Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Zweites Kapitel

Viktors Vaterhaus

Eine Stadt ist eine steinerne Chronik. In ihren Gassen, Gebäuden und Menschen ist die Geschichte von Zeitaltern und Geschlechtern eingegraben. Der Reichsstädter, der zwischen angegrauten Giebeln und Grünspantürmen seinem Tagewerk nachgeht, fühlt sich selber als ein Stück Geschichte. Seine Väter haben durch Jahrhunderte an diesem wohlgefügten Zellengebilde mitgebaut. Auch ihm gehört jenes Sandstein-Münster, das eine Berühmtheit Europas und doch zugleich ein Eigentum der Stadt Straßburg ist. Die Kämpfe um die Stadtverfassung, die Unbilden der Geschichte, die Sorgen um die Religion und die Gestaltungen der Zünfte und Körperschaften – es ist eine Arbeitsleistung, an der auch er seinen Anteil hat. Wall und Graben, Tor und Türme schließen das Stadtbild zu einer Einheit zusammen. Wohl ist es eng und dumpf in diesen Winkeln und Gassen; aber von den gedeckten Brücken her, wo jene besonders hohen Festungstürme Wache halten, strömt das starte Doppelwasser der Breusch und Ill herein und spült den Unrat aus vielen Gräben und Kanälen mit hinaus in den unergründlichen Rhein.

Der heimgekehrte Viktor empfand an diesem Morgen die Wohligkeit einer fest umgrenzten Heimat. Draußen auf der Langstraße gellte der übliche Straßenlärm; Verkäufer und Karrenschieber, Bürgerfrauen und Dienstmädchen, alle mit Kokarden an Hauben und Hüten, pfeifende Spatzen und schrill einander zurufende Kinder, eilige und wichtige Männer – – das drängte sich in buntem Wechsel die Straße hinauf und hinunter, vom Gerbergraben, der damals noch offen durch die Stadt floß, bis zum Gärtnersmarkt. Sein Blick, so lang auf das unbegrenzt Geistige eingestellt, ruhte wieder aus in Betrachtung der frischen, anheimelnden Gegenwart.

Der Vormittag war durch neugierige Besucher beschlagnahmt. Und nach dem Mittagsmahl, als sich Viktor einen Augenblick zurückgezogen hatte, erscholl abermals von der Wohnstube her ein lautes Reden, als ob es sich um einen Streit handle. Er lief hinüber und fand dort den Bäcker Hitzinger aus dem Erdgeschoß, den Vater seines Kameraden Leo. Papa Hitzinger und Papa Hartmann lösten miteinander die konfessionelle Frage.

»Ihr habt kein' Kirch', ihr Protestanten!« rief der kleine Bäcker, der in Pantoffeln und weißem Wams heraufgekommen war. »Unsereinem ist's heilig zumut, wenn da vorn die Monstranz glänzt und das Glöcklein klingt, denn der Heiland in Person ist in der Kirch' –«

»Gott ist Geist, steht in der Bibel!« widersprach der Lutheraner Johann Philipp Hartmann. »And du sollst ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten! Unsre Kirch' ist da, wo das Wort Gottes vernommen und in werktätigem Glauben angewandt wird, wo unsre schönen alten Choräle – –«

»Die Bibel?« unterbrach Hitzinger. »Die legt ja jeder von euch anders aus! Ihr habt ja keine Autorität! Einer aber muß Herr sein im Hause – –«

Dies war ein unglückliches Argument. Meister Hitzinger schnappte jählings ab. Ein anzügliches Räuspern des protestantischen Gegners warf ihn um. Es war nicht zu bestreiten, daß die Körperwucht und Seelenderbheit der Frau Hitzinger das Erdgeschoß beherrschte.

Und nun ergriff der untersetzte, markige Hausbesitzer die Waffe, die der andren Konfession aus der Hand geglitten war.

»Hitzinger, Euch hat der Begriff »katholisch« den Augapfel gefärbt! Was nicht katholisch getauft ist, das hat in Euren Augen ein peinlich Fegefeuer zu gewärtigen oder hoffentlich sogar die ewige Höllenpein. Eure Frau aber? Und die Zwillinge? Die sind zwar der Kummer Eures Lebens, aber da sie katholisch sind, kommen sie halt nach ein bissel Fegefeuer eher ins Himmelreich als der bravste Protestant. Potztausend, Hitzinger, ich hab' Euch ganz gern, Ihr seid ein bravs Männel, aber bleibt mir mit Eurem konfessionellen Tatterich aus meiner Stube fort! Gott sieht das Herz an, nicht den Taufschein!«

»Worüber erhitzt ihr euch denn?« fragte Viktor begütigend.

»Ach, über meinen Sohn Leo«, seufzte der Bäcker.

»Ei, wie geht's dem Leo?«

»Recht hart, recht hart«, versetzte Papa Hitzinger kummervoll. »Er hat der neumodischen französischen Regierung den Eid verweigert. Nun wird er von der Maréchaussée, den Gendarmen, mit manchem andren treuen Priester im Ried oder in den Bergen herumgehetzt. Er hält aber aus, bringt in Verkleidungen sterbenden Katholiken das heilige Sakrament und liest nachts in Bauernhäusern die heilige Messe. Denn die Leute wollen von den neumodischen Priestern, die der Regierung den Bürgereid geschworen haben, nichts wissen. Und der Bischof und der Heilig' Vater in Rom auch nicht. Mein Leo ist brav und gehorcht der Kirche. Und darin muß ich ihm halt recht geben.«

Der früh gealterte Mann strich seufzend über sein dürftig Perückchen. Sein verwelktes, etwas gedunsenes Gesicht war voll Furchen und Falten; die Lippen schienen geschwollen vom Beten, die Augen vom Weinen. Er war etwas kränkelnd. Leo, körperlich der Mutter ähnelnd, hatte des Vaters Gutartigkeit geerbt und war sein Liebling.

»Der Fürstbischof Rohan«, bemerkte der alte Hartmann, »hat eure Priester in einen üblen Zwiespalt gebracht, indem er ihnen Ungehorsam gegen die neue Regierungsform befiehlt. Er selbst hat sich von Zabern nach Ettenheim ins Badische geflüchtet, sitzt dort in Sicherheit und hetzt. Und dies verhetzende Rundschreiben an die elsässischen Priester nennt der Halsband- und Cagliostro-Rohan einen »Hirtenbrief«? ... Siehst, Viktor, und wie ich ihm das in aller Ruhe zu Gemüt führe, wird er auf einmal wild. Na, und da sind wir halt e bissel ins Jäschte 'komme.«

Der alte Herr klappte mit Energie seine Schnupftabaksdose auf, zauderte noch eine Sekunde und bot sie dann mit schnellem Ruck seinem Widersacher an. Hitzinger kannte diese Bewegung als ein Zeichen versöhnlicher Gesinnung. Er tauchte seufzend zwei Finger ein, sagte »merci«, beugte sich schnupfend vor und streute mit ungeschickter Verschwendung den bräunlichen Tabaksstaub auf sein mehlweißes Wams. Der alte Gärtner mit den verwitterten Nasenflügeln tat kräftig und kunstgerecht dasselbe. Und der gebildete Hofmeister aus Birkenweier wandte sich lächelnd ab, als die nun entstehende Pause mit Schnupfen und Niesen musikalisch ausgefüllt wurde. Hernach fing der Bäcker von irgend etwas Alltäglichem an; Papa Hartmann stimmte mit elsässischer Gemütlichkeit bei; und so ging man friedlich auseinander.

»Du weißt, Viktor, daß ich gern Ordnung hab'«, sprach der Alte, als sie wieder allein waren. »In meinem Hause sind Hölle, Welt und Himmel unter einem Dache vereinigt. Im Erdgeschoß und Hinterhof hausen die Hitzingers; da ist Feuer im Backofen und Händel in den Stuben. Nur der Alte ist brav, wenn auch e bissel bigott. Die Kujons, die Zwillinge, wollt' ich schon ins Regiment stecken und ihnen die Ausrüstung bezahlen; aber die Feiglinge beißen nicht an. Im ersten Stock wohn' ich selber mit der Tante Lina. Na, die kennst du; sie brummt gern. Im zweiten Stock aber ist ein kleines Himmelreich; denn da wohnt Madame Jeanne Frank mit ihrem Töchterchen Louise-Leonie. Der Sohn ist jetzt in Paris. Sieh, Viktor, ich war schon oft in Versuchung, die Bäckerfamilie hinauszuwerfen, denn die Zwillinge sind Unkraut, und Mama Hitzinger ist, was Mundwerk anbelangt, ein Pritschenweib von der Ill. Aber der alte Mann hat mich immer wieder gedauert. Eh bien, so duld' ich sie denn halt. Und es geht ja auch so weit; denn sie wissen: es ist einer da, der hält auf Ordnung.«

Vater Hartmann war meist wortkarg, herb, trocken. Sein bräunlich-gesundes Gesicht mit der etwas breiten, rötlichen Nase lag in strengen Falten, wenn er zwischen seinen Blumen draußen in der Ruprechtsau hantierte. Aber er hatte seine aufgeweckten Tage; da traf er kernig das rechte Wort und schüttete allerlei Gedanken aus, die sich in der Schweigezeit angesammelt hatten. Er war ein alter Reichsstädter, aber er hatte sich die Welt angesehen: im Erdgeschoß nannte man ihn nur den »Amerikaner«. Seine Hausfrau hatte er sich auf den Hügeln von Oberbronn geworben; die rasche und fromme Frau war früh gestorben. Eine etwas grämliche Schwester verwaltete sein Haus; und der Alte blieb einsam. Zärtliche Liebe verband ihn zwar mit dem Sohne; aber es lag nicht in beider Art, diese Liebe zärtlich zu äußern. Mancher Zug war beiden gemeinsam; so der Sinn für Ordnung, so die spröde Zurückhaltung in Herzensdingen. Auch Bewegungsfreiheit brauchten beide. So gingen denn diese süddeutschen Naturelle in ihrem Leben ebenso selbständig und querköpfig ihren Weg, wie sie bei ihrem gesprächigen Philosophieren in der Stube umeinander herumliefen und oft hartnäckig aneinander vorbeiredeten. Von Zeit zu Zeit blieb der Alte vor seinem Blumen-Erker stehen oder nahm eine Prise; schaute wohl auch flüchtig in den Spiegel und schnellte mit den Fingerspitzen Tabaksspuren von dem grauen, groben Bürgerfrack hinweg oder ordnete seine kleine Zopfperücke.

»Viktor,« fuhr er fort und warf sich ein wenig in angreifende Haltung, denn er hatte bisher diesen peinlichen Punkt vermieden, »da wir von Ordnung sprechen – ich möcht' auch in deinen Studien Ordnung sehen. Verstehst? Du bist dem Pfarramt ausgewichen und Hauslehrer 'worden. Eh bien, ich hab's gelten lassen, du hast Schliff gelernt. Dann aber brennst du mir auf eine deutsche Universität durch? Studierst Philosophie, Anatomie, Botanik – und was weiß ich, was alles? Eh bien, sag' ich abermals, mein Viktor gehört zu den Langsamen; er geht genau und sicher seinen Gang wie der Paßesel. Na, und wo stehen wir jetzt miteinander? Ich fürchte, du schwebst mir zuviel in der Luft.«

»Ich muß erst innerlich mit mir fertig werden«, wich Viktor aus. »Dazu eben verhilft dir ein festes Amt!« versetzte der Vater schlagfertig.

»Papa,« erwiderte Viktor, »laß mir meine Weise und vertraue mir! Es wird gut werden. Auch du bist weit gewandert, aber du hattest deine heimliche Braut im Herzen und hast dich zu ihr heimgefunden. So hab' ich ein Ideal im Herzen. Sieh, du hast dich weder von deinem Stammtisch noch von sonstigen Mitbürgern bestimmen oder verwirren lassen. Wenn sie in der ›Laterne‹ oder im ›Rebstöckl‹ unsauber schwatzten, so war es mein Vater, der die Courage hatte, aufzustehen und nach ein paar kräftigen Wörtchen das Lokal zu verlassen. So hat mir dein charaktervolles Beispiel von Kind an imponiert. Ich hoffe, daß auch ich noch so fest und sicher werde wie du – und dabei gut, Papa, seelengut zu jedermann. Nur hab' ich eben einen viel schwereren Bildungsgang zurückzulegen. Wieviel Papiermassen sind da zu ordnen! Wieviel Probleme zu lösen! ... Übrigens bleib' ich dabei, Lehrer zu werden. Ich hab' gestern den jungen Redslob getroffen, auch Goepp und Trawitz, und alle sagen, daß mit Pädagogik viel, mit Medizin noch mehr zu machen sei. Auch hat mich bereits ein junger Mediziner um botanische Stunden gebeten, so daß ich mir mit Informationen mein Taschengeld verdienen werde.«

Über Papa Hartmanns scharf markiertes Gesicht mit der hohen Stirn und den mancherlei Lebensfurchen flog ein Schmunzeln. Er war leicht zu beruhigen, sobald er merkte, daß sein Sohn nicht »in den Tag hinein« lebe.

»Mach was du willst, Viktor! Mach's lang oder kurz, nur mach's gut! Das Gebabbel der Leut' verdrießt mich wenig; doch möcht' ich deine Studien abgeschlossen und dich im Amt sehen. Red mit Professor Hermann, der meint's gut mit dir. Du hast Freude an Botanik und Exkursionen – gut, nimm in Buchsweiler oder Brumath oder sonstwo eine Stelle als instituteur public an! Und – der Politik bleib von Leibe!«

Sie wurden unterbrochen. Frau Frank schickte ihr Dienstmädchen herunter: ob ihr der junge Herr Hartmann die gestern versprochenen Bücher geben könne?

»Ein höflich Kompliment an Frau Frank, und ich käme gleich selber hinauf.«

Viktor lief in sein Zimmer, machte sorgfältige Toilette, suchte dann Bücher und Zeichnungen und stieg empor in das Reich der Frau Frank.

Ein sanftes Mittagslicht flutete dem Gast entgegen. Auf allen Gesimsen und Stühlen saßen Sonnengeistchen, schwirrten empor wie Mücken und führten den Eintretenden im Triumph der Hausherrin zu. Es war, als trete man aus dunklem Waldgewirr auf eins sonnenstille Lichtung.

Vor der aufgezogenen Schreibkommode stand die Witwe und legte Papiere beiseite; in der Fensternische hatte auf einem niedrigen Lehnsessel, inmitten von Stickereien, Stoffen und Fadenknäueln, Leonie Platz genommen und mußte das alles erst vom Schoße räumen, ehe sie sich errötend aus dem Labyrinth erheben konnte.

Die guten und doch festen Stimmen der beiden Frauen, sein gedämpft wie die warme Atmosphäre um sie her, taten dem Besucher geradezu körperlich wohl. Wieviel Seele in diesen Stimmen! Wieviel Seele in diesen beim Sprechen und Lächeln reizvoll belebten Gesichtern! Im dunklen Kreppkleid der Witwe, in der dunkelbraunen Ausstattung des Zimmers, das sich die vermögende Frau selber hatte täfeln lassen, lag eine unaufdringliche Vornehmheit. Es war nicht der leichte zierliche Goldglanz von Birkenweier, auch nicht der Prunk von Villa Mably; hier war alles gewichtiger und massiver, von Handwerkern gezimmert und durch Generationen treu behütet. Die Zeit ging hier langsam und wohlbenutzt ihren sicheren Gang, wie jener schwere Pendel der alten Wanduhr. Es war bürgerliche Aristokratie.

Gern holte hier Viktor wieder die Formenhöflichkeit hervor, die er als Hofmeister geübt hatte und unten im ersten Stockwerk verstauben ließ. Doch er verband sie mit Herzlichkeit und Vertrauen. Viktor besaß natürliche Höflichkeit des Herzens; er brauchte jedoch gesellschaftliche Zurückhaltung. Es war ihm unmöglich, sich kurzerhand, etwa beim Weine, mit Tafelgenossen anzubiedern; gern behielt er zwischen sich und den Mitmenschen etlichen Zwischenraum, worin sich dann aber die eigentliche Liebenswürdigkeit seiner nur ungern und leidend verschlossenen Natur oft entzückend zu entfalten pflegte, sobald er Widerhall spürte.

»Im stillen bewundre ich Sie nicht wenig,« sprach er nach einigen einleitenden Worten, »daß Sie dieses doppelte Hauswesen hier und in Barr so ruhig leiten, als wäre dies die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man hat bei Ihnen das Gefühl, als könnte Ihnen das Leben gar keine Schwierigkeit bereiten. Sie sind morgens die Erste, abends die Letzte – und Ermüdung kennen Sie anscheinend ebensowenig wie Aufregung.«

»Unser Leben ist ja so einfach«, erwiderte Frau Frank lächelnd. »Meine Kinder sind brav. Albert macht bei einem Onkel in Paris seinen Weg, Leonie hilft mir hier im Haushalt, meine Kutschersleute in Barr besorgen dort Haus, Garten und Weinberg. Das macht sich ganz von selber. Die größeren Weinberge außer dem Heiligensteiner Rebstück hab' ich verkauft. Und schließlich: Arbeit macht mir Freude. Der Verkauf oder das Einmachen meiner Birnen, Mirabellen, Reineclauden und was sonst der Garten abwirft – nun, das ist ja einfach. Das Scheuern und Putzen in einem großen Hause ist schon verdrießlicher, gel, Leonie l Aber man tut's ja für liebe Gäste, man erholt sich wieder auf Wanderungen ins Gebirge, man liest gute Bücher, spielt gute Musik und singt – und so wissen wir nicht, trotz unsres eingezogenen Lebens, was Langeweile ist. Auch habe ich in einer so glücklichen Ehe gelebt, daß die Erinnerung daran mich durch mein ganzes Leben begleitet.«

»Das ist schön«, nickte Hartmann, auf das angenehmste berührt von der praktischen Festigkeit und Ruhe der freundlich-unbefangenen Frau. »Und sicherlich erhält Sie auch dieser Wechsel zwischen Stadt und Land frisch und empfänglich.«

»Ja, wir freuen uns immer wieder aufs Land, wenn im Mai die Störche über der Stadt fliegen. Und im Spätherbst bleiben wir an den Hügeln von Barr, bis die Bäume und Reben goldig sind. Ich liebe den schönen, stillen Herbst über alles. Er entspricht meiner Seelenstimmung von allen Jahreszeiten am meisten. Erst wenn der Nebel die Farben zudeckt, ziehen wir wieder in die Stadt.«

Frau Frank verschloß den altertümlichen Schreibtisch.

»Wenn Sie erlauben,« sagte sie, »so leg' ich die Rechnungen unsres braven Tapezierers Lefèbvre in ihr Fach und setz' mich wieder an meine Stickerei. Und Sie lesen uns dann aus Ihren mitgebrachten Sachen vor. Ist es Ihnen recht?«

Hartmann versicherte, daß er sich in diesem traulich durchsonnten Eckzimmer wie in einer andren Welt fühle. »Man merkt hier gar nicht, daß draußen Krieg ist oder Revolution.«

»Ich bin doch ein wenig in Sorgen um Albert in Paris und schließlich auch um mein Barrer Haus«, bemerkte die Witwe, indem sie sich zu Leonie setzte und eine Handarbeit auf den Schoß nahm. »Man weiß in diesen unordentlichen Zeiten nicht, ob man vor den eigentlichen Landsleuten, besonders vor den Volontären, des Lebens sicher ist.«

Der junge Wandrer ließ sich willig von dieser milden und reinen Atmosphäre umfangen. Er schaute Frauenarbeiten gern und mit ehrlicher Bewunderung. Welch ein Zauber lag darin, wenn diese seinen Frauenhände und deren Schatten leis und leicht über die kunstvollen Stickereien glitten! Die sechzehnjährige Leonie war streng und einfach erzogen; sie pflegte sich in Gegenwart eines Fremden am Gespräch nicht zu beteiligen. Nur ihre sprechenden Augen, blaßblau wie Glockenblumen an einem Tannenwald, und ihn: leicht errötenden Züge drückten ihre Teilnahme aus. Es war ein wohlig-warmes Leuchten um diese hohe und schlanke, dabei feste Gestalt. Sie trug ein schwarzes Sammetkleid, das den Hals freiließ; und um den offenen Hals hing ein Goldkettchen, dessen Medaillon in der Einbuchtung der Kehle ruhte. Auf Viktor übte diese knospenhafte Jungfräulichkeit, die noch alle Reize gläubiger Kindlichkeit in sich barg und doch die Formen des Weibes entfaltet hatte, einen fast religiösen Reiz aus. Alles Einfach-Gute in ihm trat vertrauensvoll vor die Türe. Seine Haltung, die Klangfarbe seiner Stimme, die Wahl seiner Worte – alles war in solcher Stunde eine kniend dargebrachte Verehrung edler Weiblichkeit. Dies fühlten die Frauen. Und so stellte sich das Beste auch in ihnen mit Viktors Bestem in strahlenfeine Beziehung.

Der heimgekehrte Elsässer zeigte Bilder aus Thüringen und las oder erzählte von seinen Wanderungen. Er wurde beredt, er wurde sogar dichterisch. Seltsames offenbarte sich ihm, seitdem er diese Stube betreten hatte; der Gedanke an eine adlige Mutter nebst Tochter hatte ihn nicht verlassen und nötigte ihn nun zu einem stillen Vergleich mit dieser bürgerlichen Mutter und Tochter. Dort war Flamme, hier war Wärme. Schönes auch dort, unvergeßlich Schönes! Ihn durchrieselte Wehmut und Sorge. Im Lichtbezirk dieser keuschen Frauen, deren er sich nicht würdig fühlte, empfand er in voller Stärke die Art jener damals aufgewirbelten, nunmehr gegenstandslos irrenden Liebe. Dies gab seinen Wandergeschichten einen Klang suchender Sehnsucht, so daß seine Worte wie eine Mollmelodie dahinrollten, um nur gelegentlich mit leiserem Wellengeräusch um den festen Felsen Oberlin zu schäumen, den Hartmann mit Ehrfurcht erwähnte.

»Ich habe«, sprach er, »dem guten Pfeffel in Kolmar ein Wort zu verdanken, das ich wie ein Kleinod verwahre. Es steht in der dramatischen Dichtung, »Iphigenie« von Goethe, die ich inzwischen gründlich gelesen habe. Kein Wort der deutschen Literatur ist mir lieber als diese Tröstung, daß wir auch in Nächten der Not und des Irrtums nie allein sind:

»Denken die Himmlischen
Einem der Erdgebornen
Viele Verwirrungen zu,
Und bereiten sie ihm
Von der Freude zu Schmerzen
Und von Schmerzen zur Freude
Tief erschütternden Übergang:
Dann erziehen sie ihm
In der Nähe der Stadt
Oder am fernen Gestade,
Daß in Stunden der Not
Auch die Hilfe bereit sei,
Einen ruhigen Freund'.«...

Beide Frauen, Mutter und Kind, spürten dieses Heimverlangen eines einsamen Menschen. Sie legten die Hände in den Schoß und lauschten mit großen, glänzenden Augen in seine Seele hinein. Für den Erzähler hatten diese milden Zuhörerinnen einen Lichtrand um das goldbraun im Nachmittagslicht aufschimmernde Haupthaar. Sie glichen sich beide, wie sie nun horchend vor ihm saßen. Doch lag über der reifen Frau Johanna eine natürliche Herrscherwürde, über Leonies rosigen Wangen aber die entzückende Unschuld und Anmut eines verehrenden Gehorsams.

Dieses trauliche Daheimgefühl, dem sich der Gast zu überlassen begann, wurde durch das Läuten der Korridorschelle unterbrochen. Das Dienstmädchen meldete ben greisen Pfarrer Stuber von der St. Thomaskirche.

Viktor sprang auf. Ein elektrischer Strom durchbebte den Jüngling. Er wußte, daß ihm eine entscheidende Stunde bevorstand.

Der Bote des Schicksals war ein kleiner Mann mit einem auf' fallend großen und steilen Kopf. Diakonus Stuber hatte Leonie konfirmiert; er hatte ihre Eltern getraut und den Vater begraben. Er war auch den Hartmanns wohlbekannt.

Der siebzigjährige Greis mit den sanften und geistvollen Augen bestand nach erledigten Begrüßungen darauf, daß Stickerei und Unterhaltung fortgesetzt werde wie zuvor. »Wovon sprach man, als ich hereintrat?«

Als man das Thema vom »ruhigen Freund inmitten der Unruhe der wechselnden Zeiten« angab, fügte der Geistliche sogleich eine vertiefende Bemerkung hinzu.

»Unser ruhiger Freund«, sprach er, »ist der Meister und Mittler Jesus und, durch ihn wirkend, unser Vater im Himmel.« Und als man Oberlin nannte, rief er lebhaft:

»Mein Nachfolger im Steintal? Ja, nicht wahr, welch ein energischer und guter Mann! Ach, ich kann Ihnen nicht sagen, wie entmutigend das war, als ich vor einigen dreißig Fahren jene verwahrlosten Dörfer kennen lernte! Gleich am Tage nach meiner Ankunft in Waldersbach wanderte ich hinauf nach Bellefosse und wollte dort die Schule besuchen. ›Nun, Leute, wo habt ihr denn euer Schulhaus?‹ Man zeigt mir eine elende Hütte. ›Das ist das Schulhaus?!‹ Gut, ich trete ein. In einem niedrigen und schmutzigen Zimmer lärmen Kinder durcheinander. Es wird still bei meinem Eintritt. ›Kinder, wo habt ihr den Schulmeister?‹ – ›Dort liegt er!‹ Ich trete näher und sehe auf einem ärmlichen Bett ein graues abgezehrtes Männchen liegen. ›Seid Ihr der Schulmeister, lieber Freund?‹ – ›Ja, Herr,‹ ächzt das Männchen, ›der bin ich.‹ – ›Was lehrt Ihr denn die Kinder?‹ – ›Nichts.‹ – ›Warum denn nicht?‹ – ›Weil ich selber nichts weiß.‹– ›Wie seid Ihr denn alsdann Schulmeister worden, wenn Ihr selber nichts wißt?‹ –›Sehen Sie, lieber Herr, ich bin viele Jahre lang Schweinhirt gewesen. Weil ich aber vorgerückten Alters halber unfähig worden bin, die Schweine zu hüten, so hat man mir die Kinder anvertraut.‹... Dies war mein erstes Erlebnis im Steintal.«

Der kleine Mann sprach ungemein ausdrucksvoll. Man hörte ihm gefesselt zu; und Leonie strahlte nicht wenig vor Vergnügen, als der Diatonus scherzhaft auf die vielen Nastüchlein anspielte, die in jener Schule – nicht vorhanden waren.

Hartmann wußte, warum Pfarrer Stuber gekommen war. Aber der Schüler Kants beherrschte sich willensruhig und erzählte unbefangen, wie er Oberlin zum erstenmal gesehen habe: auf einen Spaten gestützt, bescheiden den Hut in der Hand, umgeben von arbeitenden Bauern seiner Gemeinde.

»So sollte man ihn abmalen«, bemerkte Frau Frank.

»Ja, das ist so seine Art«, bestätigte Stuber. »Er legt selber Hand mit an, als wär' er Bauer – dann geht er in die Studierstube und spricht wie Swedenborg mit dem Wort Gottes und mit Geistern. ... Wissen Sie, wie ich ihn meinerseits zuerst gesehen habe? Als ich aus dem Steintal an die hiesige Thomaskirche gerufen wurde, war ich in Sorge um einen tüchtigen Nachfolger im Ban de la Roche. Man macht mich auf den Kandidaten Oberlin aufmerksam. Es war das im Jahre – warten Sie mal – 1767. Gut, ich suche ihn auf und finde ihn drei Stiegen hoch in einem Dachstübchen. Beim Eintreten fällt mir ein Bett ins Auge: das war mit Vorhängen aus zusammengeklebtem Papier versehen. Über dem Tisch hängt von der Decke herunter ein eisernes Pfännchen. Der Kandidat aber liegt hinter den papierenen Vorhängen und hat Zahnweh. ›Sagen Sie einmal, Herr Kandidat, was soll denn dieses sonderbare Pfännchen?‹ – ›Das ist meine Küche.‹ – ›Wieso?‹ – ›Ganz einfach: bei meinen Eltern ess' ich zu Mittag, nehme mir ein Stück Brot von dort mit hierher, gieße des Abends Wasser ins Pfännchen, schneide Brot ein, tu' Salz dazu – und stelle die Lampe darunter. Und binnen kurzem kocht dann über mir eine Brotsuppe. Das ist dann mein Nachtessen.‹ – ›Sie sind mein Mann!‹ hab' ich da gerufen. ›Solch einen brauch' ich da hinten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen!‹ Sehen Sie, so hab' ich dann Oberlin für jene rauhe Pfarrstelle gewonnen, um die sich niemand reißt.«

»Wie haben Sie sich denn mit der Sprache zurechtgefunden?« fragte Frau Frank. »Jene Mundart, das Patois, ist so fremdartig.«

»Ein abenteuerlich Kauderwelsch freilich!« versetzte der Geistliche. »Die Sprachenfrage hat uns anfangs Schwierigkeiten gemacht. Man mußte den Leuten erst ordentlich Französisch beibringen, ehe man zu ihren Seelen hindurchdringen konnte. Leonie, paß mal auf, ob du folgendes Verschen in Steintaler Mundart verstehst?

Hai drelo, mo petit colo!
T'ersenne mou bi to pére:
T'é mindgi le tché do pot,
Et t'é laichi lé féves.

Na, was heißt das, Leonie? Das ist das Liedchen einer Mutter an ihr Kind und heißt etwa: ›Ho, Schelm, meine kleine Taube! Du bist ganz deines Vaters Ebenbild: du hast das Fleisch aus dem Topfe gegessen und die Bohnen liegen lassen!‹ Drollig, nicht wahr?«

Leonie lachte. Und Hartmann, der ernst und still dabeisaß, schaute im Geiste die Hütten und Häuschen von Waldersbach und Bellefosse, das Kirchlein von Belmont und das grüne Solbach, wie man sie etwa vom fels- und farnreichen Katzenstein aus wundervoll im Abendsonnenschein von den gegenüberliegenden Hängen herüberschimmern sieht.

»Im übrigen bin ich diesmal wegen einer traurigen Angelegenheit gekommen«, sprach der Geistliche plötzlich. Und sein unvermittelt ernster Ton wirkte nach der kurzen Heiterkeit doppelt schwer. »Ich habe eigentlich Sie gesucht, lieber Hartmann. Daß ich Sie aber bei Frau Frank finde, scheint mir ein Wink der Vorsehung. Wir können das nun gemeinsam besprechen.«

»Worum handelt es sich?« fragte Frau Frank.

»Um eine Dame zu Paris«, erwiderte der Diakonus, seine Brieftasche ziehend, »von der ich durch Baron Birkheim einen Brief an unsern Kandidaten abzugeben habe. Sie wiederholt in diesem Briefe jedenfalls das, was sie schon an Birkheim geschrieben hat.«

Viktor nahm den versiegelten kleinen Zettel mit der bekannten Handschrift in Empfang, erhob sich sehr bleich, aber in vollendeter äußerer Ruhe, und trat ans Fenster.

»Sie trinken gewiß beide mit uns Tee«, lud Frau Frank ein. »Leonie, du gehst vielleicht in die Küche und hilfst.«

Leonie erwiderte ihr freundlich-gehorsames »Ja, Mama«, wickelte ihre Arbeit zusammen und entfernte sich.

Und Viktor stand im Frühlingslicht am Fenster und las still den Brief der Marquise von Mably:

»Mein lieber Freund! Eine Mutter hat Sie bei jenem Abschied mit einer Bitte beehrt. Ich weiß, daß Sie sich dieser Bitte entsinnen, und ich weiß, daß Sie mit ganzen Kräften zu deren Erfüllung beitragen werden. Ich brauche Sie jetzt, mein Freund. Einst bracht' ich Ihnen Übermut und Leidenschaft, heute bring' ich Ihnen in wehrloser Demut eine Pflicht, wenn Sie es als solche anerkennen wollen. Ich sitze als Gefangene in den Kerkern der Abtei, vom Herzen meiner Addy losgerissen!! Verwandte haben mein Kind mit nach Grenoble genommen; aber es sind Menschen, denen ich mein Liebstes nicht anvertraut wissen möchte. Ich komme zu Ihnen, durch Birkheims Ihre Adresse erforschend, und beschwöre Sie, Viktor: nehmen Sie sich meiner Addy an! Ich habe meine schweren Fehler und weiß, daß man mich der Aufnahme in den Pfeffelschen Tugendbund nicht gewürdigt hätte. Aber ich weiß auch, daß ich nichts, nichts, nichts auf der Welt so rein geliebt habe wie mein Kind. Um dieser Liebe willen flehe ich Sie an: Sorgen Sie, daß meine kranke Addy Aufnahme findet bei wahrhaft guten Menschen – so gut, wie Sie selbst gut sind, mein Freund, dessen ich mit Tränen gedenke! Mich richte Gott, vor dem ich in diesen feuchten Kellern auf den Knien liege; aber meinem Kinde sei er ein gnädiger Vater! Viktor, ich bin nicht mehr, die ich einst war; ich bin krank und elend. Ach, aber ich habe ein unermeßliches Vertrauen zu Ihnen, Sie werden mich in dieser Sache nicht im Stich lassen! Näheres erfahren Sie durch Birkheim. Elinor.«

Viktor Hartmann stand leichenblaß. Er biß die Zähne zusammen und fühlte die Wucht und Bedeutung dieser Stunde. Nach den ersten Schauern des Entsetzens entrang sich seiner Seele ein unendliches Mitleid, ein unendlicher Dank gegen Gott, daß ihm, gerade ihm diese Pflicht auferlegt werde. Mit einem großen, fast feierlichen Ausdruck, als wär' er in einer einzigen Minute hinausgewachsen über den ganzen früheren Zustand, trat er zu den beiden andren heran und steckte den Brief bleich und schweigend in die Tasche.

»Nicht wahr, es handelt sich auch in diesem Briefe um das Kind?« fragte Stuber, der inzwischen Frau Frank über die Sache unterrichtet hatte. »Die Dame hat sich schon an Birkheim gewandt, ob man dem jungen Mädchen irgendwo in guter Luft und vor allem in viel Stille eine Zuflucht verschaffen könnte. Denn das Mädchen ist herzleidend. Was tun wir nun? Birkheim ist überlastet, sein Haus laut und unruhig, Pfeffels Haus desgleichen. Wissen Sie, was ich mir daher gedacht habe? Wir bringen die Kleine zu Oberlin ins Steintal.«

»Ich will Ihnen einen einfacheren Vorschlag machen«, entgegnete Frau Frank, die mit der ihr eigenen Besonnenheit unterdessen zugehört und sich das Ganze zurechtgelegt hatte. »In wenigen Wochen ziehe ich mit Leonie nach Barr. Mein Garten dort ist von der Welt durch eine hohe Mauer abgetrennt; still ist es bei uns immer; Leonie wird eine Gespielin haben und ich eine zweite Tochter. Die Hauptsache ist freilich: hat das Mädchen einen guten Charakter, Herr Hartmann? Ist sie verwöhnt, verzogen oder anspruchsvoll? Wäre sie für Leonie ein passender Umgang?«

»Addy ist ein Engel«, sprach Hartmann bewegt.

»Dann dürfen wir es also wagen, lieber Herr Pfarrer, und ihr unser bescheidenes Haus anbieten.«

»Echt Frau Frank!« rief der silberhaarige kleine Pfarrer beglückt und streckte der Witwe beide Hände hin. »Gott lohne Ihnen dies Werk der Barmherzigkeit! Ganz insgeheim habe ich nämlich sogleich an Sie gedacht, als ich da vorhin die breite Treppe heraufstieg. Des Kindes Vermögensverhältnisse werden wohl nicht glänzend sein. Ihr Schloß ist verbrannt; und außer ein paar Schmucksachen– «

»Ach, Herr Pfarrer, reden wir gar nicht davon! Es soll mich freuen, wenn ich der armen Kleinen geben kann, was sie braucht – vor allem ein wenig Mutterliebe.«

So besprachen sie miteinander die Angelegenheit. Hartmann, der anfangs mit starrem Blick nur immer ein großes Ölbildnis der Königin Marie-Antoinette ins Auge gefaßt hatte, um sein Inneres zu beruhigen, wurde nach und nach beredt und pries das junge Mädchen so warmherzig, daß Frau Frank und der Pfarrer fortan mit der Wendung »Ihre junge Freundin« von ihr sprachen.

Plötzlich fuhr Viktor heraus:

»Und läßt sich denn nichts für die Mutter tun?«

»Ich habe das auch Birkheim gefragt«, antwortete Stuber. »Aber Sie wissen ja, wie jetzt die Dinge in Frankreich liegen. Die Marquise hat Brüder bei den Emigranten und hat sich in schärfster Weise gegen die neuen Zustände geäußert.«

»Ja, das ist so ihr Naturell!« rief Hartmann in Weh und Wonne.

Frau Franks weiblicher Instinkt war längst auf Viktors überstarke Seelenbewegung aufmerksam geworden.

»Ob sich vielleicht unser Maire Dietrich für Ihre Freundin verwenden könnte?«

Hartmann sprang auf.

»Das ist ein Gedanke! Dietrich hat Einfluß.«

»Nicht mehr wie früher«, wandte der Prediger bedenklich ein. »Die Tragödie Dietrich berühren wir lieber nicht.«

»Ich werde gleichwohl mit dem Maire sprechen.«

»Suchen Sie vorher Birkheim auf! Er ist noch in Straßburg.«

Leonie trat herein und deckte den Tisch. Hartmann blieb nicht zum Tee. Er verabschiedete sich in sichtlicher Unruhe. Der Witwe entging es nicht, wie sehr sein Inneres brannte. Sie war nicht neugieriger als irgendeine andere Frau; aber sie liebte Klarheit.

»Du bekommst eine Gespielin, Leonie«, bemerkte sie. »Aber es ist noch Geheimnis, wie vor Weihnachten, wenn's Christkind! kommt. Sie heißt Addy. Wie sieht sie denn aus, Herr Hartmann?«

»Damals war sie schlank und schmächtig und die Vornehmheit und Güte selber. Sie müssen recht gut zu ihr sein, Leonie.«

Das klang so unbefangen, daß die feinhörige Frau im klaren war. Doch stellte sie an der Türe noch eine weitere Frage:

»Die Marquise ist wohl noch sehr jung?«

»Sehr jung!« kam es wie ein Seufzer zurück. Ein vibrierendes Herz entlud sich darin.

»Es ist also die Mutter«, dachte Frau Frank.

Und sie wußte nun, daß der stille Gelehrte Wunden in sich trug.


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