Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Sechstes Kapitel

Die Zeder

Das Steintal ist ein geräumiges Doppeltal am rechten oberen Ufer der Breusch und breitet sich diesseits und jenseits der Perhöhe vielgestaltig aus. Drüben, bei Waldersbach, rieselt und rauscht die kleine Schirrgoutte; auf der Seite von Rothau kommt vom Hochfeld her die Rothaine. Drüben bilden das Kirchlein von Belmont und, über Bellefosse, das dunkelgraue, zertrümmerte Steinschloß eine Art Wahrzeichen; unten in der Talsenke birgt sich Waldersbach, die Wohnstätte des Pfarrers Oberlin. Ein halbes Stündchen weiter schauen die Hütten von Fouday in das hellbraune, starke Gebirgswasser der Breusch, die ins elsässische Flachland rauscht und, mit der Ill verbunden, ihre schweren Gewässer durch Straßburg schiebt, um sie jenseits der Festung dem Rhein zu übergeben. Diese Täler sind wasserreich; überall in diesen Weilern und an diesen Weidehängen sprudeln frische Brunnen und sammeln ihre Kristallgewässer in hölzernen Tränken. Und überall entdeckt man noch irgendeinen einzelnen Hof oder einige Häuschen, die sich in irgendeiner Falte eingenistet haben. Der Weiler La Hutte und das Dörfchen Solbach lagern in solchen traulichen Nischen; Wildersbach und Neuweiler schmiegen sich anmutig an die unteren Ränder der Berglehnen. Vorn aber, im breiter auseinanderstrebenden Breuschtal, rauchen die Hüttenwerke von Rothau.

»Man ist hier in einem abgeschiedenen Hochland für sich«, bemerkte der kräftig schreitende Baron, der nach seiner Gewohnheit mit dem langen, blassen Hofmeister den beiden Reisewagen vorauslief. »Diese Insel da zwischen den Meeren von Waldungen scheint von den wechselnden Unruhen der Zeit nicht erreichbar zu sein. Blicken Sie um sich: rund herum Bergmassen und umfangreiche Wälder! Dadurch sind diese Dörfchen von der französischen wie von der elsässischen Ebene gleichermaßen abgeschlossen. Man hört manchmal von dem rauhen Charakter dieses Geländes und den Unbilden hiesiger Witterung übertreibende Dinge sagen. Ich meinesteils finde die Landschaft zwar ernst, ja bedeutend, aber weder wild noch rauh. Sehen Sie nur, wie schmuck sich diese einstöckigen weißen Häuschen ausnehmen! An den Fenstern Blumenstöcke, hinter den Scheiben freundliche Frauengesichter, und an der Straße grüßende Kinder. Und welche Ruhe allenthalben! ... Hier also sind wir nun in Oberlins Revier. Hier arbeitet der wunderbare Mann an den Herzen, Straßen und Feldern seit mehr denn zwanzig Jahren, nachdem sein Vorgänger Stuber, der nun in Straßburg an St. Thomä wirkt, einen guten Grund gelegt hatte.«

Die zwei Herren, beide in grauen Reisemänteln und Stulpstiefeln, hatten die Hände auf dem Rücken und marschierten auf holprigem Wege tüchtig vorwärts. Langsamer folgten Chaise und Wagen. Man war morgens um sechs Uhr in Birkenweier aufgebrochen, hatte von Schlettstadt und Kestenholz her das Weilertal durcheilt und im artigen Städtchen Weiler Rast gemacht. Dort wartete ein festgebauter Wagen aus Rothau, da die Gebirgswege für die Kutsche nicht fahrbar waren. Die hochgestapelte Bagage wurde umgepackt; und dann ging's, über das lange Dorf Steige, mit Knarren und Schütteln und Schwanken ins unwegsame Gebirge, bis gegen Abend Fouday in Sicht kam. Bei diesen steinigen Wegen lief der Hauslehrer oft zu Fuß. Birkheim schloß sich ihm häufig an; mitunter versuchten auch Jäger und Kammerjungfer ein Gespräch mit dem Kandidaten, den sie halb und halb zum Gesinde rechneten. Aber seit jenem Ausflug an die Ulrichsburg war der Lebensanfänger, durch den die Stürme leidenschaftlichen Begehrens verheerend hindurchgezogen waren, verschlossener als je zuvor. Als nun Oberlins Name in Viktors Ohr fiel, horchte der Träumer – wie einst bei Pfeffel – aus seiner dumpfen Versunkenheit wieder einmal empor. »Die Zeder«, sprach seine Lippe mechanisch vor sich hin. Wieder sah er sich im Freundschaftspark von Birkenweier; und daneben stand wieder die Marquise, von der er heute kein Briefchen auf dem Herzen trug: diesmal die sprühende Marquise, vibrierend vor Zorn, mit jenem zusammengepreßten, scharfen Eidechsen-Mündchen. ... Viktor stöhnte.

Birkheim sah ihn bekümmert an und schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie sich sagen, Hartmann,« sprach er, »in Ihnen steckt eine Krankheit. Sie wissen, ich huldige medizinischen Liebhabereien und halte viel vom Purgieren und Magnetisieren. Aber Sie leisten mir einen zähen, stummen Widerstand, wenn Sie nicht grade bei Laune sind, lieber Freund. In Ihnen ist kein Talent zur Freundschaft. Mein Gott, wie scheu und schwerblütig weichen Sie allen heitren Annäherungen aus! Die einzige, die etwas mit Ihnen fertigbrachte, ist Frau Elinor. Und ich bin wahrlich schon auf den Gedanken gekommen, unser guter, trockener, fleißiger Herr Hartmann könnte sich in die lustige Frau verliebt haben. Na, na, ärgern Sie sich nicht, ich scherze nur! Übrigens wären Sie der erste nicht. Diese Ninon de Lenclos kann sehr artig sein, wenn sie will. Dabei steckt sie gegenwärtig nicht in beneidenswerter Lage; der Marquis soll in Paris üble Dinge erlebt haben, und ihr Schloß in der Provence soll von den Bauern bedroht sein. Das heißt: wenn man ihr glauben darf. Denn sie spielt mit den Tatsachen wie mit den Menschen ... Doch kommen Sie, wir sitzen wieder auf. Der Weg ist von nun an besser. Wir sind in Oberlins Revier.«

Sie stiegen auf. Und Viktor, der mit zuckenden Lippen schweigend zugehört hatte, spann unter verstärkter Seelenqual seine düsteren Gedanken weiter ...

Nach Empfang jenes verzweifelten Briefchens der rätselhaften Frau hatte der verstörte Liebende die sorgenvollsten Worte zurückgeschrieben und eindringlich die Freundin angefleht, ihn der Teilnahme an ihrem Kummer zu würdigen. Keine Antwort. Er schrieb einen zweiten Brief; aber er zerriß ihn wieder. Das Wort »Emporkömmling« grade aus diesem adligen Munde hatte zu scharf getroffen; es sprang als zündender Blitz mitten in seine Empfindungen und verbrannte jede Zärtlichkeit. Gleichwohl ritt er am gewohnten Tage mit stolzem Zähneknirschen und bangem Herzklopfen an die Berge hinüber. Doch da gesellte sich eine neue Demütigung zu den früheren: er wurde nicht empfangen. »Madame ist nicht zu sprechen«, sagte das Kammermädchen kurz und schnippisch, »Mademoiselle nicht wohl.« – »Madame ist krank?« – »Ich wüßte nicht,« betonte recht geflissentlich das untergeordnete Geschöpf, das er nie zu beachten pflegte, »Madame ist munter wie ein Fisch im Wasser.«

Viktor war sprachlos. Einen Augenblick war er versucht, mit Fußtritten die Türen zu zerschmettern, die ihn von der ehedem Vertrauten, jetzt unbegreiflich Schweigsamen trennten. Aber er ließ mit höflicher und leiser Stimme Besserung wünschen und ritt still und bleich nach Birkenweier zurück, ohne mit dem biedren Kutscher Hans ein Gespräch zu führen und etwa auf diese Weise Näheres zu erkunden. Die Ungewißheit, in die er sich versetzt sah, demütigte und erbitterte ihn. Der bürgerliche Kandidat, der sich von seinen adligen Eleven und deren Angehörigen so oft nicht genügend geachtet glaubte, sah sich nun auch von dieser leidenschaftlich geliebten Frau mit Flammenhieben wieder aus dem Paradiese gejagt. Die Lebensenergie von dorther hörte auf wie abgeschnitten. Er sollte plötzlich wieder allein gehen und suchte taumelnd nach einem Halt. Und all dies folgte so unerwartet schnell, so Schlag auf Schlag, als hätte ein Genius von französischem Temperament die Leitung seines Schicksals in die Hände genommen. Der deutsche Elsässer war in seinem ratlosen Grimm mitunter versucht, die aristokratische Höflichkeit abzuschleudern und mit einem bauernhaften »Dunderwetter« aus der Affäre herauszuspringen.

Tatsächlich tobte er an jenem Abend, als ein furchtbares Gewitter über Birkenweier hinwegzog, seinen Ingrimm in der Gesindestube aus. Die Mägde schickten zu ihm: er möchte herüberkommen, sie wären voller Ängste wegen des Wetters, und Jäger und Kutscher schlügen sich die Köpfe blutig. Selber eine donnernde Feuerwolke, flog Hartmann hinüber. Und während eine stattliche Pappel in der Nähe des Freundschaftstempels vom himmlischen Feuer zerschmettert und verzehrt wurde, packte der Kandidat nach kurzem Wortwechsel den kleinen Pariser am Kragen und schüttelte ihn mit der Stärke der Wut derart, daß dem Gevatter François Hören und Sehen verging. Es war ein unerhörter Ausbruch; die Dienstboten waren sprachlos vor Entsetzen. Aber schon tat es dem erregten Jüngling bitterlich leid; er machte sich an den Fenstern zu schaffen, trocknete mit Eimer und Handtuch den hereindringenden Regen auf, biß sich auf die Lippen und weinte nach innen. Dann suchte er das Gespräch ins Harmlose hinüberzuführen und zog sich zurück, während drüben Katharina, das Bauernmädchen, zur Versöhnung der erregten Gemüter dem abziehenden Nachtgewitter Volkslieder nachsang: »Es stehen drei Sternlein am Himmel, die geben der Lieb' ihren Schein ...«

Hartmanns aber bemächtigte sich jene Erstarrung, die schon in seiner Kindheit von seinen Eltern gefürchtet war. Keine Stockschläge des Vaters, keine Bitten der Mutter hatten dann auch nur ein Wörtchen von seinen blutleeren, festgepreßten Lippen oder eine Träne aus seinen Augen gezwungen. Erst später, wenn alles vorüber war, pflegte sich der eisige Zustand in einem herzbrechenden Schluchzen zu lösen, wobei er aber niemanden Zeuge sein ließ.

Im Zustande dieser Erstarrung befand sich Viktor auch jetzt.

Wie ein fremdes Heimweh-Lied sang aber durch seine Seele ein Wort, das er einmal von Belisar gehört hatte.

»Wem die Himmlischen viel Verwirrung zugedacht haben, wem sie erschütternde, schnelle Wechsel der Freude und des Schmerzes bereiten, dem geben sie kein höher Geschenk als einen ruhigen Freund« ...

Dieses edle Goethewort aus der ersten Fassung der Iphigenie hatte sich in Viktor festgesetzt. Er suchte im Geist seine guten Bekannten ab; er dachte etwa an den Buchhändler Neukirch in Kolmar, an Rat Steinheil oder Magister Rautenstrauch in Rappoltsweiler: liebe Menschen, in deren Bereich ihm wohl war. Aber so delikate Dinge ließen sich dort nicht besprechen.

Und der menschenfreundliche Pfeffel? Der feinhorchende Belisar?

Dieses Meisterbild eines Freundes der Birkheimschen Familie war von so vielen umringt, daß sich der Grillenfänger Hartmann nicht auch noch aufzudringen wagte. Einmal, bei jenem Besuch in Kolmar, hatte er den guten Feldherrn Belisar wirklich gesucht; aber die Aussprache war zu spät gekommen; denn –: in des Suchenden Brusttasche knisterte der Brief der Marquise, die damals mächtiger war als irgend ein Freund.

Damals ... Heute nicht mehr ...

»Ich suchte damals den feinen Pfeffel – und fand dafür den derben Leo Hitzinger. Welche Ironie! Und worin unterscheid' ich mich denn heute von dem unglückseligen Abbé?«

In solcher Seelenverfassung kam Viktor Hartmann ins Steintal. ...

Er wachte wieder aus seiner dumpfen Trauer auf, als sich der Baron in der voranfahrenden Chaise erhob, eine noch entfernte Gruppe von Bauern ins Auge faßte und alsdann nach dem zweiten Wagen zurückrief:

»Hartmann, da kann ich Sie nun dem geistigen Herrn dieses Hochlands vorstellen!«

»Dem Baron von Dietrich?« rief Amélie.

»Nein, mein Kind, der zieht die Steuern ein. Aber der dort vorn, der Mann im langen Pfarrersrock, der in Stiefeln zwischen seinen Holzschuhbauern steht und den Weg ausbessern hilft –«

»Das ist der Pfarrer von Waldersbach?«

»Das ist Oberlin.«

Alles reckte die Köpfe, ohne jedoch bereits Deutliches erspähen zu können. Die Gespräche, unterwegs heiter und ausgelassen, da man etwaige Gefahren der Revolution nicht mehr befürchtete, sammelten sich um Oberlin. Fritz und Gustav waren zu Hause geblieben, und so sah sich der Hofmeister vom Gezwitscher der jungen Damen umwirbelt und hörte mit gekreuzten Armen schweigend zu.

»Er hat eine Karte vom Jenseits in seinem Zimmer hängen« – »er hat in seinem Zimmer eine Farbentafel; davor stellt er seine Besucher und fragt sie, welche Farben ihnen am besten gefallen; daraus schließt er dann auf den Charakter« – »er hat sich von all seinen Gemeindegliedern Silhouetten angefertigt und studiert danach ihren Charakter« – »er schreibt die Namen derer, für die er beten will, mit Kreide an die Tür seines Schlafzimmers ...«

So sprudelten die gnädigen Fräulein lebhaft hinaus, was ihnen an Merkwürdigkeiten aus dem Leben des seltsamen Mannes bewußt war.

Plötzlich hielten die Wagen an. Man hatte die Gruppe der arbeitenden Bauern erreicht.

Pfarrer Oberlin nahm den Hut ab und trat langsam heran, während seine Leute mit den Mützen in der Hand bescheiden am Wegrand stehen blieben.

Der etwa fünfzigjährige Geistliche war nicht groß. Aber er hielt sich mit soldatischer Geradheit und war von einer natürlichen männlichen Würde. Eine hohe, feine Stirne, an deren Schläfen das Haar leicht ergraut war, milde Augen von einer tiefen Güte, eine edel-energische, grade Nase gaben dem Gesicht ein durchgeistigtes und zugleich willensstarkes Gepräge. Die suggestiv wirkende Kraft, die von seiner Persönlichkeit unwillkürlich ausströmte, war gedämpft durch die Sanftmut seiner guten Augen und durch den natürlichen Wohllaut seiner weichen vollen Stimme. So stand diese schlichte, wahrhaftige und bedeutende Persönlichkeit am Wagen der adligen Reisegesellschaft, vom Schmutz der Arbeit bespritzt, die linke Hand auf den Spaten gestützt, in der rechten Hand den Hut.

»Seien Sie herzlich willkommen im Steintal!« sprach Oberlin zu dem ihm bereits bekannten Baron. »Indes kann ich Ihnen nicht gut die Hand geben. Das Geschäft, das wir hier besorgen, ist nicht eben reinlich, aber es ist notwendig. Unser Leben ist hierzulande ein Kampf mit Regengüssen und stürzenden Wassern, die uns das bißchen Erdreich hinausspülen möchten ins ohnedies schön fruchtbare Elsaß. Da müssen wir hartnäckig auf unsrem Posten stehen und Rinnsale, Mauern und Brücken anlegen, sonst verwandeln sich unsre Wege, die wir uns selber mühsam gebaut haben, in lebensgefährliche Sturzbäche. Und dann besucht uns erst recht kein Mensch mehr in unserem abgelegenen Steintal.«

»Lieber Herr Pfarrer,« erwiderte der Baron, der abgestiegen war, in seiner schönen menschlichen Unbefangenheit und Achtung vor allem Tüchtigen, »da hilft Ihnen nun alles nichts: Sie müssen mir die Hand geben. Ich will Ihre Hand sogar herzhaft schütteln und guten Fortgang wünschen zum guten Werk.«

»Und auch uns andren müssen Sie die Ehre antun, Herr Pfarrer!« fügte die Baronin hinzu.

Die jungen Damen unterstützten die Mutter lebhaft, und im Nu streckten sich dem Geistlichen ein halbes Dutzend weißer Spitzenhandschuhe entgegen.

»Es wird Ihren Handschuhen nicht gut bekommen«, versetzte Oberlin lächelnd und wanderte von Hand zu Hand. »Wir werden uns ja ohnehin am Sonntag zu Rothau sehen. Ich bin dort zum Mittagessen eingeladen. Und Sie werden ja gewiß auch einmal nach Waldersbach herüberkommen, nicht wahr? Sie wissen, daß Sie mir in meinem Pfarrhause allezeit willkommen sind.«

»Also denn auf Wiedersehen!« rief der Baron.

Und nachdem sämtliche Insassen kräftig und warm des Pfarrers Arbeitshand geschüttelt hatten, fuhr man mit vielstimmigem »Auf Wiedersehen!« weiter, indes Oberlin und seine Mitbürger wieder ihre Arbeit aufnahmen.

Hartmann schaute noch lange zurück und prägte sich mit erstauntem Gemüte die Erscheinung des einfachen Waldpfarrers ein. Er hatte etwas anderes in seiner unklaren Phantasie erwartet: etwas Markantes, etwas Auffälliges. Aber von diesem Mann ging eine ruhige Selbstverständlichkeit aus. Oberlin hatte nichts von Rhetorik und Pathos, er fiel auch nicht durch Salbung oder Demut auf. Es war hier eine edle Natürlichkeit verkörpert. Und man hätte sagen können: Dieser Mann braucht seine Stimme nicht besonders laut zu erheben, und er zwingt dennoch durch seine freundliche und fachliche Überzeugungskraft in den Bann seiner Vorstellungen. Er blendet nicht, er überredet nicht: er gewinnt, fesselt und überzeugt.

Es glomm nun über dem abendlich geröteten Steintal eine fremdartige Regenbeleuchtung. In den Lüften lag eine wundersam innige Stille. Kein einziges Blatt mochte nun wohl seine Lage verändern; kaum einmal von einem langen gebogenen Halm ließ sich ein schwerer Tropfen zitternd herunterfallen. Alle Menschen und Dinge waren scharf umrissen und deutlich und still. Letzte Tagesflammen sprühten von einem verschäumenden Gewölk herüber, das jenseits der Breusch über den Salmschen Bergen hing.

Und so prägte sich auch Oberlins klare Gestalt fest und bleibend dem Gedächtnis ein.

* * *

Es schien dem Hofmeister, vielleicht unter dem Druck seiner eigenen Verdüsterung, daß in dem anmutig am Hügel ragenden, viereckigen, durch keine architektonische Zier ausgezeichneten Schloß von Rothau nicht viel Freude zu Hause sei. Man hatte die Reisegesellschaft mit Böllerschüssen empfangen; und die Begrüßungen besonders der jungen Mädchen mit den beiden Töchtern des Hauses – Luise und Amélie von Dietrich – waren lebhaft und innig. Auch die Erzieherin, Demoiselle Seitz, erwies sich bald als eine sehr gehaltvolle, allerseits mit Recht verehrte Persönlichkeit.

Aber aus einer gelegentlichen, herrisch klingenden Bemerkung des siebzigjährigen Barons, der bei dem älteren seiner beiden Söhne in diesem Rothauer Besitztum weilte, schloß Hartmann, daß des etwas harten alten Herrn eigentliche Hoffnungen dem jüngern Sohne galten, dem Straßburger Königlichen Kommissar und stellvertretenden Prätor Philipp Friedrich von Dietrich, auf den jetzt überhaupt die Augen der politischen Welt gerichtet waren. Der hier wohnende ältere Bruder Johann von Dietrich war Kavalleriekapitän gewesen; man nannte ihn gewöhnlich den »Rittmeister«; sein Leben bot weiter nichts Belangreiches; seine Begabung ließ keine besondere Fernwirkung erwarten.

Das Haus am Hügel füllte sich mit Gästen. Die Gattin des Straßburger Dietrich, eine geborene Ochs aus Basel, klein, hübsch und voll musikalischen Feuers, war bereits anwesend und erwartete zum Sonntag auch den Gatten. Mit ihr war Frau Lili von Türckheim gekommen. Und der veränderte, bleiche Hauslehrer hatte beschämt vor ihr den Blick gesenkt; er erinnerte sich ihres Wortes, daß er zu jenen Elsässern gehöre, die mit einem warmen Herzen eine ruhige Wahrhaftigkeit verbinden ... Ruhige Wahrhaftigkeit! Viktor biß sich in die Lippen. Um ihn her schien man den heitren Feenpark von Birkenweier in dies herbe Hochland überführen zu wollen. Diese weiche Fröhlichkeit war indessen nicht die Luft, die Hartmann brauchte; er war durch das Weibliche verwundet worden und barg in all seiner Verrammlung und Verschlossenheit eine düster schwelende Glut.

So trug er denn, da er nun Ferien hatte, seine heimlich glühende Unrast in die Natur. Er durchmaß auf seinen Wanderungen ansehnliche Strecken, vom Hochfeld bis zu den Bergen von Salm, vom sargähnlichen Climont bis zum Doppelgipfel des Donon. Wie ein getroffenes Wild suchte er mit brennenden übernächtigen Augen den schonenden Schatten des Dickichts auf; der Wald, dessen sonnenstille Lichtungen ehedem des Träumers Entzücken und Studium gebildet hatten, war ihm jetzt nicht finster genug. Er wollte Männlichkeit, rauh, hart, verschlossen; aber er wollte sie nur deshalb, weil ihm die Ergänzung fehlte, die er suchte. Er suchte in Wahrheit die Frau, den Freund, die grade für ihn von Urzeiten her bestimmt waren; nicht irgendeinen Freund, sondern den Freund, nicht irgendein Weib, sondern das Weib, sein Weib. Er suchte den Ruhepunkt, er suchte sein Ich, er suchte die Gottheit, in deren wahrer Liebe für immer und ewig ein Ausruhen ist. So trug er seine schwärende Wunde durch das Wälderwirrsal des Breuschtals und brachte sie treulich wieder mit nach Hause.

Am Sonntagmorgen, als er vor dem Gottesdienst durch die kümmerlichen nahen Felder strich, lief ihm eine Zigeunerin über den Weg. Sie heischte von ihm eine Gabe und wollte ihm dafür aus den Linien der Hand weissagen.

»Gute Frau,« antwortete er auf ihr Kauderwelsch, indem er ihr eine Münze zuwarf, »es wäre mir lieber, ich würde mit der Gegenwart fertig. Die Zukunft macht sich dann von selber.«

Aber die Alte hatte bereits seine Hand erwischt, und er ließ es halb unwillig, halb neugierig geschehen, daß sie sich starren Blickes mit seinem Seelenleben in Verbindung setzte.

»Eine Mutter – eine Tochter – ein Mädchen,« dies etwa entnahm er dem Gemurmel, »die Dritte ist die Rechte, die Dritte ist im Himmel beschlossen – viel Glück, viel Glück – geh nur, sie warten schon da unten im Schloß, die dir helfen werden!«

Eine Frage brannte in seinem Herzen. Aber auch hier blieb diese Region für die Zunge verschlossen.

Die Zigeunerin schien etwas davon zu lesen.

»Die eine wirst du nicht wiedersehen – nur die andre – aber die Dritte ist die Rechte. Glück, viel Glück!«

Sie humpelte davon. Und Viktor dachte bei sich selbst: »Glück weissagen sie immer, diese Weiber, wenn man ihnen etwas schenkt. Glück! Ist nicht Seelenfrieden und dauernde reine, tiefe, treue Liebe, und edles Wirken aus diesem inneren Besitz heraus mein ganzer glühender Wunsch? Die Dritte – ach, die Dritte! Ich leide schon an der Ersten genug!«

Und eine Sekunde sah er sich nach dem Weibe um, willens, nach Frau Elinors Ergehen zu fragen. Ergehen? Das wußte er ja hinlänglich. »Krankheit – Wahnsinn – Kummer– –« Aber ihre Denk- und Gemütsart, ihre Motive, ihre Seelengeheimnisse? Mochte das ein solch armselig Zigeunerweib deuten? Und wenn sie's deutete – blieb nicht der bohrende Schmerz, daß die Freundin ihn nicht mehr ihres Vertrauens würdigte?

Er kehrte nach Rothau zurück und hörte beim evangelischen Ortspfarrer Brion eine schlicht erbauliche Predigt. Sonntägliche Tischgesellschaft war im Schloß von Rothau versammelt. Auch hier überwogen, wie in Birkenweier, die geschmackvollen Toiletten der Damen, zwischen denen sich die dunkleren Silhouetten der Herren vereinzelt bewegten. Ein Arzt aus Paris, der sich nachher bei Tisch durch praktische Nahrungseinfuhr und jetzt schon im Gespräch durch theoretischen Materialismus als Verwandter Lamettries erwies, sodann der Ortsgeistliche Brion und sein katholischer Kollege Jäger, Oberlin aus Waldersbach und der Straßburger Dietrich, der sofort als belebendes Element empfunden wurde, hatten die Gesellschaft vermehrt. Auch waren zwei bürgerliche Damen zu Tisch geladen, die sich in der Nachbarschaft besuchsweise aufhielten, eine dunkel gekleidete Witwe mittleren Alters und ihre noch sehr junge Tochter.

Diese Witwe war es, deren angenehme Stimme dem Hauslehrer zuerst ins Ohr klang, als er in feiertäglicher Haltung den menschenvollen Saal betrat. Es war eine etwas leise, aber gute und feste Stimme; es ging beherrschte Wärme, ein Feuer zarter und doch starker Art von ihr aus. Etwas in der Klangfarbe erinnerte ihn an Oberlins Stimme. Sie war nicht laut, diese Stimme, aber sie verbreitete Stille um sich her; und in der Stille fielen dann die Worte rein und deutlich, wie einzelne Tropfen nach einem lauten Regen langsam und besinnlich vom feuchten Strauche fallen. Was für eine gute Stimme! war Hartmanns erster Gedanke.

Die Dame, ziemlich groß und von kräftigem alemannischen Typus, unterhielt sich mit dem schnupfenden und zerstreuten Arzt über die Widerstandskraft in schweren Krankheiten. Der alte Herr, in seinem Äußeren etwas an Voltaire erinnernd, sprach elegant und hochmütig; Betäubungsmittel seien das einzig Empfehlenswerte; wozu solle der Mensch leiden? Zum Vergnügen und zum Glück sei der Mensch geboren; auch zur Pflicht, gewiß, selbstverständlich sogar; geht's nicht mehr, und muß das Fleischgestell sich auflösen, so müsse man Narkotika zur Hilfe rufen, bis eben alles erloschen sei. So legte er schnupfend und achselzuckend dar.

Die Dame stand ruhig und in guter Haltung, obwohl sie, wie aus ihrer Antwort hervorging, verwundert war über die Dürre solcher Lebensanschauung. Dann legte sie ihm dar, daß es doch wohl eine noch feinere Substanz gebe, die dem Menschen das Leiden, auch schwere körperliche Leiden, als eine Läuterung unsrer geistigen Natur ertragen helfe: nämlich religiöse Seelenkraft.

»Einbildungen, allerdings, eine Art Selbsthypnose«, versetzte der knochige Alte.

»Dann will ich mich doch an diese glücklichen Einbildungen halten«, widerstand die Witwe gelassen. »Ich habe in meines Gatten schwerer Erkrankung –«

»Was war's?«

»Ein tödliches Kehlkopfleiden, nachdem zwei Jahre vor diesem Siechtum ein Schlaganfall seine Kräfte gelähmt hatte –«

»Hm, ja, ja, das sind nicht üble Komplikationen,« nickte der Alte händereibend.

»Da habe ich aus nächster Nähe miterlebt, wie ein Christ zu leiden und zu sterben vermag, mit einem Lächeln, das von innen kommt. Und an seinem Leben habe ich gesehen, wie jene heimliche Kraft mit Leiden und Unbilden aller Art fertig zu werden weiß.«

»Sie sagen: ein Christ,« versetzte der Arzt, »sagen wir exakter: ein Philosoph.«

»Falls wir beide dasselbe meinen,« erwiderte die Dame, »so lege ich auf das Wort keinen besonderen Wert. Wenn jemand diese lächelnde und gütige Geduld und diese herzliche Tatkraft aus der Philosophie lernt, so wird ja wohl auch diese Form von Philosophie etwas Göttliches sein. Denn alle Kräfte dieser Art kommen doch wohl von Gott. Doch hierüber kann eine Frau nicht gut streiten; ich wenigstens lebe zu viel in praktischer Arbeit und bin zu einfach erzogen, um Ihren Theorien zustimmen oder widersprechen zu können.«

Der Freigeist, durch diese schöne Ruhe gereizt, holte weitere Pfeile wider Religion und Kirche aus dem Köcher heraus. Die Fremde schwieg und sah sich gleichsam hilfesuchend um; diesen Augenblick benutzte Hartmann, griff in das Gespräch ein und lenkte den Angriff des trockenen Hagestolzen auf sich selber ab, während sich die Witwe mit dem verlegen in der Nähe stehenden Töchterchen unter die übrigen Damen mischte. Dabei rückte der geschulte Kandidat der Theologie und Naturforschung mit seiner gewohnten Ernsthaftigkeit dem kleinen Alten dermaßen auf den Kopf, daß er mit seiner länglichen, vornübergebeugten Gestalt und seinen eindringlichen Gesten den pavianartigen Kleinen förmlich unter sich bedeckte.

»Mein werter Herr,« sagte der Arzt, blinzelte nach oben und führte sich eine Prise zu, »es ist die Weltanschauung einer zurückgebliebenen Provinz, die ich hier vernehme. Kommen Sie in die große Welt, unter Hofleute, Juristen, Akademiker, Philosophen, Freigeister – und tragen Sie diese Theologie des sechzehnten Jahrhunderts vor! Sie dürften als prähistorische Erscheinung in Paris Ihr Glück machen. Noch im vorigen Jahre, ehe ich die jetzt etwas ungemütliche Stadt verließ, waren wir noch einmal alle beisammen. Ah, diese Abende! Chamfort las uns eine seiner entzückend unmoralischen Erzählungen vor – und ich versichere Sie, die Damen waren so gespannt, daß sie ganz vergaßen zu erröten oder hinter die Fächer zu flüchten. Jemand zitierte aus Voltaires ›Pucelle‹, und man freute sich an Diderots Versen, worin dieser freie Philosoph empfiehlt, mit den Gedärmen des letzten Priesters den letzten König zu erwürgen – Sie erschrecken, junger Mann? Sehen Sie, durch diese kleine Probe habe ich Ihnen nun bewiesen, daß Sie nicht den Mut haben, frei zu denken. Und indem man Voltaires Verdienste um die Aufklärung rühmte, da er so elegant und doch so verständlich geschrieben hat, daß man ihn an den Höfen ebenso liest wie in den Barbierläden –, erzählte einer meiner Freunde ein reizendes Bonmot seines Barbiers. ›Sehen Sie‹ sprach der Perückenmacher, indem er meinen Freund puderte, ›ob ich schon ein elender Gesell bin, so hab' ich doch nicht mehr Religion als irgendein andrer.‹ Reizend, was?!«

Hartmann gab es auf, hiergegen anzukämpfen. Hier grinste ihn der Zeitgeist an, von dem er in den Erzählungen der Marquise Gelegentliches vernommen hatte, und mit dessen Theorien und Systemen sich Viktor bereits auf der Universität herumgeschlagen hatte. »Wieviel reiner, herzlicher, unverdorbener«, dachte er, »ist doch unser Landedelmann Birkheim-Aristides und seine Familie, wenn sich auch ihr Tagewerk nicht besonders gehaltvoll erweist.« Und er tat wieder einmal im stillen Abbitte, zumal er gestern abend bereits an drei durchreisenden Offizieren, die kaum vom Spieltisch wegzubringen waren, des Gegensatzes bewußt geworden war.

So überließ er denn den ausgepichten Alten einigen herbeigeeilten jungen Damen, die des grauen Theoretikers Art bereits kannten und ihn fortan mit ihren Neckereien umtanzten, bis er sich mit behaglichem Schweigen den Freuden des Mahles überließ.

Hart neben diesem materialistischen Zwischenspiel saß die schöne Frau Lili von Türckheim. Vor ihr stand in bescheidener Haltung der noch junge Ortspfarrer Brion.

»Ist Ihnen der Übergang von Sesenheim nach Rothau nicht schwer geworden, Herr Pfarrer?«

»Dies Gebirgsland«, versetzte der Geistliche, »sticht allerdings von unserer fruchtbaren Rheinebene erheblich ab. Indessen hat mich ja ein Stück Heimat hierherbegleitet.«

»Wieso das?«

»Meine zwei unverheirateten Schwestern sind mit hierhergezogen.«

»Das ist schön. Sie wohnen also zusammen und führen gemeinsamen Haushalt?«

»Nicht ganz. Meine Schwestern wollen gern selbständig ihr Leben bezwingen, und so haben sie sich eine Pension eingerichtet für Mädchen aus unserer Rheingegend, die gern Französisch lernen möchten hier im französischen Sprachgebiet. Sophie hält zudem einen kleinen Laden und freut sich, wenn sie auf diese Weise mit der Bevölkerung in Berührung kommt.«

»Wie heißen Ihre Schwestern?«

»Sophie und Friederike.«

»Friederike«, wiederholte Frau Lili gedankenvoll. »Sagen Sie Ihren Schwestern einen Gruß von der Baronin Türckheim, lieber Herr Pfarrer. Was Sie mir hier sagen, berührt mich so eigen, daß ich Ihnen dafür danken muß. Es erhebt das Gemüt, wenn man Menschen begegnet, besonders Frauen, die so tapfer und selbständig das Schicksal zu meistern suchen. Und wie wunderlich spielt doch dieses Schicksal oft mit uns Menschenkindern! Auch ich hätte mir vor fünfzehn bis zwanzig Jahren in meiner Vaterstadt Frankfurt nicht träumen lassen, daß ich einmal in einer so seltsamen Epoche mit den Schicksalen des Elsasses und der Stadt Straßburg verflochten würde.«

»Nicht alle Blüten werden Frucht«, versetzte der Bruder Friederikens nicht minder besinnlich. »Auch die Erde will wohl eine Art Dankopfer haben und wählt sich dazu Blüten, die in jedem Frühjahr ihr zu Ehren vorzeitig vom Baum fallen und den noch etwas blumenarmen Boden mit Schmuck bedecken. Das muß ich manchmal denken, wenn ich die vielen unverheirateten Mädchen sehe, die niemals in irdischem Sinne Frucht werden, sondern Blüte bleiben und als Blüte zur Erde zurückkehren.«

Der Saal war durchflossen von einem weißen Mittagslicht. Viktor, der in der Nähe stand und die letzten Worte vernommen hatte, ahnte nichts von der Bilderfolge, die sich einst bei den Namen Friederike Brion und Lili von Türckheim, geb. Schoenemann, für spätere Geschlechter auftun würde. Die stille Schwester des Pfarrers und die feingeartete, reiche Baronin waren beide von einem großen Dichter geliebt und in die Ahnengalerie unsterblicher Frauen aufgenommen worden. Hier berührten sie sich leise; und ein Harfenakkord klang bei dieser Berührung durch den vollen Saal und verhauchte wieder, ohne jedoch Wehmut zu hinterlassen ...

»Nur nicht Blüte bleiben!« seufzte der junge Lehrer. »O Gott, nur Frucht werden, Wirkungen üben, reifen – und dann sterben.«

Er schwankte ein Weilchen zwischen Politik und Theologie: zwischen Dietrich und Oberlin. Die dunkle Gestalt des letzteren saß etwas entfernt in einem Kreise ehrfürchtig lauschender Mädchen; ersterer stand in der Nähe bei Vater und Bruder nebst einigen anderen und beteiligte sich taghell und lebhaft an einer politischen Erörterung. Viktor trat heran. Und sofort umfing ihn die rauhmännliche Stimmung der Gegenwart.

Baron Philipp Friedrich von Dietrich stand in der Vollkraft seiner vierzig Jahre. Was für eine angenehm auffallende, gleichsam repräsentative Erscheinung! In ihm strebten äußere Eleganz und innere Bildung eine glückliche Vereinigung an. Unter dem braunen, fein an den Schläfen gewellten und leicht gepuderten Zopfhaar des schön entwickelten Mannes leuchtete eine ebenmäßige Stirn mit zwei freundlich blauen Augen; an eine feste, kühn hervortretende Nase fügte sich ein angenehmer, fast etwas weichlicher Mund und ein anmutig abrundendes Kinn. Aus den Spitzenmanschetten des Ärmels drang eine vielbewegte Hand hervor, die den lebhaften Worten dieses geborenen Redners Schwung, Ausdruck und Eindringlichkeit verlieh. Dieser wissenschaftlich gebildete und musikalische Mann überzeugte nicht wie Oberlin durch ruhigschwingende Seelenwärme; er riß hin und überredete durch seine spannkräftige, für seine Anschauungen voll eintretende Persönlichkeit. In ihm verband sich die Bildung der Aufklärungszeit mit dem Würdegefühl des Reichsstädters und der höfischen Gewandtheit eines königlich französischen Beamten, der sich lange zu Paris aufgehalten hatte. Dietrich war von liberaler Beweglichkeit und von konservativem Gemütsgehalt; das altstraßburgische Bürgertum hatte sich hier, in einer wahrhaft modernen Gestalt, mit französisch-vornehmer Kultur des ancien régime verbündet. So fühlte sich der elastische, arbeitskräftige, redefrohe Politiker als Vertreter einer wichtigen Mission: ihm schien die Aufgabe zugewiesen, die Stadt Straßburg und das ganze deutsch geartete, vom französischen Naturell abstechende Elsaß aus dem früheren Despotismus und den Wirren dieser Übergangszeit in eine freiheitlich gestimmte Monarchie hinüberzuleiten.

»Wir gehören zu den reichsten und daher verantwortungsvollsten Familien dieses Landes«, sprach eben sein wuchtiger siebzigjähriger Vater, der trotz Gicht und Podagra Geistesenergie genug besah, die neue Zeit mitzumachen, sofern sie seiner Familie eine ehrenvolle Mitwirkung gestattete. »Es hat mir einmal ein abergläubischer Mann gemunkelt, das Blut des vor mehr als hundert Jahren enthaupteten Obrecht verlange noch das Blut eines Dietrich; denn unser Ahnherr, der Ammeister Dominikus Dietrich, hätte jene Enthauptung Anno 1672 verursacht. Diesem Mann hab' ich indessen die Antwort erteilt: Euer Prokurator Obrecht war ein niedriger Pasquillant; er hat in einer für unsere Grenzstadt peinlich schwierigen Zeit die Bürgerschaft durch anonyme Schmähschriften verhetzt und aus Rache hochangesehene Männer verleumdet; er ist erwischt worden, hat's eingestanden und hat nach dem Gesetz den Kopf lassen müssen. Mag er arm gewesen sein mit seinen zehn oder elf Kindern – Armut darf keinen Ehrenmann zu unehrenhaften Dingen verführen. Brutal waren die Gesetze unsrer alten Reichsstadt, sagt man? Ich sage: Sie waren gerecht. Nach dem Buchstaben des Gesetzes hätte dem Verleumder sogar noch die rechte Hand vor der Enthauptung abgehackt werden sollen; aber die Beleidigten haben sich mit der einfachen Enthauptung begnügt.«

»Wie kommst du plötzlich darauf, den Schatten jenes unseligen Advokaten zu beschwören?« fragte der jüngere Dietrich.

»Es hat mir bittre Tage gemacht in jungen Jahren«, versetzte der Alte. »Und von dort ab ist das Unglück über unsren bedeutenden Ahnherrn, den Ammeister Dominik Dietrich, herniedergebrochen. Man hat diesen Ehrenmann fast hundert Jahre lang infolge jener Verleumdungen einen Verräter genannt, nicht nur im Elsaß, sondern in Deutschland und Frankreich überhaupt; man sagte, er habe die Stadt Straßburg an Frankreich verraten! Der Magistrat hat sich amtlich Mühe gegeben, die Lügen zu zerstreuen. Umsonst! Es ist mit solcher Teufelsaussaat wie mit dem Unkraut auf dem Acker. Armer Dominikus Dietrich! Zu aller Verleumdung erlittest du noch die Verfolgungen eben jenes Frankreich, an das du verraten haben sollst, schmachtetest im Kerker, kamst endlich siech und gebrochen nach Hause, um drunten am Nikolausstaden zu sterben. Und warum diese Verfolgung? Weil dieser zähe Mann an seinem evangelischen Glauben festgehalten hat; weil er als einflußreichster Ratsherr dem ganzen Gemeinwesen der Stadt Straßburg durch seine Beharrlichkeit ein übles Beispiel gegeben habe – darum! Darum hat Minister Louvois unsren Urgroßvater verfolgt und eingekerkert. Dahingegen der älteste Sohn des Verleumders, Herr Ulrich Obrecht, trat zum Katholizismus über und wurde der erste königliche Prätor der französisch gewordenen Stadt Straßburg. Wo sitzt also der eigentliche Märtyrer? Mir scheint, der Märtyrer heißt Dominikus Dietrich, ehemaliger braver Ammeister der freien Reichsstadt Straßburg, verstorben als ein von Frankreich der Ehre und der Gesundheit beraubter Greis im Jahr des Heils 1694.«

Der alte Herr Dietrich, der neben seiner eleganten Schwiegertochter, Frau von Dietrich-Ochs, auf dem Sofa saß, hatte mit Wucht und Erregung gesprochen. Er schaute sich nun in dem Kreise um, ob etwa irgend jemand diesen gewichtigen Darlegungen zu widersprechen versuchen wolle.

»Nun, Freund, seitdem hat der fünfzehnte Ludwig an eurer Familie gut gemacht, was der vierzehnte verschuldet hat«, bemerkte Birkheim beruhigend.

»Das ist wahr, das hat er getan«, lenkte der Greis gemächlich ein und verbreitete sich mit der Erinnerungsfreude des Alters über sein Leben. »Wir Dietrichs dürfen jenes Unrecht als gesühnt betrachten. Wir verdanken dem französischen Königtum und dem deutschen Reiche Ehre über Ehre und sogar den Adel. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, nun, so darf ich wohl ohne Ruhmredigkeit meinen siebzigsten Geburtstag demnächst recht mit Behagen feiern. Die Finanzoperationen mit meinem Schwiegervater, dem Bankier Hermann, haben mir den soliden Untergrund gegeben. Und so konnte ich Teile der Herrschaften Oberbronn, Niederbronn, Reichshofen, die Grafschaft Steintal, die Herrschaft Angeot, Ramstein und andre Lehen an mich bringen. Auch die Straßburger haben mich geehrt, haben mich zum Ammeister gewählt und haben mir sogar den Ehrentitel eines Straßburger Stettmeisters verliehen. Alles in allem, ich darf wohl summieren: unsre Familie gehört mit zu den glänzendsten des Elsasses. Aber warum betone ich heute diese Dinge? Wie ich schon sagte: weil dies alles verpflichtet. Wir stehen an einer Zeitenwende. Und da hoffe ich, wir Dietrichs werden an der Spitze bleiben.«

»Gewiß, Papa, wir werden nicht zurückbleiben!« setzte nun der jüngere Dietrich ein. »Die Nationalversammlung in Paris weist uns den Weg, den wir zu gehen haben. Es handelt sich darum, mit der Macht der überzeugenden Rede das Volk zur einmütigen und freiwilligen Mitarbeit an der Neugestaltung zu gewinnen. Denn es kann gar kein Zweifel darüber bestehen: die oligarchischen und aristokratischen Regierungsformen werden in liberale Formen übergehen. Das mündige Volk wird sich beteiligen, wird seine Vertreter wählen. So wird sich in Straßburg der bisherige verwickelte Apparat der alten Reichsstadt umwandeln in einen einfachen Gemeinderat mit einem Maire an der Spitze. Dieser Munizipal- oder Gemeinderat wird öffentlich seine Sitzungen abhalten; im Sitzungssaal werden Galerien sein; jeder, der eine Karte löst, kann beiwohnen. Ebenso werden die neu zu gründenden Klubs oder Volksgesellschaften ihre Sitzungen öffentlich halten. Das Wort auf den Tribünen und das Wort in den Journalen – kurz, die freie öffentliche Rede und Debatte werden fortan die Meinungen bilden, nicht irgendwelche Erlasse irgendwelcher privilegierten Kaste oder Körperschaft. Fort mit dem veralteten Plunder! Der König bleibt nach wie vor Repräsentant und Vertreter der Nation, selbstverständlich. Aber mit und neben ihm berät das vom Volk erwählte Parlament und hat den wesentlichen Teil der Arbeit zu leisten.«

So entwickelte Friedrich von Dietrich mit Feuer und Gewandtheit seine liberalen Anschauungen. Der alte Reichsbaron wurde unruhig bei solchem Elan des beredten Sohnes.

»Ob dieser weitläufige Mechanismus, dieses Miträsonieren des ganzen Volkes – ob das wohl die Wucht und Würde haben wird wie die geschlossene Regierungsform unsrer guten alten Reichsstadt?«

»Jedenfalls wird es uns vor Tyrannei, Bevormundung und finanzieller Mißwirtschaft bewahren, weil alle miteinander aufpassen und ihr Wort mitreden.«

»Lieber Junge, es sitzen 133 Advokaten im Pariser Parlament«, bemerkte der Alte bedenklich. »Es wird eine schöne Zeit für diese Gattung von Wortverdrehern, für die Räsoneure, Maulhelden, Rabulisten, Sophisten, Jongleure des Worts. Kurzum, die vornehme Stille geht zum Teufel. Vertiefung ist bei solchem Redeschwall unmöglich. Das Reformwerk wird flach und platt, so recht von der Masse für die Masse gezimmert. Oh, ein gefährliches Prinzip, ein ganz gefährliches Prinzip, euer allgemeines und freies Wort- und Wahlrecht! Der hochentwickelte Mann der Bildung, der streng an sich gearbeitet hat, gilt also staatsrechtlich fortan nicht ein Tüttelchen mehr als der Flachkopf und Dummkopf? Gebt acht, ihr Volksmänner, daß ihr euch nicht miteinander in die Sengnesseln setzt!«

»Falls sich der gebildete Mann nicht des Tölpels zu erwehren weiß, so geschieht's ihm eben recht, wenn er in die Nesseln gerät!«

»Der Tölpel möchte noch angehen, – obwohl du hier wider dein Prinzip der Gleichheit redest, indem du von deinen freien und gleichen Mitbürgern voraussetzest, daß unter ihnen Tölpel sind. Aber die Boshaften? Die Verleumder, die Streber, die Schikaneure des Wortes – die natürlich nicht verdächtigt haben, sobald man sie fassen will! Oh, ihr allgemeinen, freien und gleichen Mitbürger, Brüder und Patrioten, das wird ein lustiger Cancan werden! Dansons la, carmagnole

»Hast du Angst, Papa?« fragte Friedrich lachend.

»Nein, aber die Zeitvergeudung tut mir leid«, antwortete der Alte. »Und die Wortvergeudung, bis alle die Simpel und Schuster und Schneider widerlegt sind, die nun fortan politisieren werden. Das wird ja ein Hexentanz des Dilettantismus! Fritz, ich gebe dir dringend den einen Rat: Zurückhaltung! Sei vornehm! Beteilige dich nicht an den Debatten dieser geplanten Klubs und Volksgesellschaften!«

»Im Gegenteil, mein Vater, ich gedenke mich sofort als Mitglied aufnehmen zu lassen und recht kräftig mitzureden.«

»Auch wenn du Maire von Straßburg wirst?«

»Dann erst recht! Ich werde der erste liberale Maire von Straßburg sein. Das ist nicht mehr der Ammeister des Perückenzeitalters. Es liegt nicht im Wesen des Liberalismus, sich vom Volk und von der Debatte in falscher Vornehmheit abzusondern.«

»Aber es liegt im Wesen des Stadtoberhauptes, daß er über den Parteien bleiben muß!«

»Die Volksgesellschaft ist keine Partei!«

»Wird sich aber sofort in Parteien spalten! Bei so allgemeiner Wort- und Scheltefreiheit?! Glaubst du, daß sich da die Leidenschaften zügeln werden?! O Parlamentswirtschaft! Wie werden da beleidigte Eitelkeit und verletzte Rechthaberei ein aufdringliches Wörtchen mitsprechen! O ihr Illusionisten à la Rousseau!«

»Ich halte mich zur Partei der Vernünftigen, der Gebildeten, der Intelligenz – genügt dir das?«

»Also doch Partei? Und wirst dann von der Gegenpartei verdächtigt und verlästert?«

»Wogegen mich meine Freunde verteidigen werden!«

»Fritz, laß dir ein ernstes Wort sagen«, sprach der Alte und erhob sich. »Bleib mir von der Rednertribüne dieser künftigen Volksgesellschaften fort! Setze dich überhaupt nicht den Parteien aus! Und wenn's dir noch so sehr in allen Fingern zuckt und das Donnerwort von den Lippen will – halt an dich, Fritz! Bleib über den Parteien! Gesetz auch, du wirst den Gegner in glänzender Rede wie beim Gänselspiel ins Wasser werfen – der Besiegte wird dir deine Überlegenheit nicht verzeihen. Du wirst dich in Polemik verzetteln, schwächen und verbittern. Daher übe dich in Willenskraft und Selbsterziehung: behalte das Ganze im Auge, imponiere nach allen Seiten durch leidenschaftlose Sachlichkeit!«

Der alte Johann von Dietrich sprach aus der Fülle seiner Erfahrung mit Würde und Nachdruck. Seine Hand lag schwer auf des Sohnes Schulter, während er diesen gewichtigen Rat aussprach. Es leuchtete ihm visionär die Besorgnis auf, daß gerade die glänzende Redebegabung dieses jüngeren Sohnes dessen Gefahr werden könnte.

Fast alle Gruppen des Saales hatten sich nach und nach herangezogen oder doch zu sprechen aufgehört und lauschten herüber. Die Damen bewegten schweigend und gespannt ihren Fächer; sogar der Arzt hielt mit Schnupfen inne und behielt die Prise unfern der Nase in der erhobenen Hand. Es war ein Augenblick erwartungsvoller Stille. Was wird der seiner Kraft bewußte Sohn antworten?

»Dein Rat ist theoretisch vortrefflich, Papa«, erwiderte der künftige Maire von Straßburg nach kurzer Pause. »Wollt' ich ihn befolgen, so müßt' ich erstens mein Naturell und zweitens den Rhythmus und Pulsschlag der Zeit um ein Beträchtliches verlangsamen. Die Dinge sind jetzt in viel zu geschwindem und energischem Lauf; und mein Blut ist noch viel zu jung und zu rasch. Will ich mithalten, so muß ich in den Formen und Prinzipien mithalten, die jetzt die Zeit bestimmen. Will ich die Gefahren dieser Prinzipien fürchten, wohlan, so kann ich mich gleich nach Jägerthal oder Niederbronn zurückziehen und mein Werk über die Mineralien und Hüttenwerke Frankreichs zu Ende schreiben. Aber ich denke, wichtiger als Schriftstellerei ist jetzt die Politik.«

Die Sache war entschieden.

Der alte Dietrich zuckte die Achseln, reckte die Brust und sprach kurzerhand, gleichsam abschließend und die Verantwortung ablehnend:

»Nun, du mußt das schließlich mit dir selber abmachen. Meine Damen und Herren, gehen wir zu Tisch!« ...

Die Mahlzeit begann. Diener liefen hin und her; das Geräusch der Teller und Gläser, das Geschwirr der Stimmen ward allgemein; und allgemein wuchs bei gutem Tischtrank der Enthusiasmus für das Abenteuer der Revolution. Man sprach von der neuen Bürgerwehr, der Nationalgarde; jeder Elsässer war ergriffen vom Drang des Soldatenspiels und des Mitredens in öffentlichen Angelegenheiten; Jüngling, Mann und Greis zogen den blauen Rock an und bezogen die Wachen, exerzierten an Feiertagen und marschierten mit Lust in Kompanien und Bataillonen, zur Eifersucht der stehenden Regimenter. Man sprach von den französischen Truppen insgesamt.

»Seht euch die berittenen Karabiniers an – was für eine prächtige Truppe!« rief der ältere der beiden Brüder, der ehemalige Kavallerist. »Ich sah daneben ein Schweizerregiment in seiner hellroten Uniform – gewiß, derbe Kerle, tapfer, aber neben den schlanken Kürassieren die reinen Wollsäcke! Das Regiment Hessen-Darmstadt hat die beste Musikkapelle – gebt acht, die Nationalgardisten werden auch in der Musik mit den Regimentskapellen wetteifern. Was schadet's? Wir vom Publikum haben den Profit davon.«

»Siehst du, Papa, das ist das liberale Prinzip des freien Wettbewerbs!« fiel der junge Dietrich ein. »Willst du leugnen, daß es den Ehrgeiz anspornt und die Kräfte beflügelt?«

»Und die liebe Eitelkeit!« ergänzte der Alte.

»Was sagt denn wohl Herr Pfarrer Oberlin zu dem Feuer, das jetzt unser Vaterland belebt?« wandte sich der jüngere Dietrich plötzlich an den Pfarrer des Steintals. »Erlauben Sie mir, auf Ihre Gesundheit zu trinken, werter Herr Pfarrer!«

Oberlin, der bei Frau von Birkheim saß, hatte sich über den blinden Pfeffel unterhalten. Dann war man im zwanglosen Gespräch auf Praktisches gekommen, auf die schlechte Ernte des Jahres, auf das mannigfach gestörte Verhältnis zwischen Bauer und Grundherr, auf Jagd- und Waldfrevel, auf die wachsende sittliche Verwilderung.

Nun erhob er dankend sein Glas, nippte und erwiderte ein wenig ausweichend. Es widerstrebte ihm offenbar, angesichts der stiller gewordenen und auf seine Antwort lauschenden Tischgesellschaft eine Erörterung fortzuspinnen, die soeben zwischen Vater und Sohn ergebnislos verlaufen war. Neben dem anmutigen und weltmännischen Baron wirkte die abgeklärte Ruhe des stillen Landgeistlichen nahezu nüchtern, schlicht und etwas unbeholfen.

»Sagen Sie meinem Mann nur tüchtig Ihre Ansicht, Herr Pfarrer!« ermutigte die unendlich graziöse Frau Luise. »Sie haben ja gehört, mein Schwiegervater ist nicht mit ihm fertig geworden.«

Oberlin entschuldigte sich in ungesuchter Einfachheit abermals mit der Bemerkung, daß dies alles der staatlichen Ordnung der Dinge angehöre und also sein Arbeitsgebiet nur mittelbar berühre.

»Und was nennen Sie Ihr Arbeitsgebiet?« beharrte Dietrich. »Wollen Sie sich von der übrigen Gattung der Menschheit ausschließen?«

Wieder lauschte man auf Oberlins Antwort. Es schien sich nun doch ein neuer Waffengang vorzubereiten.

»Es geht durch die Welt eine wunderbare und beachtungswürdige Zweiheit«, holte der Hochlandspfarrer langsam und nachdenklich aus. »Es wird das wohl so in Gottes großem Schöpfungsplan vorbestimmt sein. Die einen – und das sind die meisten – betrachten die Geschehnisse von außen und wirken mit den Mitteln der Welt, als da sind Gewalt, Rechtspflege, Verhandlungen, Verträge und dergleichen mehr. Sie wirken durch staatliche Gesetze und wenden sich an die Vernunft, an den Ehrgeiz, an den Vorteil, an die Furcht vor Strafe und andres mehr. Es ist jene Region, welche in der Schrift »die Welt« genannt wird. Solche weltliche Ordnung ist wichtig; und man darf solches Regiment nicht unterschätzen. Aber dies ist noch kein Christentum; denn schon die alten Römer waren darin berühmte Meister. Nun gibt es andre Menschen – und zwar in der Minderzahl –, die von innen bauen. Diese wenden sich mit seelischen Mitteln an die Seelen der einzelnen. Sie versuchen den Menschen in seinem Kernpunkt anzufassen: an seiner unsterblichen Seele; sie kommen ihm besonders in solchen Fällen nahe, wo der leicht zerstreute und durch Glück verwöhnte Mensch durch Leid, Krankheit, Unglück auf sich selbst zurückgeführt wird und sich auf seine innere Welt zu besinnen anfängt. Ihre Arbeit ist demnach eine Arbeit der Stille. Sie versuchen den Menschen in Stunden der Empfänglichkeit zu läutern und zu allem guten Werk geschickt zu machen. Dennoch dienen auch sie der Gesamtheit; denn je mehr gute und von Leidenschaften gereinigte Menschen in einem Volke sind, um so besser steht es mit einem solchen Gemeinwesen. Auf dieser innerlichen Seite stehen der Geistliche, der Philosoph, der Erzieher. Und da stehe auch ich.«

Oberlins Worte breiteten in ihrem schlichten Ernst eine feine Stille über das Geräusch der Versammlung aus. Die Kirchen des Steintals sind klein; man braucht von ihren Kanzeln nicht laut zu sprechen. So war auch diese Rede Oberlins ein ruhiges Sprechen von verinnerlichter Tonart. Zumal die Frauen atmeten auf unter dieser Stimme des Friedens, die einem Glockenklang aus tiefem Walde vergleichbar war.

»In Deutschland scheint man in diesem schönen Versuche, den Menschen von innen heraus zu erneuern, gegenwärtig mehr zu tun als in Frankreich«, sprach Frau von Türckheim. »Wenigstens hat mein Schwager, der Deputierte in Paris, bereits erwogen, ob er nicht aus dem revolutionären Frankreich ins philosophische Deutschland auswandern solle, etwa nach Baden; so sehr betrübt ihn das dortige Treiben.«

»In dem Hotel, in dem ich dort abstieg,« raunte Johann von Dietrich dem Kandidaten zu, »wohnten drei Abgeordnete: alle drei mit ihren Mätressen. Das lebt flott – und schimpft dann auf den Adel. Soll ich Ihnen die Ursachen der Revolution sagen? Eifersucht! Ganz gemeine Eifersucht!«

»Ob es nicht empfehlenswerter sein mag, wir Straßburger geben den Parisern ein Vorbild, wie man ohne Blutvergießen und Roheiten dennoch tatkräftig reformiert?« rief Dietrich der Jüngere. »Und wohin denn flüchten, verehrte Frau? Sind nicht sogar in der Kirche Leidenschaften, Herr Pfarrer? Sind nicht auch in der Philosophie und Literatur Pamphlete an der Tagesordnung?«

»Ja, so ist es leider«, bestätigte Oberlin. »Sie können sogar weitergehen, Herr Baron, und hinzufügen: auch in uns selber ist Streit und Leidenschaft. So geht jener Zwiespalt durch alles Irdische – und wohl noch durch die Geisterwelt, die sich in Engel und Dämonen spaltet. Aber irgendwo ist ein Land, da ist Ruhe. Augustin hat seine Konfessionen mit den Worten begonnen: ›Cor nostrum inquietum est, donec requiescat in te‹, – unser Herz ist unruhig, bis es in dir ruht! In wem? In Gott, in dem was göttlich ist: in reiner Liebe, nicht im Chaos der Leidenschaften.«

Oberlins Worte wirkten durch die Wärme der Überzeugung auch dann noch wohltuend, wenn man den Anschauungen dieser Persönlichkeit im einzelnen zu widersprechen verpflichtet war, aus einer gegenteiligen Anschauungsweise heraus. Der Arzt murmelte längst zwischen Geflügel und Tischwein; aber Dietrich nickte freundlich, wenn auch mit einem reservierten Lächeln.

»Ich bin Philosoph«, sprach er. »Wenn Sie wollen, ein wenig Freigeist. Wollen Sie mir die Philosophie absprechen, wenn ich mich politisch betätige? Darf ich überhaupt fragen, wie Sie sich zur Philosophie stellen, mein werter Herr Pfarrer?«

»Alle Achtung vor Ihren Geistesschätzen!« rief der belesene Geistliche. »Gleichwohl stehe ich nicht an, zu behaupten, daß es noch ein unmittelbareres Lebensverhältnis gibt als die Philosophie. Nämlich das direkte Sprechen mit Gott, ohne den Umweg der Systeme. Dies Sprechen mit Gott erhebt sich über die Systeme der Philosophie, wie sich das Genie über die mühsame Arbeit des Talentes erhebt. Dies Geniale des Herzens und Wunder des Geistes heißt – das Gebet

»Wie wunderschön sprechen Sie mir aus dem Herzen!« rief Frau von Türckheim. Octavie schaute mit Begeisterung zu Oberlin herüber, und die Augen des seelenvollen jungen Mädchens waren feucht. Hier wurde bestätigt, mit einer ansteckenden Sicherheit, was sie von Pfeffel in anderem Ton und Rahmen vernommen hatte. Oberlins Worte fielen ruhig und selbstverständlich. In diesem Manne gab es keine Zweifel und Zwistigkeiten mehr; hier gab es nur Erlebnis und durch Erlebnis Gewißheit.

Dietrich gab die freundschaftliche Debatte taktvoll auf.

»Es ist nun einmal nicht anders,« sprach er, »Sie und ich, Herr Pfarrer Oberlin, wirken trotz unserer menschlichen Sympathien in getrennten Zimmern. Sie in der Bureauabteilung, die mit der Seele zu schaffen hat, ich im Aktenzimmer der Politik. Nach Ihrer Ansicht darf wohl der Christ überhaupt kein Politiker sein?«

»Jedenfalls würde ich, wenn ich zu raten hätte, allen vom Volke Gottes den Rat geben, sich in den kommenden schweren Zeiten der Leidenschaften über den Parteien zu halten – wie es Ihr verehrenswerter Herr Vater gleichfalls empfohlen hat. Aber ich brauche diesen Rat nicht auszusprechen; die innere Stimme rät Ihnen das von selbst.«

Man hob die Tafel auf. Die Gesellschaft zerstreute sich in die benachbarten Räume....

Viktor Hartmann hatte mit wachsender, ja leidenschaftlicher Anteilnahme diesen Erörterungen gelauscht. Der junge Zuhörer fühlte sich zwischen Dietrich und Oberlin stehend, angezogen von beiden, begeistert von Dietrichs energischem Optimismus, bewundernd die reife Ruhe und Geschlossenheit des milden, klaren und festen Hochlandspfarrers. Dort Staatlichkeit, hier Innerlichkeit; dort Politik, hier Seele; dort Parlaments- und Kopfdebatte, hier Sprache des Herzens und der einsam-großen Natur.

Wohin?

Die »Frau mit der guten Stimme«, wie er sie innerlich nannte, verabschiedete sich eben in seiner Nähe und kam bei ihm vorüber. Man hatte sie ihm inzwischen als eine bürgerliche Madame Jeanne Frank sehr achtungsvoll genannt, »nicht zu verwechseln mit Frau von Franck-Türckheim, deren Salon weltberühmt ist«, während diese Witwe mit ihren beiden Kindern gänzlich in der Stille lebe, im Sommer zu Barr, im Winter zu Straßburg.

»Ich muß Ihnen doch noch danken,« sagte Frau Frank im Vorübergehen, »daß Sie mich vorhin so schön herausgehauen haben. Sie sind ja übrigens, wie ich höre, au´e Stroßburjer? Könnten Sie mir nicht en passant einen guten Rat geben? Ich suche nämlich schon so lange eine neue, möglichst stille Wohnung.«

»Die Langstraße ist ein bißchen laut«, erwiderte Hartmann. »Sonst würde ich sagen: Gehen Sie zu meinem Vater. Das zweite Stockwerk unsres Hauses steht leer. Er selbst wohnt mit meiner alten Tante, seiner Schwester, im ersten. Und im Erdgeschoß der Bäcker Hitzinger. Es ist nicht weit vom Rebstöckl. Aber wie gesagt, die Langstraße ist ein wenig laut.«

»Ach, das stört uns wenig, nicht wahr, Leonie, wenn nur im Hause selbst ruhige Leute wohnen«, entgegnete die Witwe.

Man besprach noch einiges, und sie merkte sich die Adresse. Dann gab sie mit der ihr eigenen stillen Freundlichkeit dem Hauslehrer die Hand, das hochaufgeschossene Töchterchen mit den Kornblumenaugen und den hübsch gewölbten, meist erstaunt halbgeöffneten Lippen machte einen Knix – und die beiden gingen geräuschlos davon. Was für gute Augen hat das Kind! dachte Viktor; und was für eine gute Stimme die Mutter! Beide Frauen waren von einer angenehm gesunden, schönen, bräunlichen Gesichtsfarbe und hatten dunkelbraunes Haar; die Tochter trug es nach damaliger deutscher Art in verschlungenem Zopfwerk hochgebunden. Es waren etwas eckige und herbe alemannische Gesichter, mit einem keltischen Einschlag, nicht eigentlich schön, außer wenn sie lächelten; die Haltung war fast streng; aber sie waren von einem geheimen Wärmevorrat durchglüht und schienen überaus ruhig, glücklich und gesund. Und doch war alles dies noch nicht ausreichend, die magnetische Anziehung zu erklären, die von ihrer stillen Art ausging. Sie schienen ihm seit Jahren wohlbekannt. Es war ihm in ihrer Nähe eigentümlich mild und wohl zumute, auch wenn er abgewandt nur die Musik ihrer Stimme vernahm. Er war erstaunt, dies trauliche Heimgefühl an sich zu beobachten; denn – – mit fast zuckender, schmerzender Plötzlichkeit ward er sich unmittelbar nach ihrer Entfernung wieder seiner Wunde bewußt.

Viktor trat in den Park hinaus und ließ die frische Luft um die heißen Wangen spielen. Er hatte ziemlich Wein getrunken. Die freie Natur wirkte nach all dem Geräusch und der Schwüle des vollen Saales wohltätig. In der Ferne bildeten steile, weißgeränderte Wolken eine himmlische Landschaft. Die Nähe war in ein durchsichtig weißes Mittagslicht eingehüllt. Im Tal, an der Breusch entlang, fuhren die beiden Straßburger Damen davon, die in Schirmeck oder sonstwo zu Besuch sein mochten. Und in Viktor, der trüben Mutes in diese verhaltene Naturstimmung schaute, war ein Heimweh.

Hier geschah es nun, daß der alte Postillon und Bote des Orts, unter vielen Selbstverwünschungen, es mög' ihn der und jener holen wegen der verdammten Vergeßlichkeit, sich aus einem Torwinkel heranmachte und dem erschrockenen Hauslehrer ein wohlverpacktes Buch übergab. Was ist das? Die Buchstaben der Adresse ließen ihn erblassen. Von ihr?! Er entlohnte den Überbringer, der die Sendung schon gestern hätte bestellen sollen, eilte hinter schirmende Tannen den Park hinan und riß das mehrfach versiegelte Paket stürmisch auf. »Werthers Leiden!« Nichts weiter als »Werthers Leiden«. Richtig, er hatte das Buch einmal in Villa Mably liegen lassen. Er blätterte, suchte – kein Brief darin! Er durchforschte den inneren Umschlag, die Innenseite des Deckels – nichts. Endlich sah er im Text einen Strich am Rand: es waren die Worte, die er einst in ihrem Hause laut und heftig gelesen hatte. »Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen« ... Und gleich dahinter, in dem Abschnitt, der »am 21. August« datiert ist, waren weitere Druckzeilen mit Rotstift unterstrichen. »Ein Strom von Tränen bricht aus meinem gepreßten Herzen, und ich weine trostlos einer finstren Zukunft entgegen.« Er durchblätterte fieberhaft das ganze Buch. Nichts! Weiter nichts!

Noch einmal besah er die Verpackung. War es denn wirklich von ihr abgesandt? Es war ihr Wappen auf dem Siegel, es war ihre Schrift – und keine Zeile weiter!

Wut und Schmerz kochten in Viktor auf. Er war versucht, Buch und Verpackung zu zerstampfen in einem seiner seltenen Anfälle – und zu zerstampfen dieses ganze wildsüße, falsche Narrenspiel einer Sommerleidenschaft. Das Buch in der krampfenden Hand und die freie Faust geballt, schritt er mit langen, fliegenden Rockschößen wie ein Wahnsinniger zornschnaubend hin und her. Wenn sie wirklich »einer finstren Zukunft entgegenweint«, wenn dies hier angestrichene Wort mehr ist als eine sentimentale Phrase und tragische Pose, so mußte sie doch den Freund einer Aussprache würdigen! So mußte sie doch den Geliebten mit einem ernsten, meinetwegen bittren Abschiedswort oder irgendeiner Begründung ehren! »Aber so brutal hat sie wohl ihre früheren Liebhaber entlassen,« knirschte es in ihm, »so brutal wirft sie nun auch mich zum Kehricht!« Sein Herz weinte vor Wut und Qual. Aber es kam kein Wort über seine blassen Lippen, und keine Träne rollte an den zitternden Nüstern herab. Es war ein geradezu körperlicher Schmerz, ein Brand geradezu, der seine Rippen zu sprengen drohte. Wuchtiger und sinnenhafter als je zuvor flammte das Bewußtsein seines Zustandes grade heute, nach diesem anregenden Mittagessen, nach diesen Gesprächen, nach diesen Begegnungen in dem Einsamen auf.

In diesem Augenblick fiel der Schatten der »Zeder« auf Viktors Weg.

Pfarrer Oberlin stand vor ihm. »Ich will eben durch die obere Pforte den Park verlassen und über die Perhöhe nach Waldersbach heimkehren. Hätten Sie vielleicht Lust, mich ein Stückchen zu begleiten, Herr Kandidat?«

Viktor hatte während der Mittagsstunden nur nebenbei einmal mit Oberlin gesprochen. Aber Octavie, die zarte und schwärmende Verehrerin alles Edlen, hatte sich mit der »Zeder« über vieles unterhalten; so auch über den oft grillenhaften, verschlossenen, freundlosen Hofmeister, den sie angelegentlich dem Seelsorger empfahl.

Nur einen Augenblick zögerte Viktor. Dann hatte er sein Gleichgewicht wieder hergestellt und bemerkte höflich, er wolle nur das Buch hinauftragen und den Hut holen; es würde ihm dann eine ganz besondere Ehre sein. Er flog mit langen Sprüngen den Garten hinunter, hinauf in sein Zimmer und wieder herab: – und sein Entschluß war gefaßt, dem Pfarrer von Waldersbach sein bis zum Bersten volles Herz auszuschütten.

Er suchte, mit der ihm eigenen Entschiedenheit, sobald einmal ein Entschluß fest war, sofort nach einer Einleitung. Und er fand sie rasch. Hitzinger fiel ihm ein: so wie damals der junge Priester stürmisch und explosiv ihm gebeichtet, so stand jetzt er selber vor einem größeren Lehrmeister. Er erzählte daher ganz einfach dem Hochlandspfarrer die Seelengeschichte zweier junger Theologen, eines katholischen und eines evangelischen, ohne seinen oder Hitzingers Namen zu nennen. Er ging aus von jener grotesken Begegnung mit dem Betrunkenen an der Straße von Kolmar; er endete mit der Darlegung seiner eigenen Erlebnisse. Er nannte nicht Orte noch Namen, Er legte nur geschickt und energisch den seelischen Fall dar. »Und nun? Was wäre diesen beiden Unglücklichen zu raten?«

Die beiden Spaziergänger hatten den Wald verlassen und traten in den freien Bergwind hinaus. Der Fuß glitt lautlos über das Gras; Ginster streifte das Kleid. Einmal waren sie an beerensuchenden Kindern vorübergekommen; eine steinalte Frau, die am Wegrand saß, erhob sich mühsam und grüßte mit einem höflichen »Bonjour, monsieur le ministre« (so pflegte man damals die Geistlichen zu nennen); Oberlin nötigte sie wieder zum Sitzen und wechselte mit ihr einige leutselige Worte. Manchmal auch blieben sie stehen, und der ruhig zuhörende Pfarrer machte auf eine Pflanze oder auf einen reizvollen Blick ins Tal aufmerksam. So wurde das anfangs leidenschaftliche Ungestüm des jungen Bekenners unter dem Einfluß des älteren Gefährten unvermerkt in eine ruhigere Gangart übergeleitet.

Es eilte auch jetzt dem Seelsorger ganz und gar nicht, sich dieses interessanten Doppelfalles zu bemächtigen und etwa eine moralische Betrachtung über sein Beichtkind auszuschütten.

In zwanglosem Geplauder an den Umstand anknüpfend, daß hier von zwei Theologen die Rede war, kam Oberlin zunächst auf etliche Straßburger Professoren zu sprechen: auf seinen Bruder Jakob Jeremias Oberlin, auf den Hellenisten Schweighäußer, auf den Pfarrer Blessig. Straßburger Jugenderinnerungen wurden in ihm wach. Er selbst war Sohn eines dortigen Gymnasialprofessors.

»Was für eine glückliche Jugend hab' ich erlebt!« rief er aus. »Wie rein, kräftig und offen war unser Verhältnis zu den Eltern! Meine Mutter angenehm im Äußeren und von angenehmem Herzensinnern, fromm, geistig lebendig. Wir wurden mit spartanischer Einfachheit zum Sparen erzogen und nicht in Genüssen verwöhnt, denn meines Vaters Besoldung war nicht glänzend. Doch wurde man dabei kein sauertöpfisches Wesen gewahr. Stellen Sie sich meinen Vater vor, wie er sich auf unsrem kleinen Landgut in Schiltigheim die Trommel umhängt und mit seinen sieben Knaben nach dem Takt marschiert und exerziert, so genügt Ihnen wohl dieser eine Zug, um Ihnen seine lebensheitre und dabei feste und fromme Art zu kennzeichnen. Meine Neigung war bis in erwachsene Jahre hinein auf den Soldatenstand gerichtet; wär' ich nicht Pfarrer geworden, ich wäre Soldat. Nicht wegen des äußeren Tandes; vielmehr ging meines Vaters Erziehung vor allen Dingen dahin, den Willen zu stählen. Erziehung zur Selbstüberwindung und zu straffer Pflichterfüllung – dies spartanische Element habe ich meinen Eltern zu verdanken. Daneben wurde mein Sinn für die Natur gebildet; ich habe mir ein Naturalienkabinett angelegt, das ich ständig vermehre. Und Sie sehen hier wohl kein Kräutchen und keinen Stein, die mir nicht bekannt wären. So war alles in einem gesunden Wechselverhältnis. An Störungen fehlte es natürlich auch nicht, zumal ich von Natur heftig und jähzornig bin. Aber das innige Einsgefühl mit Dem, der uns über alle Maßen lieb hat, half immer wieder darüber hinweg. Wenn dies Gefühl festsitzt, so schnellt der Mensch immer wieder ganz von selbst in seine natürliche Lage zurück, wie ein Ast, der von seiner Schneelast befreit ist.«

So plauderte Friedrich Oberlin, zwanglos und allgemein, angeregt durch Viktors Erzählung. Dann blieb er stehen und schaute in die Berglandschaft des Steintals hinaus, die sich in gedämpftem Lichte weithin vor ihnen auftat.

»Sehen Sie nur, Herr Hartmann, wie zart sich jene weiße Luftschicht vom Rande des dunkleren Gebirges abhebt! Grade bei einer etwas trüben und bedrückten Landschaftsstimmung liebe ich es, mit dem Auge jenen glitzernden Himmelsrand zu suchen oder die silberne Umrahmung der Wolken festzuhalten: denn es ist eine Andeutung der Lichtfülle, die dahinter wohnt, auch wenn wir sie einmal nicht in ganzer Klarheit schauen. So wandeln, sag' ich mir dann, wie jetzt mein Auge wandert, die Himmlischen leicht und sicher in ihren ätherischen Gefilden über den Mühsalen und Irrungen der Erde dahin. Nicht in bequemem Ausruhen, denn auch in der Seligkeit sind sie unablässig in lebensvoller Bewegung und Nutzwirkung: sie stärken durch gute Gedanken von dorther das Gute, sie scheuchen warnend das Böse in seine Grenzen zurück. Sie haben Ihnen, lieber Hartmann, vielleicht den Gedanken eingeflößt, mit mir über jene beiden Theologen zu sprechen; sie haben vielleicht überhaupt Viktor Hartmann und Friedrich Oberlin zu diesem Spaziergang zusammengeführt. So sind wir immer in einem großen Gespinst unsichtbarer Leitungen, die sich der stilleren Seele oft enthüllen, so daß zur rechten Stunde das rechte Wort fällt. Mit diesem großen, festen Vertrauen würde ich in Ihrem Falle auch Ihre beiden Verirrten anzustecken versuchen. Laßt einmal – so etwa würde ich raten – die Einschau in euren allerdings beklagenswerten Zustand ein Weilchen bleiben, übt euch statt dessen mit ganzer Energie in der Aufschau zu den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt. Ihr seid in eine Sackgasse geraten. Wohlan, nun verzehrt euch nicht in Rückschau auf begangene Versehen, sondern gebt diesen Abschnitt eures Lebens als eine verlorene Sache mutig auf! Sie ist nicht verloren, sondern ein Gewinn, sobald ihr mit ganzer Kraft der Reue und Buße an einem neuen Ende reinere Taten zu leisten entschlossen seid. Die Ewigkeit ist lang, gute Arbeit harrt aller Enden; die kleinste Arbeit, zum Wohl des Ganzen tapfer und treu vollbracht, entzündet Kräfte guter Art in uns, veredelt und reinigt den Menschen. Nie ist es zu spät, denn Gottes Gnade ist ewig und unermeßlich wie das Universum!«

Und nun faßte der Hochlandspfarrer das Besondere der vorliegenden Fälle schärfer ins Auge.

»Dieser Katholik scheint mir in seinem elementaren Sündigen und Bereuen dem Reiche Gottes näher zu stehen als der evangelische Kandidat. Denn der letztere ist, wenn ich Ihren Bericht genügend verstehe und richtig deute, noch gar sehr in Hochmut, Trotz, Egoismus und übelnehmender Eitelkeit befangen. Er ist selber in die Sünden eines leichtsinnigen und genußsüchtigen Zeitalters geraten: und doch denkt er nur daran, wie man ihn beleidigt habe – nicht aber, was er etwa im Herzen der beiden Frauen und was er wider das göttliche Gebot überhaupt angerichtet hat. Wäre sein Herz schon zur Güte hindurchgedrungen, so hätte er alles andre nicht beachtet und nicht empfunden außer der einen Angst und Sorge: Wie mach' ich das wieder gut? wie kann ich jenen beiden Frauen helfen? wie kann ich Wohltat und reine Liebe geben, wo ich bisher nur trübe Leidenschaft gegeben habe? Er steckt im Subjektivismus, dieser unfertige Gottesgelehrte, der von Gottesweisheit so blutwenig besitzt. Jene Frau aber scheint zwar von hitzigem und sündigem Naturell, aber nicht unedel. Vielleicht kann sie sich nur durch ihr grausam scheinendes Gewaltmittel des Schweigens von ihrer Leidenschaft losreißen. Wie fällt doch einer Frau das Entsagen schwer! Wie verehrenswürdig ist eine leidenschaftliche Frau, die solchen Sieg über sich selbst erringt! Nein, diese Frau scheint mir nicht unedel zu sein. Der junge Mann, dem sie ihre verbotene Liebe geschenkt hatte, würde vielleicht Tag und Nacht weinen, wenn er mit ungetrübten Augen in das Herz einer solchen Frau Einblick hätte. Sie hat nur dies eine Kind? Und sie hängt leidenschaftlich an dem kränkelnden Mädchen? Mehr brauchten Sie eigentlich einem Vater nicht zu sagen. Die arme Frau!«

Es klang ein tiefes Mitleid aus Oberlins Stimme, als er dies alles still und weich in einer Art von Selbstgespräch vor sich hinsagte. Der stumme Begleiter atmete heftig; und plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen. Er verbiß es zwar; er würgte das Angestaute, das empor wollte, noch einmal gewaltsam hinunter. Aber er spürte, daß die Erstarrung zu Ende ging. Oberlins Wort und Wesen hatte all die vereisten Wasserläufe seines Inneren in klingende, rauschende Bewegung gebracht. Er lernte mit neuen Augen auf seinen verworrenen Zustand schauen; was an Edelsinn und guter Liebe in ihm war, bemächtigte sich der Führung. Mühsam hielt er die Tränen zurück, die von allen Seiten seines erschütterten Organismus zusammenströmten und empordrängten.

»Glauben Sie mir, mein lieber Herr Hartmann,« fuhr Oberlin in schlichter Erhabenheit fort, ohne den erregten Zustand seines Begleiters zu beachten, »nichts ist heiliger und größer auf Erden und im Himmel als die wahre Liebe. Das haben Sie vielleicht oft gehört; aber wenige erleben dies hehre Geheimnis. Mein großer Swedenborg hat recht: nichts ist seltener. Es fehlt hienieden gewiß nicht an edlen Freundschaften, guten bürgerlichen Ehen, an zärtlichen oder noch mehr an sinnlichen Regungen und Leidenschaften. Aber die wahre eheliche Liebe ist von Urbeginn her im Himmel beschlossen und stellt alles andere in Schatten. Wer nicht von ihr berührt und geweiht worden – verstehen Sie mich wohl: ich meine den seelischen Vorgang, nicht die bürgerliche Ehe an und für sich – der behält in allem scheinbaren Glück ein Suchen in sich sein Leben lang. Bedenken Sie, was das liebende Weib dem ebenbürtig liebenden Gatten gibt: auf Tod und Leben den ganzen Körper und die ganze Seele! Welch ein Bund! Und da sie aus der rechten Liebe sind, so lieben beide mit vereinten Kräften Gott und ihre Mitmenschen, denen Gutes zu tun ihre größte Wonne ist. Und so berühren sich Himmel und Erde in einem wahrhaft bis in die tiefste Seele liebenden Ehepaar; und es zittert ein Strahl von ihrer Liebe durch das ganze Universum hindurch bis mitten in das Herz Gottes, der solcher Liebe Ursprung ist. So heilig und groß ist es, wenn diejenigen sich finden, die von Uranfang an zusammengehören. O ihr beiden Unglücklichen, von denen Sie mir da erzählen, suchet, bis ihr gefunden, aber suchet das Reine! Entsaget, wenn ihr nicht findet, aber werdet nicht irre am Reinen!... Darf ich wieder von meiner eigenen Erfahrung sprechen? Ich habe durch etwa fünfzehn arbeitsvolle Jahre das unaussprechliche Glück einer gesegneten Ehe erleben dürfen. Dabei standen wir beide recht fest auf der Erde. Meine Frau war eine entfernt mit uns verwandte Jungfer Witter aus Straßburg, Tochter eines Universitätsprofessors, und hielt sich in Mädchenjahren krankheitshalber bei uns im Steintal auf. Mutter oder Schwester führten mir den Haushalt. ›Du mußt heiraten‹ meinte meine Mutter, ›nimm dir doch die Jungfer Witter‹. Aber ich war noch blind; ihr Straßburger Kleiderputz in unsrem einfachen Tal, in dem ich so schwer zu arbeiten hatte, verdroß mich. Noch am Sonntag meiner Werbung predigte ich in Belmont wider den Kleiderprunk; sie saß in der Kirche und errötete nicht wenig. Aber die Worte: ›Nimm dir die Jungfer Witter‹ verfolgten mich Tag und Nacht. Gebet verhalf zur Klärung. In der Gartenlaube trug ich ihr meine Hand an, und mit abgewandtem Gesicht, noch mehr errötend als in der Kirche, reichte sie mir die ihrige. Ich führte sie als meine liebe Braut an den Mittagstisch in die Arme meiner Schwester ... Und wie genial ist dieses Weib aufgeblüht! Wie haben wir miteinander gearbeitet, so daß wir uns oft nur im raschen Vorübergehen die Fingerspitzen reichten und uns lächelnd und schweigend zunickten. Zweimal sieben Jahre! Und sieben Kinder hat sie mir hinterlassen. Nun ist sie seit sechs Jahren hinüber, weil es so zu unserer Entwicklung notwendig ist. Aber sie ist nicht von mir geschieden; wir verkehren oft miteinander. Und wenn ich mein Werk in diesem Tal vollendet habe, werde ich mich wieder mit ihr vereinigen, und wir werden miteinander durch die Sphären der Ewigkeit emporwandern bis in den Ursprung des Lichts und der Liebe ... Und darum, mein Guter, weil ich weiß, was wahre Liebe ist, so können Sie ermessen, wie weh mich jene beiden Unglücklichen berühren, die ihre feinsten und vornehmsten Nerven derart mißbrauchen und aufregen, und die noch in der Hölle der Leidenschaften sind, nicht im Himmelreich der Liebe. Besonders aber jene stürmisch suchende Frau tut mir leid; sie hat vielleicht bei jenem Jüngling Reinheit gesucht – und statt dessen hat sie den schwachen jungen Menschen in ihre eigenen Wirbel mitgerissen. Die arme Frau!«

Die tiefgefühlten Worte »Die arme Frau«, mit denen Oberlin abermals schloß, hallten wie ein wehevoll Glockenspiel durch die Seele des Jünglings. Er hielt nicht länger an sich. Mit einem Ruck blieb er stehen, wischte heftig über die Augen und sprach schwer atmend:

»Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer. Sie pflegen, hat man mir erzählt, die Namen derjenigen, deren Sie im Gebet gedenken, mit Kreide an die Tür Ihres Schlafzimmers zu schreiben, um sie stets vor Augen zu haben. Schreiben Sie, bitte, auch den Namen des evangelischen Theologen hinzu, von dem ich Ihnen hier erzählt habe. Er heißt Viktor Hartmann.«

Und er wandte sich um und schritt rasch zurück, obwohl er vor nunmehr heiß herausbrechenden Tränen keinen Weg mehr sah.


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