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Dreizehntes Kapitel.

Cornelie hatte den Bruder, seit sie das Vaterhaus verlassen, nicht mehr wiedergesehen und mehrfach den Wunsch ausgesprochen, er möge das südliche Frankreich statt Italien zum Ziele seiner Reise machen; aber dies Verlangen mußte vor dem Rath des Arztes schweigen, und der Doctor verhieß Cornelien ein Wiedersehen des Bruders in Italien, das beide Gatten noch nicht kannten.

Dieser Plan einer italienischen Reise ward von Cornelien mit lebhafter Freude aufgenommen. Regina war für Neapel engagirt, und der Gedanke lag nahe genug, dort eine Begegnung zwischen Regina und Erich zu vermitteln, die früher oder später doch erfolgen mußte, und von der die Freunde auch für Regina eine beruhigende Wirkung erwarteten. Es hatte diese stets beängstigt, daß irgend ein ungeschickter Zufall Erich einst plötzlich in ihre Nähe führen könne, und vielfach ward jetzt zwischen den Frauen die Art und Weise überdacht, in der man die Lösung dieses Verhältnisses die Enthüllung dieses Geheimnisses schön und beruhigend gestalten könne.

Regina, die nach der Trennung von Georg sich um so kräftiger erhoben und sich mit erneuter Begeisterung der Kunst ergeben hatte, konnte den Wunsch nicht unterdrücken, Erich möge sie zuerst auf der Bühne sehen, ehe sie ihm in der Wirklichkeit begegne. Es war ein unbewußter Schutz, eine unbewußte Verstärkung ihrer eigenen Kraft, welche sie auf diesem Wege suchte, und auch Cornelie wendete sich diesem Plane zu, der Regina, abgetrennt von ihrer Vergangenheit, in der Verherrlichung der Kunst vor Erich erscheinen lassen sollte.

Aber während die beiden Freundinnen sich solchen Entwürfen überließen, hatten die Verhältnisse um sie her sich wesentlich verändert, und die politische Lage Frankreichs war so bedrohlich geworden, daß man der eigenen Angelegenheiten mehr und mehr zu vergessen gezwungen wurde.

Schon seit der Aufforderung zu den Reformbanketts hatten Alle es empfunden, daß der Boden schwankte, auf dem man stand, Niemand indessen hatte vorausgesehen, wie schnell ein Umsturz herannahen, wie bald der Krater der Revolution sich wieder öffnen werde. Niemand hatte vorausgesehen, daß der herrschsüchtigste der Fürsten seinen Eigensinn bis zur Vernichtung seiner Herrschaft treiben werde. Selbst Männer, welche, wie der Doctor und Friedrich, jedem Pulsschlage der Bewegung folgten, waren überrascht, als man es wagte, das Recht der freien Volksversammlungen zu kränken, und als in Folge dieses Verfahrens am Morgen des zweiundzwanzigsten Februar unübersehbare Menschenmassen die Boulevards hinabzogen, sich trotz der Verbote auf dem Madelaineplatz zu versammeln.

Die Gewißheit, daß man am Beginne wichtiger Ereignisse stehe, bemächtigte sich aller Gemüther. Die Arbeiter verließen ihre Werkstatt. Ihre instinctive Unruhe verrieth den nahen Sturm. Banges Erschrecken und Trotz auf der einen, ahnungsvolle Hoffnung auf der andern Seite, folgten der wachsenden Bewegung des Volkes. Aber schon nach wenig Stunden war die Zeit der Erwartung vorüber, die ungewisse, neugierige Spannung zu Ende. Die Volkszüge begannen sich in einzelne Massen zusammenzuziehen, die Truppen wollten sie zerstreuen, es kam zu heftigen Aufläufen, zu kleinen Gefechten und schon am Nachmittage hatten sich die Barrikaden, die Festungswälle der Revolution, dicht unter den Augen des Königs erhoben, der sie selbst hervorgerufen hatte. Vierundzwanzig Stunden später tobten die Schrecken des Bürgerkampfes in allen Theilen von Paris. Abgespannt und müde von der inneren Erregung gingen Cornelie und Regina unruhig in ihrer Wohnung umher, die Männer zu erwarten, die schon vor vielen Stunden in die Straßen hinabgegangen waren. Bald eilten sie an's Fenster, nach den Entfernten auszusehen, bald blickten sie nach der Uhr, die Zeit der Abwesenheit zu messen. Je länger es dauerte, je mehr rötheten sich Corneliens Wangen, je heller und größer leuchtete ihr Blick. Ihre ganze Seele war aufgegangen in dem einen Gedanken der Angst um ihren Gatten, und doch fühlte sie unwiderleglich, daß er an seinem Platze sei, doch wußte sie, daß er den Freunden nicht fehlen werde, die in diesem Augenblicke aus der zusammenstürzenden Monarchie die Republik hervorzuheben versuchten.

Das Toben des Straßenkampfes, das bald näher, bald ferner in das Zimmer drang, machte sie erbeben, aber kein Wort kam über ihre Lippen, die Angst preßte ihr das Herz bis zur Sprachlosigkeit zusammen. Nur bisweilen, wenn ihr Töchterchen sich furchtsam zu ihr flüchtete, hob sie es in ihre Arme und versuchte, es mit schmeichelndem Troste zu besänftigen, oder sie trat schnell und flüchtig an Regina heran, ihr mit festem Druck die Hand zu geben.

Je mehr der Abend sank, je unruhiger es in den Straßen wurde, um so höher stieg Corneliens Qual. Larssen, der ein paar Mal ausgegangen war, Nachrichten einzuziehen, war auf der Redaction des Journals, an dem er arbeitete, festgehalten, nicht mehr zurückgekehrt. Das Kind, ermüdet eingeschlafen, hatte man zur Ruhe niedergelegt, die Nacht brach an. Die Lampen, welche man auf Verlangen des Volkes an die Fenster gestellt, warfen, vom Regen halb verlöscht, vom Winde bewegt, unruhige Lichter in das Zimmer. Es war todtenstill in dem Gemach.

Plötzlich schallte ein wildes Getöse von der Straße empor. Greller Fackelschein zuckte durch die Scheiben, gellendes Rachegeschrei tönte durch die Nacht. Die Frauen stürzten an das Fenster. Ein entsetzensvoller Anblick bot sich ihnen dar. Auf tiefem, vierräderigem Karren fuhr man eine Menge Leichen vorüber. Eine rothe Laterne, auf hoher Stange aufgesteckt, und vier Männer mit brennenden Fackeln, auf den Ecken des Karrens stehend, beleuchteten die Todeswunden der Gefallenen, und immer lauter schallte der Racheruf aus der Tiefe empor.

Cornelie ertrug es nicht länger. Sie schlug beide Hände gegen das Gesicht und eilte in die Nebenstube. Am Bett des Kindes kniete sie nieder, küßte es mit leidenschaftlicher Inbrunst, und schon im nächsten Augenblicke hatte sie Hut und Shawl angethan und die Thüre erreicht.

Regina sah es mit starrem Schrecken. »Wohin, Cornelie?« fragte sie und ergriff die Hand der Freundin. Sie war eisig kalt.

»Zu ihm!«

»Um Gotteswillen bleibe! Jetzt, in der Nacht, allein, in diesem Aufruhr!« rief Regina und versuchte sie zurückzuhalten. »Es ist unmöglich, ihn zu finden!«

»Unmöglich?« wiederholte Cornelie und preßte ihre Hände gegen ihr Herz, als müsse ihr dieses den Weg zu dem Geliebten weisen, und ehe die Andere noch ein Wort zu sprechen vermochte, hatte sie das Zimmer verlassen.

Mit der instinctiven Hast der Angst eilte Cornelie die Straße hinab. Sie kannte den Ort, an dem die Freunde ihres Mannes sich zu versammeln pflegten, dort hoffte sie Nachricht von ihm zu erhalten, dort mußte man wissen, wo die Männer der Partei sich hingewendet hätten. Mitten durch die Unruhe, mitten durch den Lärm fand sie ihre Bahn. Sie sah, sie hörte Nichts von Allem, was um sie her geschah, aber plötzlich verengte das Gedränge ihr den Weg, der Schrei der Kämpfenden, das Knattern des Gewehrfeuers schreckte sie empor, sie stand vor einer Barrikade.

»Zurück, zurück, Madame!« rief einer der Kämpfenden ihr zu, »das ist kein Ort für Frauen!«

»Helft mir hinüber, ich muß hinüber,« beschwor Cornelie den pulvergeschwärzten, aus einer Streifwunde blutenden Kämpfer, während derselbe seine abgeschossene Büchse auf's Neue lud, »helft mir hinüber, ich muß zu meinem Manne!«

Und schnell gerührt von ihrer Angst, lehnte der junge Blousenträger seine Waffe zur Seite, ihr beizustehen. Mit starkem Arme hob er sie auf die untersten Balken empor, da krachten Schüsse, Cornelie wendete sich voll Grausen ab, ihre Sinne, solcher Scenen ungewohnt, drohten zu schwinden.

»Der ist hin!« rief der Arbeiter, als dicht vor der Barrikade ein vorübergehender Mann in Reisekleidung, der offenbar an dem Kampfe keinen Theil genommen hatte, von einer Kugel getroffen zu taumeln begann und lautlos zusammensank.

In diesem Augenblicke fielen Corneliens Augen auf den Verwundeten. Sie glaubte vom Wahnsinn befangen zu sein. Mit rascher Bewegung ließ sie die Hand des Mannes los, der ihr zu Hülfe gekommen war. Er wähnte, der Muth habe sie verlassen.

»Das ist doch stärker als Sie, Madame!« rief er und dachte ihrer dann nicht mehr, während Cornelie, am Boden knieend, das Haupt des Verwundeten an ihren Busen preßte, und flehend um Beistand rief, ihn fortzubringen.

Jahre und Jahre waren vergangen, seit sie ihn gesehen, und so mußte sie ihn wiederfinden!

Liebe und Angst liehen der Muthigen ihre Kräfte. Es gelang ihr, ihn bis zur nächsten Thüre fortzuziehen. Das Mitleid der Bewohner schloß sie auf, und jetzt erst, jetzt erst, da sie ihn wenigstens der drohendsten Gefahr entzogen sah, floßen ihre Thränen nieder auf das Haupt des geliebten Bruders, auf Erich's bleiches Antlitz.

Erst nach zwei Stunden, erst nachdem der Kampf in dieser Gegend sich zu beruhigen begann, konnte man daran denken, den Verwundeten in Begleitung des herbeigeholten Arztes nach Corneliens Wohnung hinzutragen.

Der Doctor und Friedrich waren noch nicht heimgekehrt, Regina saß einsam in dem Zimmer, in dem das Kind schlummerte, als Cornelie bleich und hastig bei ihr eintrat.

»Regina!« sprach sie, »nimm Deine Kraft zusammen. Erich ist hier!«

»Erich?« rief Regina im Tone des Schreckens und der Ueberraschung.

»Er ist hier und verwundet!« fuhr Cornelie hastig fort, während die Thüre sich öffnete und vom Arzte angeleitet, Erich in das Zimmer getragen wurde.

Regina war wie gelähmt. Sie verstand die Worte der Freundin, aber sie begriff das Ereigniß nicht. Sie war unfähig, zu denken, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Das Haupt an den Thürpfosten gelehnt, blieb sie auf der Schwelle des Zimmers stehen. Mit starrem Auge sah sie, wie man den Regungslosen von der Bahre hob, wie Cornelie dabei behülflich war, wie man ihn auf das Bett des Doctors legte.

Plötzlich athmete sie tief auf, preßte die Hände gegen ihr Herz und ging mit festem Schritte an sein Lager. Dort blieb sie lautlos stehen. Es lag etwas Furchtbares in diesem Schweigen, aber Niemand beachtete es. Alle waren mit dem Verwundeten beschäftigt, der regungslos in tiefer Erschöpfung einem Todten glich, obschon der Arzt die Wunde nicht für tödtlich erklärt und Herstellung verheißen hatte, sobald der starke Blutverlust ersetzt sein würde.

Regina sah unverwandt zu dem Ohnmächtigen hernieder, ohne sich ihm zu nahen. Sie bot keine Hülfeleistung an, sie mußte den Fremden unempfindlich scheinen, und als sie dann zusammenschreckte, um mit angstvoller Hast sich aus dem Krankenzimmer zu entfernen, sah selbst der um den Verwundeten beschäftigte Arzt ihr betroffen nach.

Es war lange nach Mitternacht, als der Doctor und Friedrich wiederkehrten. Ihr Erstaunen, ihr Erschrecken, Corneliens Freude, den Gatten, den Freund nach dem Kampfe wiederzusehen, gingen unter in der sorgenden Theilnahme um den Kranken, aber beide Männer hatten sich kaum von der ersten Bestürzung erholt, als sie nach Regina fragten. Cornelie hatte ihrer immerfort gedacht, indeß sie hatte den Bruder nicht verlassen mögen und Regina's Entfernung natürlich gefunden, weil ein Erwachen Erich's möglich war. Jetzt, da sie Friedrich an des Kranken Seite wußte, eilte sie zu Regina, die nicht in ihre Wohnung hinabgegangen war, sondern sich in des Doctors Arbeitsstube niedergelassen hatte.

Die Lampe war erloschen, ein mattes, graues Tagesdämmern fiel durch die Fenster. Es war kalt in dem Gemach. Regina saß aufgestützten Hauptes in der Fensterbrüstung. Als die Freundin eintrat, stand sie auf und gab ihr die Hand. Cornelie hatte erwartet, Regina leidenschaftlich erregt zu sehen, diese Ruhe war ihr unheimlich. Sie zog sie an ihre Brust und küßte sie. Regina schauerte zusammen.

»Laß mich!« sagte sie tonlos, und es waren die ersten Worte, die sie sprach, »laß mich, ich bin mir selbst entsetzlich!«

»Regina!« rief Cornelie erschrocken, »was soll das bedeuten?«

»Sieh!« antwortete Regina, und deutete in die Straße hinaus, »sieh, wie der Tag aufdämmert! So grau, so kalt, so todt ist es in mir! So eisig kalt und todt! Keine Thräne, keine Thräne! – Grauenvolle Erstarrung!«

»Der Schmerz schnürt Dir die Brust zusammen,« tröstete die Freundin, »er hat Dich verwirrend überwältigt!«

Regina schüttelte verneinend das Haupt. »Nein, nein!« rief sie, »die Klarheit grade ist's, die furchtbare Klarheit, die mir Entsetzen einflößt!«

Da Cornelie sie nicht zu verstehen schien, sagte Regina: »Du wirst's unmöglich nennen, und doch ist es so! Als ich da stand an seinem Lager, als ich ihn wiedersah, an dem einst meine ganze Seele gehangen, ihn, meinen Gatten, da fuhr es wie ein brennender Stahl durch mein Hirn, durch meine Brust, und dann ward es so kalt und still, so furchtbar still!«

Sie ließ sich nieder und barg ihr Gesicht in den Händen. Cornelie schwieg, um Regina nicht zu stören. Auch richtete diese sich bald empor, und als setze sie die frühere Gedankenreihe fort, sagte sie: »Wie ist es möglich, daß ich ihn nicht liebe? daß ich ihn nicht mehr liebe, selbst in dieser Stunde nicht? Daß nur seine Schuld und die meine, nur sein Unglück und das meine in mir lebendig sind, und keine Liebe, keine Liebe mehr für ihn! – Und wie habe ich ihn geliebt!« rief sie nach einer Pause, in heiße Thränen ausbrechend.

Cornelie weinte mit ihr, das befreite Regina, aber ihr Empfinden blieb dasselbe, dasselbe Erschrecken vor der Endlichkeit der Liebe, vor der Wandelbarkeit des eigenen Herzens.

Während Cornelie den Bruder pflegte, und die Männer Alle durch die fortschreitenden Ereignisse der Revolution in Anspruch genommen waren, blieb Regina sich selber überlassen. Noch am Abende von Erich's Verwundung war man darüber zu Rathe gegangen, in welcher Weise man ihn auf Regina's Anwesenheit vorzubereiten, wie man ihr Wiedersehen einzurichten habe, um dem Kranken kein Erschrecken, dem Genesenden keine bedenkliche Aufregung zu verursachen. Den Vorschlag Corneliens, Regina während seines lethargischen Zustandes in seiner Nähe zu lassen, in dem sie ihm wie ein Gebilde seiner Träume erscheinen mußte, und dann an dieses Traumbild allmälig die Wirklichkeit anzureihen, hatte Regina auf das Bestimmteste verworfen.

»Was soll die verwirrende Phantastik,« rief sie aus, »wo Klarheit allein Noth thut? Was soll die bindende, romantische Erinnerung ihm und mir, die ein ganzes Leben mit seiner unerbittlichen Wirklichkeit von einander getrennt hat? Sagt ihm, daß ich lebe, daß ich ihm nicht zürne, und dann wollen wir uns wiedersehen, wenn er die Kraft gewonnen haben wird, den Schmerz über die Vergänglichkeit des Höchsten, über die Vergänglichkeit der Liebe zu ertragen.«

Dieser Ausspruch gewann die Andern für sich, und vor Allen Friedrich, der es wußte, wie sehr sein Freund noch immer, trotz aller seiner Erfahrungen, geneigt war, sich seinem Herzen und seiner Phantasie zu überlassen. Und da Friedrich der Einzige war, mit welchem Erich über Regina gesprochen hatte, so übernahm er es, ihn auf ihre Anwesenheit vorzubereiten, sobald der Kranke die Umgebung der Schwester und der Freunde erkannt haben, und sie gewohnt sein würde.

Schneller als man es nach der Erschöpfung der ersten Stunden erwarten durfte, kehrte das Bewußtsein Erich's wieder. Da er sich auf dem Wege zu Cornelien und mit ihr beschäftigt befunden hatte, als die Kugel ihn traf, schien er kaum überrascht zu sein, als er sie bei seinem Erwachen an seinem Lager sah und sein erster Augenaufschlag ihrem liebevollen Blicke begegnete. Eine milde Freude, ein Ausdruck sicherer Ruhe glitten über seine Züge. Er faßte nach ihrer Hand und ließ matt sein müdes Haupt zu neuem Schlummer in ihrer Obhut niedersinken.

Corneliens warme Thränen flossen auf ihn nieder. Aller Kummer, den Erich's frühere Unentschiedenheit ihr bereitet, die lange Zeit ihrer Trennung und Entfremdung waren aus ihrem Gedächtniß entschwunden. Die alte, die angeborene Liebe, die Erinnerung an Eltern und an Heimath, die Erinnerungen ihrer gemeinsamen Jugend waren allein mächtig in ihr. Es that ihr wohl, ihn mit der weichsten Liebe zu umgeben. Sie wußte, wie sehr er empfänglich dafür war, wie wenig Sidonie grade dieser Seite seines Wesens zu entsprechen vermochte, und der Schwester Pflege machte ihm das Gefühl der Genesung noch beglückender.

Schon nach wenig Tagen konnte er die Freunde sehen und ihnen erklären, wie die wachsende Volksbewegung in Paris ihn bewogen habe, die Reise nach Italien aufzugeben, wie er plötzlich sich von Genf nach Straßburg hin gewendet und, eine Ueberraschung für Cornelie beabsichtigend, seine bevorstehende Ankunft nicht gemeldet habe. Er fing an nach den Vorgängen des politischen Lebens zu fragen. Die Flucht des Königs, der Sturz des Königthums, die Erklärung der Republik, das erste Auftreten der provisorischen Regierung, unter deren Mitgliedern sich ein Arbeiter befand – alle diese Dinge mußten den monarchisch gesinnten Erich auf das Mächtigste ergreifen, und er sprach es gegen Friedrich aus, daß er Mühe habe, sich in das Plötzliche, Unerwartete der Ereignisse zu finden.

Den Augenblick benutzte Friedrich. »Dennoch,« sagte er, »findet der Mensch sich leichter in diejenigen Ereignisse, welche Millionen mit ihm theilen, als in solche, welche ihn allein betreffen. Dir aber, mein Freund, steht eine persönliche Nachricht bevor, die Dich eben so sehr überraschen, als Dir wohlthun wird. Regina hat mir Kunde von sich gegeben, und auch nach Dir gefragt.«

»Regina?« rief Erich, während eine schnelle Röthe sein blasses Antlitz färbte. »Wo ist sie? was weißt Du von ihr?«

»Sie ist Sängerin geworden, lebt in den glänzendsten Verhältnissen und –«

»Und ist sie verheirathet?« fiel ihm der Andere in's Wort.

»Nein!« antwortete Friedrich.

Der Baron schwieg einen kurzen Augenblick. Friedrich, so genau er ihn kannte, wußte nicht zu sagen, welchen Eindruck die letzte Nachricht auf ihn gemacht habe.

»Und wo lebt sie?« fragte Erich gespannt.

»Sie kommt hieher! in wenig Tagen wird sie hier sein!«

Erich ward nachdenkend. »Merkwürdig!« sagte er, »daß ich in den Tagen meiner Ermattung sie immer vor mir sah. Ich hatte ein dumpfes Erinnern, als hätte ich sie von einer Kinderstimme rufen hören. Meine Phantasie war ausschließlich mit ihr beschäftigt. Und grade jetzt erfahre ich, daß sie lebt!«

Corneliens Eintritt unterbrach das Gespräch, aber Erich war sichtlich zerstreut, und als Friedrich sich danach entfernte, verlangte der Kranke, daß er wiederkommen solle, weil er ihn nothwendig noch heute sehen müsse.

Je unverkennbarer die Aufregung den Freunden war, in welche Friedrich's Mittheilung den Kranken versetzt hatte, um so mehr zögerten sie, ihn Regina wiedersehen zu lassen. Der Doctor hatte vorgeschlagen, daß Regina in einem fingirten Briefe an Friedrich ihre äußeren Schicksale andeutend erzählen solle, damit man ihn Erich lesen lassen könne, und Cornelie übernahm es, ihn zur Mitteilung desjenigen zu veranlassen, was ihn bewegte, und was er außer Friedrich allen Uebrigen verborgen wähnte.

Hingebend von Natur, machte Erich der Schwester das Erreichen dieser Absicht leicht. Schon im Laufe der zweiten Woche durfte sie es wagen, ihm zu gestehen, daß sie seit lange um sein Geheimniß wisse, daß sie Regina kenne.

Sie war allein mit ihm in seinem Zimmer. Ein warmer Sonnenschein fiel in das Gemach, mit belebendem Strome zog die Frühlingsluft durch die geöffneten Fenster und trug den Duft der Blumen mit sich, die auf Blumentischen sich dem Lichte öffneten. Ein wonniges Empfinden belebte den Genesenden, und wie der Frühling ihn erquickte, so erquickte ihn die Erinnerung an die Tage seiner Jugendliebe.

»Du kennst sie? Du kennst Regina?« rief er.

»Und ich liebe, ich verehre sie! Sie ist so edel im Leben, als groß in ihrer Kunst!« entgegnete die Schwester.

»Groß in ihrer Kunst!« wiederholte Erich zweifelnd, »ich hörte ihren Namen nie!«

»Doch, Erich! Du hast ihn schon gehört, von mir gehört, und heute selbst!« sagte Cornelie, während ihre Stimme bebte und ihre Augen mit Besorgniß auf dem Bruder weilten.

»Heute?« fragte Erich.

»Regina ist die Tosta!«

»Die Tosta?« rief er im Ausdruck des höchsten Erstaunens, »also hier! hier bei Dir! O! ich ahnte es, daß sie in meiner Nähe war! Ich muß sie sehen, Cornelie! gleich jetzt, gleich jetzt!«

Und ehe er noch die letzten Worte beendet hatte, war die Schwester aufgestanden, sie zu holen. Seine Blicke hingen an der Thüre, sein Herz klopfte, als er im Nebenzimmer leise Tritte hörte. Cornelie schlug die Portière zurück, und Regina stand vor ihm.

Seine ganze Seele wallte ihr entgegen in heller Freude. »Regina! theure Regina!« rief er, und eilte auf sie zu; aber der Ausdruck tiefer Trauer, der auf ihrem Antlitz lag, hielt ihn plötzlich gebannt.

Die langsame, fast feierliche Art, in der sie ihm entgegentrat, die schmerzliche Ruhe, mit der sie ihm die Hand reichte, beängstigten ihn. Sie war blaß wie eine Todte. So standen sie sich einen Augenblick sprachlos im stummen Schmerze gegenüber, bis Erich mit stehendem Tone in die Worte ausbrach: »Sprich zu mir! sprich zu mir, Regina! wenn ich nicht untergehen soll. Sprich zu mir! sei nicht grausamer als meine Träume, sage mir, daß Du mich nicht vergessen, daß Du vergeben hast, Geliebte, Du« – er hielt inne und rief dann wie fortgerissen von seinem Herzen: »Du meines Lebens einzige Liebe!«

Seine Augen füllten sich mit Thränen, er breitete seine Arme nach ihr aus, Regina aber trat mit kaum merklicher Bewegung von ihm zurück, bot ihm auf's Neue die Hand und sagte mit erzwungener Fassung: »Wir haben Frieden nöthig, und Frieden zu machen mit der Vergangenheit, kam ich hieher. Laß das Vergangene zwischen uns begraben sein!«

»Gott im Himmel! sie liebt mich nicht!« rief Erich in Verzweiflung und barg sein Gesicht in seinen Händen, während er von der Erschütterung überwältigt zusammenbrach.

Cornelie hatte das Zimmer verlassen, Regina war nahe an Erich herangetreten, als wolle sie ihn trösten. Da richtete er sich empor, und mit einer Leidenschaft, vor der sie erzitterte, sagte er: »Du sollst es wissen, Du allein, Dir schulde ich zu bekennen, was keine Macht der Erde mir sonst entrissen haben würde – das Geständniß meines Elends!«

»Erich! ich beschwöre Dich!« flehte Regina.

Aber er ließ sie nicht enden. »Still! still!« rief er, »Du bist gerächt, schwerer gerächt, als Du es wünschen kannst, denn einst, einst hast Du mich ja geliebt! – Wenn Du sie ahntest die Oede meines Hauses, wenn Du ihn hörtest den Ton der kalten Ueberlegenheit, der mich bestraft für meine blinde Hingebung, wenn Du ihn kenntest den Hochmuth ihrer Makellosigkeit, der mich verzweifeln macht!« – Er brach plötzlich ab und sagte dann mit dem ganzen Zauber seiner herzgewinnenden Stimme: »Du würdest mir ihn gönnen den Trost, mich noch von Dir geliebt zu glauben!«

Regina blutete das Herz, ihre Thränen flossen unaufhaltsam. Er hatte sie umfaßt und weinte an ihrer Schulter. So saßen sie sprachlos beieinander. Erich war es, der zuerst wieder das Schweigen unterbrach.

»Du bist die Glücklichere, Du bist frei,« murmelte er düster vor sich hin, »aber ich! Für mich ist keine Erlösung, ich habe mich ihr vermählt mit meinem Eide, den muß ich halten! Die Wahl war mein, ich muß sie vertreten, und büßen was ich selbst verschuldet!«

Dies Aussprechen des lang verschlossenen Schmerzes hatte ihn erschöpft. Er sank in die Kissen des Sophas zurück, Regina rief Cornelie herbei, und von diesem Augenblicke theilte sie mit der Schwester Erich's Pflege.

Aber hatte bei dem ersten Begegnen Erich in Regina nur die Geliebte seiner Jugend gesehen, so lernte er sie bald bewundern und verehren, begreifen, was er in ihr besessen haben würde. Die huldigende Liebe, von der er sie umgeben sah, that ihm wohl und traf ihn dennoch wie ein Vorwurf. Aus ihrem eigenen Munde erfuhr er ihr Geschick, sie selber sprach ihm von ihrer Liebe für Georg, von der Unmöglichkeit, dieser Liebe nachzugeben. Erich verstummte vor dem Schicksal. Er, dessen Herz voll Liebe war für seinen Bruder, er, der Regina's Glück wie ein eigenes empfunden hätte, er trennte sie von demselben, seine Schuld hatte ihr Leben, des Bruders Zukunft und das eigene Dasein zerstört.

Während sein Körper genas, trug er die Qualen einer Reue, welche Regina's milde Ruhe nicht zu beschwichtigen vermochte, sie selber jedoch erstarkte in dem Bestreben, ihn emporzurichten. Sie verbarg ihm keinen der Schmerzen, die sie getragen, aber sie zeigte sie ihm in der Verklärung des errungenen Sieges. Sie schilderte ihm die Erhebung, die sie empfinde in der Ausübung der Kunst, sie rühmte sich des Besitzes ihrer Freunde, und wie man lehrend lernt, so klärte sie ihr Inneres erklärend auf, bis es still in ihrem Herzen ward, bis Erich sich zu beruhigen begann an ihrer Ruhe, bis er auf Glück verzichten lernte an Regina's eigener Entsagung.

Regina hatte gefordert, auch Georg möge nach Paris kommen, als wolle sie nun Alles überwinden, Alles ausgleichend versöhnen.

Mitten in dem wilden Kampfe der Parteien, der Paris durchtobte, mitten in der Aufregung der Welt, sahen Erich und Georg sich wieder, und der Liebe eines reinen Frauenherzens, Regina's Einheit gelang es, Frieden zu bringen in der Brüder Herzen. Ihre Milde, ihre ernste Entsagung besänftigte die Leidenschaft der Männer, ihre Festigkeit vereinte, was Alle mit banger Sorge als unvereinbar angesehen hatten. Wie Regina einst Friedrich und Erich einander wiedergegeben, so führte sie jetzt Erich und Georg zusammen, in gemeinsamer Liebe, in gemeinsamer Entsagung, weil die eigene Ueberzeugung ihr die Kraft der Ueberzeugung gab.

Die Einsicht in des Bruders Reue, in das Unglück seiner Ehe, machten Georg das eigene Schicksal nicht so schwer erscheinen; Schmerz und Bedauern um das Glück, das er Georg geraubt, ließen Erich streben in seiner Hingebung, dem Bruder Ersatz zu bieten, und in wehmüthiger Ruhe verlebten beide Brüder in Regina's Nähe die Tage, welche dieselbe noch im Kreise ihrer Freunde zuzubringen hatte.

Endlich kam der Augenblick ihrer Abreise nach Italien heran. Larssen hatte sich in der letzten Zeit nur wenig sehen lassen. Er war schon lange von seltsamer Unruhe ergriffen gewesen, hatte von dem Ordnen seiner Papiere, von Aenderung seiner Verhältnisse gesprochen, und war doch allen Fragen, die man an ihn gerichtet hatte, ausgewichen. Den Abend vor der Abreise hatte man ihn vergebens erwartet, auch am Morgen blieb er aus. Besorgt um ihn, fuhr Regina in der Frühe bei ihm vor. Man sagte ihr, er habe sich bereits zur Eisenbahn begeben, und von Friedrich, von Cornelie und ihren Brüdern begleitet, begab Regina sich dorthin.

Ihr erster Blick traf Larssen. In vollständiger Reisekleidung trat er ihr entgegen. Seine Hand zitterte, als er sie aus dem Wagen hob. Niemand begriff, was ihn bewegte. Auf die Frage, was sein Reiseanzug zu bedeuten habe, gab er keine Antwort, kaum aber hatten die Freunde den Perron überschritten, als Larssen sie nöthigte, in ein besonderes, kleines Zimmer einzutreten, das er sich hatte öffnen lassen.

Es lag etwas Feierliches in seinem Wesen, und mit schlecht verhehlter Rührung sagte er zu den Brüdern gewendet: »Euer Vater hat mich einmal auf Reisen geschickt, zu büßen, was Georg verbrochen hatte. Die Buße ist mein Glück geworden. Heute werde ich aus freiem Antrieb gehen, Eure Schuld zu zahlen, – und bei Gott zu meinem größten Heil!«

»Larssen!« riefen Alle mit dem Tone der Ueberraschung und der Freude, und mit tiefer Bewegung fragte Regina: »Verstehe ich Sie Larssen, Sie wollten mit mir gehen?«

»Ja!« rief er, »ja! bis an mein Lebensende. Was bin ich nütze in Paris? Es kann ja Jeder leisten, was ich dort geleistet habe, aber um Regina sorgen, sie behüten, über ihr wachen, für sie leben – das kann Niemand, Niemand auf der Welt, als ich ganz allein!«

Regina keines Wortes mächtig, reichte ihm die beiden Hände hin.

»Das ist auch eine Verlobung!« sagte Larssen, indem er ihre dargebotenen Hände ergriff und herzlich küßte, »und Ihr Alle sollt mir Zeugen sein. Jetzt weiß ich doch, wozu ich da bin, jetzt hat der alte Larssen Pflichten, jetzt hat er eine Tochter gefunden, und wie einen Augapfel werde ich unser Kleinod hüten!«

Sein ganzes Gesicht leuchtete vor Freude, die Brüder waren bis in das Innerste erschüttert. Beiden war eine schwere Sorge, eine Angst damit von der Seele genommen. Larssen aber wollte von keinem Danke wissen.

»Es ist Egoismus, purer Egoismus!« rief er aus. »Ihr neidet mir's ja im Grunde alle Beide! Und ich brauche ja nicht hier zu bleiben. Tinte und Feder und ein Paar alte Bücher, die finde ich überall, arbeiten kann ich an jedem Orte. So gönnt mir denn mein Loos und seid ganz unbesorgt. Es soll kein Ungemach ihr nahen, das ich hindern kann, so lange sie mich als Courier in ihrer Nähe duldet!«

Damit nahm er dem Kammermädchen Regina's die Chatoulle ihrer Herrin ab, hing sich ihren Shawl und Mantel über den Arm, und noch während er nach dem Wagen ging, den Platz für Regina zu wählen, sagte er: »Nun weiß ich doch, wofür ich lebe!«

Die Anderen geleiteten Regina ihm nach. Als das gellende Signal erschallte, das so oft schon Liebe von einander riß, drückte Regina wortlos die Hand Georg's. Das ganze Vertrauen auf seine Kraft lag in diesem Händedrucke. Dann küßte sie Erich auf die Stirn, und seine Hand in Friedrich's Rechte legend, sagte sie: »Verlaß ihn nicht, Friedrich! sein Loos ist schwer, hilf es ihm tragen! und Gott sei mit Euch Allen!«

Sie bog sich zurück, Larssen schloß die Thüre, noch ein geller Pfiff, der Wagen rollte davon, und die beiden Brüder fielen sich sprachlos in die Arme.


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