so ein schönes, reines Mädchen sehe, o so ein liebes Kindergesicht mit so guten Augen – da begreif ich, was Reinheit ist. Da seh' ich lauter Seele und keinen Körper mehr, da mal' ich mir nichts Häßliches aus, denn ich seh' das liebe Lächeln, sobald ich die Augen zumach'. Du liebe Mutter Gottes von Dusenbach, mußt mir nicht bös sein!«

Er hatte die letzten Worte sehr zart und innig vor sich hingesagt. Dann schwieg er, die Tränen von den Wangen wischend, und es klangen nur die harten Stiefelschritte der beiden Wanderer durch die schwüle Stille.

Die Nacht hatte nun das ganze Land verfinstert. Aber die fernen stummen Blitze tauchten die Gegend und die zwei Gestalten oft in eine übernatürliche Helle.

Von Kolmar her nahte ein rasch fahrender Wagen. Deutlich vernahm man den scharf herüberklingenden gleichmäßigen Trab der wohlgeschulten Herrenpferde.

»Da kommt mein Baron gefahren«, warf Viktor hin.

Der Abbé blieb stehen, lauschte und bog mit einem kurzen, scheuen »Gut' Nacht!« in einen Seitenweg ab. Rasch war die breite, dunkle Gestalt verschwunden.

Als Viktor gleich darauf den Wagen anrief und aufgenommen wurde, empfand er das ganze Erlebnis wie einen Sommernachtsspuk.

* * *

Octavie und Annette hüllten den erhitzten und bestäubten Fußwanderer sorglich in ein Tuch, um ihn vor dem Nachthauch zu schützen. Wohlig empfand er diese zarte Fürsorge, womit Octavie ihr heutiges Benehmen gut zu machen trachtete. Er überließ sich, immer wieder rasch zur Versöhnung bereit, aufs neue einer Atmosphäre, die er noch vor einer Stunde mißmutig verurteilt hatte. Er hatte hier doch so etwas wie eine Heimat; es waren hier doch gut und rein empfindende Menschen, die zugleich durch die Überlieferungen einer vornehmen Kultur hindurchgegangen waren.

»Eigentlich«, sagte Octavie, »müßten Sie uns nun bei so schön-schauerlichem Wetterleuchten einige Spukgeschichten erzählen.«

»Der Arme!« rief der kutschierende Baron herum und schlug mit Absicht einen gemütlichen Ton an, um die Spannungen des Tages auszulösen. »Er ist ja eben erst vor unsren Geistergeschichten davongelaufen!«

»Glauben Sie denn nicht an Geister, Herr Hartmann?«

»Aber mein, Fräulein,« versetzte Viktor, »die ganze Welt ist ja voll Geister, und ich bin ja selber einer.« »Ich meine die Geister, die nicht mehr leben, die keinen Körper haben, die sogenannten Toten nämlich, oder auch die Naturgeister, die ein Reich für sich bilden. Glauben Sie, daß es solche gibt? Und glauben Sie, daß sie sich, wie in den Sagen berichtet wird, mit manchen Menschen in Verbindung setzen können?«

»Das wäre noch so ein Handwerk, lieber Hartmann!« rief der Baron abermals zurück. »Geisterbanner! Oder Schatzgräber auf einer der alten Burgen da oben! Binden Sie mal den beiden etliche Bären auf: etwa vom weißen Fräulein, das an den Ufern der Fecht spukt, oder von der gelben Dame, die manchmal auf der Königsburg erscheint und mit dem Schlüsselbund rasselt, oder vom Büßer zu Kaysersberg, der in großen Holzschuhen tappt und ein Kreuz auf dem Rücken trägt!«

»Aber warum sollten wir denn außerhalb der lebendigen Menschheit Geister und Schätze suchen?« versetzte Hartmann, dessen Gedankenstrom wieder floß. »Gibt es nicht in den Herzen der Menschheit Geister und Schätze genug? Ich meine, es kann nichts Schöneres geben, als auf einen unglücklichen oder verwirrten Menschengeist günstig und klärend einzuwirken. Das heißt Teufel verjagen und Engel einführen.«

Er dachte an den unseligen Freund, der, von Dämonen gepeitscht, nun über das nächtliche Feld irrte. Und unter dem gespenstischen Zucken der Blitze und den nachwirkenden Erlebnissen des Tages überkam ihn etwas wie Genialität.

»Überhaupt«, sprach er ernst und tief, »können einen die mesmerischen Experimente auf sonderbare Gedanken bringen. Ob nicht alles geistige und seelische Leben davon abhängt, wie die Menschen aufeinander wirken und einander entzünden? Ob nicht Sonne und Erde gegenseitig in einem Verhältnis stehen wie Mann und Frau? Oder wie Hypnotiseur und Somnambule? Die Erde wird vielleicht von der Sonne entzündet, nicht weil die letztere ein geheizter Ofen ist, sondern weil eben die Sonne entflammend auf uns wirkt – wie eine Seele auf die andere. Vielleicht wirken wir Planeten ebenso auf die Sonne zurück? und fetzen sie vielleicht in die Glut, die sie uns zurückgibt? Ich denke mir, solch ein Wechselverhältnis ist in aller Liebe und Freundschaft. Und so wird es wohl auch leider sein zwischen Verführer und Verführtem. Es kommt alles darauf an, wie Menschen aufeinander einwirken: mit belebenden oder mit zerstörenden Flammen.«

Annette von Rathsamhausen griff mit Begeisterung den Kern dieses Gedankens auf. Sie wandte ihn, nach weiblicher Weise, sofort auf einen persönlichen Einzelfall an: auf die schöne Einwirkung, die sie von ihrem väterlichen Freunde Pfeffel erfahren hatte.

»Ich erinnere mich mit Entzücken des Augenblicks, wo ich ihn zum erstenmal sah«, plauderte sie. »Unsere Birkheims hatten mir oft mit dem tiefen Respekt, den er einfloßt, von ihm gesprochen; das vermehrte natürlich meine angeborene Schüchternheit, über die ich mich manchmal tüchtig ärgere. Nun, eines Tages gaben meine Freundinnen zu Kolmar ein Konzert vor einem großen geladenen Kreise von etwa sechzig Personen. Ich kam zu Pferd von unserem Landgut Grüßenheim herüber und trat ohne weiteres im Amazonenkostüm in den Salon, erschrak über die festliche Versammlung, zog mich zurück und kleidete mich um. Dann lief ich auf das Stadthaus, um eine Sache zu ordnen, die meinen Vater betraf, und kam zurück. Da hatte man denn die Aufmerksamkeit, mich unmittelbar neben Pfeffel zu setzen, dem man ganz leise meinen Namen ins Ohr sagte. Die Musik war entzückend, meine Freundinnen schön wie Engel – jawohl, Octavie, ihr waret süß wie immer, – und mir war über all dem Schönen das Herz so voll, daß ich kaum zu atmen wagte. Ich brannte schon so lange darauf, den Dichter Pfeffel persönlich kennen zu lernen – und da saß er nun still und lauschend an meiner Seite! Pfeffel ist eine sensitive Natur, er spürte mein erregtes Atmen und ergriff meine Hand, die er ganz zart und beruhigend drückte. Das war zuviel für mich – ich lief wieder hinaus, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen! Sehen Sie, darum verstehe ich so gut, so sehr gut, wie Menschen aufeinander wirken können. Am andern Tage ging ich dann natürlich mit meinen Freundinnen in seine Wohnung, um mein törichtes Betragen wieder gut zu machen. Fanny war krank gewesen: Pfeffel schloß sie bei der Begrüßung mit einer solchen zärtlichen Liebe väterlich in die Arme, daß es mir ein unvergeßlich rührender Eindruck geblieben ist. Ich bat Gott im stillen, auch mir Menschen zu senden, die so zu lieben wüßten wie dieser gütige Mann.«

Octavie, die mit der Freundin in eine gemeinsame Decke eingehüllt war, schlang noch zärtlicher den Arm um sie und küßte Annettens Wange. Auch Hartmann fand beistimmende Worte. Dann flog sein Gedanke wieder hinaus ins nächtliche Feld, über die ganze nächtliche Menschheit, wo so manche unglückselige Seele trüb und traurig umherirrt und nach Menschen sucht, nach einem guten Wort, nach Wärme, nach Liebe.


 << zurück weiter >>