Bernt Lie
In Knut Arnebergs Haus
Bernt Lie

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IX.

Fräulein Amalie Eriksen trat zum ersten Male öffentlich auf. Sie begleitete den Violinisten Bartolsky und spielte zwei kleine Brahmsche Solos.

Norgreens hatten den ganzen Kreis zu einem Fest nach dem Konzert eingeladen. Als aber Knut, Bergliot und Karen Ragnhild ziemlich früh in die Garderobe des Logensaals kamen, trat ihnen Norgreen entgegen, der mit schlecht geheucheltem Bedauern mitteilte, daß er und seine Frau eingeladen seien, mit Amalie nach dem Konzert von Herrn Bartolsky an einem »Bankett« mit den musikalischen Größen der Hauptstadt teilzunehmen,– – – um Amaliens willen könnten sie sich dem ja nicht gut entziehen –!

Norgreen war sehr in Anspruch genommen und mußte es Knut überlassen, die andern zu benachrichtigen.

Langberg hatte die sämtlichen Billets besorgt, so daß sie alle zusammen saßen. Und nach und nach fanden sie sich denn auch vollzählig ein – in ihrer großen Toilette ein leuchtendes Centrum im Konzertsaal bildend.

Thomas Hageman kam früh und setzte sich neben Bergliot. Als Herman Abel kam, überließ Knut seinen Platz Frau Engel; er habe etwas mit Abel zu besprechen. – – Zu allerletzt kam Lotte Falck mit Langberg; sie erhielten ihre Plätze zwei Reihen hinter den andern.

Man war sehr enttäuscht wegen Norgreens Gesellschaft, nur Peter Hedels freute sich, daß Bibi sich nicht zu überanstrengen brauchte! Auch Knut murmelte etwas, daß es sein Gutes haben könne. Aber Bergliot warb noch vor Anfang des Konzerts einige begeisterte Stimmen, daß man, wie spät es auch werden möge, jedenfalls gemeinsam zu ihnen hinausfahren wolle. Es gab doch nichts langweiligeres, als so in großer Toilette, ohne Spur von Fest – das war ja unmöglich!

Die Sache wurde indessen vor Beendigung des Konzerts nicht definitiv entschieden. Und während das Publikum hinausströmte, blieben sie alle zwischen den Bänken in eifriger Diskussion stehen. Die Begeisterung für Bergliots Idee hatte sehr nachgelassen. Hedels wollten nach Hause gehen; Bornemann hatte Fräulein Hariet Magelssen versprochen, sie nach Hause zu begleiten, und das Fräulein war müde! Herman Abel war auch müde – – –

»Aber du, Thomas, du kommst doch mit?« sagte Bergliot.

»Ja, ich muß mein Versprechen halten und Lotte nach Hause bringen.«

»Das ist nicht nötig,« sagte Knut, nicht zum erstenmal an diesem Abend ziemlich kurz angebunden zu Thomas Hageman, – »Lotte bleibt über nacht bei uns.«

»Wirklich?«

»Ja, – und noch ein paar Tage. Du weißt ja, daß ihre Mutter nach Kreuznach gereist ist.«

»Aber das macht ja nichts, Thomas! Du bedarfst doch keines Vorwandes!« drang Bergliot ziemlich demonstrativ gegen Knuts Ton in ihn.

»Ja, danke, ich komme nur zu gern!«

»Und sieh nur, Knut, da ist Doktor Prytz, – er kommt zu uns!«

Lotte Falck und Karen Ragnhild standen im Mittelgang und unterhielten sich über Amalie Eriksens hübschen Erfolg. Plötzlich packte Lotte Karen Ragnhild am Arm:

»Ach, Karen Ragnhild, laufe schnell zu Knut und Bergliot – ganz schnell, und sage ihnen, daß sie Dr. Prytz nicht zu heute abend einladen sollen!«

»Doktor Prytz?«

»Ja, ich sehe, daß er sie begrüßen will. Ach, liebe, süße Kleine, frag mich nicht weiter, thu es nur mir zu Liebe, – ich werde es dir vielleicht später erklären.«

Karen Ragnhild erreichte die Ihren vor Doktor Prytz, der sich gegen den Strom des Publikums durcharbeiten mußte.

Doktor Prytz begrüßte jeden einzelnen besonders und wandte sich dann an Bergliot.

»Wundervolles Konzert! Nicht wahr?«

»Ja! Ganz wunderschön.«

»Und Fräulein Eriksen machte ihr Sache geradezu brillant. Es ist ja eine reine Freude für alle, die sie kennen. Ja, Sie wissen doch, gnädige Frau, daß ich das Glück hatte, sie an dem Abend, – an dem herrlichen Abend bei Ihnen zu treffen!«

»Ach ja, – das ist wahr – –«

»Aber sagen Sie mir, gehen Sie direkt nach Hause?«

»Ich – ich weiß nicht recht,« sagte Bergliot und sah sich unsicher nach den andern um.

»Nein, das müssen Sie nicht thun! Würden Sie mir nicht die Freude machen und meine Gäste bei Engebret sein? Oder anderswo? Ich bitte so freundlich – –«

»Vielen Dank,« unterbrach ihn Knut, – »das würde sehr hübsch sein, und es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, – aber wir haben uns bereits anderweitig verabredet.«

»Wie schade! Und wo denn, wenn ich fragen darf?«

»Wir sind zu Norgreens eingeladen,« ließ sich Nils Börges Stimme kurz und bestimmt vernehmen.

Doktor Prytz entfernte sich.

»Eine Stunde später waren »die Getreuen« in Knut Arnebergs Atelier vereinigt. Die gesamte »Bande«, Karen Kamstrup, Frau Wendelboe, Svend Spangereid, Hans Torberg und Nils Börge. Außerdem Lotte Falck, Thomas Hageman und Langberg.

Alle Damen gingen mit Bergliot in die Küche, um das Abendbrot zu besorgen. Die Herren blieben allein sitzen.

Knut saß grübelnd und still da, und die Unterhaltung zwischen den andern schleppte sich träge dahin.

»Hören Sie einmal,« sagte Langberg endlich, – »ich glaube, du sähest uns am liebsten alle, wo der Pfeffer wächst, Knut!«

Knut fuhr in die Höhe.

»Ich? Bist du verrückt, Mensch? Ich! Ach nein, – ich zerbreche mir nur den Kopf über diese Geschichte mit Lotte und dem Doktor.«

»Ja,« sagte Hageman, »unsere gute Lotte benimmt sich höchst sonderbar.«

»Ich finde, der Doktor benimmt sich noch sonderbarer,« meinte Nils Börge.

»Er war heute abend eigentlich sehr manierlich,« sagte Knut. »Er ist übrigens in der letzten Zeit mehrmals hier bei mir gewesen, und es war mir sehr peinlich, daß ich ihn heute abend nicht auffordern konnte, mit uns zu kommen.«

»Ja, manierlich ist er,« sagte Torberg, »das habe ich immer gefunden.«

»Manierlich!« rief Nils Börge aus. »Der und manierlich! Er ist ein Rüpel!«

»Aber Börge!« sagte Knut.

Nils Börge sprang vom Stuhl auf:

»Er ist ein Rüpel, sage ich! Und das habe ich immer gesagt. Wißt ihr das nicht mehr? Und nun sehen wir es ja. Er hat sich Lotte Falck in seiner wahren Natur gezeigt, – darüber kann kein Zweifel herrschen. Ich wundere mich nur, daß sie ihn nicht schon längst durchschaut hatte. Weil er sieht, daß unsere Damen frei leben und eine freie Sprache führen, – meint er, sie sind für ihn zu haben, – der Frauenjäger! Hat keine Ahnung von dem Zusammenhang!«

»Und der Zusammenhang?« fragt Langberg.

»Der Zusammenhang ist natürlich, daß unsere Damen mit Gentlemen verkehren! Daß geistvolle Menschen das Recht haben, den Ton anzuschlagen, der ihnen gefällt. Daß wir uns unsern »Ton« selber schaffen, während der Plebs sich an den gegebenen, hergebrachten halten muß. Was für eine Rolle meint so ein Doktor hier zu spielen! Mit seiner Einladung zu Engebret! Und dann bringt er seine ganze schmutzige Voraussetzung und Pöbelphantasie mit –«

»Wissen Sie etwas davon, was zwischen Frau Falck und Doktor Prytz vorgefallen sein mag?« fragte Langberg.

»Nein, was weiß ich davon? Das müssen Sie doch besser wissen, – es muß ja im Sommer passiert sein, als wir im Gebirge waren. Sie und Knut waren ja täglich mit ihr zusammen.«

»Ja, aber ich weiß gar nichts. Und du wohl auch nicht, Knut?«

Knut schüttelte den Kopf.

»Und wenn niemand von uns das Geringste weiß, so finde ich, daß es übereilt ist, den Mann mit Schimpfworten zu besudeln, Herr Börge.«

Nils Börge schlenderte, die Hände in den Taschen, im Zimmer auf und nieder.

»Ach, – ich bin eigentlich nicht bange vor ein wenig Übereilung, und dann – – – Da ist etwas an diesem Burschen, was mich ärgert, – und worüber Sie, Langberg, sich meiner Ansicht nach noch mehr ärgern müßten!«

»Ich? Warum denn ich noch mehr?«

»Weil Sie ja Lotte Falcks würdigen Vater und Schutzpatron spielen! Was Sie ja überhaupt gern für unsere Damen sein wollen!«

Alle lachten.

»Ja, ja, der Herr Stipendiat hat etwas Beschützendes!« sagte Thomas Hageman »das habe ich immer gefunden.«

»Dann weiß also niemand, was Doktor Prytz Lotte Falck eigentlich gethan hat,« sagte Svend Spangereid. »Vielleicht hat der Mann die redliche Absicht, sich mit ihr zu verheiraten!«

»Was eine bodenlose Frechheit wäre! Lotte gehört uns, und wer sie von uns fortlockt, begeht ein Verbrechen gegen sie und uns.«

»Wenn Lotte Vergnügen daran findet, sich mit ihm zu verheiraten –«

»Dann ist Lotte verführt!«

»Sie muß aber doch ihrem eigenen Liebesbedürfnis folgen dürfen!«

»Das kann sie doch, weiß Gott, bei uns befriedigen!«

»Hier ist vielleicht niemand, mit dem sie sich verheiraten kann!«

»Lotte braucht sich nicht zu verheiraten, wozu soll man sich überhaupt verheiraten? Wer, zum Teufel auch, verheiratet sich heutzutage noch! Glaubst du, daß Lotte dazu einen Prediger nötig hat?«

»Still! Die Damen kommen!«

Nils Börge ging erregt ein paarmal im Zimmer auf und nieder.

Auf kleinen Tischen wurde das improvisierte Souper serviert. In fröhlichster Verwirrung sorgte ein jeder für sich und bald saßen alle wohlbehalten und ließen es sich schmecken.

»Was haben Sie denn, Börge?« fragte Bergliot. »Kommen Sie her, hier ist ein großes Glas für Sie!«

»Danke! Das ist gerade, was ich mir wünsche.« Er nahm das Glas aus Bergliots Hand entgegen.

»Was ich habe, Frau Bergliot? Ich bin wütend und glücklich und verrückt, und ich will eine Rede halten und Ihnen sagen, daß ich Sie liebe!«

Sie aßen und tranken.

»Wir wollen tanzen!« rief Bergliot plötzlich. Sie stand warm und angeregt mitten im Kreise.

»Ja, ja, tanzen!«

Karen Kamstrup lief an den Flügel.

»Nein,« rief Hans Torberg, »einer von den Männern muß spielen, – sonst haben wir ja keine Tänzerinnen.«

»Wer kann?«

»Knut kann einen Walzer,« rief Bergliot und wandte sich an ihren Mann. Ihre Augen sahen blitzend in seine immer finsterer werdenden. »Den Walzer, Knut! her mit dem Walzer!« riefen alle. Und Knut setzte sich an den Flügel, ziemlich widerwillig stolperte er mit den ungeübten Fingern über die Tasten.

»Jetzt mußt du dich beeilen, sonst fangen wir ohne dich an!« rief Thomas Hageman und tanzte mit Bergliot von dannen. Nils Börge folgte ihnen mit Karen Ragnhild:

»So spiel doch, Knut! Jetzt tanzen die Götter!«

Und Knut fand seinen Walzer heraus und spielte. Sie wirbelten umher und an ihm vorüber, er wagte nicht, von seinen Fingern aufzusehen, um nicht aus dem Takt zu kommen.

»Schneller, Knut!« rief man.

»Nicht so schnell, Knut,« rief eine andere Stimme.

»Takt halten, Knut!«

Er spielte im Schweiße seines Angesichts.

»Soll ich dich ablösen?« ertönte plötzlich Langbergs Stimme dicht hinter ihm.

»Nein, ich danke! Tanz du nur!«

»Ich gehöre nicht mit zu den Göttern,« erwiderte Langberg und entfernte sich wieder.

»Langberg, tanzen Sie mit mir!« Atemlos und rot verließ Raren Ragnhild Nils Börges Arm.

»Vielen Dank, aber ich tanze nicht!«

»Weshalb nicht?«

»Ach nein, – ich, – ich habe keine Lust,«

»Dann lassen Sie es doch, Sie Starrkopf!« lind Karen Ragnhild drehte sich um und tanzte mit Hans Torberg.

Thomas Hageman tanzte noch immer mit Bergliot.

»Bist du müde?« flüsterte er ihr zu?

»Nein!«

Und sie tanzten weiter.

»Nicht so schnell, Knut,« rief Bergliot, als sie an dem Flügel vorüberkamen. »Ganz langsam!«

Und sie tanzten weiter.

»Bist du müde, Bergliot?«

»Nein! – Nein!«

Langberg saß in einer Sofaecke und sah und hörte nichts. Er war dunkelrot.

Knut wollte aufhören.

»Nein, nein, – weiter, Knut! Spiel' weiter!« rief Bergliot über Thomas Hagemans Schulter hinweg. Und Knut spielte weiter. Die andern wechselten die Damen, ruhten eine Weile, wechselten wieder. Schließlich tanzten Bergliot und Thomas Hageman ganz allein.

Knut schlug mit der Faust auf die Tasten und sprang auf.

»Aber Knut!«

»Ich will nicht mehr!« sagte er kurz, trat an den Tisch und nahm sein Glas.

»Dann muß ein anderer spielen!« rief Thomas Hageman, »aber Walzer, wenn ich bitten darf.«

Langberg schoß wie eine Rakete durch das Zimmer und an den Flügel:

»Ich will Walzer spielen!« rief er. Und es klang, als wolle er die ganze Gesellschaft ermorden.

Und sie tanzten weiter. – – –


Spät in der Nacht gingen Langberg und Thomas Hageman zusammen nach Hause. Sie gingen schnell und im Takt. Durch den Wald und über die Felder, wo die Kornhocken in der Dunkelheit wie Gespenster standen. Thomas Hageman schlug mit dem Stock hart gegen den Erdboden, während er ausholte, um Schritt mit dem langbeinigen Stipendiaten zu halten. Langberg hatte den Spazierstock unter die Achselhöhle geklemmt, die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern hoch in die Höhe gezogen. Er dachte auch nicht einen Augenblick daran, aus Rücksicht auf den andern kürzere Schritte zu machen.

So trabten sie dahin. Sie kamen an die Stadtgrenze und die erste Gaslaterne.

Hier blieb Thomas Hageman stehen.

»Was nun?« fragte Langberg.

»Adieu, Herr Stipendiat! Hier geht mein Weg ab.«

»Adieu, Herr Rat, und hier der meine.«

Sie trennten sich. Langberg hörte Hagemans Schritte noch eine Weile; sie waren ganz langsam.

Er selber stürmte mit noch längeren Schritten als bisher weiter. – – –


In Karen Ragnhilds Zimmer war ein Bett für Lotte Falck gestellt, und als alle Gäste sich verabschiedet hatten, ging Bergliot mit hinauf, um zu sehen, ob auch alles in Ordnung sei. Und dann war es so gemütlich da oben, daß sie noch eine ganze Weile sitzen blieb und plauderte, während Lotte und Karen Ragnhild sich entkleideten.

Als Bergliot endlich zum allerletzten Mal gute Nacht sagte, war Karen Ragnhild fix und fertig zum Insbettgehen. Lotte Falck brauchte mehr Zeit. Namentlich hatte sie einen langwierigen Prozeß mit ihrem Haar durchzumachen, das sie des Abends auf Lockennadeln wickelte, um am Morgen die Brennschere nicht benutzen zu müssen. Es nahm ja ziemlich viel Zeit und war oft recht langweilig, wenn man müde war. Aber es war so unendlich viel gesunder für das Haar! Gar nicht zu vergleichen!

Karen Ragnhild kroch auf einen Stuhl und sah mit großem Interesse zu, um die Methode zu erlernen. Sie zog die Kniee ganz in die Höhe.

»Wie furchtbar gemütlich ist es doch, so zusammen zu schlafen,« sagte sie.

»Ja, das kommt darauf an, wer es ist!«

»Natürlich! Aber zum Beispiel mit dir! Man plaudert so herrlich miteinander.«

Lotte war mit dem Haar fertig und beendete nun ihre übrige Toilette. Sie erwiderte nichts.

»Es ist so herrlich traulich!« begann Karen Ragnhild von neuem.

Lotte war mit dem Lösen eines Bandes beschäftigt und erwiderte noch immer nichts.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie gemütlich Bergliot und ich in Valders zusammen in unserm Zimmer gelebt haben! Wir schwatzten des Abends vor dem Einschlafen wenigstens eine Stunde, – jeden Abend!«

»Ja, das kann ich nur denken!« sagte Lotte, ganz in ihre Arbeit vertieft.

»Ja, weißt du, – so ganz vertraulich! Ich kenne Bergliot eigentlich erst seit diesen Abenden im gemeinsamen Schlafzimmer.«

Lotte lachte ein wenig.

»Ja, das ist wirklich wahr! denn wir waren so offen gegeneinander. Wenn uns niemand hörte, – und dann hat man eine solche Lust zum Schwatzen.«

Lotte war fertig und ging direkt zu Bett. Karen Ragnhild blieb sitzen, wo sie saß; sie drehte sich nur ein wenig herum, so daß sie Lottes Bett sehen konnte. Eine Weile war alles still. Karen Ragnhild saß in Gedanken versunken da und starrte vor sich hin, das Kinn auf die Kniee gestützt. Dann sagte sie endlich, ohne Lotte anzusehen:

»Ich will dir nur sagen, Lotte, daß ich es nicht begreifen kann, weshalb du Doktor Prytz jetzt so krampfhaft meidest. Du warst doch früher so viel mit ihm zusammen!«

Lotte wurde dunkelrot und starrte zur Decke empor.

»Ja, denn ich versichere dich, er ist viel, viel netter geworden als früher! Und ich glaube, er möchte sehr gern mit dir zusammen sein.«

Lotte schwieg.

»Und das glaube nicht nur ich, sondern auch Knut und Bergliot glauben es. Knut sagte neulich, er glaube, das allein bezwecke Doktor Prytz mit allen seinen Besuchen hier. Und du hättest nur hören sollen, wie reizend er heute Abend war, als er zu uns hinkam. Und er war so enttäuscht, als wir ihn mit einer Lüge abspeisten! Er mußte gehen, der Ärmste! Er that mir wirklich leid. Und Knut auch, das konnte ich sehen.«

Lotte schwieg noch immer.

Endlich sagte Karen Ragnhild sehr ernsthaft, – vielleicht ein wenig gekränkt:

»Aber du mußt ja deine Gründe haben.«

Plötzlich sah sie zum erstenmal zu Lotte hinüber. Es war ihr, als höre sie ein so sonderbares Geräusch. Und da lag Lotte mit dem verzweifeltsten Gesichtsausdruck, die thränengefüllten Augen zur Decke emporgeschlagen – –

»Aber Lotte! Du weinst?« Karen Ragnhild sprang vom Stuhl herunter und setzte sich auf den Rand des Bettes: »Liebe, süße Herzenslotte! thut es dir weh, wenn ich von ihm rede? Ach nein, Lotte, du darfst es nicht so auffassen. Nur weil du mir heute Abend versprachst, mir später davon zu erzählen, – ach Lotte, es thut mir ja so schrecklich leid!«

Lotte lächelte unter Thränen und küßte sie wieder:

»Nein, das ist es nicht, liebes Herz,« sagte sie tieftraurig, – aber – es ist so unmöglich, so vollständig unmöglich!«

»Was ist so unmöglich, Lotte?«

»Darüber zu sprechen!«

Sie schwiegen beide eine Weile. Endlich fragte Karen Ragnhild vorsichtig:

»Hassest du ihn, Lotte?«

Lotte vermochte nicht zu antworten. Thränen erstickten ihre Stimme. Sie schüttelte nur verzweifelt den Kopf. Nach einer Weile fragte Karen Ragnhild noch vorsichtiger:

»Liebst du ihn denn, Lotte?«

Da barg Lotte das Gesicht in beiden Händen und schluchzte ganz herzzerbrechend, während sie sich hin und her wiegte.

Nachdem sie eine ganze Weile so gelegen, entfernte sie die Hände vom Gesicht und atmete tief auf:

»Ach, es wäre sicher herrlich, sich einmal gründlich darüber auszusprechen!«

Karen Ragnhild fühlte, daß sie Lotte genierte, deshalb kroch sie schleunigst wieder auf ihren Stuhl.

Lotte lag lange schweigend, ruhig und grübelnd da.

»Die Sache ist nämlich die,« sagte sie endlich, »daß man sich so lange mit so etwas herumträgt, bis man zuletzt beinahe verrückt davon wird. Und so müde, so entsetzlich müde von dem ewigen Denken. Er hat mich beleidigt, – so furchtbar beleidigt, Karen Ragnhild! Und wenn man nun immer denkt und denkt, so kann einen schließlich diese Angst befallen, die schlimmer ist als alles, alles andere! Daß ich nämlich selber schuld daran bin!«

Lotte hielt inne.

»Und deswegen habe ich mich so danach gesehnt, mich mit irgend jemand darüber auszusprechen. Aber das ist ja ganz unmöglich! Ich fürchte mich förmlich davor, daß derjenige, dem ich es erzähle, finden könnte, daß ich selber an allem schuld bin. Ich habe oft daran gedacht, mit Langberg darüber zu reden. Er ist ja so, Langberg. Ganz wie ein Bruder. Aber – aber, das ist unmöglich! denn er ist ja auch ein Mann! Aber nun glaube ich, will ich es dir nur erzählen. Ich habe nicht den Mut, mich an jemand anders zu wenden.«

Nach längerem Zaudern erzählte Lotte ihr Erlebnis mit Doktor Prytz. Sie erzählte alles, was sie vorher gedacht hatte, – den Verlauf des Diners, jedes Wort, das gesagt worden war. – Als sie sich nach einem letzten Kampf überwand und den Schluß – mit der Umarmung – schilderte, brach sie in lautes Schluchzen aus, das sie dämpfte, indem sie unter die Bettdecke kroch.

Karen Ragnhild saß in höchster Spannung da und wartete, daß Lotte sich beruhigen würde, – wartete auf die Fortsetzung! – Als Lotte sich wieder beruhigte und keine Fortsetzung erfolgte, wurde sie ganz verwirrt, – sie hatte sie gewiß nicht richtig verstanden –?«

»Er hat dich geküßt?« fragte sie endlich.

»Ja, – weißt du – so – so – abscheulich!«

Karen Ragnhild starrte sie einen Augenblick an.

Dann wurde sie dunkelrot.

Lotte saß jetzt aufrecht im Bett. Die Hände um die Kniee gefaltet, wiegte sie sich mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes hin und her.

»Ach ja, ach ja!« jammerte sie lange monoton.

»Aber,« sagte sie endlich, »so sind die Männer ja! Alle miteinander! Nur, daß sie sich verstellen. Und nur einigen, – von denen sie glauben, daß sie es mögen, zeigen sie ihr wahres Gesicht! – Und von mir glauben sie das! Sie glauben, daß ich – so bin! – Aber, glaubst du, Karen Ragnhild, daß mich in diesem Fall die Schuld trifft?«

Lotte wandte ihr das vergrämte Gesicht zu. Karen Ragnhild errötete noch tiefer und warf sich über das Bett, sie schmiegte sich an Lotte und barg ihr Gesicht an dem Busen der Freundin.

»Nein!« flüsterte sie, verwirrt, heiß, sich verbergend, weil sie nicht wußte, was sie sagen sollte, so maßlos verwirrt wie sie war.

»Hab Dank, Karen Ragnhild,« sagte Lotte. »Ach, es thut gut, sich auszusprechen. Und es thut gut, bei euch zu sein. Ich bin so glücklich, daß ich hergekommen bin – Aber nun wollen wir schlafen. Schlafen, schlafen!«

Karen Ragnhild schmiegte sich noch inniger an sie. Sie mochte nicht aufsehen! Endlich flüsterte sie hastig:

»Gute Nacht, Lotte!« Dann sprang sie auf und blies das Licht aus.


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