Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Sechstes Kapitel

Kriegskameraden

Die jungen Straßburger Viktor und Albert standen inzwischen im Feld und fochten unter harten Entbehrungen gegen die vordringenden Österreicher.

Der östliche Flügel der republikanischen Armee lagerte gegen Ende Oktober in der Wanzenau nördlich von Straßburg. Die Avantgarde unter Brigadegeneral Combez hatte Dorf und Umgegend besetzt. In den benachbarten Gärten um Kilstett und Reichsstett befehligte Desair. Die Gefechtslinie in diesen mühseligen Kämpfen war derart auseinandergezogen, daß sich die Armee als lebendige Mauer vom Rhein nach den Vogesen hinüberdehnte: hinter der Suffel und der Zorn, von Schiltigheim über Brumath bis Zabern, wo die Kanonen des äußersten linken Flügels im Park des Rohanschen Schlosses standen. Jenseits des Gebirges schloß sich die ebenso ausgedehnte Moselarmee an. Man kannte noch nicht die rasche, wuchtige, konzentrierte Gefechtsweise der napoleonischen Schlachten; das Genie war noch nicht in Erscheinung getreten.

Am Rande des Dorfes Wanzenau, in einem sogenannten »Knitschloch«, in dem man Hanf zu brechen pflegt, saßen die Leutnants Frank und Hartmann am Feuer und brieten in der glühenden Asche Kartoffeln. Es war spät in der Nacht. Die Kameraden schliefen. In Dorf und Landschaft war das Gesumme einer unzufriedenen, schlechtgenährten, niedergedrückten Armee langsam verstummt. Durch den lastenden Nebel glühten die Wachtfeuer. Kein Kavalleriesignal mehr bei den zwanzig Eskadrons; die zwölf Bataillone der Vorhut schliefen in Häusern und Scheunen, Zelten und Gräben; die zwei Freikompanien hielten den Dorfrand besetzt. Durch Verhaue deckte man sich gegen den Feind; rechts schützte der breitflutende Rhein; lässig patrouillierten die Vorposten. Eines Überfalls war man nicht gewärtig, obschon das Waldecksche Korps kaum zwei Stunden entfernt lag.

Die zerrissenen und ausgehungerten Kriegskameraden hatten sich merklich verändert. Der lange Viktor war »dürr wie ein Rebstecken«, nach Alberts Ausspruch, sein hager Gesicht durch Bartwuchs verwildert; das Haar drang ohne Zopf in braunen Strähnen unter dem Hut hervor; nichts mehr an der äußeren Erscheinung des Leutnants Hartmann, wie er da mit hochgezogenem Mantelkragen auf zusammengelegten Kartoffelsäcken am glimmenden Feuer saß, erinnerte an den Hofmeister von Birkenweier.

Sie stocherten mit den Säbeln in der Aschenglut herum, spießten schwarz gebratene Erdäpfel heraus, schälten sie flüchtig und schlangen die mehlige Frucht hinunter.

»Weißt du, wen ich neulich traf, Albert?«

Albert murmelte und kaute.

»Freund Friansol.«

»Wen?«

»So nennt ihn Combez, er meint aber Frühinsholz. Reicht mir vom Pferd herunter die Hand. ›Ah ça, Hartmann, erst Leutnant? Guck her, ich trage die Generals-Epauletten! Und trotz aller Gefechte und Schutz in den Schenkel erzlebendig!‹ Und plaudert gemütlich und reitet weiter. Ein guter Kerl.«

»Was mich betrifft, Viktor,« sagte Albert und blies in seine heiße Kartoffel, »so hab' ich ein Dessert in der Tasche.«

»Was denn?«

»Rat mal!«

»Aus Barr?«

»Stimmt!«

»Brief?« »Voilà!«

Und schon saßen die Freunde Schulter an Schulter und breiteten drei zierliche Blätter auf ihren Knien aus, um sie im Flimmerschein des matten Feuers zu lesen. Es war ein herzlicher Brief von Addy, mit Nachrichten der Mutter und einigen Schlußsätzen in der großen, schönen und langsamen Schrift Leonies.

Als sie einträchtig gelesen hatten, geriet Albert ins Träumen und säbelte aufs neue in der Asche herum. Der genaue Magister Hartmann aber hatte etliches nicht nach Wunsch entziffert und las den ganzen Brief noch einmal.

Dann plauderten sie halblaut, um die nahe schlafenden Kameraden nicht zu wecken.

»Wir nehmen morgen Urlaub«, begann Albert. »Die Rückzugsbewegung hat jetzt ein Ende. An Straßburg wagen sich die Weißröcke nicht heran, obschon der Pulvervorrat unsrer magren Festung nicht lange reichen dürfte. Doch bald bekommen wir Zuzug und Pichegru als neuen Obergeneral – und dann rücken wir vor. Vorher aber essen wir uns bei deinem Vater satt und machen einen Sprung nach Barr.«

»Über die politischen Zustände in Straßburg hört man böse Sachen«, versetzte Viktor düster. »Und ich bin seit langem ohne Brief von Papa.«

»Es wundert mich überhaupt, daß du aushältst, Viktor.«

»Wieso?«

»Nun, du steckst doch eigentlich hier in einer recht unnatürlichen Situation.«

»Wär's besser, wenn ich in Fort Louis Erbssuppe verbrennen ließe vor lauter Studium, wie sie mir neulich vom guten kurzsichtigen Redslob schrieben? Nein, lieber in der Front als in jenem überfüllten Schnaken-Fort, das die Österreicher nächstens in Brand schießen werden samt dem Straßburger Bataillon!«

»Du stehst deinen Mann, Viktor, ich muß das sagen. Aber du bist doch eigentlich nur aus Pflichtgefühl Soldat, sozusagen aus Philosophie, und bist nun mal hier nicht auf deinem rechten Posten.« »Ja, die Zeder ist weit von hier«, murmelte Viktor trübe. »Noch weiter die Süßlichkeiten oder Dämonien von Birkenweier. Die heroisch durchgeführten Maximen der Pflicht ohne Wenn und Aber – du hast recht, das bestimmt mich. Wenn ich aber einmal dessen würdig bin, so wird mich Gott ganz von selber aus diesen Niederungen herausholen und auf die Berge stellen, wo ich Menschen zur Würde ihres Menschentums erziehen darf. Kann ich einstweilen meinen Mitmenschen nicht mit Geist dienen – sei's drum, so dien' ich mit Blut. Darf ich nicht Erzieher sein, so bin ich Soldat.«

»Es freut mich immer wieder an dir, wie du bei all deiner Gelehrsamkeit so bescheiden bist.«

»Ich bescheiden? Du kennst mich schlecht, Albert. Ich muß das Höhergeistige Schritt für Schritt meiner Natur abringen. Ich bin von Natur sehr hoffärtig, darum sehr übelnehmend; ich bin erpicht darauf, geliebt und gehätschelt zu werden, statt selber zu lieben; ich bin weichlich, ausweichend, mürrisch, rechthaberisch – kurz, ich muß Schritt für Schritt dem Niedrigen in mir den Fuß auf den Nacken setzen. O mein guter Albert, dem Geheimnis der Liebe steht ihr alle näher. Ihr seid viel treuer, einfacher, reiner als ich, du und Leonie und Addy und deine Mutter. Gott ist mir oft so fern; ich bin dann so leer und leide unsäglich. Hätte mir Gott nicht wertvolle Menschen gesandt, die auf mich einwirkten, ich wäre verkommen. Verstehst du nun, warum ich hier sitze? Um den Weichling in mir zu ducken und den selbstlosen Helden frei zu machen. Ich leide unter der Unzucht des Lagerlebens, unter diesem Schimpfen und Fluchen und all den stumpfen Unsauberkeiten der Gespräche – aber ich beiß' es herzhaft durch. Und gern, mein Lieber, gern beiß' ich's durch. Wir sind bevorzugt, wir Zwei. Wir kennen brave Menschen, für die wir kämpfen und die herzlich an uns denken. Und schließlich, glaub's oder glaub's nicht: ich habe in meiner Natur ein Stück Soldatentum.«

Der flaumbärtige Jüngling an seiner Seite hatte gerade eine Schnur zwischen den Zähnen, womit er seine zerfetzten Gamaschen festband. Er lächelte den Kameraden von der Seite an und sagte: »Es philosophiert wieder einer. Und der heißt mit dem ersten Buchstaben Viktor.«

Hartmann betrachtete ihn einen Augenblick.

»Wenn du so lächelst, siehst du deiner Schwester zum Verwechseln ähnlich. Himmel, was habt ihr für ein gutes Lächeln! Ich kann dir gar nicht sagen, Albert, wie dankbar ich euch bin.«

»Wofür?«

»Daß ihr auf der Welt seid.«

»Sag einmal, Viktor, du hast vorhin den Brief oder eigentlich die drei Briefe ohne Umstände eingesteckt, als gehörte sich das nicht anders. Sie sind aber an uns beide gerichtet. Allons, komm, wir lassen das Los sprechen! Wer's längst' Steckl zieht, der darf den längsten Brief behalten.«

Er meinte Addys Brief. Und schon hatte er von einem Hanfstengel drei Stäbchen gebrochen, verdeckte ihre Länge in der Hand, ließ die drei Enden gleichmäßig herausragen und hielt sie Viktor hin.

»Aha,« sagte nun Viktor lächelnd, »es spekuliert wieder einer. Nämlich auf Addys Handschrift. Übrigens wollen wir deine Schwester nicht unterschätzen, Albert. Sie hat neben unsrem Sorgenkind Addy keinen leichten Stand. Und Leonie hat Takt, viel Takt.«

»Ein gutes Kind,« meinte Albert flüchtig, »aber einer Addy kommt sie nicht gleich. Zieh!«

Viktor zog – und zog das kürzeste der drei Stäbchen.

»Famos, Viktor! Du erhältst Leonies kurzen Zettel, ich Addys langen Brief – und der Brief von Mama ist ohne weiteres mein!«

Viktor packte den Jungen in einem plötzlichen Anfall von Zärtlichkeit und preßte ihn kräftig ans Herz.

»Du guter, lieber Kerl du! Wie er sich nun freut! Könnt' ich euch doch so recht sagen, wie ich euch gut bin!«

»Recht so!« meinte Albert, ließ sich gemütlich schütteln und herzen und steckte derweil den Brief ein. »Ich frier' ohnedies wie ein Schneider!«

»Frierst, Kleiner? Wart'!«

Und Viktor sprang auf, nahm die Säcke, auf denen er gesessen, und umwickelte den jüngeren Freund zärtlich mit Kartoffelsäcken.

»So, mein Alterle, jetzt legst dich aufs Ohr und schläfst!«

»Un morje gehn mr heim«, murmelte Albert aus seiner Verschalung heraus und war binnen kurzem entschlummert.

Viktor vermochte nicht zu schlafen. Es durchrieselte den sensiblen Menschen eine merkwürdige Unruhe. Etwas wie eine schwermutvolle Weise weinte durch diesen wuchtenden Nebel, in dem die Weidenbäume standen wie erfrorene Schildwachen. Er horchte in das leise Summen der fröstelnden Nacht; er schien allein zu wachen auf einem endlosen Meer; und die große Trauer der Einsamkeit überkam ihn wieder einmal, eine gleichsam musikalische Trauer, den Worten unzugänglich. Die Vaterstadt Straßburg mochte knapp zwei Stunden entfernt sein; war es vielleicht möglich, die heimatlichen Töne der Münsteruhr durch die graue Herbstnacht hindurch zu vernehmen? Er stand, hielt die Hand ans Ohr, lauschte. Dann spähte er nach den Vorposten und versuchte die österreichischen Biwakfeuer zu erkennen. In seinem Tornister steckten Kants »Praktische Vernunft« und ein Band von Zollikofers Predigten; doch begnügte er sich damit, ein nasses Zeitungsblatt heranzuspießen, das in seiner Nähe lag, und einen Blick hineinzuwerfen. »Die österreichische Megäre hat an derselben Stelle, wo der Tyrann Capet sein Haupt verlor, die verdiente Strafe erhalten. ...« Er hatte genug und warf das Blatt angewidert ins Feuer.

»Wie komm' ich in diese Regionen des Hasses? Gott der Liebe, den ich suche mit meiner tiefsten Seele, was hab' ich mit dieser Gattung der Raubtiere gemein? ... Unritterlich, grausam und wollüstig ist jetzt diese Nation, die ehedem geschmackvoll und ritterlich schien! Ihre Kultur ist Firnis!... Gleicht nicht Saint-Just körperlich jenem Karl IX., dem treulosen König der Bartholomäusnacht? Robespierre hat es behauptet. Und ich vernahm von einer Frau in Straßburg, sie hätte visionäre Geister an der Arbeit gesehen, darunter im blutigen Gewande den Admiral Coligny, den sie in jener Blutnacht getötet haben. ... Sind die dreißigjährigen Hugenottenkriege zwischen den Guisen und Coligny in neuen Formen aufgewacht? Haben sich jene Geister abermals in dämonischen Scharen auf die Erde gestürzt und toben nun mit Hilfe einer Geschwindmaschine in drei Jahren aus, was sich einst in dreißig nicht erschöpft hat? ... Es standen Condés und Bourbons an der Spitze der Hugenotten und errangen in Heinrich IV. den Königsthron – zweihundert Jahre vor der Revolution, die sie nun wieder hinwegfegt! ... Mein Ohr ist in dieser düstren Nacht auf schwermütige Melodien gestimmt. Ich will an gute Meister und Menschen denken, an das Nestchen in Barr, an Jena und an meinen Oberlin in Waldersbach – und an dich, mein alter Vater, dem ich ein freundlich Abendrot um den Scheitel legen will« ...

Und er stand, den dreieckigen Militärhut mit der Kokarde auf dem tiefgeneigten Kopf, im Mantel der französischen Infanterie, die Arme verschränkt. Unbeweglich stand er am Ufer des elsässischen Nebelmeeres und wälzte das Heimwehwort aus seiner Lieblingsdichtung Iphigenie im Sinn: »Und an dem Ufer steh' ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend«.

Spät schob er einen Holzblock ans Feuer, setzte sich neben Albert, stützte den Kopf in beide Hände und schlief ein. ...

Die Österreicher hatten sich durch Verrat die französische Parole verschafft. Sie verließen gegen Morgen ihr Lager. Prinz Waldeck hatte fünf Bataillone, fünf Divisionen Kavallerie und zwölf Kompagnien Rotmäntel zu einem Handstreich bestimmt. Die Lagerfeuer wurden täuschend weiter unterhalten, mit Vorsicht rollten Kanonen und Pulverkarren; kein glimmend Schwämmchen in der Tabakspfeife; die Trommel hängt mit abgespanntem Fell dem Trommler auf dem Rücken. An Kreuzwegen, wo sich gespenstische Züge berühren, wird flüsternd nach dem Bestimmungsort gefragt. Und auf den Nebelwiesen immer näher rückt das Schattenheer heran. An der Spitze die katzenhaften Rotmäntel, mit Pistolen und Damaszenerdolch im Gürtel, Flinte mit Bajonett im Arm. Ihr Bestimmungsort ist Wanzenau.

Sind das dort republikanische Schildwachen? Das steht bewegungslos, gebannt, erstarrt. Nein, es sind entblätterte Weidenstämme. Halt! Da scholl ein deutlich »qui vive!« Emigranten vor! Gebt den Carmagnolen in gutem Französisch die französische Tagesparole! Zuruf dort – Antwort hier – alles in Ordnung! Aufgerückt, rasch, Rotmäntel, Batterien, Kavallerie – – jetzt: – – und mit ihrem furchtbaren »Allah! Allah!« stürzt die wilde Truppe der Rotmäntel über die Republikaner herein. Trommeln, Trompeten, Schüsse – die Schanzen sind genommen! Die österreichischen Kanonen rasseln in die Dorfstraße und donnern in die unbeschreibliche Panik. Gebrüll, Getöse, Tumult der Flucht! Klumpen fliehender Franzosen wirbeln aus den Häusern, Massen von Kavallerie überschwemmen Wiesen und Feld und suchen die Eskadrons der Republikaner – wohl stoßen Chasseurs und Husaren zusammen – wohl kommen französische Batterien zum Feuern – aber Infanterie und Freikompagnien werden aufgerollt bis in den Wald von Ruprechtsau und an den Rand von Hönheim. Horch, es wird auch bei Desair lebendig! Es knattert in den Höfen von Kilstett. Dort liegen die wenigen Pariser Jäger, denen der hitzige Hohenlohe auf den Leib rückt. Doch die kleinen Pariser sind Meister im Tirailleurgefecht, täuschen die Österreicher über ihre Zahl und jagen sie bis Hördt zurück. Wanzenau freilich bleibt besetzt. Ein Dutzend Kanonen ist verloren. Am Abend des Tages sind die französischen Vorposten bis Fuchs-am-Buckel und in den Englischen Garten zurückgedrängt.

Als um Viktor her Schüsse knallten und das Getöse der Flucht die Schläfer emporriß, ward auch Leutnant Hartmann einen Augenblick in das heisere »Sauve qui peut!« mit hineingewirbelt. Aber nur ein paar Sprünge – und da war er wach und sah sich nach seinen Leuten um. Mit dröhnender Stimme schrie er seine Kommandos; der militärische Zorn bemächtigte sich des Elsässers; mit der Kraft dieses Zornes arbeitete er sich durch die verknäuelten Wagen und Menschen und ordnete die nächsten Kolonnen. Es bildete sich eine Stauung. Und da war auch sein Kapitän an seiner Seite. Und bei ihm ein wilder kleiner Trommler, ein durchgebrannter Uhrmachersohn aus Paris, für den Viktor manchen Brief an die Eltern geschrieben hatte: der bearbeitete mit wahrer Wut sein Kalbfell und schrie mit schriller Knabenstimme und singend gedehnter Endsilbe sein »en avant! en avant!« in die flüchtige Masse. Und das Gefecht kam zum Stehen. Die kleinen Blauen huschten hinter Bäume und Büsche und eröffneten ein rasches und gewandtes Feuer. Kavallerie droht das Geschütz zu nehmen, das in ihrer Nähe Aufstellung versucht; die Gruppe teilt sich: eine Rotte von Sansculotten spannt sich wild und energisch vor das Geschütz und rollt mit ihm zurück; die andere unterhält das Feuer und rückt langsam nach.

Viktor hatte mehrmals seinen Freund Albert bemerkt, aber jeder hatte zu sehr mit seiner eigenen Abteilung zu schaffen, soweit überhaupt bei dem Durcheinander Pelotons und Rotten zusammenzuhalten waren.

Jetzt erst, als sie im Laufschritt mit dem geretteten Geschütz nach Hönheim zurücktosten, inmitten einer ziehenden und schiebenden Wolke von Infanterie, umspritzt von Granaten, umknallt von Schüssen, jauchzte Viktor auf. Mit dem Ärmel über das schweißtriefende Gesicht fahrend, erschaute er im Dämmerlicht des Nebelmorgens auf der andern Straßenseite Alberts heitres Jünglingsgesicht. »Albert, Albert, hier bin ich!« – »C'est ça, Viktor, un do bin ich!« Und Albert schwang den Säbel, denn einen Hut besaß er nicht mehr.

Doch eine Minute später sprang Leutnant Frank hoch auf und war dann verschwunden.

»Albert?!«

Viktor blieb stehen, drang durch das Gewimmel hinüber und kniete neben dem Getroffenen.

»Laß mich liegen, Viktor! Mach, daß du heim kommst! Da – nimm die Briefe mit – und die Uhr – grüß' Mama!«

Und da lag der Junge und rührte kein Glied mehr. »Nein, Albert, nein!«

Der fabelhaft schnelle und ungestüme Rhythmus der Schlacht kennt kein Besinnen. Viktor riß mit gesteigerter Kraft den Freund wie ein Strohbündel empor, nahm ihn auf die Arme und lief mit der Beute querfeldein in den Schutz einer feuernden Batterie. Er dampfte vor Schweiß, er rief sich selber und dem Freunde Ermunterungsworte zu. Ein Weilchen ging es, dann zuckten und zitterten die Kniee – er suchte Deckung – fand sie und ließ sich samt seiner Last erschöpft zu Boden sinken. Da fuhr ein scharfer, stechender Schmerz in seine rechte Hand und in die rechte Schulter – und Viktor lag ohnmächtig neben dem ohnmächtigen Kameraden.

» Tuez moi!« Von diesem flehentlich gestöhnten »tötet mich!« erwachte Leutnant Hartmann. Es war Tag. Französische Ambulanzen sammelten Verwundete. Viktors erster Blick fiel auf einen Chasseur mit zerschossener Brust, dem noch der Pfropfen in der roten Wunde zu glimmen schien. Albert lag auf einer Tragbahre. Der Boden schütterte unter fernem Kanonendonner; doch in der Nähe winselten nur die Opfer, die das Nachtgefecht auf diesen Nebelfeldern ausgesäet hatte. Hartmann glaubte gehen zu können, wenn man ihm den Arm in einen Notverband legte. Doch er überschätzte seine Kraft; man mußte auch ihn aufladen.

Und am Abend lagen beide Kämpfer im Straßburger Militärspital: Viktor nicht allzu schwer, Albert aber tödlich verwundet.

Die Weiden der nebelnassen Wanzenau tanzten durch die Fieberträume der beiden Freunde, die in getrennten Sälen lagen. Sie waren in monatelangen Kämpfen mit wenigen Schrammen und Beulen davongekommen, und nun sollten sie im letzten dieser niederdrückenden Rückzugsgefechte umgeworfen werden.

Sobald es möglich war, diktierte Viktor einige Zeilen an seinen Vater. Statt des erwarteten Vaters kam nach mehreren Tagen des Zauderns die zaghafte Tante Lina. Sie brachte die Nachricht: Vater Hartmann sitzt im Gefängnis.

Das war für den verwundeten Vaterlandsverteidiger eine schwere Prüfung. Er lag mit großen Augen, fragte leise, schüttelte den Kopf und fragte wieder, knirschte endlich und schwieg.

Einen oder mehrere Tage später – Viktor lag in einem Traumzustand und hatte das Gefühl für das Zeitmaß verloren – ward ihm durch einen Besucher ein Brief zugesteckt, der die kurzen, kräftigen Schriftzüge seines Vaters trug.

»Mein lieber Viktor! Habe durch Tante Lina in Erfahrung gebracht, daß du im Spital liegst, indessen zum Glück nicht auf den Tod verwundet bist. Dafür wollen wir den Vater im Himmel preisen. Er führt uns in diesen Zeitläuften recht wunderlich. Doch brauchst Du Dir um mich keine Sorgen zu machen. Es ist eine Ehre, mit den besten Bürgern, wohl tausend und noch mehr, gefangen zu sitzen. Meinen Garten haben sie demoliert; aber sie lassen mich dafür hier im ehemaligen katholischen Priesterseminar hinter dem Münster wohnen, wo man im vierten Stock eine Aussicht ins Badische hat, welches den Tyrannen gehört und die Segnungen der großen Revolution noch nicht erfahren hat. Es sitzen in meiner Nähe der alte Stettmeister Dietrich, Pfarrer Eissen, Professor Reiheißen, und überhaupt die meisten Professoren der Universität, sofern sie nicht als Medizinkundige in den Spitälern brauchbar sind. Der Stettmeister erinnert sich Deiner von Rothau her; er hängt an seinen Waldungen ebenso wie am Ruhm seiner nunmehr gänzlich ruinierten Familie, in welcher ihm sein jüngerer Sohn, unser armer Maire, immer noch gefangen in der Abbaye zu Paris, besonderes Herzeleid verursacht. Desgleichen sitzt hier Pfarrer Blessig. Vor einigen Wochen ist Monet mit den Seinen mitten in einer Predigt in die Neue Kirche eingedrungen, als Blessig auf der Kanzel stand, haben ihm den Gottesdienst untersagt und die Kirche in ein Fruchtmagazin, hernach in einen Schweinestall verwandelt; Sankt-Wilhelm ist ein Spital, Jung-Sankt-Peter ein Heumagazin worden. Gib acht, lieber Viktor, daß sie diesen Brief nicht erwischen, ich schreibe ihn heimlich und schmuggle ihn Dir mit List zu, denn es ist uns alles verboten. Doch hat Pfarrer Blessig ein Kaffeekännchen mit einem doppelten Boden; darin schickt ihm seine Frau Pfarrerin jeden Tag einen Brief und er desgleichen, wenn das Kännchen zurückgeht; so kommt halt jetzt auch dieser Brief zu Dir, durch Vermittlung des jungen Heitz. Wir sind zu vier bis acht in einem Zimmer, in den großen Sälen sind gegen achtzig Gefangene und machen die Luft nicht besser. Das Essen ist schlecht, dafür dürfen wir es aber auch selber bezahlen. Schlechtes Mehl, das ein betrügerischer Bäcker mit Gips vermengt hatte, konnte man neulich weder den Volontären noch den Bürgersektionen als Brot anbieten; jetzt kracht dies Brot zwischen den Zähnen der Gefangenen. Manche werden krank; wenn's schlimm wird, schafft man sie ins Bürgerspital. Lieber Viktor, mir mangelt halt ein wenig die frische Luft, an die ich alter Gärtner gewohnt bin. Mein Hals macht mir zu schaffen. Aber sorge Dich nicht um mich, kurier Dich selber gut! So zwei einfache Leute wie Du und ich kommen leicht durch die Welt. Au revoir! Dein Vater!«

Und dann, als ihn das Wundfieber verlassen hatte, kam ein Tag, der den langsam genesenden Viktor auf das heftigste erschütterte. Er hatte mehrfach bedenkliche Krankheitsberichte von Freund Albert vernommen. Frau Johanna war hergereist; sie saß bleich, aber in ihrer beruhigenden Stille oft drüben am Feldbett des Sohnes. Und eines Morgens stand die große, schön gewachsene Frau in ihrem vornehm-einfachen schwarzen Gewand an Viktors Lager, hielt ihr Tuch an die Augen und sagte mit leisem Weinen: »Er ist hinüber«. Der Kranke, der den rechten Arm und die Schulter in Verband und Schlinge trug, schaute sie einen Augenblick starr an, dann zuckte sein eingefallenes Gesicht – und der geschwächte Kämpfer brach in ein unwiderstehliches, krampfartiges Weinen aus. Er hatte den Jungen brüderlich geliebt. Stromweise flossen die Tränen; das ganze Weh über diese entsetzliche Zeit ergoß sich in diesen Tropfen. Er hielt die linke Hand mit dem Goldring und dem Bergkristall aus dem Steintal an die Augen und schluchzte wie ein Knabe.

Frau Frank beugte sich zu ihm hernieder, am Bettrand kniend: »Nicht so weinen, lieber Viktor, nicht so weinen!« Und sie küßte seine Wange, legte aber dann selber ihren Kopf neben ihn ins Kissen und überließ sich einen Augenblick gänzlich ihrem Schmerz. » Allons, citoyenne, aIlons!« rief der Arzt. Und sofort erhob sie sich, küßte Viktor noch einmal: »Dank, Viktor, was Sie für ihn getan haben!« und ging still davon.


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