Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Revolution

In jenen Tagen kam über die Vogesen herüber die Revolution und riß das Elsaß in die Lebenswirbel, die von Paris ausgingen.

Man erfuhr in Straßburg das Ereignis des Bastillensturms am Sonnabend den 18. Juli gegen Abend. Der neue Gasthof »zum roten Haus« am großen Paradeplatz wurde festlich beleuchtet. Volk aus allen Gassen und Gäßchen krabbelte hervor und sammelte sich dort; die Wagges und Straßenjungen bekamen ihre Karnevalstage; man schleppte Stroh und Holz zusammen und entzündete ein Freudenfeuer, das man umtanzte. Rasch durchflackerte die Nachricht die ganze Stadt und züngelte an allen Fenstern empor. »Lichter 'erüs!« hieß es überall. »Oder mr werfe d' Fenschter in!« Im Nu stand die nächtliche Stadt in Festbeleuchtung.

Ein erregter Sonntag folgte. In ganz Frankreich besprach man das Pariser Ereignis. Man teilte grüne Kokarden aus, wie sie der junge Camille Desmoulins im Garten des Palais Royal zuerst von den Bäumen gerupft hatte, jenes rosettenförmige Zeichen der Freiheit, das bald der dreifarbigen Kokarde Platz machte. Und mehr und mehr nahm der Gedanke drohende Gestalt an: was in Paris möglich war, warum soll's nicht auch in den Provinzen gelingen?

In der freien Stadt Straßburg befand sich freilich keine Bastille. Aber das Rathaus, die sogenannte Pfalz, schien vielen eine papierene Zwingburg der Straßburger Freiheit. Seit Monaten war im Lande wirtschaftliche Not; seit Monaten haderten die Zünfte, vor allem die Metzgerzunft, mit den »Herren Rät und Einundzwanzig«, dem mittelalterlich-schwerfälligen Apparat der Stadtverwaltung, besonders mit der Kammer der Fünfzehner. Die Bürgerschaft hatte Volksvertreter gewählt und Beschwerdehefte eingereicht; man verhandelte hin und her; es war des Wortemachens kein Ende. Als nun der Pariser Bastillensturm dazwischenfuhr, da fiel es wie ein Bann von den verwirrten Köpfen und ergrimmten Herzen. Alle diese bisherigen parlamentarischen Verhandlungen waren für den ungeschulten Mann des einfachen Volkes verwickelt Geschwätz, kaum zu verstehen und schwer zu lösen; aber jene Tat war bis zum geflickten Straßenbuben herunter verständlich und greifbar. Der Bastillensturm war zur Grammatik der Revolution das erste anschauliche Beispiel.

Baron Bernhard Friedrich von Türckheim, dessen Bruder als Vertreter Straßburgs unter den Pariser Abgeordneten war, kam mit zwei Straßburger Bekannten Namens Pasquay und Ehrmann durch Birkenweier. Es war noch ein Verwandter des Hauses, ein Herr von Glaubitz, und die befreundete Familie Golbéry anwesend. Auch der wohlbeleibte Bruder Birkheims, der in Rappoltsweiler wohnte, war auf seinem Cabriolet herübergefahren.

»Dieser sogenannte Bastillensturm,« sprach der Aristokrat, »der aber kein Sturm war, denn die Schweizer blieben unbesiegt, hat nun einen neuen Faktor eingeführt, mit dem wir fortan werden rechnen müssen: den Pöbel. Hätte dort der Kommandant mit eiserner Energie Widerstand geleistet bis zum äußersten und den Pöbel dezimiert – oder hätte er, wie er beabsichtigte, die Lunte ins Pulverfaß geschleudert und die Festung samt den Eingedrungenen in die Luft gesprengt: – das Raubtier hätte wohl auf weitere Taten verzichtet, glauben Sie mir!«

Birkheim, der ehemalige Offizier, stimmte mit Nachdruck bei, obschon er den neuen Ideen mehr zugeneigt war als Türckheim. Pasquay und Ehrmann, Fortschrittsmänner beide, widersprachen.

»Der dritte Stand«, bemerkte Pasquay, »will sich mit dem zweiten und ersten verbinden zu einem neuen Ganzen. Die Stände streben also untereinander eine neue Verbindung an; das ist ein chemisches Experiment; und in einer chemischen Retorte pflegt es zu zischen.«

»Warten wir ab«, erwiderte Türckheim.

Und Lilis Gatte erzählte Einzelheiten von der Verwüstung des Straßburger Stadthauses.

»Wie es in solchen Fällen gemeiniglich zu gehen pflegt, so erlebten wir es auch hier: spürt der Unfug, daß man nicht gleich seinen ersten Äußerungen standhaft widersteht, so wird er frech und gewinnt die Oberhand. Denn Führung muß sein, so oder so. Erst warfen Gassenjungen mit Birnen oder Kartoffeln, die sie den Marktweibern auf dem Gärtnersmarkt entwendet hatten, die Fenster unserer Pfalz ein. Das war die Ouvertüre. Als dies weiter nicht gerügt wurde, organisierte man sich insgeheim zu einem regelrechten Pfalzsturm. Zwar bewilligte der Magistrat die Forderungen der Volksvertreter; aber da fing dann ein Wort seine Wirkung an, das man wohl noch oft in Frankreich hören wird: das Wörtchen ›Verrat‹. Sie meinen's nicht ehrlich, hieß es; sie werden das Versprechen nachher zurücknehmen. So kam es denn von allen Seiten her, das Ungeheuer Volk oder Pöbel, das man nicht greifen noch erklären kann, das einem zwischen den Fingern zerläuft wie Wasser, wenn man's anfaßt; die Handwerker verließen ihre Buden; unglaubliche und nie geschaute Brigantengesichter kamen aus den Höhlen, Winkeln oder von auswärts; mit Leitern, Hämmern, Äxten, Brecheisen rückten sie an – und alle auf die Pfalz los, unser altes Stadthaus. Das Militär schlägt Alarm, die Stadttore werden geschlossen, Truppen rücken auf den Platz und umzingeln das Rathaus. Aber das Unbegreifliche geschieht: diese Truppen sehen zu, wie das Gebäude verwüstet wird! Das Ungeziefer klettert auf Leitern empor, bricht Tor und Türen und Schränke auf, zerfetzt Akten und wirft sie massenweise auf die Straße, raubt das Kassengeld und zerreißt das schöne Stadtbanner: Jungfrau Maria mit dem Jesusknaben. Das ganze Haus ist wie mit Bienen oder Wanzen umklettert und durchtrabbelt. Sie steigen sogar auf das Dach und beginnen, die Ziegel abzuwerfen; sie steigen in den Keller, zerschlagen die Riesenfässer und lassen den Ratswein drei Schuh hoch in den Keller laufen. Hier betrank sich der vierte Stand. Weiber schleppen in Kübeln Wein weg, andere muß man in ihrer Trunkenheit davontragen, sonst wären sie in dem unterirdischen Rotwein-Weiher ertrunken. Es sind etwa dreizehnhundert Ohm vergeudet worden. Und die Truppen? Die standen dabei, Gewehr bei Fuß!«

»Und Klinglin, der die Truppen unter sich hat?«

»Der ritt herum und rief in seiner jovialen Weise den Straßburgern zu: ›Kinderle, macht was ihr wollt! Nur nit brennen!‹ Er glaubte jedenfalls durch diese Zurückhaltung Schlimmeres zu verhüten.«

»Schon sein Vater, der Prätor, hat die Stadt in Unehre gebracht und mußte verurteilt werden.«

»Eben darum hat der Sohn nicht viel Ursache, dem Magistrat Kastanien aus dem Feuer zu holen.«

Birkheim wetterte und fluchte. »Und der Stadtkommandant, diese Schlafmütze von Rochambeau?!«

»Wir haben ihm kräftig Vorstellungen gemacht«, nahm Pasquay das Wort. »Ich war selbst bei einer Abordnung. Aber er wollte nicht auf die Bürger schießen lassen. ›Bürger?‹ sag' ich. ›Gesindel! Lassen Sie die Kolben benutzen, so läuft das Gesindel, was gehst, was hast, so schnell's die Beine tragen!‹ Der Prinz von Hessen-Darmstadt war gescheit genug, ein Detachement seines Regiments zu nehmen, ohne Befehl abzuwarten, und von der Schlossergasse her säubern zu lassen. Das ging wie geschmiert. Die Stürmer flogen nur so unter den Kolbenstößen hinaus. Da ließ denn auch Rochambeau trommeln: die von Royal-Elsaß rückten von der andren Seite an, Schritt für Schritt; auf dem Schwibbogen über der Schlossergasse treffen sich die beiden Regimenter – und die Pfalz war geleert, ohne daß es auch nur einen einzigen Toten gab.«

»Warum hat man das nicht gleich getan?« rief Birkheim.

»Die alte Geschichte! Diese Unentschlossenheit wird der Stadt so einige 60 000 Livres kosten«, sprach Ehrmann. »Aber das Gute hat sie wenigstens, daß nun wir Bürger eine Schutzgarde, eine Nationalgarde formieren werden. Das wird Ordnung schaffen. Die freie Reichsstadt hat früher ihre Bürger in Waffen geübt, wir werden's in Zukunft wieder also halten.«

»Ja, ja, unsre gute alte Reichsstadt Straßburg!« seufzte Türckheim. »Bis zum Pfalzsturm, bis zum 2l. Juli 1789, war Straßburg trotz französischer Oberhoheit selbständig. Fortan wird Straßburg tun, was Paris tut. Der Pfalzsturm ist eine lächerliche Nachahmung des Bastillensturms.«

»Und Dietrich?« fragte Birkheim plötzlich neugierig. »Was sagt denn Freund Dietrich zu dem allem?«

»Er hat sich redlich um Frieden zwischen Volk und Stadtrat bemüht«, antwortete Pasquay.

»Er geht ja wohl ganz in Politik auf?«

»Ich glaube wohl«, versetzte Türckheim zurückhaltend, nahm eine Prise und fuhr mit der Hand über Gesicht und Kinn. »Die Politik scheint doch wohl sein recht eigentlich Element zu sein. In unserem Freund Dietrich ist ein seiner, edler Ehrgeiz, eine umfassende Arbeitskraft, eine nimmermüde Fähigkeit der spannkräftigen Repräsentation. Straßburg braucht gerade jetzt einen solchen Mann. Er wird eine glänzende Karriere durchlaufen bis hoch hinauf.«

Hier schwieg Baron von Türckheim bedächtig. Es waren Worte der Bewunderung, die er über den hochbegabten Freund äußerte. Aber es klang Sorge hindurch. Die Türckheims wohnten zu Straßburg an der Ecke der Brandgasse, in der Nähe des Zweibrücker Hofs. Die Rückseite des vornehmen Hauses ging mit einer Terrasse auf den Broglieplatz hinaus. Und ebendort am Broglie lag das Hotel des vornehmen und feingebildeten Barons Philipp Friedrich von Dietrich, der jetzt als königlicher Kommissar zwischen den streitenden Parteien der Stadt eine wichtige vermittelnde Stellung innehatte.

»Wenn er sich«, fügte Türckheim nachdenklich hinzu, »bei grundsätzlicher Anerkennung der neuen fortschrittlichen Ideen in seiner parteilosen Stellung zu halten weiß – nun, so wird er gut fahren. Man muß abwarten, ob sein Naturell ihm das erlaubt.«

Hartmann hatte diesem Gespräche beigewohnt. Er empfand die herbe, männliche Art, wie sich die Herren über die nervöse Zeitlage äußerten, als wohltätig. Aber die Tatsachen selbst empörten den Moralisten.

»Wie kann man nur diese Verwegenheit des Pöbels dulden!« rief er aus. »Wenn das Tier mächtig wird, so müssen ja ideale Grundsätze zuschanden werden!«

»Wir müssen uns noch auf manchen Blutstropfen gefaßt Machen«, bemerkte Birkheim.

Das Wort Blutstropfen ließ den jungen Mann erröten. Seine persönlichsten Angelegenheiten standen plötzlich um ihn her und schauten ihn schweigend an. Er verabschiedete sich von der Gesellschaft und suchte sein Zimmer auf.

Dort schritt er eine Zeitlang ernst und düster, mit gekreuzten Armen, hin und her. Dann erwies ein neuer Brief, den er von der Marquise an diesem Nachmittag erhalten hatte, seine lockende Gewalt: er zog das Schreiben heraus und küßte die zierliche Handschrift. Die Beziehungen, die durch das Wort »Blutstropfen« zwischen den Stürmen seiner Seele und den Stürmen der Revolution vorübergehend in seinen Gedanken aufgetaucht waren, verflüchtigten sich wieder. Da lag vor ihm in der Schublade sein Tagebuch mit den säuberlich geschmiedeten goldenen Gedanken. Er hatte es seit jenem Abend, an dem er das wohldurchdachte Lobwort auf die elsässischen Abendröten eingezeichnet hatte, nicht mehr angerührt. Wie beschaulich und charaktervoll klangen die damals geschriebenen Sätze! Und jetzt?

Und jetzt? ...

Diese Französin hatte einen Strich unter sein bisherig Leben gezogen. Dieses gallische Weib hatte ihn aus dem gemächlichen und selbstgerechten Weisheitstrab heraus- und in ihren rascheren Lebensritt mitfortgerissen.

»Mein lieber Herr Hartmann! Da bin ich also wieder und erfülle die äußerst angenehme Vorschrift meines Herrn Lehrers, indem ich die angegebene Stelle aus den ›Leiden des jungen Werthers‹ in die schönste Sprache der Welt übersetze. Also, hören Sie zu, ob ich es gut mache! Lotte an Werther: Geliebter, Heißgeliebter, Gedanke meines Herzens Tag und Nacht! Ich habe mir bei Dir ausbedungen, daß ich frei heraussagen darf, was ich empfinde. Wohlan, das tu' ich auch heute wieder, werde es immer und ewig tun, will und werde mich nicht einzwängen in konventionelle Lügen und Phrasen. Und so muß ich Dir denn sagen, mein Geliebter, daß ich krank bin vor Sehnsucht nach Deinem Mund, nach Deinen Armen, nach Deinem Duft, nach Deiner Stimme, o mein Geliebter! Ich konnte in jener Nacht nach jener unvergeßlichen Dornhecke keine Stunde schlafen, bin zehnmal ans Fenster gesprungen und hab' im Nachtkleid hinausgeschaut in der Richtung, in der Du fortgefahren, und hab' über die Ebene gelauscht und Deinen Namen auf meine eigenen Hände geküßt. O käm' er jetzt durch diesen weißen Mondschein gegangen! So dacht' ich tausendmal bei mir – und malte mir aus, mein Freund, Du schwängest Dich plötzlich dort auf die kleine Gartenmauer und beruhigtest den Hund durch ein Stück Brot, und riefest leise zu meinem Fenster herauf. Mein Gott, ich erschrak und trat schnell hinter die Gardine zurück, um nicht im Negligé gesehen zu werden. Dann ging ich ins Wohnzimmer und setzte mich an die Stelle, wo Du gesessen und malte mir noch einmal alles aus – und legte mich wieder zu Bett und habe mich vielleicht in den Schlaf geweint, vielleicht, ich weiß es nicht, ist ja auch nicht nötig, daß ich Dir das alles hübsch deutlich sage, mein ohne Zweifel bereits hochmütiger Herr Werther, sonst wähnst Du am Ende, Du könntest diese verschwärmte Lotte beherrschen?! Glauben Sie das nicht, mein Herr, ich lasse mich nicht beherrschen! Ich kleine, dumme, gutmütige Person bin oft genug im Leben von Manneslaune beherrscht, getäuscht, getreten, mißhandelt worden, bis ich die Krallen zeigte! Ich habe Krallen – und ich kann mich wehren. Überhaupt: nimm nicht alles zu ernst, was ich Dir Hübsches gesagt habe, es ist Neckerei dabei. Deine deutsche Schwerfälligkeit, Dein einfältig gutes Gesicht, das immer so verblüfft zu fragen scheint, wenn etwas Ungewohntes an Dich herantritt – das amüsiert mich. Ich kann es nicht oft genug sehen, das liebe, ratlose Gesicht, und so such' ich Dich zu verblüffen, bald durch närrische Zärtlichkeit, bald durch Neckerei, und so bist Du in beiden und allen Fällen der Gefoppte und kommst aus Deinem entzückenden Verwunderungsgesicht gar nicht mehr heraus. O mein Süßer, wenn ich Dich doch hier hätte! Ich rede ja töricht, denn ich liebe Dich rasend, und da reden die gescheitesten Frauen töricht, geschweige denn ich unbedeutende Person. O mein Lieber, soll ich Dich denn wirklich erst in acht Tagen wiedersehen? Wirst Du nicht in der Zwischenzeit wieder in Pedanterie und Moralismus entarten und mich am Ende mit einem korrekten Absagebrief beglücken? O nur das nicht! Mein Freund würde mir das Herz brechen. Ich bin ja grauenhaft allein. Wenn Du mich einmal noch viel lieber hast als jetzt, so erzähl' ich Dir das Schwere, Schreckliche, Scheußliche, das ich zu Paris habe durchmachen müssen, so daß Du der allererste reine Klang bist in einem Dasein voller Entwürdigung. Bleib mir, o bleib mir! Und wenn Du mich nicht lieben kannst, so sag's jetzt gleich – oder komm und überzeuge mich küssend vom Gegenteil! Ich will Tag und Nacht auf Deinen Schritt lauern! Komm! Lotte. – Nun? Hab' ich das fein übersetzt, sehr verehrenswerter Herr Hartmann? Wohlan, so senden oder bringen Sie ein Zeichen Ihrer Anerkennung recht bald Ihrer erwartungsvollen Elinor.«

Der schwerblütige Alemanne schlürfte diese Mischung von spöttisch ausweichendem Stolz und unverhaltener Leidenschaft wie einen französischen Champagner. Sein Blut war belebt, seine Gestalt gestrafft, Herz und Sinn entzückt von dieser leidenschaftlichen Hingabe einer verführerisch anmutigen Frau.

Man spürte diesen verstärkten Lebensstrom, der sich als geheimes Feuer durch Hartmann ergoß, auch in seinem Unterricht. Die Religionsstunde war von innigster Überzeugung durchglüht. Mit fast zärtlicher Genauigkeit widmete er sich seinen nicht leichten Lektionen. Es fiel sogar dem kleinen Gustav auf, daß der ehedem leicht verdrießliche Lehrer ins Zärtliche umgewandelt sei. »Sie sind auf einmal so gut, Herr Hartmann«, sagte er unvermittelt, als Hartmann mit milder Nachsicht zurechtstellte, was er sonst ärgerlich und laut zu rügen pflegte. Für Birkheim, der nicht gern am Schreibtisch saß, übernahm er willig umfangreiche landwirtschaftliche Rechnungen und ließ sich am Spieltisch gern im Tarok besiegen, um dem Baron, der sich über verlorene Partien jedesmal zu ärgern pflegte, Freude zu machen. Es ging Wärme von dem jungen Manne aus, seit er sich dem Glanze jener Sonne ausgesetzt sah; wie der Phosphor nächtlich nachleuchtet, wenn er tagsüber belichtet worden.

An jenem Abend legte sich eine weiche Sommernacht über das Gelände. Aus den heißgekochten Reben schien in der kühlenden Nacht ein berauschender Weinduft herüberzuwehen. Der Duft verband sich mit dem abendlich feuchten Heugeruch der Wiesen. Die Frösche sangen in daseinsfrohem Chor weithin dem Vollmond entgegen. Kein Nachtwind. Unter den Parkbäumen, die stumm wie eine Mauer standen, und draußen im scheinbar endlos weiten Lande bis hinüber ins Ried und an den Rhein war eine magische Stille.

Was für ein Ton kam durch diese silberne Sommernacht? Eine Pappel stand steil in der Ebene; dahinter der Mond; sie stand wie eine lodernde Fackel. Von dort rann das blasse Licht durch die silberne Ebene. Kam von dort der Ton? Oder war irgendwo, in kaum noch herwirkender Ferne, ein Dorf in Brand? Kam ein klagendes Sturmläuten von irgendwoher und verwandelte sich hier in säuselnden Traumfrieden? Oder war ein Abendglöckchen am Rain eingeschlummert und erwachte nun und läutete sein Nachtgebet zu Ende?

Ein Käuzchen reif übers offene Feld; ein Tropfen oder ein Käfer fiel vom Baum, unter dem Viktor am äußersten Parkrande stand, ohne sich in die milchweiße Helle hinauszuwagen.

Schwarz und massig, wie der Krater eines Vulkans, lagen die Gebirgskämme zwischen dem Elsaß und Frankreich. Dahinter war jetzt Revolution. Die Bilder von dort mischten sich in seine Sehnsucht nach der Frau da drüben am Gebirge. Türckheim, der durch den in Paris weilenden Bruder genau unterrichtet war, hatte schauerliche Einzelheiten erzählt. Die Vorstadt Saint-Antoine hatte aus Dunst und Ruß und Lumpengestank ein schwärzlich Kloakengesindel ausgespien: fahle Gesichter, gezeichnet von Hunger und Laster, mit wild herabhängendem pechschwarzen Haar und einem bis zu Krampf und Erschöpfung brüllenden Mund. Wie ein Bündel wird der Bastillenkommandant in dieser gepreßten, tobenden Volksmasse von Faust zu Faust gewirbelt und in blutige Fetzen zerrissen. Und so wird auch der Greis Foulon, der flehentlich um sein Leben winselt, von der heulenden Menge an die Laterne gezerrt – zwei Stricke reißen – der herabgefallene Alte jammert laut – bis er endlich erwürgt schweigt. Man hackt ihm den Kopf ab, steckt ihm Heubüschel in den Mund, trägt den blutigen Schädel auf einer Pike durch Paris. Ähnliches widerfährt seinem Schwiegersohn Berthier, der aber eine Flinte packt und mit dem Kolben um sich schlägt, bis auch er zerstampft ist. Mit solchen Mordtaten wird dort die neue Zeit eingeläutet ...

»Schurken – aber sie haben Mut und Kraft«, knirschte der verzagte Hartmann. Und es brach eine andre, eine nächtliche Moral aus dem Stubenmenschen heraus, die zu seiner Entrüstung von heute nicht wohl paßte. »Ich verabscheue den viehischen Pöbel – aber auch diese wollen leben, lieben, genießen und sterben wie wir alle! Sie wollen Liebe, sie wollen Leidenschaft!«

Seine Seele schäumte empor.

Und nun drängte das Gewimmel seiner Gedanken immer bewußter dahin, wo für ihn die Lebensfrucht am Baum hing.

Er hatte mit jähem Sprung den schwarzen Park verlassen. Er wanderte stürmisch, die Hände auf dem Rücken, mit fliegendem, langem Rock, weit ausschreitend; es riß ihn auf Wiesen- und Feldwegen dem dunkelblassen Gebirge zu. Mondschimmer spannen ihn ein, als er aus dem Schatten herausgetreten war; Luftgestalten empfingen ihn; es lockten Sylphiden und Feen ihm voraus – und die süßeste von allen Feen hieß Elinor und wartete drüben am Gebirge. Das viel zu ferne Landhaus der Marquise zu erreichen, war anfangs nicht seine Absicht. Er folgte blindlings einem seiner Rauschanfälle. Das in ihm Angestaute brach empor und trieb ihn vorwärts. Er dachte nicht an Besitz, er war nicht erpicht auf Genuß, als er in elastischer Gangart dahineilte. Sein Herz und seine Phantasie waren viel zu stark beteiligt; er war in einem zeitlosen Feenland. »Ihr Haus von ferne sehen – eine Blume vor's Fenster legen – und wieder zurück an die Pflicht!« ...

Gibt es zwischen Menschen, die aufeinander gestimmt sind, eine Fernwirkung? Ahnte die Marquise, daß die fein andeutenden Lockungen ihres Briefes wirkten?

Auch Frau von Mably schritt schlaflos durch ihren Garten. Mehrfach blieb sie am weißgestrichenen Holzgitter des Hoftors stehen. Es war spät in der Nacht. Aber sie konnte sich nicht zum Schlaf entschließen. Endlich, nachdem sie noch einmal nach dem mondscheinstummen, ganz in Schlummer versunkenen Hause zurückgehorcht hatte, glitt sie hinaus. Doch war sie vorsichtig genug, den großen Hofhund mitzunehmen, der schwer und treu neben der leichten Gestalt einherschritt. Nur bis zum nächsten Hügel wollte sie sich vorwagen, nur über die Weinberge hinüber in die Ebene den Blick fliegen lassen, in diese zauberhaft vor ihr ausgebreitete elsässische Sommermondnacht.

Kaum auf dem Hügel angekommen, wo der Hohlweg einsetzt, der für sie beide so rosige Erinnerungen barg, vernahm sie durch die weithin stille Nacht die Schritte eines herankeuchenden Wanderers. Ihr erster Gedanke war Flucht; aber sie blieb stehen. Es ging ihr sofort die Gewißheit auf, wer der Herannahende sei. Sie hielt den Hund am Halsband fest; sie stand neben dem dunklen Tier wie eine helle Bildsäule. Da trat jener heraus ins weiße Licht. Er sah die Gestalt – und wie ein leiser Überraschungs- oder Triumphruf entquoll es der heftig arbeitenden Brust. Festgebannt stand auch er. Doch nur einen Augenblick, dann hatten sich beide erkannt, hatten beide gar nichts anderes erwartet – flogen aufeinander zu und schlossen sich mit Lauten des Entzückens in die Arme. Nie zuvor und nie nachher wieder schlugen mit so gleichmäßiger Gewalt von beiden Seiten her die Flammen der Liebe ineinander über.

Sie streichelte ihn unter Weinen und Lachen, sie wischte ihm mit ihrem Taschentuche die heiße Stirn ab, sie zupfte den Geliebten am Rockkragen, wie um sich zu überzeugen, daß er lebendig und leibhaft nahe sei; sie umschlangen sich wieder und wieder und stammelten Worte der Zärtlichkeit. Alle Furcht, die ihm jenen ersten Tag noch beeinträchtigt hatte, war aus seinem Wesen gewichen; und auch der letzte und leiseste spöttische Zug ihres Gesichtchens oder Ton des Übermuts in ihrer Stimme war vertilgt. Nur der quellende Laut einer allmächtig ihr Wesen erschütternden Liebe jubelte aus ihr empor; bis sie endlich beruhigter Arm in Arm nebeneinander dahinschritten. Sie schmiegte sich wie ein Kind an ihn; das gleiche Tuch umhüllte sie und den noch erhitzten Wanderer; er neigte sich manchmal in überfließender Zartheit und Güte zu ihr nieder und küßte ihr Tränen des Glückes aus den Augen.

Nach und nach stellten sich wieder zusammenhängende Sätze ein; sie gingen in ein flüsternd Gespräch über, das gedämpft unter dem hohen Sternhimmel verklang. Sie gestand, sie hätte es nie für möglich gehalten, daß es etwas so – sie suchte nach einem Wort und sagte endlich – »etwas so Heiliges« geben könne. »Denn heilig bist du mir, o du mein süßer Geliebter! Ich bin ja so sehr beschmutzt worden in meinem Leben!« Sie atmete heftig, lehnte den Kopf an seine Brust, und die Erregung drohte sich in Tränen zu lösen. Er legte sanft und zart das verschobene Tuch wieder um die Schulter und küßte ihr die Tränen fort. »O wie gut du bist!« murmelte sie. »Wie kann es nur etwas so Gutes geben! Ich hielt die Männer alle für roh und schlecht, ich habe sie nie anders kennen gelernt.«

Und nun ergab es sich von selbst, daß die liebende Frau auf ihr Lebensschicksal zu sprechen kam, häufig von Tränen, Küssen und Erschütterungen ihres kleinen, eleganten und sensitiven Körpers unterbrochen. Sie enthüllte die seelische Dürftigkeit und Schande ihrer Ehe. Wie sie aus dem Kloster heraus in vollster Einfalt und Verspieltheit frühe schon einem Lebemann vermählt worden – wie mit dem Hochzeitsabend ihr langes Leid begonnen – wie »er« sie danach in schamloser, zynischer, stadtbekannter Weise betrogen und mißachtet habe. Sie bat um Verzeihung, daß sie Nachteiliges rede von »ihm«, den sie weiter nicht nannte; er habe seine ritterlichen Tugenden, sei aber, wie fast alle dort in Paris, liederlich und leichtsinnig und huldige sogenannten vornehmen Passionen.

Hier brach sie ab. Sie umkrampfte den Geliebten unter erschütterndem Weinen und stieß in ihrer rücksichtslosen Offenheit ein letztes Bekenntnis heraus. »Da bin auch ich – auch ich nicht immer tugendhaft gewesen – ich habe zum Trotz auch nach ihm nichts gefragt – ich bin hundertfach leichtsinnig gewesen – ich bin schlecht, schlecht, aber ich hab' dich lieb! Ich liebe dich, das ist alles, was ich dir sagen kann! O glaube mir, ich habe noch nie geliebt wie jetzt, glaube mir, ich liebe zum ersten Male! Durch dich, Süßer, weiß ich, was Liebe ist. Nun hab' ich nur noch einen einzigen Wunsch: von dir geliebt zu werden – ein kleines Stündchen von dir geliebt zu werden – und dann zu sterben!«

Viktor hatte sich an den Rain gesetzt. Sie lag zwischen seinen Knien wie in der Nische vor einem Heiligenbilde.

Was an Güte, Innigkeit und Trostkraft in dem liebenden Manne war, strömte nun in Aberfülle auf sie herab. Er wiegte sie wie ein Kind in seiner Zärtlichkeit, er gab ihr die seelenvollsten Namen, Erd' und Himmel schienen sich zu vermählen. Und die sonst so beherrschungsstarke, ihr Leid lächelnd und spöttelnd in sich verbergende Gesellschaftsdame trank seine Worte und Küsse begierig in sich ein. Sie ließ sich hegen und herzen, wiegen und tragen. Es war die seligste Stunde ihres Lebens. Erst als der Hund anschlug und in irgendeiner Ortschaft ein Nachtwächter die Stunde sang, besannen sie sich, daß sie auf der Erde waren, und daß der Morgen nahe war. Nun spürte er seine ungeheure Ermüdung. Er bot ihr den Arm und führte sie schweigend bis in die Nähe des Hauses. Noch ein Aufzucken, als sie Abschied nahmen – dann war sie verschwunden. Und er schritt den weiten Weg zurück.

* * *

Woche für Woche ritt Hartmann ans Gebirge hinüber, um deutschen Unterricht zu erteilen. Die heißblütige Frau war von vornherein gewillt, diesen Unterricht nur als einen Vorwand zu benutzen. Erst kam Addy an die Reihe; die Mutter wohnte bei; dann gedachten die beiden Liebenden leichtere Stellen miteinander zu lesen. Das hübsch zusammengestellte Programm umfaßte eine Auswahl aus Werthers Leiden, Pfeffels Fabeln, Klopstocks Oden, Geßners Idyllen und Tod Abels, Wielands Agathon und aus den Alpen von Haller. Der Lehrer unterzog sich anfangs auch hier seiner Aufgabe mit eigensinniger Zähigkeit, obschon ihn die Neckereien und Liebkosungen der unseßhaften Frau wie Sommerfalter umtändelten. Seine vielbelächelte Gewissenhaftigkeit war ihm eine Zeitlang Halt und Gegengewicht. Aber diese Stütze war nicht zuverlässig; immer längere Pausen der Liebkosung drängten sich in die Lektüre ein. Zuletzt waren Buch und Pflicht nur noch Mittel, um die Außenwelt zu täuschen.

Dem 14. Juli war inzwischen die vierte Augustnacht gefolgt: jener Ausbruch einer großzügigen Begeisterung, die den französischen Adel hinriß, in einer einzigen Nachtsitzung auf seine sämtlichen Feudalrechte freiwillig zu verzichten. Dieser gallische Elan schlug in Frankreich, schlug in ganz Europa durch. Das erwarb der französischen Nation und ihrer revolutionären Bewegung die Sympathien der besten Geister. Deutsche Dichter und Denker wie Klopstock und Kant erfaßten mit Wärme die übernationale Bedeutung dieses freiheitlichen Bruchs mit aller Despotie. Der sonst so höfliche Kant, ein Meister feingetönter Geselligkeit, konnte unhöflich werden und das Gespräch abbrechen, wenn man seiner Lobrede auf die französische Revolution widersprach. Die schwarzröckigen Tübinger Stiftler tanzten um Freiheitsbäume herum; und so tanzten die Gedanken manches europäischen Bürgers begeistert den Rhythmus der raschblütigen Franzosen mit.

Man schüttelte zwar bedenklich zu manchen Begleiterscheinungen den Kopf. In dieser liebenswürdigen Nation lag ein Raubtier verborgen; die Pfoten dieser anmutigen Tigerkatze hatten Krallen. Doch glaubte vorerst noch jedermann an die Möglichkeit eines freiheitlichen Königtums, einer konstitutionellen Monarchie.

Auch in nächster Nähe geschahen Dinge, die zu Besorgnissen Anlaß gaben. In Kolmar gerieten die Zünfte heftig aneinander. Im Sundgau mit seinen grobkörnigen Bewohnern rottete sich Raubgesindel zusammen und plünderte zu Sierentz und andren Orten. Zu Gebweiler kamen bei fünfhundert Bauern aus dem Sankt Amarintal und verwüsteten das Schloß des Fürsten von Murbach. »Alle Fenster mitsamt den Rahmen«, erzählte ein Hausierer, der durch Birkenweier kam, »haben sie mit Äxten zerschlagen; die Kommoden, Büfette und Kästen sowie alle Ziegel sind zertrümmert; auf dem Parkettboden haben sie Feuer angemacht und die Bibliothek verbrannt; die Tapeten, Spiegel und Betten sind in Fetzen und Stücke gegangen; den Wein haben sie verschüttet oder gesoffen; 's ist ein Faß von 1600 Ohmen halb leer gelaufen; das Silbergeschirr haben sie mitgenommen – kurzum, sie haben vom Straßburger Pfalzsturm gelernt, was eben zu lernen war. Nachderhand ist zwar ein Detachement Dragoner eingeritten – aber, lauf du ihnen nach, die losen Vögel waren längst wieder über alle Berge!«

Auf alle Fälle hielt man in Birkenweier die Flinten im Stand und richtete zeitweilig Nachtwachen ein. Und wenn man nach Kolmar fuhr, so steckte man dreifarbige Kokarden an den Hut.

Die Liebenden achteten wenig auf diese Wirbel um sie her.

Eines Nachts fand der Hauslehrer am Parkrand ein gesatteltes Pferd angebunden. Er traute seinen umdämmerten Augen nicht. War das ein Spuk? War das ein gespenstisch Roß und vom Teufel gesattelt und vorgeführt, um ihn zu versuchen? Nein, es war Frau Elinors Reitpferd; er kannte es sofort an dem weißen Fleck über den Nüstern. Da glitt für einen Augenblick ein Schreck in seine Seele: das war offenbar Hans, der Kutscher! Der war herübergeritten, pürschte durch den weitläufigen Park hin seinem Käthl nach und setzte sich der Pistole eines Nebenbuhlers aus! Himmel, welch ein Unglück könnte das geben! O frevelhafte Tollheit verliebter Leidenschaft ... Aber da sprang auch schon eine weibliche Gestalt aus dem Schatten und warf sich an seinen Hals: »Ich konnt' es nicht aushalten, Geliebter, ich mußte dir jenen nächtlichen Besuch erwidern, da bin ich herübergeritten!«

Viktor schloß übersprudelnd vor Glück und Wonne die liebende Frau in die Arme. Der Beigeschmack von Gefahr steigerte die zärtliche Leidenschaft. Er neckte sie: ob sie wohl auch diesen nächtlichen Feenritt beichten würde? Sie lachte und küßte; seit dem Weinbergweg hätte sie nicht mehr gebeichtet. »Das war früher noch so eine Schwäche, ein Überrest vom Kloster, den ich vor der Welt verbarg; nun ist mir auch dies gleichgültig, Kirche, Staat, Gesellschaft, Sitte – alles gleichgültig! Nur nicht deine Liebe!«

Von nun ab sahen sie sich manchmal auch in hellen Nächten. Und in all diesem verwegenen Wirbel hatte Feenkönigin Elinor die Führung. Sie war keine grobsinnliche Natur; vielmehr amüsierte und reizte die Provenzalin der Hauch von Abenteuerlichkeit, der mit diesem listigen und kühnen Liebesspiel verbunden war. Sie war in dergleichen geübt und war voll von den Fiebern einer sterbenden Luxus-Epoche. Daß sie den ernsten Jüngling bis auf den Grund seines Nerven- und Seelensystems verwirren und in ihrer Umgebung Unheil anrichten könnte, kam ihr nicht zum Bewußtsein. Grade die Einfalt und Hingerissenheit seiner Liebe entzückten sie als etwas Neues. Und gegen Moral und Reue schien sie gefeit.

* * *

Mit Adelaïde, der Tochter der Marquise, ging um diese Zeit eine merkliche Veränderung vor. Das zwölf- bis dreizehnjährige Mädchen war in manchen Dingen früh entwickelt und auch äußerlich lang aufgeschossen. Nun schien sie trotz der guten Landluft blasser und zugleich noch zärtlicher zu werden. Wohl war sie seit geraumer Zeit bekannt dafür, daß sie leicht zur Ermüdung neigte; aber noch häufiger als sonst zog sie sich vom wilden Kinderspiel zurück, dem sie in früheren Jahren oft ausgelassen gehuldigt hatte, und setzte sich zur Mutter. Die ungelenke, langgliedrige Gestalt des Mädchens kauerte sich zusammen; sie legte den Kopf an die Brust der kleinen Mutter, wühlte die Ringellocken recht fest an Mammy ein und schaute mit großen, glänzenden Augen stumm die Anwesenden an, besonders Viktor. Scherzweise nannte man sie mitunter »Fräulein Dornröschen«: sie habe sich offenbar an einer Spindel gestochen und neige daher zur Schlafsucht. Dann lächelte sie einen Augenblick ihr reizend melancholisches Lächeln, das wie ein Windschimmer auf einem Teich über ihr fremdartig ernstes Gesicht flog und wieder verging.

Indessen war die sonst überzärtliche Mutter von ihrer eigenen Leidenschaft viel zu sehr in Anspruch genommen, um diesen Erscheinungen eines Übergangsalters einen besonderen Wert beizumessen. Dann aber kam ein Tag, da horchte sie erschrocken auf und hatte fortan mit einem Angstgebilde zu kämpfen, das dauernde Spuren in ihr zurückließ.

Mutter und Tochter waren auf einem ausgedehnten Spaziergange von einem Gewitter überrascht worden, das hinter ihnen herjagte und große Regentropfen voraussandte. Adelaïde schlug den eigenen Sommermantel auch um die zierliche Mutter und legte liebevoll besorgt den Arm um die kleine Frau; so schritten sie als ein Doppelwesen eilig den Hügel hinan. Sie hatten, wie schon häufig auf ihren Spaziergängen, von Hartmann gesprochen.

»Ich wollte, ich hätte einen Bruder«, hatte Addy geplaudert. »Aber er müßte älter sein als ich, so etwa wie Herr Hartmann. Es ist so schön, wenn man sich zu einem großen Bruder flüchten kann, der alles weiß und versteht. Herr Hartmann weiß sehr viel, nicht wahr, Mammy?«

»Gewiß, mein Kleines. Leider mußt du dich nun aber mit deiner Mutter begnügen.«

»Es ist auch ganz gut, daß Herr Hartmann nicht mein Bruder ist.«

»Warum?« »Du hättest ihn ja doch viel lieber als mich.«

»Als dich, meine Addy? Wie kommst du auf einen so törichten Einfall?«

»Ich weiß ja doch, daß du ihn lieber hast als mich.«

»Addy –?!«

»Aber, kleine Mammy, tu doch nicht so!«

»Wie kommst du auf eine solche törichte Grille, Addy?«

»Ich weiß es«, beharrte das Kind.

Die Marquise war äußerst bestürzt. Sollte das Mädchen etwas bemerkt haben?

»Addy,« fragte sie ernst, »sag mir, wie kommst du auf diesen Gedanken?«

»Herr Hartmann verdient es ja auch«, wich sie aus. »Er ist so gut zu dir.«

»Das ist er auch zu dir, Addy, und zu allen. Und dann: sollen wir ihm nicht in den wenigen Wochen, die wir ihn noch haben, recht viel Aufmerksamkeit erweisen?«

»Wenige Wochen?«

Addy blieb erschrocken stehen.

»Nun, im Herbst reisen wir nach Paris zurück, und er vielleicht auf eine deutsche Universität. Wer weiß, ob wir uns dann überhaupt noch einmal sehen im Leben? Drum laß uns vergnügt die Gegenwart genießen – und dann Strich drunter! Vorwärts, Herzchen, es regnet!«

Addy sagte nichts weiter. Sie eilten beide den Hügel hinan, fast schon im Laufschritt, verfolgt vom Donner, vorwärts gepeitscht vom beginnenden Platzregen. Plötzlich blieb das Mädchen stehen und griff ans Herz. »Ich – kann nicht mehr – Mammy –« Und da sank sie auch schon auf die Mutter hinüber. Die tödlich erschrockene Frau hielt mit ganzer Kraft die Ohnmächtige fest. Addys Gesicht war wachsbleich, die Arme hingen schlaff herab, es regnete auf die gebogene, dünngeschmeidige Gestalt wie auf eine gebeugte Herbstblume. »Addy, mein Kind!« Sie erwachte wieder. Und mühsam, halb von der Mutter getragen, erreichte sie das Haus. Rasch wurde sie zu Bett gebracht, mit Tee und heißen Tüchern durchwärmt; und am andren Morgen, nach einem tiefen Schlaf, war sie zur närrischen Freude der Mutter wieder vollkommen munter.

Dieser Vorfall störte Frau Elinor auf. Die Sorge um ihr Kind schlief nicht wieder ein. Mit dem Körper oder der Seele dieses Mädchens war irgend etwas nicht in Ordnung. Sollte eine Herzschwäche, die den Großvater früh entrafft hatte, in diesem engelsanften Wesen wieder auftauchen? Der Marquise zitterten die Knie bei diesem Gedanken. »Herr im Himmel, nimm mir alles, alles, alles, nur nicht mein Kind!« Sie ward inne, wie wurzelhaft sie mit diesem einzigen Wesen verwachsen war. Oder sollte – auch das schoß ihr in die besorgte Seele – sollte das frühreife Mädchen von einem ähnlichen Schicksal ergriffen sein wie sie selbst? Sollte sich etwas von ihrer eigenen Leidenschaft für Viktor auf das Mädchen übertragen haben? Nein, nein, dies allzu junge Geschöpfchen mit seinem kräftigen Appetit und seiner gähnenden Müdigkeit wußte noch nichts von Liebe; es mochte sich allenfalls um eine harmlose Schwärmerei handeln, wie sie diesem Alter angemessen ist. Wenn aber gar – wenn Addy die unvorsichtigen Liebenden in verfänglichen Stunden belauscht hätte?!

Die kleine Marquise saß in sich gebückt, preßte den feinen Mund zusammen und zählte mit peinlicher Sorge alle Liebesstunden nach. Sie kam auf diese Weise zum erstenmal zu einer Art Rückschau. Sie vergegenwärtigte sich ihre gesellschaftlichen Bekannten und deren Mienen: ob man wohl etwas erraten habe von ihrem geheimen Verhältnis zu diesem Hofmeister? Hatte nicht neulich Baron Birkheim von »Frau Elinor, der Liebeskünstlerin« gesprochen? Hatte möglicherweise bereits alle Welt diese Leidenschaft einer Dame von Stand bemerkt und belächelt? Hatte Addy selber nicht nur die Leidenschaft, sondern auch die Spötteleien darüber beobachtet und schwieg und litt –?! »O mein Gott! 0 mein Kind!«

Das Nervensystem der leidenschaftlichen und körperlich nicht sehr starken Frau hatte sich in diesen erregten Wochen erschöpft und war dieser neuen Sorge nicht mehr gewachsen. Sie brach zusammen. Und tags darauf kniete sie in der kühlen Stadtkirche von Rappoltsweiler und murmelte ihre Reue und Sorge in den Beichtstuhl.

* * *

Um dieselbe Zeit streiften eines Nachts der Baron und sein Hauslehrer mit ihren Jagdflinten durch den Park. Die Nacht war schwarz und schwül. Der Baron trug eine Blendlaterne, die er von Zeit zu Zeit aufblitzen ließ. Um die beiden Männer her schnoberten die Jagdhunde.

Man besorgte zwar keinen gewaltsamen Überfall; aber es war Brandstiftung durch umherstreifendes Gesindel zu befürchten. Der Baron war mild gegen seine Untergebenen und den liberalen Ideen nicht abgeneigt; im Punkte der Selbstverteidigung jedoch war er ein eiserner Aristokrat.

»Ich würde«, sprach er, »einen Brandstifter oder Einbrecher ohne Gewissensbisse niederknallen. Und denken Sie sich, Hartmann, vor ein paar Tagen wäre ich beinahe in die Versuchung gekommen, einem Verliebten einen Schrotschuß zu versetzen. Ich lief noch einmal durch den Park, obschon ruhiger Mondschein war, und sah, wie sich ein Mann am Parkrand bewegte und gleich darauf mit einem Frauenzimmer traf. Schon war meine Hand am Gewehr und ich überlegte einen Augenblick: soll ich? soll ich dir einen Denkzettel geben, unvorsichtiger Bursch? Aber ich wollte dem Menschen und unsrem Hause die Blamage ersparen, bog ab und ging zurück. Tags darauf habe ich meinem Dienstpersonal eingeschärft, in gegenwärtiger Zeit solche verliebten Streifereien zu unterlassen; im Wiederholungsfalle würde ich losknallen. Natürlich hat mein François Stein und Bein geschworen: das waren Jean und Käthl. Na, ich will das weiter gar nicht wissen. Malen Sie sich aber einmal das Schauspiel aus, wenn man den angeschossenen Burschen auf einer Tragbahre ins Haus getragen hätte, mitten durch ein Spalier von zusammengelaufenen Kindern und Dienstboten!«

Die Nacht breitete ihre wohltätige Finsternis über die Gesichter der beiden Männer. Es war schwül unter dem Blätterdach. Die Hunde raschelten in den Gebüschen. Und im Arm des Kandidaten zitterte die Flinte.

* * *

Wenige Tage darauf, ohne daß sich die Liebenden vorher noch einmal gesehen hatten, fand ein längstgeplanter allgemeiner Ausflug in das nahe Gebirge statt. Die Familie Birkheim wollte, bevor man auf einige Wochen nach Rothau zu den dortigen Dietrichs übersiedelte, noch einmal die Freunde des Hauses insgesamt bewirten. Und zwar in Form eines Picknicks im Walde, oberhalb der Dusenbachkapelle, in der Nähe der Ulrichsburg.

Auch Pfeffel und zwei seiner Töchter, Peggi und Friederike, waren mit von der Partie; ebenso Sigismund, der junge Fritz von Dietrich und einige andere Knaben und Jünglinge; Octavie und die Freundinnen hatten Lieder eingeübt; Hartmann hatte sein Waldhorn gestimmt; eine kleine Musikkapelle fehlte nicht; und insgeheim wurden scherzhafte Überraschungen vorbereitet, um das Waldfest abwechslungsreich zu gestalten.

Viktor war an diesem Tage von einer nervösen Ausgelassenheit. War es Absicht oder Überreiztheit der letzten Wochen? Wollte er die große Gesellschaft von seinem geheimen Verhältnis mit der Marquise nichts merken lassen? Er kümmerte sich um die Geliebte absichtlich so wenig als möglich und vermied aus übertriebener Ängstlichkeit jeden Blick, den ein Beobachter etwa hätte auffangen können. Er fürchtete des Barons Scharfblick. Um so galanter war der erwachte und erregte Träumer von ehegestern gegenüber den jungen Damen. Meistens ritt er neben Octavie und Annette, die gleichfalls zu Pferde saßen; er war von einer unreifen und gesellschaftlich nicht immer geschickten Lustigkeit. Der feine Horcher Pfeffel, der seit einigen Wochen durch gelegentliche rheumatische Gesichtsschmerzen in seiner Stimmung gestört war, schüttelte den Kopf dazu.

»Bemerkt ihr es auch?« rief Octavie vom Pferd her in den Wagen, in dem auch Frau von Mably saß, und das braune Haar der Reiterin flog im Winde, ihre klassische Gesichtsbildung leuchtete schöner als je. »Herr Hartmann ist galant! Er macht uns den Hof!«

»Wir haben noch mehr bemerkt«, rief die junge Frau von Waldner. »Statt Frau von Mably deutsch beizubringen, hat er von ihr den Pariser Akzent angenommen und spricht ein fast klassisches Französisch.«

»Habt besonders auf sein ›R‹ acht!« fügte Oktavie lachend hinzu. » Il pa'le comme un pa'isien

»Warum haben Sie so viel Talent unter den Scheffel gestellt, Herr Hartmann?« rief ihm die Baronin von Birkheim zu, als er wieder einmal in unmittelbarer Nähe ihres Wagens dem Waldhorn melodische Töne entlockte.

»Die Völker sind erwacht!« rief der Übermütige zurück. »Die Freiheit ist im Anmarsch!«

Abermals trompetete er über die hallenden Weinberge und galoppierte in freilich nicht musterhafter Körperhaltung den jungen Damen nach. Der sonst leicht Empfindliche besaß heute kein Gefühl dafür, daß man sich über ihn lustig machte, daß diese unnatürliche Ausgelassenheit seinem sonst so gehaltenen Wesen gar nicht stand.

Auch hatte der solchermaßen auf seinen Stimmungen dahingaloppierende Reiter nicht bemerkt, daß er mit all dem nervösen Mutwillen zwei Menschen weh tat. Addy saß im Wagen bei ihrer Mutter. Die Marquise fühlte sich in diesen Tagen nicht wohl. Beide schwiegen still. Die Rollen schienen vertauscht; die Lebenskraft der Villa Mably schien sich an den Besucher geheftet zu haben.

Als man langsamer fuhr, stieg Adelaïde mit Fanny und dem anderen jungen Volk aus und lief dem langsameren Gefährt vorauf. Die einsame Frau fühlte sich noch einsamer. Sie plauderte ein Weilchen die laufende Unterhaltung mit; dann sprach sie von ihrem Kopfweh und sprang gleichfalls vom Wagen ab, um zu Fuß zu gehen. Die Reiter und Reiterinnen waren weit voraus. Die allein wandernde Frau setzte sich endlich an den Wegrand und zerstieß mit dem spitzen Sonnenschirm den Rasen, als sollte jeder Stoß in ein Herz treffen.

»Er ist brutal!« knirschte die Leidende. »Wenn er den Duckmäuser ablegt, wird er brutal! Um mich zu ärgern, macht er der jungen Welt die Cour. Er fühlt, daß ich ihm über bin – mit Brutalität und Prahlerei will er mir den Vorsprung abgewinnen, will mich ducken und demütigen, da ich mich angesichts der Gesellschaft nicht wehren kann. So sind sie, diese Herren, auch dieser! O, mein Gott, wie das schmerzt! Aber nur nichts merken lassen!«

So wirbelten die bitteren und ungerechten Gedanken aus der leidenden Frau empor. Aber gleich darauf trat sie mit der unbefangensten Miene wieder an den Wagen heran.

»Mein Kopfweh ist fort!« rief sie. »Sehen Sie, das war eine brillante Idee, daß ich zu Fuß lief. Kutscher, Trab!«

Der Hans von Uhrweiler, der auf dem Bock saß, kannte den Ton seiner Herrin; er warf nur einen unaussprechlich bezeichnenden Blick zu der Kranken herum und fuhr dann weiter.

Und immer mehr Sarkasmen, scharfe, stechende Worte blitzten aus der Marquise auf. Alle diese Wortpfeile suchten und trafen Herrn Hartmann, der wieder neben dem Wagen ritt. Jedes Wort saß; knapp und pointiert.

»Seinem Lehrer soll man nicht schmeicheln; Geschmack und Respekt verbieten das; wenn er aber reitet wie ein Gott? Was dann? Da wird der Respekt blinde Bewunderung.... Ihr Anblick allein, Herr Hartmann, wiegt sämtliche andere Belustigungsnummern des Tages auf.... Herr Hartmann hat einen Sporn verloren? Entschieden hat einer Ihrer Ahnen die Sporenschlacht von Guinegate mitgemacht, und Sie wollen hinter so viel Heldentum nicht zurückbleiben.«...

»Ich weiß gar nicht, wie du heute bist, Mammy,« sagte die beklommene Addy.

»Ich auch nicht,« erwiderte sie kurz.

Die Wagen rasselten durch die alten Turmtore von Rappoltsweiler. Die Ulrichsburg schaut mit prächtigen romanischen Fensterbogen in die schmalen Gassen herunter; ein frisches, rasches, in Steine gepreßtes Bergwasser schießt an der Straße entlang. Die blumengeschmückten Wagen rollten unter nicht immer freundlichen Blicken angehender Revolutionäre hindurch und jenseits hinaus in das Tal. Zur Linken lagern dort breite Laubwälder, mit Nadelwald durchsetzt; rechts in der Höhe die Burgen Giersberg und Ulrichsburg und schwärzlich steile Felsen. Am Dusenbach stieg man aus und strebte zu den frommen Gebäuden hinan, die dort in engem, waldumdunkeltem Seitentälchen auf felsigem Untergrunde sitzen.

Während die Dienerschaft Proviant und Flaschen zu dem höher gelegenen Lagerplatz hinaufschaffte, besichtigte die Gesellschaft Kapellen und Kirche und betrachtete das altberühmte wundertätige Marienbild, das dort in der vorderen Kapelle in goldgewirktem Kleide über dem Hochaltar thront.

Die Katholikin Frau von Mably hatte nicht das Bedürfnis, mit hineinzugehen. Waren ihr diese Dinge insgeheim zu heilig? Fürchtete sie unzarte Bemerkungen der Protestanten mitanhören zu müssen? Sie machte einige leichte, spöttelnde Randglossen über die vielen Gebete, die da drin gewiß in der Luft hingen, und hielt sich draußen. Sie war heute voller Schärfen. Drinnen knieten etliche wenige Beter und Pilger, darunter ein kräftig gebauter Priester, der vor dem Altar lag und sich nicht umschaute. Als die Gesellschaft die Kapelle verließ, kniete der Betende noch immer.

Eine Stunde später, als man oben eine Gruppe von Granitfelsen besetzt hielt und das Tal mit den Tönen einer heiter-weltlichen Geselligkeit erfüllte, stand unten am Waldbach der nämliche junge Priester und horchte mit großen Augen empor. Dann schritt er langsam und gedankenstill in seine Pfarrei zurück, die er in gesunden Wochen mit aufopfernder Hingebung zu besorgen pflegte.

Es war eine glückliche Lagerstelle. Gradaus, über Dusenbach und Kapelle hinüber, schichteten sich die massigen, mit gemischtem Wald bedeckten Gebirge um Altweier. Hie und da strahlten nackte grüne Hochgebirgshalden und Weideflächen herüber. Zur Linken, etwas rückwärts, tat sich ein Ausschnitt der sommerlich verschleierten Rheinebene auf, worin besonders das fest abgegrenzte, rings ummauerte Zellenberg auf seinen Rebhügeln bemerkbar war. Im Rücken der Lagernden wuchtete die nahe Ulrichsburg; zur Rechten kletterte das Tal zum Tännchel empor. Und überall Waldmassen. Schweres Geläut schwamm im Ostwind manchmal aus der sommerheißen Ebene herauf. Gesänge, Waldhorn, die etwas entfernt im Gebirgswald versteckte Musikbande, lachendes Plaudern, Jodler und knallende Pfropfen: –das alles gab dem leis vom Wind bewegten Hochwald eine lebensvolle Stimmung. Wie ein Ton der Tiefe mahnte nur manchmal jene dunkle, schwere Glocke, deren Geläut langsam heraufscholl und im Wald verging.

Es fehlte nicht an Scherzen und Überraschungen. Daß einmal ein grasgrüner Riesenlaubfrosch mitten unter die aufschreienden Damen hüpfte, verursachte keinen langen Schrecken: denn der Frosch hob sofort den breiten Kopf ab – und der kleine Gustav rief beruhigend heraus: »Mama, ich bin's nur!«

Pfeffel pflegte sich bei solchen Ausflügen die Himmelsrichtungen angeben zu lassen; dann stellte sich der Blinde hin und erklärte mit meisterhaftem Gedächtnis und Ortssinn dem sehenden Publikum die ganze Gegend. Was verschlug es, daß heute weder Schwarzwald noch Jura sichtbar waren? Der Blinde sah die fernen Gebirge und zählte die Ortschaften der Nähe auf.

»Und dann schauen Sie noch weiter,« fuhr der Seher fort, »schauen Sie durch diese Berge hindurch ins revolutionäre Frankreich! Vernehmen Sie das Rataplan der Trommeln? Gott gebe, daß sich dies Feuer löschen lasse, damit der Segen der neuen Ordnung nicht zum Unsegen werde! Schauen Sie dann hinüber ins stille Deutschland: so erblicken Sie das Heilige Römische Reich Teutscher Nation in politischem Schlummer. Aber geistig große und ehrwürdige Männer sind um so emsiger an der Arbeit, das Menschentum zu erneuern, zu beseelen, zu vertiefen. Welch eine stillere Gemütsstimmung als in Frankreich! Und wir Elsässer inmitten, dem Stamm und der Stammessprache nach deutsch, aber staatlich französisch – wie werden wir in diesen Stürmen bestehen?«

Und Belisar plauderte von seinem badischen Freundeskreise, behaglich zurückgelehnt und zuletzt mit Rappoltsweiler Riesling herzlich auf Liebe und Freundschaft und alles Hohe anstoßend. Er war besonders mit dem trefflichen Johann Georg Schlosser befreundet, dem Gatten der früh verstorbenen Schwester Goethes. »Ein edler Mensch!« rief er aus. »Seine Briefe und Worte atmen eine so warme Anhänglichkeit an Christus, eine so eherne Festigkeit der Grundsätze, daß ich mich mit jedem Tage inniger an ihn angeschmiegt habe. Als er noch in Emmendingen war, sahen wir uns öfters; nun ist er in Karlsruhe und wird sich wohl bald in seine Vaterstadt Frankfurt zurückziehen. Kein unreiner Faden läuft durch das Gewebe seines Lebens. Und was für Kenntnisse! Wäre der zerfahrene Dichter Lenz zu retten gewesen, Schlosser hätte es vermocht. Peggi, wie heißt es doch in jener wahrhaft würdigen Dichtung Goethes, die uns einmal der durchreisende Knebel aus Weimar vorgelesen hat? Ich meine die ›Iphigenie‹;. Knebel kam damals von Emmendingen und hatte bei Schlossers das edle Werk vorgetragen; er besah sich meine Schule, wohnte dem englischen und italienischen Unterricht Lerses bei und erfreute uns dann abends gleichfalls mit jener Dichtung seines Freundes Goethe. Ich habe mir eine Stelle gemerkt, herrlich vor allen andren: ›Wem die Himmlischen viel Verwirrung zugedacht haben, wem sie erschütternde Wechsel des Schmerzes und der Freude bereiten, dem geben sie kein höher Geschenk als einen ruhigen Freund Ja, auf die Freundschaft! Meine Damen und Herren, auf die ruhige, tiefe, gegründete Freundschaft! Sie ist die reinste und edelste Form der Liebe, sie gibt Kraft, wenn der Freund in Unkraft ist, sie verargt nicht und verletzt nicht, sie sinnt Gutes, wenn Ungüte dem Freund weh getan hat, sie übt uns in selbstlosem Gutsein und Glücklichmachen! l Der Freundschaft auf diesem Wasgauberg ein hellklingend Hoch!«

Begeistert, aus innerer Überzeugung heraus nahm das allgemeine Hoch diesen Trinkspruch auf; in klingendem Konzert stimmten die Gläser zusammen. Eine aber, nachdem sie getrunken, warf ihr Glas splitternd an den Felsen.

»Brav!« rief der jugendliche Alte hingerissen, »an die Felsen die Gläser! Scherben bringen Glück!« Und Pfeffels Glas flog dem Glase der Frau von Mably krachend nach. Die andren Gläser folgten ohne alle Ausnahme. Es war ein Batteriefeuer zu Ehren der Freundschaft.

Bald hernach zerstreuten sich die Kinder mit Hartmann in den Wald, Blumen suchend und Steine prüfend. Dem allmählich etwas abgespannten jungen Lehrer war die scharfe Stimmung der leidenden Marquise aufgefallen; er war unruhig und besorgt. Aber er plauderte gleichwohl der Jugend von den Schönheiten des lichteinsaugenden und lichtverarbeitenden Waldes, der von den Regenwürmern, Milben und Käfern bis hinauf zur Blumenkrone und zur Blätterstellung der Baumwipfel eine großartige Staatsgemeinschaft bildet. Addy schloß sich unbefangen und gefesselt seinen Untersuchungen an; sie klopften am Granit mit dem leichten Hammer; man zerlegte und benannte Kräuter und Gräser. Viktor war sehr zärtlich zu der Kleinen und legte ihr das Tuch um oder half ihr beim Steigen. Die Mutter beobachtete scharf und nervös. Und bald darauf erhob sie sich, verließ die vergnügte Gruppe und irrte allein durch den Wald hinüber nach der Ulrichsburg. Hier traf es sich endlich, daß Hartmann, von den suchend zerstreuten Kindern getrennt, plötzlich vor der Geliebten stand. Ein Blick in den Wald – niemand in der Nähe – und mit ausgebreiteten Armen flog er zu ihr heran. »Elinor! Was ist dir denn heute?! Ich sterbe vor Sehnsucht!« Aber diesen Augenblick hatte das unheilvolle Naturell der leidenschaftlichen Frau gesucht und ersehnt. Die angesammelte Pein der letzten Tage entlud sich, greller als das Batteriefeuer am Felsen. »Gehen Sie! Fort mit Ihnen! Zu den jungen Mädchen! Täuschen Sie nicht eine einsame Frau! Mensch ohne Form, Egoist, unritterlicher Gesell, Emporkömmling – wagst du's, dich über mich lustig zu machen?! Geh zu deinesgleichen! Fort!«

Peitschend knatterten ihm die Worte um die Ohren. Ihre Augen sprühten Flammen; ihr Mündchen zuckte ebenso wie ihre Hände; die ganze Person war in einem elektrischen Beben. Mit einem Ruck drehte sie sich um und eilte so rasch durch den ungleichen Wald davon, daß sie beinahe fiel. Dann war überall tiefe Sommerstille; es war, als hätte das schrille Schelten eines Eichelhähers einen Augenblick durch den Wald gegellt und wäre ebenso jäh wieder verhallt.

Der gänzlich Betäubte stand mit den Blumen, die er ihr hatte schenken wollen, und den entfallenen Mineralien allein ...

Die Heimfahrt verlief belanglos. Die Marquise war bleich und still; nur einmal erkundigte sie sich eifrig nach Ärzten in Straßburg oder Kolmar, die besonders für Herzkrankheiten in Frage kämen. Die zuckenden Flammen in ihr erschienen erloschen zu sein; nur zu ihrem Kinde war sie von vermehrter Zärtlichkeit. Kühl gesellschaftlich winkte sie beim Abschied mit der Hand zu Hartmanns Pferd hin, während Addy ein zärtliches »Auf Wiedersehen, Herr Hartmann!« hinüberrief.

Tags darauf erhielt er ein Briefchen.

»Mein Freund, seien Sie großherzig! Ich bin krank und dem Wahnsinn nahe. Ich war abscheulich gestern, aber ich bin krank vor Kummer und Sorgen. Ich habe keine andere Entschuldigung, kann Ihnen auch nichts weiter sagen, muß es allein tragen. Nur eins: erwäge, mein Geliebter, daß ich nicht nur Freundin, daß ich auch Mutter und Gattin bin. Ich habe schwerer zu tragen als ihr alle. Nächste Woche gehen Birkheims nach Rothau, Du mit ihnen, wir wollen uns nicht eher sehen, bis Du wieder zurück bist. Dann bin ich vielleicht ruhiger. Ach mein Freund, wo einst ein lieber Blutstropfen lag, sammeln sich nun Tränen! Seien Sie edelmütig, grollen Sie nicht Ihrer kranken, verzweifelten Elinor von Mably.«


 << zurück weiter >>