Bernt Lie
In Knut Arnebergs Haus
Bernt Lie

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X.

Karen Ragnhild fuhr am nächsten Morgen mit einer bedrückenden Empfindung aus dem Schlaf auf. Dann besann sie sich auf das Vorgefallene und wurde ganz wach. Es war noch viel zu früh, und sie versuchte, wieder einzuschlafen. Aber die Gedanken stürmten auf sie ein, machten sie unruhig, heiß und ängstlich.

Dann stand sie auf und kleidete sich geräuschlos an. Lotte schlief süß; aber sie wagte kaum, sie anzusehen. Sie hatte nur den einen Wunsch, ins Freie zu kommen, – fort von allen Gedanken; so schlich sie denn durch das Haus und öffnete die Thüren wie ein Dieb und stand endlich draußen auf dem Hofplatz.

Es war ein kühler, klarer Septembermorgen; die Sonne war eben blank und kühl aufgegangen. Es war auch Sonntag heute, aber der Sonntag hatte noch nicht angefangen. Alles war still, so klar, so sonderbar nüchtern.

Es fiel Karen Ragnhild plötzlich ein, daß ja Sonntag war und daß sie ein anderes Kleid hätte anziehen müssen. Gleich darauf aber fand sie es gerade richtig, daß sie ihr Alltagskleid anhatte.

Alle die auf sie einstürmenden Gedanken hatten sich beruhigt, sobald sie hinausgekommen war. Sie ging einige Schritte vorwärts durch das taufeuchte Gras und blieb mitten auf dem Hofplatz vor der Flaggenstange stehen und sah um sich. So wunderlich kalt und still war es in ihrem Innern. Und sie sah sich um in der Morgenfrühe, und es war ihr, als sei dies der erste Alltag in ihrem Leben, hier auf diesem Hofplatz vor dem Garten, dem Walde, den Hügeln und dem blaukalten Fjord in weiter Ferne. Als habe das Ganze jetzt sein Gewand gewechselt. In dieser einen Nacht. Als habe es das Festkleid abgelegt. Jetzt war es Feld, Garten, Wald, See, – und nichts weiter. Keine verzauberte Welt. – – –

Und sie selber ging hier so klein und schmächtig, gleichsam eingeschrumpft. Sie mußte daran denken, daß eine der Mägde daheim einmal gesagt hatte, man könne so plötzlich im Schlaf zusammenfahren, daß man ein Stück wachse. Etwas derartiges war ihr geschehen. Ein Ruck war durch ihr ganzes Wesen gegangen; sie war plötzlich ein Stück gewachsen. Herausgewachsen aus dem Fest, der Verzauberung, dem Farbennebel, der ihren Blick umhüllt hatte. Sie sah plötzlich alles klar und deutlich.

Sie versuchte zu denken. Aber sie war nicht dazu im stande; es war zu schwer, zu viel für sie, – alles mußte ja von neuem begonnen werden, alles. Aber sie fühlte, daß sie jetzt anfangen konnte zu denken. Von heute an.

»So sind ja die Männer,« hatte Lotte gesagt, »alle miteinander. Nur daß sie sich verstellen.«

Und Lotte mußte es ja wissen.

»Nur daß sie sich verstellen!« Die Worte summten ihr unablässig in den Ohren. Sie fand, daß sich ihr gegenüber bisher alle verstellt hatten!

Alle Männer konnten es nicht sein, der Vater zum Beispiel. Aber folglich alle Männer, die Lotte kannte. Die alle miteinander!

Sie dachte an sie alle. Und bald dies, bald jenes tauchte in ihrem Gedächtnis auf. Namentlich von dem Aufenthalt in den Bergen, wo so viel Sonderbares vorgefallen war, – im Scherz natürlich! – Die Herren hatten die Damen halbangekleidet gesehen, – und bei dem Ausflug nach Trondtinden hatten sie beinahe ohne Kleider um das Feuer gesessen, – und die Nacht in der Scheune – – Das alles fiel ihr jetzt ein und wirkte auf sie wie scharfe Stiche, so daß sie dunkelrot wurde und die Gedanken verscheuchte.

Aber waren denn wirklich alle so? Knut sicher nicht! Er war wie der Vater. Und von Langberg hatte Lotte selber gesagt, er sei wie ein Bruder. Gott sei Dank, das waren doch wenigstens einige! Dann war es also nicht ganz so schrecklich!

Aber Doktor Prytz – und gegen Lotte! So hier mitten unter ihnen allen! Wenn Lotte es ihr nicht erzählt hätte, so würde sie noch heute finden, daß Doktor Prytz nett und fein und nobel sei, – ganz mit dazu gehöre hier bei Knut und Bergliot!

Dann hatten Nils Börge und Thomas Hageman also doch recht gehabt, als sie so über Doktor Prytz sprachen! Erst jetzt verstand sie den Sinn ihrer Worte!

Plötzlich war es ihr, als ströme ihr alles Blut aus dem Gehirn, sie hatte ein Gefühl, als werde sie eiskalt und leichenblaß – – – –

– Nils Börge!

Und mit Blitzesschnelle jagten die Bilder von ihrem Verkehr mit Nils Börge an ihr vorüber. Einmal, zweimal hatte sie auf seinem Schoß gesessen – unzählige Male hatte er sie um die Taille gefaßt und sie dicht, ganz dicht an sich gezogen, – – und er fragte nach so vielerlei, sprach so viel von diesen – diesen Geheimnissen, von denen sie nichts kannte, – mit wunderlichen Worten und in einem Ton, – – so daß ihr da oben bei ihm oft ganz beklommen zu Mute geworden war. – –

Sie stampfte mit dem Fuß und brach halbwegs in Thränen aus: Ach, es war abscheulich, daß ihr solche Gedanken kamen! Widerwärtige, unfeine, häßliche Gedanken! – – Wie konnte sie nur diese Dinge hervorholen, die während der großen, warmen Stimmung, in die ihn seine Dichtung versetzte, entstanden waren!

Sie hatte die größte Lust, diesen abscheulichen, ekelhaften Doktor totzutrampeln, – – denn er war an allem schuld, – er hatte ihre Gedanken vergiftet, – das Schönste, was sie zu denken vermochte, besudelt. – – Und sie war überzeugt, daß sie das Häßliche nie wieder würde abschütteln können, – es würde immer wieder auftauchen, – das mit Nils Börge und mit allem, allem andern! – –

Es war eine Sünde und Schande! Denn es war eine Unwahrheit! Nils Börge hatte ihr gegenüber nicht solche Gedanken gehegt. Denn sie mußte doch wohl jedenfalls zu denen gehören, denen gegenüber sie sich verstellten, – selbst wenn er in seinem innersten Innern so einer war – wie Doktor Prytz!

Hu! Abermals befiel sie dies heimtückische Unbehagen, wenn sie daran dachte, daß sie hier umhergingen und schändliche Gedanken und Dinge heimlich mit sich herumtrugen!

Aber daß Knut und Bergliot mit solchen Menschen verkehren konnten! Sie mußten es ja doch wissen und es kennen! Knut doch auf alle Fälle! Knut war übrigens in der letzten Zeit gar nicht guter Laune gewesen. Vielleicht kam es daher, weil er dies alles fühlte! Aber Bergliot, die Ärmste, die lachte und amüsierte sich, ohne eine Ahnung davon zu haben, – so wie sie selber!

Hu! Es war ihr, als befinde sie sich in einem stinkenden Sumpf. –

Ein Mann kam unten die Straße entlang gegangen. Sie sah auf. Es war Langberg. Er ging langsam, vornübergebeugt, die Hände auf dem Rücken und starrte vor sich hin. Sie dachte einen Augenblick daran, hineinzulaufen, auf ihr Zimmer, um ihm nur jetzt nicht zu begegnen. Sich jedenfalls etwas ordentlicher anzukleiden. Aber sie blieb. Sie wollte ihm im Grunde gerade jetzt gern begegnen. – – –

Aber Langberg ging an der Einfahrt vorüber, den Weg verfolgend, ohne auch nur aufgesehen zu haben.

Da rief sie ihn an.

Er blieb stehen, drehte sich um und sah wie aus einem Traum erwachend auf. Endlich gewahrte er sie; sie kam ihm langsam entgegen. Und er kehrte zu der Einfahrt zurück. Mitten auf dem Hügel trafen sie zusammen.

»Wohin wollen Sie?«

»Ich? – Ich will nirgends hin. Ich gehe nur ganz ziellos spazieren. Aber Sie, Fräulein Finne? Sind Sie schon zu so früher Morgenstunde im Freien?«

»Ja, ich schlendere auch ein wenig umher.«

»Ich dachte, Sie lägen noch in süßem Schlummer, – es war doch gestern Abend recht spät! Sind Sie denn so ein Morgenengel, ›gnädiges Fräulein‹?«

Sie sah ihn hastig an, als er »gnädiges Fräulein« sagte. Es lag etwas Fremdes, Stilles, beinahe Betrübtes in seiner Stimme. Er sah recht elend aus, die Augen lagen ihm hohl im Kopfe, er war blaß, – aber er lächelte.

»Kommen Sie nicht mit mir hinauf?« fragte sie.

»Danke! Ich will jetzt nicht hineinkommen. Mein Weg führte mich ganz zufällig hier vorbei, – – – Ich muß wohl sehen, daß ich weiter komme.«

Sie stand einen Augenblick da und sah vor sich nieder. Dann erhob sie ihre großen, dunklen Augen und sagte:

»Gehen Sie, bitte, noch nicht, Langberg! Bleiben Sie noch einen Augenblick hier und plaudern Sie ein wenig mit mir.«

»Ja, das thu ich sehr gern. Wenn Sie mich darum bitten!«

Sie gingen bergan. Auf dem Hofplatz blieb Karen Ragnhild stehen.

»Sie schlafen noch alle. Ich habe keine Lust, hineinzugehen.«

»Dann können wir ja hier draußen bleiben.«

Sie blieb stehen.

»Hören Sie einmal, Langberg,« sagte sie und schlug die Augen nieder; – »Sie müssen mir nicht böse sein, weil ich gestern Abend so gar nicht freundlich gegen Sie gewesen bin.«

Er errötete und sagte:

»Aber – liebes Fräulein Finne, – wie können Sie nur auf einen solchen Einfall kommen!«

»Warum sagen Sie ›Fräulein Finne‹?«

Er errötete noch tiefer.

»Habe ich das gesagt? Ja – nein – dabei habe ich mir wirklich nichts gedacht!«

»Nein, denn es war nur so eine – eine Verrücktheit von mir. Es hat mir hinterher so leid gethan!«

»Nein, – nein, – ich habe es gar nicht beachtet.«

»Ja, – denn ich mag sie so schrecklich gern, Langberg!« sagte sie plötzlich und sah ihn mit thränenüberströmenden Augen an, während sie warm, beinahe verschämt lächelte.

»Danke!« sagte er.

Sie gingen schweigend dem Waldessaum zu. An dem Zaun angelangt, setzte sich Karen Ragnhild auf einen Stein. Langberg nahm vor ihr auf dem Zaun Platz.

»Sie denken jetzt doch nicht mehr an den Unsinn von gestern Abend?« fragte er endlich.

Karen Ragnhild schüttelte den Kopf.

»Sie scheinen mir heute kein so fröhlicher Morgenvogel zu sein wie sonst, Fräulein Karen Ragnhild!« sagte er nach einer Weile.

»Nein,« entgegnete sie traurig. »Ich bin gar nicht fröhlich!«

»Ist Ihnen, – ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Denn Sie wissen doch, wenn ich Ihnen in irgend einer Weise dienen kann, so machen Sie mich so glücklich, wie ich nur sein kann –«

Karen Ragnhild kämpfte mit sich.

»Ist dadrinnen etwas Trauriges vorgefallen?« fragte er und zeigte auf das Haus.

Sie machte ein zweifelndes Gesicht. Langberg wurde sehr ernsthaft und fragte vorsichtig:

»Zwischen Knut – und Frau Bergliot.«

»Nein, nein!« sagte sie. »So etwas ist es nicht.«

»Also handelt es sich um Lotte Falck?«

»Ja. Gewissermaßen.«

Karen Ragnhild saß eine Weile schweigend da. Dann barg sie den Kopf in den Händen und weinte, leise und schmerzlich. Endlich holte sie das Taschentuch heraus, trocknete die Thränen und sagte in ruhigem, betrübtem Ton:

»Ach, ich habe etwas so Trauriges erfahren, Langberg!«

»Von Lotte?«

»Ja.«

»Die hat doch sonst in der Regel nichts Trauriges zu erzählen!«

»Nein. Aber dies ist traurig. Und ich bin ganz verzweifelt darüber. Es ist etwas geradezu Schreckliches –«

»So?« sagte Langberg bedenklich. »Und das hat sie Ihnen erzählt?«

»Was meinen Sie?«

»Was sie mit Doktor Prytz erlebt hat.«

»Ja. Aber Sie wissen es doch nicht?«

»Ach ja. Ich weiß es.«

»Aber Lotte sagte mir doch, sie hätte es Ihnen nicht erzählt!«

»Das hat sie auch nicht. Aber so etwas merkt man!«

Karen Ragnhild sah ihn gespannt und fragend an:

»Merkt man das?«

»Ach ja! wenn man alt und erfahren geworden ist.«

»Aber, – glauben Sie denn, daß alle es gemerkt haben würden? Oder es vielleicht gemerkt haben?«

»Ach, – die meisten von uns wohl. Wir Männer wenigstens.«

»Wie können Sie das nur?« Karen Ragnhilds Augen brannten.

Langberg lächelte schwermütig.

»Wahrscheinlich weil wir traurige Erfahrungen gemacht haben, Fräulein Karen Ragnhild.«

»Wieso Erfahrungen?«

»Wir sind ja selber Männer!«

Sie saß vornübergebeugt da, die Hände vor sich ausgestreckt:

»Ist es denn wirklich wahr – daß – daß alle Männer so sind? So wie der ekelhafte, abscheuliche Doktor?« – –

Langberg stutzte und sah sie an. Dann errötete er; er fühlte, daß sie nach dem andern, – nach Nils Börge fragte.

»Wie können Sie nur so etwas fragen!« sagte er und versuchte zu lächeln.

»Ja, – denn Lotte sagte es selber, – – und nun sagen Sie ja auch – –«

»Liebes kleines Mädchen,« sagte er ruhig und vertrauenerweckend. – »Es würde eine ganz unverschämte Lüge sein, wenn ich sagen wollte, daß alle Männer ekelhaft und abscheulich sind. Wenn Lotte Falck das gesagt hat, so müssen Sie es ihrer Aufregung zu gute halten. Ich sage nur, wir Männer können schneller und leichter schlußfolgern, was zwischen Doktor Prytz und Frau Falck vor sich gegangen ist, weil unsere Erfahrung uns leider mit den »ekelhaften und abscheulichen« Seiten des Lebens in nähere Berührung bringt. Mit solchen Seiten, wie sie die kleinen Mädchen nicht kennen lernen. Und die kleinen Mädchen sollten sich nur freuen, daß sie nicht nötig haben, darüber nachzudenken!«

»Ja, wenn man nun aber nachdenken muß –!«

»Das muß man durchaus nicht!«

»Ja, wenn man so schrecklich bange wird!«

»Da soll man sich nur an einen guten alten Freund wenden, an einen klugen und verständigen alten Onkel wie mich und fragen: Ist das, was Lotte Falck in ihrem Kummer und ihrer Verbitterung sagt, wirklich wahr? Und wenn der alte Bursche dann nein sagt, es ist gar nicht wahr, dann soll man gleich wieder fröhlich werden, – Morgenvogel!«

Karen Ragnhild mußte ein wenig lächeln. Aber sie wurde gleich wieder ernsthaft und versank von neuem in Grübeleien. Langberg saß ebenfalls schweigend da und sah sie an.

»Ach es ist so bedrückend und schwer, Langberg,« sagte sie endlich mit gedämpfter Stimme. »Denn ich habe ein Gefühl, als wenn ich überall nur noch Häßliches sehe.«

»Sie haben immer eine so fürchterliche Eile, Fräulein Karen Ragnhild!«

»Aber der abscheuliche, abscheuliche Mann hat ja mit uns allen verkehrt! Und stellen Sie sich nur vor, daß ich ihn geradezu gern gehabt habe!«

»Ja,« sagte Langberg. »Ich finde, das ist nicht das Schlimmste, was Sie thun konnten.«

Karen Ragnhild sah ihn ganz empört an:

»Wenn er sich doch als schrecklicher, abscheulicher Mann entpuppt!«

»Aber ich glaube ganz und gar nicht, daß Doktor Prytz das ist.«

»Nach dem, was vorgefallen ist – –!«

»Ja, wissen Sie, so etwas kann oft recht kompliziert sein, wenn Sie sich einmal mit dem Mann verheiraten, der Sie liebt, Fräulein Karen Ragnhild, – und den Sie lieben, da kann er Ihnen von so etwas erzählen, denn dann werden Sie das selber verstehen können, wenn es auch noch so kompliziert ist. Jetzt will ich Ihnen nur sagen, daß das, was zwischen Frau Falck und Doktor Prytz vorgefallen ist, vielleicht auch in Lotte Falck selber und nicht allein in Doktor Prytz' Abscheulichkeit seine Erklärung finden kann –«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Lotte –«

Langberg lächelte:

»Nein, daß ich das nicht will, wissen Sie selber. Lotte Falck besitzt meine größte Hochachtung und meine warme Zuneigung. Aber es kann ja vorkommen, daß etwas weniger kluge und feine Männer – Männer, die in vielerlei Vorurteilen und Unverstand erzogen sind – sich in Lotte Falck irren können. Und daß sie solche – solche Neigungen verraten, weil sie vielleicht irrtümlich von der Voraussetzung ausgehen, daß sie dieselben Neigungen hat.«

Karen Ragnhild wurde ganz heiß:

»Verraten – –?« flüsterte sie.

»Ja,« entgegnete Langberg leise. »Verraten, was wohl in unser aller innerstem Innern verborgen ruht. Und was man an und für sich ja nicht abscheulich nennen kann. Nur kommt es wohl nie, oder doch nur äußerst selten vor, daß so etwas ohne eine richtige oder mißverstandene – Gegenseitigkeit geschieht.«

Karen Ragnhild hatte das Knie in die Hand gestützt. Nach einem längeren Schweigen erhob sich Langberg.

»Sind Sie jetzt etwas weniger verzweifelt?«

Sie sah mit ihrem wärmsten Lächeln auf, das wie ein Sonnenstrahl über ihr Antlitz huschte:

»Ja, – denken Sie nur! Ich glaube es!«

»Das ist ja herrlich!«

»Haben Sie Dank! Ach, tausend Dank!«

»Keine Ursache! Adieu, Morgenvogel!«

»Aber Sie wollen doch nicht schon gehen?«

»Ach ja! Ich muß weiter –«

»Aber Sie hatten doch gar kein Ziel!«

»Ohne Ziel kann man doch ein Ziel haben, – zuweilen!« lächelte er. Karen Ragnhild sah ihn an:

»Sie sehen gar nicht wohl aus. Sie sind doch nicht krank?«

»Nein, ich bin frisch wie ein Fisch.«

»Aber – Langberg, – Sie sind, glaube ich, auch nicht – so recht glücklich.«

Es ging ein Zucken durch sein Gesicht. Aber er lächelte, zog die Schultern in die Höhe und sagte munter:

»Das kommt nur, weil ich über Nacht nicht geschlafen habe! Guten Morgen! Haben Sie Dank für diese Stunde!«

Sie nahm seine dargebotene Hand:

»Aber – Sie kommen doch wieder? Auf dem Rückwege? Da sind sie alle auf! Und die andern kommen gewiß im Laufe des Vormittags auch herunter.«

»Danke! Ich glaube, besser nicht. Ich bin zu müde.«

»Haben Sie denn gar nicht geschlafen? Das ist ja schrecklich! Wie kommen Sie nur auf solche Thorheiten! Denken Sie nur, die ganze Nacht!«

»Ja, das ist unrecht. Alte Onkels sollten gar nicht auf solche Einfälle kommen.«

»Alte Onkels! Sie sollen so etwas nicht sagen!«

»So?«

»Nein, Ich finde, es liegt etwas Beleidigendes darin, wenn Sie so etwas sagen!«

»Beleidigendes?«

»Ja! Ich bin gar nicht mehr so schrecklich klein, –daß Sie mein alter Onkel sein könnten!«

»Aber das habe ich doch gar nicht gesagt?«

»Ja. Das sagen Sie ja eben noch.«

Er stand einen Augenblick da und sah vor sich nieder.

»Ach nein,« entgegnete er langsam. »Das meinte ich gar nicht damit! Guten Morgen!«

»Kommen Sie nun wieder?«

»N–ein, danke, ich glaube nicht!«

»Ach, – ich möchte schrecklich gern, daß Sie wiederkämen.«

»Möchten Sie das, Fräulein Karen Ragnhild? Und weshalb denn?«

Er sah sie ernsthaft fragend an.

Sie brach plötzlich in Thränen aus und warf sich ihm um den Hals, sie legte den Kopf gegen seine Brust und schmiegte sich an ihn. »Mir ist so eigentümlich bange, Langberg!« flüsterte sie. – »Vor allen den andern!« fügte sie noch leiser hinzu.

Mit einer Mischung von angeborener Ungewandtheit und überrumpelter Zärtlichkeit schlang er seine langen Arme um ihre Taille und versuchte, etwas zu sagen:

»Aber – ja – ach ja, – liebe, liebe« –

Sie entwand sich seinen Armen und stand wie mit Blut übergossen vor ihm, die Augen zu Boden geschlagen.

»Ich glaube, ich bin ganz verrückt! Sie, – Sie müssen mir nicht böse sein!«

»Nein, kleines Mädchen! Ich werde nicht böse auf Sie sein! Und nun leben Sie wohl. Ich komme also wieder!«

»Danke, aber –«

Er nahm ihre Hand, preßte einen Kuß darauf und ging.

Karen Ragnhild sah ihm einen Augenblick nach. Dann glitt ihr Blick in den Morgen hinaus, – über den Wald und die Felder bis in die Ferne auf den blauen Fjord hinaus – – – vielleicht kam es, weil die Sonne höher stand und der Morgen nicht mehr so früh war – aber es war ihr, als habe alles den alten, warmen Glanz wieder gewonnen – – – –

Als Langberg das Hofthor erreichte, ging Thomas Hageman gerade hinein. Langberg lüftete den Hut und stürzte eiligst vorbei. Thomas Hageman hatte keine Zeit, wieder zu grüßen, er fuhr nur mit der Hand an den Rand seines Hutes, murmelte guten Morgen und ging weiter.

Auf dem Hofplatz stand Karen Ragnhild.

»Guten Morgen, Fräulein Finne!«

»Guten Morgen, Herr Hageman!«

Karen Ragnhild war ein wenig zerstreut. Sie erblickte ihn wie durch einen Nebel.

»Knut und Bergliot sind wohl schon aufgestanden!« sagte sie ziemlich plötzlich.

Thomas Hageman machte einen so sonderbar nervösen Eindruck, daß Karen Ragnhild ihn ansehen mußte, – sie erwachte gleichsam. Er sah auch schlecht aus, – als ob er nicht geschlafen habe, sie wandte sich mit einer kurzen Entschuldigung um und ging hinein.

Thomas Hageman ging einige Minuten rastlos vor der Atelierthür auf und nieder. Endlich blieb er stehen und klopfte an.

Es war niemand da drinnen. Ungeduldig, erwartungsvoll blieb er stehen – – Dann ging er hin und pochte an die Thür zu Bergliots Boudoir. Auch das war leer. Daneben lag das Eßzimmer.

Dort stand Bergliot im Morgenkleide und ordnete den Kaffeetisch.

»Thomas –?«

»Ich glaubte, deine Schwester hätte mich gemeldet.«

»Karen Ragnhild? Nein! Aber wie nett! Komm herein, wir wollen gerade Kaffee trinken.«

Er kam schnell durch das Zimmer auf sie zu und sagte in gedämpftem Ton, heftig:

»Ich muß mit dir sprechen, Bergliot! Und zwar allein und bald!«

Sie sah mit Verwunderung in sein erregtes Gesicht.

»Du mußt versuchen, es so einzurichten –«

»Ja,« sagte sie. »Ja, Thomas. Das will ich.«

»Danke! Er kehrte ihr den Rücken zu und trat an das Fenster, wo er stand, als Knut kam.

»Du bist es!« sagte Knut, nicht gerade angenehm überrascht! – »Bist du so ein Frühaufsteher?«

»Ja! Guten Tag! Bei dem herrlichen Wetter heute Morgen –«

»Du siehst sonst aus, als wäre dir eine Stunde Schlaf mehr ganz gut bekommen, Thomas!«

»Hm, – es wurde ja spät gestern Abend.«

Bergliot kam mit dem Kaffee. Dann erschien auch Lotte Falck und endlich Karen Ragnhild in einem andern Kleid und sorgfältig frisiert.

Thomas Hageman war während der Mahlzeit forciert lustig, – Lotte neckte ihn mit seinen roten Augen und mit seinem Tanzeifer, der gar nicht zu seiner Würde passe. Knut saß schweigend da. Bergliot ging ab und zu, sie war ziemlich unruhig, während Karen Ragnhild dasaß und strahlte und den Eindruck machte, als sei sie zehn Meilen weit entfernt.

Als sie fertig waren, machte Bergliot den Vorschlag, ein wenig spazieren zu gehen. Knut, der erst die Zeitungen lesen wollte, blieb zu Hause, während die andern gingen.

Lotte Falck und Karen Ragnhild schlenderten Arm in Arm voran. Es ging durch den Wald, den Fußpfad entlang, und bald waren Karen Ragnhild und Lotte den andern aus dem Gesichtskreis entschwunden.

Thomas Hageman ging nervös, langsam und schweigend neben Bergliot her. Endlich blieb er stehen.

»Bergliot! Ich muß mit dir reden! Du, – wenn du dich vielleicht dort auf den Baumstumpf setzen wolltest.«

Sie setzte sich. Er stand vor ihr, gegen einen Baumstamm gelehnt. Eine ganze Weile stand er da und strich sich über das Gesicht. Endlich begann er ruhig:

»Bergliot! mit mir ist diese Nacht etwas vor sich gegangen. Ich – ich bin ein anderer Mensch geworden. Ein neuer Mensch, oder vielmehr – ich bin zu mir selber gekommen. Ich habe unwürdig und unwahr gelebt, habe mich selber und andere belogen. In der letzten Zeit habe ich es kommen gefühlt, habe gefühlt, wie mir die Abrechnung mit mir selber näher rückte, wie eine Pflicht, die sich auf die Dauer nicht fernhalten läßt. Dies Gefühl hat sich zu einem quälenden Bedürfnis gesteigert, das stärker ist als mein Wille, weil es mit dem Stärksten in meiner Natur im Bunde steht. Ich bin endlich dahin gelangt, ehrlich gegen mich selber zu sein. So weit bin ich gekommen. Und mir ist, als sei ich innerlich ganz zerrissen. Und trotzdem habe ich nie ein solches Glück, einen solchen Frieden empfunden.

Entsinnst du dich noch, Bergliot, daß du einmal zu mir sagtest, du glaubtest, ich wolle dir nicht wohl? Meine empörte und beleidigte Antwort darauf baute mir allmählich einen ganz neuen und sichern Patz bei dir auf! Weißt du wohl, daß du damals recht hattest, Bergliot? Ich wollte dir nicht wohl. Es ist mir fast ein Genuß, mich selbst durch dies Geständnis zu foltern. Ich wollte dein Glück morden, das war meine bewußte Absicht, – und meine gekränkte Indignation war Lüge, – und zum Teil auch Selbstbetrug. Ich wollte das Glück morden, das ich dich genießen sah, weil ich es nicht teilte, weil du es nicht mit mir teiltest. Ich bildete mir selber ein, ich thäte es, weil ich dies Glück deiner unwürdig fände. Das war nicht wahr. Nicht deswegen verfolgte ich es. Aber mein Selbstbetrug verwirrte mich in ein Netz von Widerspruch und Halblüge. Ich verachtete dein Glück, – das ist wahr. Aber ich hätte dich damit in Ruhe gelassen, wenn ich es – Knut nicht mißgönnt hätte! Und jetzt ist das in mir vorgegangen, daß ich dein Glück verstehe. Daß ich mich selber verachte und nicht dein Glück. Siehst du, Bergliot, als du heimkehrtest, und ich dich wiedersah, hielt ich mich für so viel klüger als dich. Wenn ich dich glücklich sah, meinte ich, du seiest genügsam und stelltest geringe Ansprüche. Aber du bist mein Zuchtmeister geworden. Du hast mich gelehrt, was ich nie gesehen und gewußt habe. Du hast mich das Leben gelehrt. Du besaßest alle meine Klugheit von ehedem, aber du hattest mehr gelernt als die allein. Das verstand ich erst spät; ich war stehen geblieben, – du warst gewachsen. Du hattest mit der ganzen Feinheit und Schönheit deines Wesens gelernt, was das Leben ist, – die große Nutzanwendung, die ich niemals gekannt habe. Bis jetzt, Bergliot, jetzt, wo ich dich sehe, wo du mich berauschest, mich mit fortreißest, so daß ich dir folgen muß und wahr werde, trotz all des alten Widerstandes, all der alten Angst vor der Wahrheit. Endlich ist es geschehen: Du hast mich ganz geleitet, Bergliot! Und nun habe ich dir nur noch eins zu sagen, Bergliot, – ich liebe dich! Ich kann nicht leben, ohne dich zu besitzen. Du bist für mich das Leben. Alles, was ich gefehlt, gedacht, gewollt habe, – das vereinigt sich in dir. Und ich bitte dich, Bergliot, werde die Meine!«

Er stand aufrecht und leichenblaß da. Jetzt hielt er inne, fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn und fügte in gedämpftem Ton hinzu:

»Du mußt mich bis zu Ende hören. Ich bin klar und ruhig, und ich weiß, daß ich mich ganz aussprechen muß. Ich weiß jetzt endlich, daß ich dich liebe. Das ist es, was mit mir vorgegangen ist, Bergliot. Offen und wahrheitsgetreu sage ich es dir. Offen und wahrheitsgetreu soll mein Weg sein. Du bist für mich das stolze Leben. Ich bitte dich, schenke es mir! Es ist dies eine so gewichtige Sache, daß ich dich bitte, mir jetzt keine Antwort zu geben. Ich will später wieder zu dir kommen. Ich will dann gleich fortreisen. Ich kann Urlaub auf ein Jahr bekommen. Im Laufe dieses Jahres lassen sich deine Verhältnisse ordnen und wir können die erforderliche Zeit warten. Es wird ein schlimmes Jahr für dich werden, aufreibend und qualvoll. Ich würde am liebsten dir zur Seite bleiben. Aber ich weiß, ich helfe dir am besten durch meine Abwesenheit, und ich werde mit dir leiden. Wir müssen das Schwere und Qualvolle durchmachen. Für mich wird er heilsam sein, dieser Kampf, das weiß ich. Alle Halbheit, alle Unwahrheit zwischen uns und anderen muß ausgeschlossen sein. Ich – ich sehe dich, Bergliot, in einem so hohen, strahlenden Lichte auf dem Wege vor mir – –

Leb wohl! Dann komme ich – später. Wenn du dir die Sache überlegt, – wenn du an mich gedacht hast, Bergliot!«

Er wandte sich um und ging langsam den Fußpfad hinab. – – – –

Bergliot blieb regungslos sitzen. Sie fühlte, wie ihre Wangen brannten. Und in ihrem Innern brannte ein Gefühl, das ihr neu war; ein ätzendes Übel, das um sich fraß und sich über ihr ganzes Wesen verbreitete, es krank machte, lähmte, – die Scham.

Sie hatte ein Gefühl, als könne sie nicht weiter leben. Sie war nicht im stande, sich von dem Baumstumpf zu erheben, auf dem sie saß. Es war ihr, als müsse sie hier sitzen bleiben und sich innerlich leer zehren lassen, vor Schande vergehen.

Die Gedanken meldeten sich. Einer nach dem andern mit neuem Schmerz, neuem belastenden Urteil – – So tief war ihr Verrat gewesen, daß er Knut auch nicht mit einem Worte erwähnt hatte. Jeden Gedanken bei ihm, daß sie ja Knuts Gattin war, hatte sie verscheucht, Er rechnete ohne Knut.

Eine treulose Gattin. Das war sie. Es gab keine Ausrede für sie. Eine treulose Gattin. Und was war ihr Ärger über Knut, jeder Vorwurf, den sie ihm machen konnte, – gegen dies! Wenn Knut hier verborgen gestanden und alles mit angehört hätte, – müßte sie da nicht vor seinem Zorn in den Boden versinken! Vor seinem Blick, dem sie nie wieder begegnen konnte!

Und Knuts Benehmen gegen sie, seine Kälte, seine Härte – – – war das alles nicht etwas ganz Natürliches! Vielleicht hatte er gefühlt und verstanden, was sie für ein Unrecht beging, – um Thomas Hagemans willen! Vielleicht hatte sein Instinkt es ihm gesagt! Er, der so reinen Sinnes war, scheute gerade vor allem Schmutzigen, Niedrigen, Verräterischen zurück! Oder vielleicht hatte er geradezu gesehen und gehört, was zwischen ihr und Thomas vor sich ging. Und es so beurteilt, wie es von Rechts wegen beurteilt werden mußte, – genau so wie Thomas selber! Denn der ging ja von der Auffassung aus, daß sie treulos war. – – –

Es war schon spät am Vormittage, als sie sich langsam und mit physischer Anstrengung auf den Heimweg machte.

Ihre Gedanken waren klar und still. Sie wollte sich Knut zu Füßen werfen und ihn bitten, sie wieder rein, gesund und neu zu machen. Er konnte das. Denn sie liebte ihn.

Als sie ins Atelier kam, saß Knut mit Norgreen und Bornemann da.

»Nun? Wo sind die andern?« fragte Knut.

»Lotte und Karen Ragnhild sind bergan gegangen.«

»Und Thomas?«

»Der ist – glaube ich – nach Hause gegangen.«

»Das ist doch des Kuckucks! Habt ihr euch etwa erzürnt?«

Bergliot lächelte krampfhaft.

»Nein!« sagte sie, schritt durch das Atelier und in ihr eigenes Zimmer. Hier setzte sie sich auf das Sofa und stützte den Kopf in beide Hände. Sie hörte, daß noch mehrere ins Atelier kamen, und daß nach ihr gefragt wurde. Und sie ging in ihr Schlafzimmer hinauf.

Knuts Stimme hatte sie wie ein Messer in die Seele gestochen: »Habt ihr euch etwa erzürnt?« Er hatte es höhnisch gesagt. Mit kaltem Hohn.

Aber wenn er dies ahnte, wenn er dies die ganze Zeit hindurch gedacht und sein Benehmen gegen sie danach gerichtet hatte, – da konnte er ja nichts als Kälte und Hohn für sie empfinden! Und Gleichgültigkeit bis zu dem Grade, daß sie sich nun schon viele Monate bitterlich vernachlässigt gefühlt hatte! Und dies Gefühl war es, was sie jetzt in dies Verhältnis zu Thomas getrieben hatte! Wenn ein Mann einen solchen Verdacht hegte, – würde er dann nicht in Raserei ausbrechen! Konnte er dann den Dingen ihren ruhigen Lauf lassen, – ohne dagegen einzuschreiten! war das Stolz? War – war das die Liebe eines Mannes?

Wußte er alles – und ließ er alles geschehen, weil er sie nicht liebte?

Bei diesem Gedanken sprang sie auf und schritt rastlos im Zimmer auf und nieder.

Sie mußte Klarheit hierüber haben. Vor allen Dingen, ob er begriffen hatte, was zwischen ihr und Thomas vor sich gegangen war. Dann wollte sie weiter sehen. Schließlich war sie in dies Ganze doch nur unbewußt hineingeraten, weil Knut sie nicht liebte. Das hatte eine eisige Kälte auf ihr Leben gelegt, – und sie bedurfte der Wärme, – hatte sie unwillkürlich gesucht, wo sie ihr entgegentrat. Bei Thomas!

»Ich kann nicht leben, ohne dich zu besitzen.« Sie rief sich seine Worte ins Gedächtnis zurück. Zum erstenmal war sie dazu im stande. Sie hörte seine Stimme, warm und tief, zitternd von Leidenschaft, die er stolz und kräftig ihr gegenüber beherrschte. »Ich liebe dich, Bergliot! Du bist für mich das Leben!«

Sie stand mitten im Zimmer und flüsterte seine Worte vor sich hin. Sie wurde warm dabei. Das Blut strömte ihr hastiger zum Herzen – – sie hatte ein Gefühl, als versinke sie in eine berauschende Umarmung, – eine unwiderstehliche Sehnsucht bemächtigte sich ihrer – – – dann sank sie plötzlich überwältigt zu Boden und brach in Thränen aus.

Nach einer Weile stand sie ruhig auf und trat an ihre Toilette, um sich zurecht zu machen; sie mußte ja zu den andern hinunter. Als sie aber ihrem eigenen Blick im Spiegel begegnete, wurde sie dunkelrot. – – –

Liebte sie denn Thomas Hageman? Ihr wurde immer heißer bei dem Gedanken. Sie erschrak nur, als die Frage so klar an sie herantrat. Nein! Etwas dergleichen empfand sie nicht für ihn. Und doch, – seine Worte, seine Stimme, seine ganze Erscheinung, wie er gegen den Baum gelehnt dastand, – – er übte eine große Anziehungskraft auf sie aus, – – – und dann war da noch etwas anderes, eine verzehrende Sehnsucht, eine Woge, die ihr ganzes Wesen durchflutete. – – –

Und diese Sehnsucht war auf Knut gerichtet, das wußte sie; Knut aber wies sie zurück, und dann –! Trotz und Stolz schwollen in ihr, ein Gefühl von persönlicher Freiheit und dem Recht, für sich selber zu wählen – – und mit erhobenem Haupt ging sie hinab.

Im Atelier war eine große Gesellschaft versammelt. Amalie Eriksen und Frau Norgreen waren aus der Stadt gekommen, Lotte Falck und Karen Ragnhild waren oben gewesen und hatten »die Bande« geweckt und sie mit heruntergebracht.

Knut saß mitten im Kreise und war ganz ungewöhnlich lustig. Bergliot setzte sich ein wenig abseits mit Frau Norgreen. Sie hörte geistesabwesend der Schilderung von dem Bankett gestern Abend zu. Durch alles hindurch und über alles hinweg hörte sie Knuts Stimme und sein lautes Lachen. Es war, als rufe er an allen andern vorbei, – ihr zu.

Langberg kam. Er fragte nach Thomas Hageman.

»Ich begegnete ihm heute Morgen ja in größter Eile.«

Knut lachte:

»Ja, ich auch! Ich begegnete dem Herrn auch in größter Eile. Er verschwand wieder. Wie Tau vor der Sonne.«

Die Mehrzahl der Gäste blieb zu Tische. Knut hatte sie eingeladen. Nach dem Kaffee arrangierte er einen Spaziergang in den Wald. Da war eine kleine Lichtung, hoch oben im Laubwalde, die er entdeckt hatte, ganz wundervoll im Schmuck des herbstlich bunten Laubwerkes. Bergliot blieb allein zu Hause.

»Kommst du nicht mit, Bergliot?« fragte Karen Ragnhild, sie waren einen Augenblick oben im Schlafzimmer allein.

»Ach nein! Ich bin ein wenig angegriffen.«

»Ach, komm nur! Es ist ja nicht weit.«

Karen Ragnhild blieb ganz bestürzt stehen. Bergliot kämpfte mit den Thränen, und in ihren Zügen lag eine Qual, eine tiefe Verzweiflung.

»Aber Bergliot?«

Bergliot wandte sich nur mit einer abwehrenden Handbewegung ab und ging hinaus.

Als alle fort waren, ging sie in das Atelier und wanderte dort rastlos auf und nieder. Sie ging dort noch so, als die andern wieder kamen.

Zu Abend kamen noch mehr Gäste. Knut war in strahlender Laune, wie er es seit langer Zeit nicht gewesen. Amalie Eriksen spielte ihre Brahms'schen Kompositionen, Lotte Falck und Nils Börge sangen; und schließlich räumte man aus, um zu tanzen.

Knut spielte seinen Walzer.

»Tanzest du denn nicht, Bergliot?« rief er vom Klavier her; er sah, daß sie Svend Spangereid einen Korb gab.

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Vielleicht hast du gestern Abend des Guten zu viel gethan? Oder vielleicht ist hier heute Abend niemand, mit dem du tanzen magst?«

Eine flammende Zornesröte ergoß sich über ihr Gesicht. Sie sah ihm, ohne zu antworten, in die Augen.

Er lachte laut auf und spielte weiter. –

Knut geleitete die Gäste bis an das Hofthor. Karen Ragnhild und Lotte Falck suchten todmüde ihr Zimmer auf.

Drinnen im Atelier saß Bergliot in einem Sofa zusammengesunken. Knut kehrte trällernd zurück. Er begann die Tische und Stühle wieder an ihren Platz zu stellen, wobei er unablässig seine Melodie trällerte.

Plötzlich blieb er vor ihr stehen. Sie saß da und weinte.

»Bergliot, bist du krank?«

Sie antwortete nicht. Sie weinte leise, die Hände vor dem Gesicht.

»Wir müssen wohl zum Arzt schicken!« sagte er höhnisch.

Da erhob sie den Kopf und sah ihn mit ihren verweinten Augen an.

»Ich bin unglücklich, Knut!« sagte sie.

»So? Du bist unglücklich! Ja, da weiß ich wirklich nicht, zu wem wir schicken sollen. Das mußt du selber bestimmen.«

»Ich wollte zu dir schicken, Knut!«

Er lachte höhnisch.

»Also das wolltest du? Wirklich? Nach mir wolltest du schicken? Das ist ja etwas ganz Neues!«

»Ach, Knut – –!«

»Aber leider bin ich wohl kein Glücksdoktor für dich, Bergliot. Das ist lange her. Ich habe meine alten Kunststücke schon lange vergessen. Ach, nein! Du mußt dir einen besseren suchen, mit neueren Künsten. Meine reichen nicht aus! Ich verstehe mich so ganz und gar nicht auf dergleichen, Bergliot! Auf diese feineren Herzenskrankheiten. Ich habe ja nie einen so feinen Verkehr gehabt, – so mit Versen und Wehmut. Ich bin nur ein ganz einfacher Mensch. Bin es immer gewesen. – Ach, es war gewiß sehr verkehrt, daß Thomas sich heute Morgen so plötzlich empfahl, wenn er da ist, pflegst du ja nicht herzenskrank zu sein.«

»Knut!« rief sie und stellte sich aufrecht vor ihn hin, – kein Wort weiter!«

»Aber liebste –«

»Knut! Knut! Du mußt mir helfen!«

Er trat einen Schritt zurück. Er maß sie mit den Augen. Er war kreidebleich.

»Dir helfen? Wobei?«

»Ich bin verzweifelt, unglücklich, voller Angst! Ich fühle den Boden nicht mehr unter den Füßen, – alles dreht sich vor meinen Blicken. Ich bin im Zweifel an mir selber, an dir, an allem, allem! Ach, Knut, Knut! Ich bin in der größten Seelennot.«

»Nach deinem Zusammensein mit Thomas heute Morgen?«

Sie senkte den Kopf.

»Ja, Knut!« flüsterte sie.

Er wurde noch einen Schatten bleicher.

»Gut, daß du es nur gesagt hast, Bergliot. Und nun magst du wissen, daß diese Seelennot mich nicht interessiert. Sie geht mich nichts an. Das mußt du mit dir und – mit ihm abmachen. Wenn du in dieser Sache auf meine Hilfe rechnest, so befindest du dich im Irrtum. Ich kann dir nicht helfen.«

Er ging einen Schritt vor und sagte gedämpft, eiskalt:

»Und wenn ich es auch könnte, so würde ich es doch nicht thun!«

Er ging ruhig die Treppe hinauf und schloß die Thür oben hinter sich.

Bergliot stand eine Weile regungslos da. Dann fing sie an, im Zimmer auf und nieder zu gehen. Und so fuhr sie fort, Stunde um Stunde zu gehen. Als sie sich endlich gegen Morgen aufraffte und nach oben ging, war sie so müde, wie sie sich noch nie im Leben gefühlt hatte.


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