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An das Meer

Gruß dir, frührotschimmerndes Meer! gewaltig
Haucht dein herber Odem mich an, und wieder
Tragen aufwärts mich die des Flugs entwöhnten
          Schwingen der Seele.

Eigner Mißmut zog und der Neid der Menschen
Längst ein dreifach Erz um die Brust mir; aber
Was sind Tränen Einzelner gegen deine
          Mächtige Salzflut?

Vieles Elend sahst du in langem Zeitlauf,
Seit die Bernsteinlasten des Tyrerseglers
Deine Flut gefurcht und der windumbrauste
          Kiel des Odysseus.

Manchen Segen brachtest du zwar, du trugest
Sänger einst olympischem Sieg entgegen,
Trugest ruhmgekrönte Triumphatoren
          Sicher zur Heimat.

Ja, an deinen mächtigen Wellenbrüsten
Zogst du Völker groß und verliehst als Spielzeug
Ruhm und Weltmacht ihnen und ferner Zonen
          Seltene Schätze.

Doch die eignen Söhne verschlangst du, fraßest
Perserflotten, punische Kriegstriremen,
Warfst Trafalgars Raub zu des zweiten Philipps
          Stolzer Armada.

Keine Spur zwar grub dir die Zeit ins Antlitz;
Doch mit unbestechlichem Griffel schrieben
Auf den Grund Jahrtausende dir den ganzen
          Jammer der Menschheit.

Dir im Schoß ruhn Tempel vergeßner Götter,
Ruhn versunkne Städte; es ruhen neben
Völkerketten untergegangner Reiche
          Kronen im Schoß dir.

Tyrus' alten Glanz und den Stolz Karthagos,
Romas Weltherrschaft und Venedigs Größe
Deckst du zu mit deiner Gewässer dunkel
          Rollendem Bahrtuch.

Tief geheimnisvoll, wie des Weltenschicksals
Stimme tönt dein Donnergebrüll ins Ohr mir
Ehern, rauh, hohnlachend, so vieler Völker
          Wiegen- und Grablied.

Endlos groß hinwogendes Meer, wer bist du?
Aus Versehn entfesselte rohe Urkraft?
Oder gab ein Gott, ein Gesetz dir dieses
          Amt der Vertilgung?

Oft wie Atemzüge des großen Weltgeists
Weht's aus deinen Tiefen; mir ist, als hört' ich
Heil'ge Laute, welche der Schöpfungssagen
          Rätsel mir lösten.

Doch umsonst mit sterblichem Mund beschwör' ich
Jene Geister über den Wassern schwebend;
Frag umsonst ... du speist an den Strand als Antwort
          Trümmer und Leichen.

Weltverhängnis, bist du die Weltvernichtung?
Ist das Leben ewiger Untergang nur?
Eins erschau ich klar: Dein Beruf, o Mensch, ist
          Stetes Entsagen.

Hier erkenne, hier, wo versunkner Völker
Geist entsproßt nie wieder gelungne Blüten,
Was der Menschheit Los – und des eignen Schmerzes
          Lerne vergessen.


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