Bernt Lie
In Knut Arnebergs Haus
Bernt Lie

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III.

Den Bogstad-Weg entlang ging der Gerichtsrat Thomas Hageman mit schnellen Schritten durch den Sonntagsverkehr hindurch. Die Beinkleider hatte er hoch in die Höhe gestreift, wegen des Landstraßenstaubes, der schon weiß auf seinen Lackstiefeln lag.

Wie gewöhnlich äußerst elegant in bis an die Kniee reichendem Bratenrock, weißer Weste, hellgrauen Beinkleidern und in der Sonne blitzendem, blankem Zylinderhut. Trotz der Wärme hatte er die perlgrauen Handschuhe fest zugeknöpft und den Paletot überm Arm.

Er schwang im Gehen den Stock energisch, sah gerade vor sich hin, durch die halbgeschlossenen Augen mißmutig die Menschenmenge zu Fuß und zu Wagen und den wirbelnden Staub wahrnehmend. Plötzlich grüßte ihn jemand. Er blickte auf, schloß die Augen noch ein klein wenig mehr, als sei ihm die Störung unangenehm, und grüßte wieder, höflich, aber ohne eine Miene zu verziehen. Sein Gesicht war scharf und bartlos, er trug einen Kneifer ohne Schnur, der wie festgewachsen auf der Nasenwurzel saß.

Die Leute in den Wagen drehten sich nach Thomas Hagemann um.

Die meisten wußten ja wenigstens, wer er war, und daß er jetzt durch Staub und Menschengedränge nach seiner Sonntagsgesellschaft in einer der Villen da draußen eilte, wo so viele aus seinem Bekanntenkreise wohnten, wo verzierte Dachfirste und Flaggenstangen durch das Tannen- oder Laubgehölz schimmerten, die Wohnstätten von Malern, Schriftstellern, Rechtsanwälten, – frei und fröhlich lebenden Leuten –

Gleich allen den übrigen Menschen folgte er der Landstraße, bis sie nach rechts in den alten, halbvergessenen Weg im Tannenwäldchen am Fuße des Bergabhanges einbog. Wagengerassel, Reden und Lachen blieben bald hinter ihm zurück und er befand sich allein auf dem grasbewachsenen ländlichen Pfad.

Er mäßigte seine Schritte und atmete tief auf. Dann blieb er stehen, nahm den Hut ab, trocknete sich die Stirn und putzte seinen Kneifer, während er die kurzsichtigen Augen zusammenkniff; schließlich klemmte er ihn wieder in die tiefen Falten der Nase und sah mit weit aufgerissenen Augen um sich, – in die Baumwipfel hinauf und zwischen den Stämmen hindurch über Wiesen und Acker, Wälder und Häuser, bis an den Fjord, der weit hinten in der Nachmittagssonne glitzerte, voll von weißen Segeln und Sonntagsdampfern.

Dann schlenderte er langsam weiter. Er sah nach seiner Uhr, halb fünf. Nun, da hatte er ja reichlich Zeit. Vor einer Stunde konnte er sich wohl kaum bei Arnebergs einfinden. Die anderen kamen wohl nicht vor halb sieben – sieben Uhr!

Im übrigen eine ganz ausgezeichnete Idee, dieser Spaziergang vorher. Da konnte er sich alles überlegen.

Es unterlag keinem Zweifel: er mußte sich beruhigen. Sich Klarheit, Überblick verschaffen. Den ganzen Tag war er in Aufregung gewesen, – und jetzt war er gegen alle Sitte und Gewohnheit von Tante Jeannettes Mittagstisch weggelaufen, geradezu rücksichtslos gegen die alte Dame, – aus lauter Nervosität fort zu kommen, – zu ihr hin. Zu Bergliot – –

Hm, ja! Sie hatte sich also ihre Schwester kommen lassen!

Und darüber war sie so entzückt, daß – daß es ihm peinlich war, ihn ärgerte, ihn geradezu verletzte! Da war wieder dies Aufflackern gewesen, diese unbestimmte Ahnung eines Verdachts, daß doch irgend etwas an ihr unfein war! Als er ihr gestern abend in der Stadt begegnet war, und sie eine so strahlende Eile – eine so herausfordernde, übermütige Eile gehabt hatte!

»Meine Schwester ist gekommen!« Sie rief es ihm vom Wagen aus zu und fuhr weiter.

Es war ihm nicht sofort klar geworden. Eigentlich erst heute morgen, als er erwachte.

Seither hatte es ihm fortwährend in den Ohren geklungen. Die Stimme, der Gesichtsausdruck!

Prahlerisch, als schwinge sie eine neue, blanke Waffe gegen ihn: »Meine Schwester ist gekommen!«

Es lag etwas Schamloses darin. In diesem plötzlichen, unbeherrschten Zugeständnis, daß ein Kampf zwischen ihnen entbrannt sei.

Und dann war da auch noch etwas, was an das erste Mal erinnerte, als sie sich nach ihrer und Knuts Heimkehr begegnet waren. An jenem Tage, als er den Kampf begonnen hatte. Dieser irritierende, ein wenig grobkörnige Übermut, der ihn damals selbstzufrieden, freundlich bekümmert, – beinahe herablassend angelächelt hatte.

»Aber weshalb bist du denn nicht glücklicher, Thomas?«

»Ach, bist denn du etwa so glücklich Bergliot?«

»Ja, Thomas, ich bin glücklich! Ich sage das weder leichtsinnig noch oberflächlich. Ich weiß noch alles und denke noch an alles, worüber wir in alten Zeiten gesprochen haben; alle unsere Zweifel, all unser Sehnen; und ich bin in meinem Innern ganz unverändert. Wenn mein Glück auch nicht genau so beschaffen ist, wie ich es mir damals vorgestellt habe, – so bin ich doch jetzt nach allen diesen Jahren vollkommen glücklich. Mit meinem ganzen unveränderten Wesen bin ich es. Und ich bin mir dessen jeden Tag bewußt und freue mich jede Stunde darüber!« – – –

Diese Worte hatten einen Haß in ihm entzündet, einen glühenden Haß gegen dies ihr »Glück«. Obwohl er es mit seinem ganzen Bewußtsein und seiner besseren Einsicht verachtete. Er verachtete diesen weiblichen Zug auch in ihrer seltenen und vornehmen Natur, – dies Ablassen von den ursprünglichen Forderungen, dies Fürliebnehmen!

Daß sie sich in Knut Arneberg verliebt hatte und daß sie sich mit ihm verheiratete, – bien, so etwas muß man ja wohl den Naturkräften zur Last legen. Aber fünf Jahre später zu kommen und ihm – ihm, Thomas Hageman, dem vertrauten Mitwisser ihrer Seele, – zu erzählen, daß sie glücklich sei! Daß diese Ehe ihr Sehnen erfüllt habe – – ihr Sehnen – –

Die Erinnerung überkam Thomas Hageman mit einer solchen Gewalt, daß er, ohne es zu wissen, plötzlich den Weg entlang raste. Genau so, wie er es in jener Nacht gethan hatte, als er nach Hause ging, während ihre Worte ihm noch frisch in den Ohren klangen; als er sich selber geschworen hatte, daß er Bergliot die Augen über dies »Glück« öffnen wolle, ehe das Jahr um sei, daß dieser Übermut geknickt werden solle! Und dies Sehnen, dieser tiefe, schöne Zug in ihrem Wesen sollte in ihrer Seele wieder auf den Thron gesetzt werden. Diese wunderbare, gedämpfte und vornehme Melancholie, die er geliebt hatte.

Bergliot Finne sollte vor dem »Glück« der Bürgerlichkeit bewahrt bleiben. So sicher wie er, Thomas Hageman, sie seiner Zeit vor dem Unglück der Bürgerlichkeit bewahrt hatte, indem er nichts von ihr forderte – für sich selber!

Er blieb stehen und sah um sich.

Ja, der Kampf begann. Er konnte schon triumphierend lächeln: Es lag wohl schon jetzt keine so unumstößliche Sicherheit mehr in ihrem Glück.

Aber sie sollte ganz klein werden. Ganz tief gedemütigt werden. Und es fehlte noch ein gutes Teil, ehe sie zur Erkenntnis gelangt war.

Ein fünfjähriges enges Zusammenleben überspinnt den Blick wohl mit allerlei Schleiern. Und noch immer, Tag aus, Tag ein ging Knut an ihrer Seite als lebendige Verkörperung – dieses Zusammenlebens mit seinen Rücksichten, seiner Dankbarkeit, seinen Annehmlichkeiten, seinen Anforderungen an das »Gewissen«. Mit anderen Worten: die personifizierte Bürgerlichkeit. Der erbarmungslose Todfeind einer vornehmen Seele und ihres Wachstums in Freiheit und Stolz – – –

Er war noch weit ab vom Ziel, bis er sie auf seiner Seite hatte, dem Feinde abgerungen. Bis sie die Seine war und nicht mehr – der Bürgerlichkeit angehörte.

Er dachte an Knut Arneberg. Dem würde sie ja doch nach wie vor gehören – so weit er sie überhaupt jemals besessen hatte. Dieser handgreifliche, ahnungslose Knut!

Und ihre Treue? Die eheliche Treue!

Thomas Hageman lächelte spöttisch:

Die eheliche Treue! Ein altes, ehrliches Wort, gut für den gewöhnlichen Mann, – so wie z.B. die Religion.

Sein Lächeln wurde ganz heiter. Die eheliche Treue! Ja darin war er kompetent.

Er setzte seine Wanderung fort.

Aber es unterlag keinem Zweifel, daß sich gestern abend etwas Bedeutungsvolles zugetragen hatte. Der Kampf hatte den Charakter verändert. Jetzt war es ein offener, bewußter und erklärter Krieg. Und das beunruhigte ihn. Es war ein verteufelter Unterschied dazwischen und dem geheimen, ruhigen, langsamen Unterminieren, worin er Herr und Meister war. Dies war etwas ganz Neues.

Verteufelt unbequem im Grunde, Denn es war viel zu früh. So weit war Bergliot noch nicht gekommen. Und ihm selber gefiel diese Art des Kampfes gar nicht. Er war zu grobkörnig. Er schmeckte nach einem ganz einfachen gewöhnlichen Verführungsversuch!

Und dann diese Schwester! Karen Ragnhild! Ebenfalls verteufelt unbequem. Vom praktischen Standpunkt aus. Sie würde natürlich nicht von ihrer Seite weichen.

»Meine Schwester ist gekommen!«

Ja. Genau so wie eine neue Waffe –


Er blieb stehen und sah mit halbgeschlossenen Augen den Weg entlang. Da hinten stand jemand und winkte!

Ach! das war ja Lotte Falck! Mit irgend einem Herrn natürlich. – –

Er näherte sich langsam und ohne im geringsten das eifrige Winken und Rufen der Dame zu beantworten.

Erst als er ganz nahe an das Paar herangekommen war, grüßte er.

Sie stand am Grabenrande, ihr Ritter befand sich unten in dem trockenen Graben. Es war ein junger Mann mit einem rundlichen, lächerlich kindlichen Kopf, einer goldenen Brille, dünnem, hellblondem Schnurrbart, schiefen Schultern und einem ungelenken, langen Körper. Seine Kleidung war übertrieben elegant; in dem moosgrünen Shlips funkelte eine vielfarbige Brillantnadel. In der einen Hand trug er einen riesigen Feldblumenstrauß, in der anderen hielt er den Hut, während er sich verneigend grüßte, indem er die eine hohe Schulter bis ans Ohr hinaufschob.

Frau Falck ließ den roten, seidenen Shawl, mit dem sie gewinkt hatte, herabsinken und sagte ärgerlich:

»Es verlohnt sich wirklich, dir Ovationen zu bereiten! Willst du etwa zum Begräbnis?«

Thomas Hageman war ein paar Schritte vor ihr stehen geblieben. Schweigend sah er bald den Herrn, bald die Dame an, schüttelte endlich den Kopf und sagte mit einem tieftraurigen Blick auf die schöne Frau:

»Lotte!«

»Ach was! Geh' du nur weiter!«

»Lotte, Lotte! Sind die Zeiten so schlecht für dich?« Er zeigte mit dem Stock auf den Herrn im Graben, – der noch mit dem Hut in der Hand dastand und die Schulter in die Höhe zog.

»Das war ein schmerzlicher Anblick!«

»Ich versichere Sie, Herr Gerichtsrat,« begann der Herr im Graben langsam, als spreche er von einem Katheder herab, – »die augenblickliche Konstellation steht in keinerlei Beziehung zu Frau Falck. Sie ist ganz zufällig. Ich spiele keine positive Rolle. Ich existiere hier nur als Blumenvase.«

Er hielt den Strauß in die Höhe.

»Lassen Sie sich nicht von Ihrem Schmerz überwältigen, Herr Rat. Ich bin absolut zufällig und interimistisch.«

»Danke, Herr Stipendiat! Darf ich Ihnen dann die Hand drücken?«

»Ach, geben Sie doch acht auf meine Blumen, Mensch!« rief Frau Falck, als der Stipendiat mit unglaublicher Ungeschicklichkeit, bemüht die eine Hand zu befreien, den Hut in gar zu kräftige Berührung mit dem Strauß brachte.

»Sie können den Hut jetzt gern wieder aufsetzen!« ermahnte sie, während sie sich an Hageman wandte:

»Herr Langberg und ich sind überein gekommen, da wir uns nun doch einmal hier auf dem Wege begegneten, daß er Blumen für mich pflücken und mich einige botanische Schlagwörter lehren solle. Dagegen wollte ich ihn in der feineren Courtoisie unterweisen.«

Stipendiat Langberg war dem Graben entstiegen, und alle drei setzten sich in Bewegung.

»Es ist nämlich eine junge Dame bei Arnebergs angekommen, Herr Rat – –«

»Bergliots Schwester, ja –«

»Freilich, Sie wissen es natürlich schon lange, Ich erfuhr es eben ganz plötzlich von Frau Falck. Und Sie begreifen, – diese junge Dame, – sie ist ja neu in unserm Kreise – da ist doch vielleicht Hoffnung, wissen Sie – –«

»Mit anderen Worten, – Langberg ist schon im voraus verliebt.«

»Und Sie könnten nur am Ende ein klein wenig beistehen, Herr Rat, – unserer alten Bekanntschaft wegen wie auch aus Barmherzigkeit!«

»Mit Freuden, Herr Docent. Aber wie meinten Sie denn?«

»Zum Beispiel, indem Sie mit Ihrer Autorität der jungen Dame ein vorteilhaftes und beruhigendes Wort über meine Person zuflüsterten! Etwa daß man den Hund nicht nach den Haaren beurteilen darf, oder dergleichen!«

»Die Haare sind übrigens heute äußerst fein, Langberg!«

»Ja, nicht wahr! Das muß man doch zugeben! Dieser Shlips zum Beispiel und die Handschuhe! Ausgesuchte Farbe, – wie?«

»Die Handschuhe müssen Sie aufgeben, Herr Langberg!« erklärte Frau Falck. – »Das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Neue Handschuhfinger sieht man des Sonntags nur auf der Karl Johanstraße aus der Tasche gucken.«

»Und doch hatte ich meine ganze Hoffnung auf diese Handschuhe gesetzt! A propos, Herr Rat, haben Sie sich vorgestern an der Stipendienvorlage beteiligt?«

»Ja, natürlich, was ist es damit?«

»Es ist ein Blödsinn!«

»Das wäre des Teufels!«

»Ja, des Teufels ist es auch! Da geben Sie dem alten Landstraßen-Klepper Henriksen fünfzehnhundert Kronen – und dem jungen Börge geben Sie nichts.«

»Ach, – nichts weiter?«

»Nichts weiter? Nichts weiter! Wozu haben Sie einen Sitz im Stipendien-Komitee? Nichts weiter? Es ist ein Schimpf und Schande! Ein pecorale

»Pecorale? Was ist denn das?« fragte Frau Falck.

»Ein Blödsinn, gnädige Frau. Ein blühender Blödsinn. Da kommt dieser junge Mensch mit seinen Gedichten und einem Band Novellen – einer Siegesfanfare, gnädige Frau, eine Zukunftsverheißung, endlich einmal eine Hoffnung, – überzeugend für jeden, der auch nur eine Ahnung von Dichtkunst hat – – –«

»Was sagten Sie, Herr Stipendiat?«

»Ich sagte Ahnung, Herr Rat! Eine Ahnung, sagte ich!«

Wenn der Stipendiat Langberg sich ereiferte riß er die Brille ab und funkelte mit seinen großen, dunkelgrauen Augen.

Frau Falck nahm seine Partei. Sie hatte Börges Gedichte gelesen, liebte sie geradezu! Hageman aber nahm die Sache mit überlegener Ruhe.

»Hat der gelehrte Herr Historiker nicht entdeckt, daß diese Dichtungen Börges altmodisches Gepräge haben? Allerlei ehrwürdige Vorbilder?«

»Das ist ja gerade das Überlegene bei dem Menschen. Denn in Bezug auf den Stoff ist er originell genug. Modern – so modern, daß man plötzlich dasitzt und merkt, daß man alt wird! daß man um Himmels willen aufpassen muß! Aber die Herren im Komitee sind nicht originell genug, um das einzusehen. Die Herren passen nämlich nicht auf! Sie waren vor zehn Jahren modern, die Herren. Und diese Modernität, die wird nie altmodisch! Ein Schimpf und eine Schande, also: Mangel an Kultur. Ach Gott, was ist das für ein Land, in dem wir leben!«

»Ach, Lotte, du, denk dir etwas aus, womit du ihm den Mund stopfen kannst! Du weißt wenn Langberg erst mit dem Land anfängt, 'n dem wir leben –«

»Langberg ist brillant! Aber wieviel ist denn eigentlich die Uhr? Ich sehe das Dach des Hauses.«

»Es ist sechs!«

»Dann können wir ganz gut kommen!«

»Aber sagen Sie mir doch, Herr Rat, – wie ist sie eigentlich, diese neue Dame?«

»Fräulein Finne? Davon habe ich wirklich keine Ahnung, mein Lieber.«

»Ich dachte, – die kennten Sie aus der Zeit, als Sie Assessor bei ihrem Vater waren –«

Damals war die Dame sechs Jahre alt. Ein höchst ordinäres, unangenehmes Kind. Entsinne mich ihrer ganz und gar nicht mehr. Nichts als ein paar Augen – aus denen wahrscheinlich nichts geworden sein wird.«

Frau Falck brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Das Kind hat dir einmal einen Streich gespielt, Thomas!«

»Nicht im geringsten!«

»Du hassest sie ja geradezu. Nimm du dich nur in acht!«

Thomas Hageman mußte lachen.

»Und ich – ich liebe sie!« seufzte Langberg.

»Das, was du sagst, ist übrigens gar nicht so ganz ohne. Dies Mädchen ärgert mich. Alle neuen Menschen ärgern mich!« Hageman schwang den Stock durch die Luft und schloß die Augen halb.

»Ach, Gott, diese Überlegenheit!« murmelte Langberg.

»Wir befanden uns so wohl, so wie es jetzt war! Wie, Lotte?«

»Du bist sonderbar, Thomas: Ein einfaches kleines Mädchen, – und Bergliots leibliche Schwester!«

»Der Apfel fällt dicht neben die Birne, Herr Rat!«

»Ich ziehe den Apfel vor – ohne etwas in der Nähe, Herr Stipendiat. Übrigens müssen Sie sich ihren Hemdsknopf zumachen!«

»Ah! Gott sei Lob und Dank!«

Sie hatten die Pforte erreicht, die zu Knut Arnebergs Haus führte.

Die Einfahrt führte durch den Garten, der sich groß und ziemlich verfallen mit Obstbäumen und Beeten den Hügel hinabzog. Oben auf dem Abhang lag das Haus mit dem Tannenwald dahinter. Ein kleiner Hain aus jungen Bäumen drängte sich keilförmig in den Hofplatz hinein.

Es war ein altes, zweistöckiges herrschaftliches Haus, nicht übermäßig groß, weiß getüncht, mit grünen Fensterrahmen, die wie tiefe Augen aus der auf altmodische Weise quer um das Gebäude laufenden Panelung hervorsahen. Knut Arneberg hatte Haus und Garten aus einer Nachlassenschaft gekauft, die dazu gehörigen Äcker waren von den beiden benachbarten Grundbesitzern zu jeder Seite angekauft.

Das Haus mit dem eingeknickten, hohen Dach wurde im Stil verunziert durch einen Ausbau mit breiten Fenstern und einem Glasdach an der einen Querwand.

Das war das neu erbaute Atelier, das heute eingeweiht werden sollte.

Auf dem freien Platz vor der Front des Hauses unter der mächtigen Flaggenstange, der Auffahrt gerade gegenüber, stand Knut Arneberg, mit dem Aufziehen einer riesigen Flagge beschäftigt, wobei ihm eine junge Dame in hellblauem Kleide behilflich war.

Endlich hebt sich die Flagge langsam. Die Leine wird befestigt und beide standen hintenüber gelehnt und sahen zu der Flagge hinauf, die bei der völligen Windstille schlaff und in schweren Falten niederhing.

»Hurra!« rief Lotte Falck; sie war den beiden Herren vorangeeilt.

»Hurra! Hurra!« stimmte Langberg mit seiner unmöglichen Stimme, die nicht rufen konnte, ein.

»Nein, seht doch nur!« Knut Arneberg schwang den Hut und ging ihnen entgegen.

Er war groß und schwergebaut, eine Hünengestalt mit dem großen, blonden, zurückgestrichenen Vollbart, der Kinn, Mund und Nase frei ließ. Die Augen und die offene, breite Stirn leuchteten von Freimut und klarer, fröhlicher Kraft.

Knut Arneberg war dreiunddreißig Jahre alt. Aber die Spuren eines harten Kampfes, durch den er sich seinen Platz in der Welt erobert hatte, ließen ihn älter erscheinen. Jedoch keineswegs alt. Nur so, daß man, wenn man zum erstenmal sein Alter hörte, stutzte und nachdachte, ehe man es wahrscheinlich fand.

Frau Falcks kleine behandschuhte Hand verschwand ganz in seiner großen, weißen, wohlgebildeten Faust.

»Guten Tag, Lottchen! Guten Tag, Langberg! Willkommen bei uns. Guten Tag! Guten Tag, Thomas«

Es lag eine eigene Ruhe über seinem ganzen Wesen und in seiner Stimme. Er lächelte warm und reichte jedem die Hand. Aber wie jemand, der etwas älter war. Was in Wirklichkeit nicht der Fall war.

Karen Ragnhild kam in ihrem hellblauen Kleide herbei und wurde vorgestellt.

»Ach, ich entsinne mich Ihrer noch so gut!« sagte sie strahlend zu Thomas Hageman, ohne seine ziemlich scharfe Musterung mit halbgeschlossenen Augen zu beachten. – »Sie haben sich gar nicht verändert!«

– »Zehn – zwölf Jahre älter, Fräulein Finne!«

»Ich finde, Sie sahen damals genau so alt aus!«

»Ich danke!« sagte Hageman nicht sehr freundlich und ging Knut und Frau Falck nach.

Karen Ragnhild stand ganz überrascht da, dann begegnete sie Langbergs Blick, – hinter den Brillengläsern vor Vergnügen zwinkernd. Und da brach sie in ein herzhaftes Gelächter aus, teils über ihre eigene unpassende Bemerkung, teils über die sonderbare Gestalt vor ihr; er stand nach der Vorstellung noch immer mit dem Hut in der Hand und mit in die Höhe gezogenen Schultern da.

Karen Ragnhild lachte immer lauter. Der Stipendiat fuhr fort mit den Augen zu zwinkern, ohne seine Stellung zu verändern.

»Ja!« sagte er endlich, – »hat man jemals ein lächerlicheres Geschöpf auf Gottes Erdboden gesehen! Und so habe ich mein ganzes Leben lang ausgesehen. Ohne Spur von Veränderung!

Karen Ragnhild lachte ausgelassen.

»Auf dem Lande sieht man sicher dergleichen nicht!«

Karen Ragnhild hielt inne, lächelte unsicher.

»Ich bin nämlich ein Kulturprodukt, will ich Ihnen sagen, mein Fräulein.«

Jetzt wurde Karen Ragnhild dunkelrot, sie begriff seine Worte plötzlich und entgegnete heftig, indem sie ihn mit ihren allerschwärzesten Augen ansah:

»Sie irren sehr, Herr Stipendiat. Ich habe nicht über sie gelacht.«

Langbergs Erstaunen war so komisch unverhohlen, daß sie von neuem lächeln mußte. Aber sie fuhr in demselben Ton fort:

»Ich lachte natürlich über meine eigene Dummheit – Herrn Hageman gegenüber. Die war sicher kein Kulturprodukt!«

»Sie haben gewiß recht, Fräulein Finne,« sagte Langberg und setzte langsam seinen Hut auf, indem sein Ausdruck der Verwunderung in eine liebenswürdige Heiterkeit überging. »Ich erging mich wohl eigentlich in einem etwas unverschämten Spott.«

»Ja, das thaten Sie!« sagte sie ärgerlich.

»Wollen Sie den haben?« Er reichte ihr den Strauß.

Welch ein sonderbarer Mann! Sie wußte wirklich nicht, was sie glauben sollte! Der Tonfall eben, das Aufblitzen der Augen, – es war, als wollten sie sagen: »Und damit sind wir gute Freunde!« Ein wenig ins Väterliche hinein. Und dabei doch so unendlich komisch!

Sie nahm den Strauß mit leichtem Erröten.

»Ja! Vielen Dank!«

»Ist er nicht ganz hübsch?«

»Ja, – und Sie sehr gütig, daß Sie ihn mir schenken wollen!« sagte sie mit etwas unsicherer Wärme.

»Aber Sie sollten Frau Falck den Strauß lieber nicht sehen lassen. Sie hat die ganze Zeit hindurch gehofft, daß ich ihn für sie bestimmt hätte!«

»Langberg! Langberg!« rief Frau Falck von der Flaggenstange her.

»Ja, gnädige Frau!«

»Geben Sie mir meine Blumen! Ich will sie Bergliot bringen.«

»Liebe Frau Falck – was – welche – was meinen Sie – – ?« Der Stipendiat sprang ungeschickt auf seinen langen Beinen und scheinbar sehr bestürzt zu ihr hin.

»Wo haben Sie die Blumen gelassen, die Sie für mich getragen haben?«

»Liebe gnädige Frau, – Sie – ich –«

Das Gelächter der anderen hinderte ihn, auszusprechen. Karen Ragnhild, die mit den Blumen in der Hand hinter ihm drein gekommen war, reichte sie Frau Falck unsicher und tief errötend. Diese lachte nur noch mehr und machte eine abwehrende Bewegung.

»Ja, Sie sind eine prächtige Blumenvase!« rief Hageman.

Langberg aber stellte sich vor Frau Falck auf und sagte traurig vorwurfsvoll:

»Sie hatten mir Ihren Beistand versprochen!«

»Das habe ich ja auch gethan!« sagte Hageman, – »und deswegen bezeuge ich unter eidlicher Versicherung, daß Stipendiat Langberg die Blumen für Fräulein Finne gepflückt hat.«

Langberg wandte sich mit einem verzweifelten Blick nach Karen Ragnhild um, die lachte, obwohl sie noch nicht recht orientiert war – –

Sie waren viel zu früh gekommen; die Vorbereitungen waren noch lange nicht beendet, und so wurden denn alle drei angestellt, mit zuzugreifen.

Vor der Front des Hauses hinter der Flaggenstange sollte der Tisch gedeckt werden. Aus dem Holzschuppen mußten Böcke herbeigeschleppt und Tischplatten darüber gelegt werden. Dann wurden Stühle geholt, und als die Tischtücher aufgelegt waren, schmückte man die Tafel mit Karen Ragnhilds Laubkränzen und Blumensträußen.

Frau Bergliot ließ aus der Küche sagen, daß sie sich noch um keinen Preis sehen lassen könne!

Die Arbeit war in vollem Gange. Knut und Hageman trugen Stühle herbei, und Langberg übernahm die Dekoration der Tafel, – zum großen Amüsement für Karen Ragnhild und Frau Falck und zur Verzweiflung von ein paar Lohndienern, deren Arrangements gänzlich auf den Kopf gestellt wurden.

»Da kommt jemand!« rief Karen Ragnhild; sie stand auf einem Stuhl, im Begriff, das eine Ende eines langen Kranzes an die Flaggenstange zu befestigen. Sie war ganz vertraut geworden mit der sonderbaren Redeweise des Stipendiaten und ganz bezaubert von der heiteren Frau Falck und amüsierte sich vortrefflich.

»Sehen Sie, bitte, einmal auf die Landstraße hinab: Wer ist denn das?«

»Ach, – das sind Norgreens, Advokat Norgreen mit voller Musik!«

»Was soll das heißen?«

»Sehen Sie nicht die eine Dame, die mit den roten Mohnblumen! Das ist Frau Norgreens Schwester, Fräulein Eriksen. Sie nennt sich Pianistin; hochfeine Kunst also, direkt von Holländer abgeliefert, polemisiert gegen Reiff, verachtet Leschetitsky, haßt Wagner und Schumann, liebt nur Bach und Svend Spangereid!«

»Spangereid?«

»Ja, der kommt heute abend auch!«

»Was für ein Einfaltspinsel Sie doch im Grunde sind, Langberg!« sagte Frau Falck.

Norgreens kamen und wurden unter die Arbeiter verteilt. Er selber, ein dünner, langer Bursche, erklärte augenblicklich alles, was gethan war, für Wahnsinn.

»Und dann die Sonne! In einer Stunde brennt sie mitten auf den Tisch herab, – schmilzt Butter und –«

»Wir bekommen gar keine Butter,« sagte Frau Falck.

»Der Tisch hätte doch selbstredend auf der Ostseite stehen müssen!«

»Geh du jetzt hin und hole Stühle, Lorenz,« kommandierte Frau Norgreen, dick und gemütlich, während sie Karen Ragnhilds Hand schüttelte.

Fräulein Amalie Eriksen blieb unthätig mit ihren roten Mohnblumen stehen, Frau Norgreen aber ging trotz des Verbots in die Küche zu Bergliot.

»Aber Fanny, das darfst du nicht! So hör' doch!« rief Frau Falck.

»Ja. Ich darf. Als ob ich ihr nicht das Rezept zu – nun, das ist ja einerlei – geliehen hätte! Aber ich habe ihr versprochen, ihr dabei zu helfen.«

Nach einer Weile fuhren zwei Landauer die Straße hinan, beide überfüllt mit Herren und Damen, die letzteren in hellen Toiletten. Alle grüßten und winkten mit weißen Taschentüchern, schwarzen Hüten und bunten Sonnenschirmen.

Von den Kutscherböcken und durch die Wagenthüren wimmelten sie herab. Knut stand mitten im Schwarm und grüßte. Und Karen Ragnhild wurde »in Freiheit vorgeführt«, wie Langberg sagte, – um vorgestellt zu werden.

»Das ist eine ganze Arbeit!« sagte Knut. Also: hiermit stelle ich euch Fräulein Karen Ragnhild Finne vor, Bergliots leibliche Schwester und meine Schwägerin. Und dies hier ist Herman Abel, seines Zeichens Kunstkritiker – –«

»Ach ja, Gott bewahre!«

»Schweig, Langberg! – Seine schöne Frau Namens Engel und auch ein Engel von Charakter. Frau Engel Abel, verstehst du. Dies hier ist Architekt Dyring. Frau Dyring – –

»Auch ein Engel!«

»Ach, Sie – Langberg!«

»Weiter: Dr.. Bornemann, Lehrer im Lateinischen und Griechischen, zur Zeit also ohne Beschäftigung.

»Ach! –« wandte Langberg ein.

»Fräulein Harriet Magelsen – –«

»Bornemanns Beschäftigung.«

»Lotte! Binde Langberg den Mund zu, sonst werd' ich nie im Leben fertig! – Advokat Hedels, dessen menschenfreundliche Profession darin besteht, Leuten ohne Geld Häuser zu eigen zu verschaffen. Frau Hedels – –«

»Die ihren Radmantel nicht abnehmen darf!«

»Die es aber trotzdem thut, du abscheulicher Bursche!«

»Aber Bibbi! So ein junges, unerfahrenes Mädchen – –«

»Jetzt schweigst du, Severin Langberg!«

»Ja, er ist geradezu unanständig!«

»Ich? Aber Bibbi! Liebste, – ich – –!«

»Bildhauer und Töpfer Berg und – und Herr Dr. Prytz.«

Dieser letztere hatte sich in der Nähe des Wagens zurückgehalten und kam jetzt zum Vorschein, Herman Abel mit einem lächelnden Blick ansehend.

»Dr. Prytz, ja,« sagte Abel. »Ja, Knut, ich habe mir erlaubt, den Herrn Doktor einzuladen – – –«

»Es ist uns ein großes Vergnügen!«

»Die Sache ist nämlich die,« fuhr Abel fort, »daß dieser unverständige junge Mann sein Hab und Gut in einem Bilde von dir anlegen will. Er will absolut das venetianische Motiv haben.

Und da sagte ich ihm, es würde wohl das beste sein, wenn er seine Sonntagskleider anlegte, sich von Freunden und Verwandten verabschiedete, Tugend und Ansehen im Stich ließe – und mit zu Euch hinauskäme.«

»Der Sicherheit halber nahm ich das Geld gleich mit,« sagte Doktor Prytz mit einem etwas breiten lächeln.

»Danke, Herr Doktor,« sagte Knut. »Heute abend werden hier draußen keine Geschäfte abgeschlossen. Heute abend feiern wir ein Fest, und dazu sind Sie herzlich willkommen!«

Doktor Prytz Lächeln war anfangs ein wenig verlegen, wurde allmählich sicherer und zuletzt hochmütig. Er stand da, als wolle er links Kehrt machen und seiner Wege gehen. Aber alle die andern gingen auf das Haus zu, da blieb ihm denn nichts weiter übrig, als sich ihnen anzuschließen.

»Ein taktvoller Mensch, dieser Abel,« sagte Langberg zu Karen Ragnhild.

»Was für ein Doktor ist das eigentlich?«

»Doktor Prytz! Eine der geschätztesten »jüngeren Kräfte« der Stadt, die Hoffnung der Tugend und der Moral, ein Muttersöhnchen u.s.w., heute abend ein verirrtes Schaf unter den Wölfen. Sehen Sie nur Norgreen und Bornemann an, wie sie ihn wutschnaubend betrachten! Nun, seine Nerven werden heute abend nicht geschont werden!«

Die großen Flügelthüren über der steinernen Freitreppe in der Mitte des Hauses wurden von Frau Norgreen und Bergliot aufgeschlagen.

Das war gleichsam das Signal, daß das Fest eröffnet sei. Und alle strömten auf die Treppe hinaus, um die Frau des Hauses zu begrüßen, die in der Thüröffnung stehen blieb und mit einem etwas nervösen lächeln die Bewunderungsrufe in Empfang nahm.

Sie trug ein meergrünes seidenes Kleid im Empirestil. Hoch unter dem Busen wurde es von einem goldenen Band zusammengehalten. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel wellig über die Ohren. Das schmale Gesicht mit den großen, blauen Augen war von vornehmster Schönheit, ein wenig krankhaft bleich und nervös. Aber strahlend durchgeistigt.

Die Damen schrieen vor Begeisterung; Frau Hebels umarmte sie, Lotte Falck kniete vor ihr nieder, – – und die Herren riefen evviva!

Karen Ragnhild stand am Fuß der Treppe, Thränen des Stolzes und der Rührung füllten ihre Augen.

Bergliot selber entzog sich diesen Huldigungen so schnell wie möglich und strandete ganz hinten in der Gruppe in einer Unterhaltung mit Doktor Prytz, der ihr vorgestellt wurde. Doktor Prytz strengte sich mehr und mehr an. In ihrer liebenswürdigen, vollendet damenhaften Art des Seins lag etwas Gewisses – Geistabwesendes. Keine Spur von aufmerksamer Wirtin; im Gegenteil, sie stand da so unbekümmert wie nur irgend einer ihrer Gäste. Er hatte das deprimierende Gefühl, daß er ihr Interesse nicht zu fesseln vermöge. – –

Plötzlich ertönte ein Schuß aus dem Gehölz hinter dem Hause, gefolgt von einem langgezogenen, mehrstimmigen Hurra–a–a!

»Aber um Gottes willen –«

»Ach, – das ist die Bande!«

»Hurra–a–a!«

Um die Ecke bog ein aus drei Herren und zwei Damen bestehender Zug, sie gingen hintereinander her mit einer Entfernung von drei Schritten. An der Spitze schritt ein junger, brünetter Mann mit großem, hellgrauen Filzhut und einer Samtjacke. Er spielte den finnischen Reitermarsch auf einer Handharmonika. Ihm folgte eine Dame, die eine riesengroße Pappfahne trug, auf der mit großen Buchstaben geschrieben stand:

Es lebe Knut Arneberg und Bergliot!
Fester Besitz für die Arbeiter!
Nieder mit Herman Abel!
Hoch Peter Hedels!

Dann folgte ein großer Schmerbauch; auch er trug eine Fahne mit der Inschrift;

Acht Stunden Arbeitsnacht!
Hurra hoch die Flaschen!
Mädchen!
Knaben!

Die nächste war eine weißgekleidete Dame. Über jeder Schulter trug sie eine meterlange, seidene Fahne, eine norwegische und eine italienische.

Den Beschluß machte ein Herr, der eine noch größere Pappfahne als die der anderen trug, mit der blutroten Inschrift:

»Ich liebe Lotte Falck!«

Über dem einen Arm aber trugen sie alle gemeinsam einen mächtigen Mooskranz mit Waldblumen durchflochten. Fahnen und Flaggen wurden auf den Rasenplatz gepflanzt, man nahm den Kranz und schlang ihn unter lautem Jubel und Händeklatschen und Hurrarufen um Knut und Bergliot, die zur Begrüßung vorgetreten waren.

Die »Malerbande« hatte gemeinsam die Villa an dem Abhang gegenüber gemietet. Der Spielmann an der Spitze war der Dichter Nils Börge, der Schmerbauch mit den acht Stunden war der Maler Svend Spangereid, der Lotte Falck liebte, dann kam Hans Forberg, ebenfalls Maler, wie auch die beiden Damen, Frau Vendelboe und Fräulein Karen Kamstrup Malerinnen waren.

Unter allgemeiner Beteiligung wurde der große Kranz als Guirlande rings um den Tisch herumgelegt.

Endlich übertäubte Knut Arneberg allen Lärm, indem er in die Hände klatschte:

»Meine Herren, engagieren Sie die Damen und folgen Sie mir. Sonst schwindet die Beleuchtung im Atelier!«

Nach einer großen Verwirrung und allerlei Kämpfen ordneten sich die Paare. Nur Thomas Hageman und der spatzenähnliche kleine Bildhauer Bug führten keine Dame und bildeten den Beschluß des Zuges. Geduldig und schweigend hörte Hageman die Erklärungen des Bildhauers über die Entwicklung der Töpferei als Kunstindustrie mit an.

Gewaltige und schlecht verhehlte Empörung aber erregte Lotte Falck, indem sie alle ihre Kavaliere im Stich ließ und selber Doktor Prytz wählte!

Der Weg zum Atelier führte – mit Knut und Frau Hedels an der Spitze – zu aller Verwunderung zuerst in das zweite Stockwerk des Hauses, durch alle Zimmer und schließlich durch eine niedrige Tapetenthür im Schlafzimmer auf die Galerie hinaus, die an drei Wänden des Ateliers entlang lief, das sich von hier oben in wahrhaft imponierenden: Raumeindruck aufthat.

In breiter, ruhiger Fülle floß das Sonnenlicht durch die Glasscheiben der einen Wand und beschien überwiegend lichte Farben, einen weiten, freien Raum, klare, kräftige Anordnungen von Möbeln, Schirmen, Teppichen, Skizzen und Bildern, eine reiche Sammlung von Kunstwerken und Abgüssen antiker Skulptur.

»Du bist ja ganz Hellene in der Auffassung,« rief Abel von der Galerie herab, – »einfach und kühl, – licht und klar!«

»Wie wenig Schattenunterbrechungen!« sagte Hans Torberg sinnend.

»Verteufelt lebensfroh!« rief Svend Spangereid. »Hier kann man doch wenigstens sehen und atmen!«

Die ganze Gesellschaft kam die Treppe von der Galerie herab. Mitten an der einen schmalen Wand, auf dem Fußboden, stand ein lebensgroßes Bild von Bergliot in demselben meergrünen, seidenen Kleid, das sie heute abend trug, – wie die Inschrift besagte, das Geschenk eines französischen Malers. Die Gäste verteilten sich unter bewundernden Ausrufen im Atelier. Vor Bergliots Bild waren Abel und Bergliot Arm in Arm und hinter ihnen Knut und Thomas Hageman stehen geblieben.

»Delikat!« sagte Abel endlich und schnalzte mit der Zunge.

»Abscheulich!« rief Hageman plötzlich wütend aus.

»Es war ausgezeichnet,« entgegnete Knut ruhig und langsam, während er das Bild betrachtete. »Seit es aber hierher gekommen ist, hat es etwas verloren. Etwas feines in der Beleuchtung. Ich möchte sagen, der Schmetterlingsstaub ist von den Farben gewischt. Ich glaube, es liegt in der Luft. Es ist in einer Beleuchtung gemalt, wie wir sie hier nicht haben. Ein wunderschönes Bild! Wunderschön!

Bergliot, die schweigend dastand, hob ihre großen, dunklen Augen aufmerksam zu ihm empor. Er schien es nicht zu bemerken, wandte sich um und kehrte zu seiner Dame zurück:

»Nun, Bibbi, jetzt öffnen wir wohl die Thüren – zu unserer Mahlzeit!«

Thomas Hageman blieb allein vor dem Bilde stehen, Er hätte mit der Faust hineinschlagen mögen! Wie es ihn in ruhigem, strahlendem Glück anlächelte!

»Ordinär!« flüsterte er und wandte sich ab.

Die breite Thür nach dem Hofe hinaus war geöffnet, und die Prozession zog hinaus und begab sich an den Tisch, wo die Diener harrend standen. Bald hatten alle Platz genommen.

Die Sonne strahlte auf Silber und Glas, auf blanke Augen und bunte Toiletten herab, die Weine schossen goldige und dunkelrote Blitze zwischen Gemüseschüsseln und Fruchtaufsätzen, – und unter dem offnen Himmel ergingen sich alle Stimmen frei in Lachen, Rufen, und durcheinander schallenden Gesprächen. – – Der frohe Lärm wuchs und erreichte seinen jubelnden Höhepunkt, als die Champagnerkorke knallten und ein riesiger Rinderbraten auf den Tisch gesetzt wurde.

»So seht doch nur! Da haben wir ihn ja! Knuts Rinderbraten!«

»Der heimische Rinderbraten, du!«

»Nach dem war er an jenem Abend in Sorrent aus!«

»In allen seinen Briefen hat er mir davon geschrieben!«

»Ja,« sagte Bergliot lächelnd, »den wollte er heute abend absolut haben. Keine Menschenmacht hätte ihn davon abbringen können!«

»Natürlich! Das Recht des Mannes –«

Plötzlich trat tiefes Schweigen ein.

Knut stand am Ende des Tisches unter der Flaggenstange, das Glas in der Hand.

Er sprach einfach und gedämpft; mit einer eigenen, stillen Feierlichkeit, zuweilen von tiefer Bewegung unterbrochen:

»Dies ist ein großer Augenblick für mich, Ich kann meine Gefühle nicht beherrschen, ich muß es euch sagen und muß euch teil daran nehmen lassen, ihr meiner lieben Bergliot und meine Freude aus alten und neuen Zeiten!

Jetzt bin ich wieder daheim! Heute, wo das Haus fertig und mein ist. Wo meine Freunde darin versammelt sind.

So muß es sein, wenn man nach Hause kommt. So habe ich es erträumt während der fünf Jahre da draußen. Habe mich danach gesehnt in tiefem Heimweh. Jetzt habe ich es erreicht.

Und das Geheimnis bei der Sache ist, daß ich es eigentlich mein ganzes Leben lang in meinen lichtesten Träumen so erschaut und ersehnt habe. Die fünf Jahre im Ausland haben es mir nur noch klarer vor die Seele geführt: Hiernach habe ich mich mein ganzes Leben gesehnt, – mich heimgesehnt.

Wenn ich hier oben im Walde sitze und Tannen male, da ist es mir ein so wunderbares Bewußtsein, daß mir der Grund und Boden gehört, auf dem die Tanne wächst. Es ist meine Tanne.

Meine Kunst ist mein Eigentum geworden.

Es sitzen so kluge, feinfühlige Menschen hier am Tische, daß ich nicht mehr hierüber zu sagen brauche. Wir alle fühlen es, daß das, was ich hier gesagt habe, zu dem Größesten und Stärksten gehört, was ein Mann sagen kann.

Und ich bin durch viele Länder gereist und habe unter vielerlei Leuten gelebt. Bei klugen und feinen Menschen bin ich auch gewesen. Nirgends aber war ich so froh mit den Menschen, nirgends kann ich so froh sein, wie ich es hier heute abend bin, wo ich Sie bitten kann, ein Glas auf das zu leeren, was ich über alles auf der Welt liebe, – in dem Bewußtsein, daß ihr alle aus vollem Herzen die Gefühle teilt, denen ich hier Ausdruck verleihe:

»Auf Norwegens Wohl, lieben Freunde!«

Es folgte eine tiefe stille. Alle hatten sich erhoben. Knut leerte sein Glas. Die andern folgten seinem Beispiel. Ernsthaft, mit einem warmen Blick in den Augen umstanden sie den Tisch, Damen und Herren.

Nils Börge aber hatte schnell die Handharmonika geholt und zu deren Tönen sangen sie alle:

»Ja, wir lieben dies Land« – – –


Es war bereits spät am Abend, als sich Bergliot von ihrem Platz am Ende des Tisches erhob und mit ihrer etwas hellen Stimme meldete, daß der Kaffee im Atelier serviert sei.

Da drinnen waren die Vorhänge vor allen Fenstern herabgelassen und Lichter angezündet, – Flammen in römischen Ölkannen, Kerzen in Bronzeleuchtern standen an den Wänden und auf kleinen Tischen, in den Ecken und hinter Schirmen verteilt, paarweise und in Scharen fanden alle ihre Plätze. Einige schlenderten mit ihrer Cigarre oder Cigarette durch die weitgeöffnete Thüre auf den Hügel hinaus und in den Garten, wo sich jetzt die Dämmerung herabsenkte.

Bergliot ordnete alles bis auf die kleinste Kleinigkeit, aber mit einer geräuschlosen Ruhe, so daß niemand sie für beschäftigt hielt. Wohin sie kam, war sie frei und bereit, Antwort zu geben. Sie saß schließlich auf dem niedrigen Sofa unter einer venetianischen Laterne in der einen Ecke des Ateliers zusammen mit Frau Vendelboe, Norgreen, Dyring und Bibbi Hedels. Die Unterhaltung wurde lebhaft geführt. Sie selber sagte nicht viel; unwillkürlich aber wandten sich die anderen an sie. Und sie antwortete wie jemand, der aufmerksam zugehört hatte. Und doch lag etwas Geistesabwesendes über ihr.

Sie saß die ganze Zeit über da – wie sie das auch bei Tische gethan hatte – und sah mit einem gedämpften Schimmer in den Augen zu Karen Ragnhild hinüber. Ihr gerade gegenüber, um einen der kleinen Tische hatte sich ein Kreis um Karen Ragnhild gesammelt: Nils Börge, Svend Spangereid, Fräulein Amalie Eriksen, Langberg und Hans Torberg. Es ging dort laut her mit hellen Lachsalven, und Karen Ragnhild strahlte als unverkennbarer Mittelpunkt. Ihre klare Stimme ertönte in schlagenden Antworten und in lautem Lachen, das sich in das der anderen mischte.

Norgreen und Dyring gerieten in einen Streit, und Bergliot erhob sich unbemerkt vom Sofa. Sie ging durch das Zimmer und stellte sich hinter Karen Ragnhilds Stuhl. Sie geriet mitten in ein stürmisches Gelächter hinein. Und Karen Ragnhild rief:

»Ja, jetzt können Sie Bergliot ja fragen!«

»Ach nein,« entgegnete Hans Torberg, – – nach so etwas kann man verheiratete Frauen nicht fragen! Entweder haben sie es vergessen, oder auch sie mögen nicht daran erinnert werden!«

»Außerdem ist Frau Bergliot eine Ausnahme!« sagte Nils Börge.

»Da sehen Sie es! Sofort nehmen Sie Ihre Zuflucht zu Ausnahmen!«

»Die bestätigen die Regel!« sagte Torberg.

»Und es ist nun einmal Frau Bergliots Lebensaufgabe, Regeln zu bestätigen,« bemerkte Langberg.

Bergliot hatte die Arme über Karen Ragnhilds Schultern gelegt, lächelnd beugte sie sich vornüber, ohne zu fragen.

»Ja, das sind nette Lebensaufgaben, die Sie uns Frauen überlassen,« sagte Karen Ragnhild. »Überhaupt nette Ansichten, die hier entwickelt werden, Bergliot! Weißt du, was Herr Spangereid zum Beispiel eben gesagt hat – –«

»Ich protestiere feierlich, daß meine Worte wiederholt werden! Vorgestern habe ich Frau Bergliot gegenüber das ganz Entgegengesetzte behauptet! Was soll sie denn davon denken?«

»Was für Menschen das sind! Und obendrein wollen es Männer sein! Und sie nennen sich gar die Blüte Norwegens!«

»Das habe ich gesagt!« rief Börge, »aber im stillen schloß ich Langberg und Svend aus. Und Hans Torberg natürlich auch!«

Bergliot entfernte sich geräuschlos. Sie suchte ihren alten Platz wieder auf; die andern hatten ihn indes verlassen, und sie sah sich um. In einer halbdunklen Ecke saß Thomas Hageman ganz allein. Sie ging zu ihm hinüber, an Knut, Abel und Frau Norgreen vorbei, die mitten im Zimmer standen und sich über Teppichmuster unterhielten.

Thomas Hageman fuhr in die Höhe. Sie setzte sich neben ihn.

»Also hast du wirklich auch für mich einen Augenblick übrig, Bergliot?«

Sie schien ihn nicht zu hören, sondern sah zu dem Kreis an dem kleinen Tisch hinüber.

»Ist sie nicht entzückend?« fragte sie leise.

»Wer?«

»Die kleine Narni! Ach Thomas, Thomas! Wer doch auch so jung wäre! Oder wer es doch nur einmal im Leben gewesen wäre!«

»Wie alt ist deine Schwester?« fragte Hageman ziemlich kurz.

»Siebenzehn Jahre! Knut sagt immer, daß nichts in der Welt unwiederbringlich ist. Und er hat mich beinahe dahin gebracht, es zu glauben. Aber das kann nicht ungeschehen gemacht werden!«

»Was?«

»Es ist wie ein Vogelschwarm, der vorüberfliegt. Und man steht da und sieht ihm nach. Und hat selber keine Flügel.«

»Du bist ja aber so glücklich, Bergliot!« sagte er plötzlich mit verbissenem Hohn.

Sie errötete, und ein nervöser Zug huschte über ihr Gesicht. Dann wandte sie sich ruhig nach ihm um.

»Ich liebe sie, Thomas! Ich glaube, sie ist mein Glücksvogel, nach dem ich mich gesehnt habe. Sie kommt und macht mich sie alle lieben, – alle!« Sie machte eine Handbewegung nach der versammelten Gesellschaft. – »Sie gehört ja zu ihnen, – ist von ihrer Art! Sieh nur, wie sie unter ihnen sitzt! Und dann gehört sie gleichzeitig mir. Ist von meiner Art. Das fühle ich heute abend. Ich bin fröhlicher, stehe weniger außerhalb des Ganzen, bin nicht so verwundert. Es ist mir, als hörte ich die Stimmen näher, als seien sie mir verwandter. –«

»Und das, – das ist dir angenehm?«

»Es ist das Glück Thomas!«

»Sonderbar!« sagte er langsam. »Ich sitze gerade hier und denke, es soll das letzte Mal sein, daß ich mit meinen Freunden und – Freundinnen in Gesellschaft gehe. Wir kleiden einander nicht mehr, finde ich. Wir sind nicht mehr jung genug. Und die Jungen, die sind neu. Mit denen kann ich mich nicht unterhalten. Kaum daß ich es ertragen kann, sie anzuhören. Ich finde auch nicht, daß sie hübsch sind. Sie lärmen, und ich höre sie keine feinen Reden führen. Ich saß eben da und dachte daran, in aller Stille meiner Wege zu gehen. Durch den Wald zu gehen bis es dort still würde, und ich allein bliebe.«

Er hielt inne. Nach einer Weile fuhr er noch gedämpfter fort:

»Die einzige, die ich gehofft hatte, vielleicht mitzubekommen, warst du, Bergliot. So kann man sich also irren!«

Er schwieg. Sie erwiderte nichts. Endlich wandte sie sich ihm mit ernsthaften Augen zu:

»Zuweilen habe ich ein Gefühl, als wenn du mir nicht wohl wolltest, Thomas!«

Sie erhob sich ruhig und ließ ihn allein.

Sie trat zu der Gruppe mitten im Zimmer und schob ihren Arm in den Knuts. Er stand da und erzählte von einem alten Meßgewand aus Brokat, das er von einem italienischen Landpfarrer als Honorar für die Restauration eines alten Altarbildes erhalten hatte.

Bergliot blieb stehen und hörte ihm zu. Endlich wandte er sich mit einem etwas fragenden Lächeln nach ihr um.

»Ich meinte nur, ob du nicht findest, daß es an der Zeit ist, das Sodawasser zu reichen?«

Mit einem fast unmerklichen Zug von Enttäuschung gab Knut ihren Arm frei und ging.

Das Erscheinen des großen Theebretts mit Gläsern und Flaschen scharte die zerstreuten Gruppen um den Tisch. Eine spanische Wand wurde beiseite gerückt, und zur allgemeinen Überraschung entfernte Knut die Decke von einem Salonflügel in der Ecke, den niemand bisher bemerkt hatte.

»Ja, das ist mein Geburtstagsgeschenk für Bergliot!«

Fräulein Amalie Eriksen geriet in Ekstase:

»Ah! – Ein Steinway!«

»Ja, das kommt davon, wenn man einen Instrumentenhändler mit Sinn für Gemälde trifft!«

Die Lampetten wurden angezündet, und Fräulein Eriksen nahm sofort Platz vor dem Flügel und begann, Bach zu spielen.

Karen Ragnhild und Nils Börge gingen indes auf den Hofplatz hinaus.

Im Halbdunkel draußen am Abhang hatten sich Kandidat Bornemann mit Fräulein Magelssen, Frau Abel und Karen Kamstrup gelagert. Er entwickelte die Grundsätze für die neue Schule, die er errichten wollte.

Nils Börge führte Karen Ragnhild an ihnen vorüber, nach dem Garten hinab.

Hier scholl ihnen Lotte Falcks melodisches Gelächter entgegen. Über die niedrigen Stachelbeerbüsche sahen sie ihre und Doktor Pryts Silhouetten. – – Und Nils Börge wandte sich ab, der anderen Seite zu.

»Aber – Ihre Mutter –?« nahm er das Gespräch wieder auf.

»Ich habe sie nie gekannt.«

»Sie – ist – tot?«

»Ja, sie starb als ich geboren wurde.«

»Dann haben Sie also niemals eine Mutter gehabt! Das muß höchst wunderbar sein! Ein Mangel an Kenntnis des Lebens. Denken Sie oft an Ihre Mutter?«

Es lag eine eigene Stärke in seiner Frage, – sie forderte eine Antwort! Und eine Wärme machte sich in seiner Stimme geltend, die den Worten einen andern Klang als sonst verlieh. Als läge mehr von seinem Innern darin. Und sie antwortete ihm sofort und mit großer Offenheit. Es war kein fremder Herr für sie? Auf den Gedanken kam man ihm gegenüber überhaupt nicht.

»Nein! – Ja, das heißt ich denke wohl an sie. Aber es wird zu keinem Gedanken. Nur eine Art Märchen – so wie man sich zum Beispiel die Personen in einem Buche vorstellt, – Sie verstehen mich wohl?«

»Ja, das ist ausgezeichnet ausgedrückt! Ich sehe es so klar vor mir, so wie Sie es sagen.« Seine Freude war warm und eifrig. »Aber, – entbehren Sie denn die Mutter niemals?« Aber das ist Vaters Verdienst!«

»Nein! Denken Sie nur, das thue ich nicht.«

»Ja, das ist wahr. Sie müssen mir mehr von Ihrem Vater erzählen. Viel mehr. Sie lieben ihn also so über alle Maßen?«

»Ja, – natürlich!«

»Natürlich! Ach ja, – natürlich, in sofern, als er also wohl der Einzige in Ihrem Leben gewesen ist – –«

»Nein nicht so. Vater ist mir alles gewesen! Alles in meinem Leben. Mutter und – Vater!«

»Sagen Sie mir, – haben Sie völliges Vertrauen zu ihm, – so mit Ihrer ganzen Weiblichkeit?«

»Ja, das ist es ja gerade! Vater ist nämlich so!«

»Können Sie sich vorstellen, daß Ihr Vater geliebt worden ist, – von andern Frauen?«

»Ach, wenn ich eine andere Frau wäre, würde ich ihn lieben, – ach ja, – ihn lieben!«

»So wie Sie andere Männer geliebt haben?«

»Tausendmal mehr! Ach, so unendlich!«

»Sie haben also andere Männer geliebt?«

»J–a – nein, – ach nein, das habe ich wohl eigentlich nicht gethan – –«

»Nein, das haben Sie wohl nicht gethan.«

»Woher können Sie das wissen?« fragte sie ein wenig verletzt.

»Da Sie selber es ja sagen!«

Karen Ragnhild lachte:

»Man darf doch nicht so beim Wort genommen werden! Wenn man so ausgefragt wird!«

»Ja, Sie kann man beim Wort nehmen!«

»Warum mich mehr als andere?«

»Das will ich Ihnen sagen: Weil Sie mehr selbst sind als andere.«

»Das verstehe ich nicht!«

»Nein. Das ist es ja gerade. Aber erzählen Sie mir mehr von Ihrem Vater!«

»Ach, – erzählen – –!«

»Ja sprechen Sie nur von ihm!«

»Warum soll ich das eigentlich thun?«

»Das ist das erste Mal, daß Sie warum gefragt haben! Ja, ganz einfach, weil es etwas so Schönes ist!«

»Ja, das ist es auch!« sagte sie warm, fing aber gleich darauf an zu lachen: »Das heißt, es ist so viel, viel schöner, als ich es ausdrücken kann!«

»Das ist ja gar nicht möglich!«

»Ja, aber es verhält sich trotzdem so!«

»Unmöglich!«

»Wieso?«

»Weil Sie das Schönste von allem sind. Sie selber, also.«

Hierauf antwortete sie nicht. Er wandte sich nach ihr um:

»War es Ihnen unangenehm, das zu hören?«

»N–ein! Aber es ist Unsinn.«

»Ich verstehe mich auf alles, was schön ist!« sagte er.

»Ja, das thun Sie wohl!« lachte sie. Aber von nun an wurden ihre Antworten ein wenig knapper. – – –


Die Gäste waren schon seit einer geraumen Weile gegangen. Karen Ragnhild hatte nach einem endgültigen, vertraulichen Klatsch mit Knut und Bergliot Gutenacht gesagt. Sie hatte alle ihre Beobachtungen und Erlebnisse an diesem »wunderbarsten Abend ihres Lebens« ausgekramt. Dann war Knut durch die Thür auf den Hofplatz hinausgeschlendert, wo das Morgenlicht bereits graute.

Bergliot saß allein an dem kleinen Tisch, auf dem die kleine Lampe als letztes Licht in dem großen, dunklen Atelier brannte. Mit einem sinnenden Lächeln blieb sie lange sitzen.

Endlich erhob sie sich von ihrem Stuhl und sah sich um. Dann ging sie zu Knut hinaus. Sie fand ihn an die Flaggenstange gelehnt. Den Arm in den seinen geschoben, den Kopf an seine Schulter geschmiegt, stand sie schweigend da. Und Knut schlang den Arm um ihre Taille. Er sah halb erwartungsvoll auf sie herab.

»Wie entzückend sie doch ist!« sagte Bergliot endlich. – »Nicht wahr, Knut?«

»Ja, das ist wahr!« sagte er. Aber das Erwartungsvolle schwand aus seinem Gesicht, und er ließ den Blick in die Ferne schweifen.

Bergliot fuhr fort, von Karen Ragnhild zu sprechen, was sie von ihr gesehen, was sie sie hatte sagen und antworten hören, – wie sie sich unter den andern ausgenommen hatte –

»Ich fand, sie war der Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft. Durch sie erschien alles gleichsam in einem neuen Licht. Ja, ich empfand dadurch auch an allen den andern eine ganz neue Freude. »Ich bin so glücklich darüber Knut!« sagte sie, sich innig an ihn schmiegend. »Kannst du das nicht verstehen?«

»Ja!« antwortete er ziemlich kurz.

Sie ließ seinen Arm los und sah zu ihm auf. Nach kurzem Schweigen fragte sie:

»Woran denkst du, Knut?«

Er lächelte – mit einer Bitterkeit, die sie bei der schwachen Beleuchtung nicht gewahrte:

»Ach, – ich! Ich dachte wohl an das, was du sagst, Bergliot. Woran sollte ich sonst auch wohl denken!«

Es war, als fröre es sie.

»Gute Nacht!« sagte sie leise und ging ins Haus.

Knut blieb noch eine Weile stehen. Dann ging er hinein, schloß die Atelierthüren und zündete da drinnen ein Licht an. Mit der brennenden Kerze in der Hand stand er gesenkten Hauptes mitten im Zimmer.

Er stand da und fühlte sich so elendiglich arm inmitten all seines Reichtums, den er heute abend so strahlend gefeiert hatte.


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