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XVIII. Geschichte als Auferbauung.
§§ 95-96.

›Voll tiefsten Sinnes ist das Wort ›erbauen‹.
Was vor- in ihrem Gott die Völker schauen,
Ist Riß zum Bau, der leibhaft werden soll,
Ist Volkes-Bildform, diese wächst es voll.‹

§ 95. Das angeborene Ich und das eingetretene Selbst.

Ich benenne mit einer in der deutschen Romantik geläufigen Begriffsabgrenzung die erfahrbare gegebene Person als das angeborene Ich; das Leitbild ihrer Geschichte dagegen als ihr eingeborenes Selbst.

›Vor jedem steht das Bild des, der er werden soll,
Bevor er das nicht ist, wird nicht sein Friede voll.‹

Sobald man das Ich als Träger des Geschehens betrachtet, zeigt sich unumgänglich ein Doppeltes.

Die Vor-stellung des Zieles (also des Leit-bildes der Handlung) muß notwendig unterschieden werden von dem die Handlung tragendem Ich selbst. Plato bezeichnet diese Zweigeteiltheit als die des ersten und des zweiten Bildes (des πρωτότυπον und ἔκτυπον).

Es ist unmöglich bewußtes Handeln zu denken, welches nicht von einem Ich getragen und von der Vor-stellung eines Leitbildes begleitet wird. Wie man denn aus ›Ausdrucksbewegungen‹ (z. B. Gehen, Tanzen, Schreiben usw.) keineswegs das gegebene zugrunde liegende Ich des Sichbewegenden entnimmt, sondern entnehmen muß, welches Formbild der betreffenden Bewegung vorschwebt, indem nach diesem Anbilde (ἔκτυπον) das tragende Ich sich zu strecken pflegt. Die Spannweite der beiden Ichs bedingt diejenigen Regungen und Erlebnisse, welche man als die eigentlich menschlichen (d. h. beurteilenden, auswertenden) bezeichnen kann. Ihnen gegenüber stehen die naturhaften Erlebnisse, als welche der Zweigeteiltheit im Ich entbehren.

Nur dem wollenden Menschen (im Gegensatz zum ästhetisch-fühlenden) ist die hier in Rede stehende Zweigeteiltheit eigen. Man wird diese Zweigeteiltheit im Ich überwunden und überwindbar finden, im selben Maße als die Erlebnisse der bewußten Aufsicht des wachen Willens entgleitend, sich annähern jenem rein anschauendem Zustande, welcher als der schlechthin ungespaltene, ursprüngliche, vorbewußte Zustand der Einsfühlung (Ahmung) aller Zweigeteiltheit, die unser Wissen um Ich und Gegenstand unterströmt, entweder noch entbehrt oder sie wieder aufhebt. Mit dem Gegensatz ästhetisch – ethisch hängt der menschenkundliche der selbstliebenden und selbsthassenden Naturen zusammen (φίλαυτοι und μίσαυτοι).

Aus der Doppelnatur von Gegebenheits- und Form-Ich erklärt sich eine Fülle der merkwürdigsten, geheimnisvoll anmutenden Erfahrungen. (Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 463-475.) Die Belege für die Lehre vom Doppel-Ich finden sich an allen beigebrachten Stellen über Ahmung. Eine besondere Anwendung auf die Ästhetik der Schaubühne bietet die ›Theaterseele‹ sowie die Abhandlung über das Schauspielerdoppel-Ich im ›Fröhlichen Eselsquell‹. – Die Schrift ›Hypnose und Suggestion‹ vom Jahre 1907 enthält die Ahmungslehre im Keime.

Überall dort, wo das gegebene Ich starr geworden und gleichsam festgeronnen verdinglicht scheint (z. B. angesichts des Leichnams, der Wachsfigur, des eigenen Bildnisses, des Automaten, der Marionette, des Doppelgängers, auch der menschenähnlichen Felsen, Bäume, toten Gegenstände), erlebt die wachbewegte strebende Seele ein lähmendes Erschrecken und Erschaudern in Angst. Dieses liegt daran, daß die Bewegtheit des Lebens grade gründet auf Fortdauer des Zerspaltenseins in fertige, dinggewordene Gegebenheit und strebendes Verwirklichen der Welt (›Wirklichkeit‹ und ›Ideal‹), welche Zerspaltung zwar fortdauernd eine Forderung der Vereinheitlichung stellt, niemals aber beseitigt werden kann, weil die den Bruch endgültig aufhebende Einheit auch die Lebensbewegung selber aufheben würde. Der Mensch wird von zwei Toden umgraut. Er kann einmal sein Ich auflösen und verlieren an die Umwelt. Er kann zweitens im Ich verstarren gegenüber Umwelt. Er stirbt als Schwamm oder Bildsäule. (Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 465 über Entartungs-Synthese und Dissoziation.)

Das Verhältnis der beiden Ichs im wachen Bewußtsein läßt eine dreifache Auslegung zu.

1. Das Form-Ich wird gedacht als das Ideal, d. h. als Richte des handelnden Willens.

m-Ich wird gedacht als das Wesen der Person (ihr besseres Ich, neuer Adam, eingeborener Engel, intelligibler Charakter), auf welches sie zwar von Natur angelegt ist, aber welches in dieser auf Neid und Not aufgebauten, sich wechselweise zerfleischenden Raubtierwelt immer nur unvollständig vertrübt zum Vorschein kommt.

Diese beiden Möglichkeiten unterscheiden sich so, daß im ersten Fall das Form-Ich als zu verwirklichendes Ziel am Ende der Geschichte steht. Im zweiten Fall dagegen denkt man die gestaltende Idee in den Ursprung der Geschichte hinein, als metaphysische Grundlage der Erscheinung.

3. Endlich kann man beide Ichs untrennbar in eines zusammenschauen, indem man ihr Zweierlei nur als notgedrungene Auseinanderlegung in Begrifflichkeit gelten läßt. ...

Es handelt sich um den Kern des sogen. Universalienstreits. Die Universalia post rem, ante rem und (für den sogen. Konzeptionalismus) in re entsprechen dem dreifachen Verhältnis der beiden Ich.

§ 96. Gestaltträger und Gestaltform. Menschheits-Ich und -Selbst.

Die im § 95 dargelegte Unterscheidung gilt zunächst nur für Geschichte im Ich, Geschichte des Ich.

Nun hat aber die erkenntniskritische Untersuchung des ersten Buches ( § 7) klar dargetan, daß Geschichte immer Geschichte des Ichs ist; d. h.: daß sie eines als Träger des Geschehens gedachten und dem Zeitabfluß unterstellten persönlichen Seins bedarf, welches letzthin nur Wiederspiegelung des Geschichte formenden Geistes sein kann.

Indem dieser unterschobene, gemeinmenschliche Träger als in Geschichte handelnd und wollend, gleichsam als die im Leibe der Ereignisse sich auswirkende Geschichts-Seele gedacht wird, bedarf es notwendigerweise eines richtungsetzenden Form-Anbildes, an hand dessen die Geschichtsseele ihren Leib auferbaut.

Jede abgeschlossene Kultur- und Volkheitsgeschichte ist Verwirklichung eines solchen Form-Anbildes, d. h. einer bestimmten Möglichkeit von Lebensgestaltung. Aristoteles nennt den Gegensatz formenden Trägers und zu formenden Bildes mit den Worten ἐνέργεια und δύναμις, ὕλη und εἶδος (ἐντελέχεια), d. h. Stoff und Form.

Welches Form-Anbild das ›Wesen‹ einer Kultur- oder Volkheitsgeschichte erschöpfend darstellt und als ›Stil‹ der Zeit, Charakter des Zeitabschnittes ergriffen wird, das kann erst von nachhinein (unter Nichtberücksichtigung anderer, in selber Zeit gleichfalls vorhandener, aber nicht für die Zeit ›wesentlicher‹ Formgedanken), durch die Sinngebung von nachhinein ausgemacht werden. (Vgl. § 28, besonders S. 63.)

Man kann diesen Vorgang der Bildung geschichtlicher Formeinheiten mit der Heraushebung von Zahlenwerten aus der fließenden Zahlenreihe vergleichen.

Für die nichteuklidische Mathematik gibt es keine festumrissenen Größen. Der Zahlenkörper als ideale Geltungseinheit ersteht vielmehr durch einen rein-gedanklichen, zuletzt willkürlichen Schnitt durch die fließende Stetigkeit der Reihe, welche nicht bloßes Nebeneinander starr umfassender Gebilde, sondern unbegrenzte und unbegrenzbare ununterbrochene Entwicklung von Beziehungsgrößen ist.

Dem entsprechend muß man auch die geschichtlichen Formgebilde (wie Geschichte Indiens, Rom, das Judentum, die Neuzeit, Gotik, Stil der Renaissance, Zeitalter der Technik, Weltkrieg usw.) für nichts anderes betrachten, denn für rein gedankliche, zuletzt willkürliche Schnitte durch das nie unterbrochene, stetige, grenzenlos verfließende Leben.

Wie aber kommen diese Querschnitte zustande? Alle Möglichkeiten, unzählbar und unermeßlich, liegen jederzeit in jedem Volke, ja in jedem lebendigen Einzelwesen immer-gegenwärtig beisammen. Was Geschichte eines Volkes zur bestimmten Geschichte bestimmten Volkes, was das Einzelereignis zum unwiederbringlich-geprägten Gebilde macht, Des Aristoteles: τόδετι; ›Jetzt und Hier‹. (Einmaliges Erleben, im Gegensatz zum Individual-Begriff.) das ist: daß aus Milliarden möglicher, wohl am Leben zu verwirklichender Formgedanken ein einziger vorgewertet, herausgegriffen, zu Leib und Blut gewandelt wird.

Das ist der Sinn des verächtlichsten aller Fremdworte, des Wortes: Kultur. Zu Deutsch: Aufbau.

Je umfassender das in ihr verwirklichte Anbild, um so höher steht ›Kultur‹, denn die allerhöchste, nie zu verwirklichende und nur als im-Unendlichen-liegendes Ziel gegebene, würde reine Verwirklichung sein (d. h. in ihr würde sich die Verwirklichung der gesamten Überwelt des Idealen am Lebenselement vollendet und mithin die Dreiheit: Leben-Wirklichkeit-Wahrheit aufgehoben haben).

Unerläßlich also ist die Begrenztheit und Bestimmtheit des Lebens vermöge formenden Gedankens.


Ich habe wiederholt den Versuch gemacht, den Vorgang der Formverwirklichung am Lebenselement klarzulegen. (Besonders Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 412 f.) Man kann von keinem Ideale, es sei das wunderlichste, sagen, daß es ›Utopie‹ sei, denn Ideale sind immer Teilinhalte des Seelenlebens, welche vor anderen Inhalten (an hand gewisser Wertaxiome) vorgewertet werden. Das Ideal ist also stets gegenwärtig als Möglichkeit oder Vorangelegtheit des Werdens.

Indem aus dem Gesamtbewußtsein des sich auswirkenden Lebens beständig Teilinhalte herausgegriffen, gewußt-gemacht, als An- und Auf-bild der Lebensbewegung aufgepflanzt und zu verwirklichen angestrebt werden, ist jede Bildung, jede Geistigkeitsstufe nichts als Verleiblichung einer unter zahllosen möglichen Formideen am Lebenselement. Tiefsinnig sind die Worte ›Bild‹ung und Ein›bild‹ung. Ebenso das schöne ›Wirk‹lichkeit, worin das Gleichnis des Webstuhls (wirken = weben) steckt. Idee bedeutet: Gesicht, Anschau.

Das ist die Zweiheit in jedem Glauben! Das gläubige Herz sieht in der Gesamtgeschichte das Bild eines seienden oder werdenden Gottes. Damit tritt der Zwiespalt in Geschichtsträger und Geschichtsformbild klar an den Tag. ›Gott‹ wird immer als ein Doppeltes gedacht. Man denkt ihn einmal als die Einheit und Gesamtheit weltumspannenden Seins (brâhma, ὄντως ὄν). Sodann aber denkt man ihn auch (wie das deutsche Wort ›Gott‹ = gut rührend zum Ausdruck bringt) als das richtunggebende Anbild der Geschichte (Geist, Wahrheit, Logos). Er ist zugleich Seinsbegriff und sittlicher Begriff, Gegebenheit und Aufgegebenheit. In diesem Sinn sagt christliche Symbolik, welche nicht der Lebens-, sondern der Wert-gläubigkeit entquillt, ihr Gott sei der Schöpfer der Welt.

In der Sprache meiner Philosophie würde ich sagen: Die uns einzig zustehende bewußtseinswirkliche Welt birgt den Zwiespalt der Verwirklichung einer idealen an einer elementaren Sphäre vermöge Bewußtseins. Oder anders ausgedrückt: die Wirklichkeit ruht zwar im Schoße des Lebenselementaren, aber ist überspannt vom Jenseits des Reinformalen. Das Verhältnis der Geschichte als Wirklichkeit ( Buch I u. II) zu Geschichte als Ideal ( Buch III) ist dasselbe Verhältnis, welches jegliche Theologie zwischen ›Gott als Leben‹ und ›Gott als Wahrheit‹ bestehen läßt. Ich verweise als auf ein äußerst lehrreiches Beispiel für die Übertragung der Ideale auf die zeitliche geschichtliche Ebene auf das Gleichnis des christlichen Abendmahls. – Indem der Priester das gesegnete Brot aus feinem Weizen und die Schale voll Weines nach vollzogener Beichte zur Erneuerung darreicht, spricht er das Wort: ›Dies ist mein Blut; dies ist mein Leib.‹ Das will sagen: Gedenke, indem du issest und trinkst, mit den Verrichtungen deiner tierischen Natur aufzuerbaun den Leib Christi als das Form-Ideal deines Kulturkreises. Dazu lebst du, darum issest und trinkst du, damit an dir und in dir Christus Fleisch werde. – Daß aber grade das Brot und der Wein des zum Gleichnis diene, ist von hoher Schönheit. Denn das weiße Brot (›Mark der Mannheit‹ nennt es Homer) ist der zarteste Auszug aller menschlichen Mühen. Die ganze Wirtschaft und Arbeit des Volkes wird im Brote Frucht. Der Wein aber ist Auszug der Natur. Wir genießen in ihm das Blut gewordene Licht. Alle Gestirne müssen wirken, daß die Traube zum Weine reift. Die Abendmahlsspende also besagt: Vollende in dir das Weltall und deine Erde zu Gott, wandle das historische Ich zum zeitlos wahren Selbst der Geschichte.

§ 97. Staatskörper und Volksbaubild.

Die Beziehung von ›Ich‹ und ›Selbst‹ kehrt überall wieder, wo ein lebendig-wandelbares Element (beispielsweise eine Gemeinde, eine Körperschaft, ein Regiment Soldaten) in eine unwandelbare, feste, ideale Bauform gleichsam hineingegossen wird, um an ihr Gestalt zu empfangen. Was man dann die Geschichte der Gemeinde, der Körperschaft, des Regimentes nennt, das ist sowohl die Geschichte des tragenden Ich wie des richtunggebenden Selbst, es ist die Baugeschichte der Verwirklichung des einen am andern.

So sind alle Stil- und Form-Anbilder (der Gedanke: antike, byzantinische, arabische, gotische Kunst; Ideale; wie: Weltherrschaft, Weltverbrüderung, Weltfrieden, Völkerbund usw.; Ideen, wie: Nirwana, Sokratische Schule, Stoa usw.) gar nichts anders als Baugedanken zum Zweck von Wirklichkeitsgestaltung; künstlichen Prägeformen vergleichbar, dank deren formlos-zerstiebender Wüstensand eine Zeitlang sinnvoll gebunden wird. Von den Baugedanken der Willenschaft unterscheide ich die Arbeitsgedanken der Wissenschaft. Diese dienen der ›übermächtigenden Orientierung‹.

Den immerwechselnden an hand zeitloser Axiomatik auszuwertenden Baugedanken verdankt das Menschengeschlecht die ›Weltgeschichte‹ genannte Sinngebung des Sinnlosen.

Der in der Einzelseele lebendigwache Gegensatz: Ich und Selbst kehrt im Völkerleben wieder. Es ist der Gegensatz von Volkskörper und Volksseele. Er ist nicht minder künstlich und nur begrifflich wie jede Entgegensetzung einer leiblichen und einer geistigen Seite von Natur, da ja Leib nie etwas anderes als Ausdrucksform seelischen Baubildes und mithin gestaltgewordene Seele ist.

Man kann (um ein naheliegendes Beispiel anzuführen) die Beziehung des Abendlandes zu der sogenannten antiken Kultur dem Verhältnis von Ich und Selbst vergleichen. Das die abendländische Erde seit 2000 Jahren beherrschende Anbild des griechischen Altertums (welches nie natürlich-wirklich war, sondern: Umdichtung, Umdeutung, Illusionsschöpfung) ist gleichsam das ›bessere Selbst‹, dank dessen der europäische Mensch sein Ich auferbaut. Besonders deutsche Bildung und Bildungssprache ist – leider! fast ausschließlich an hand erträumten Altertums auferbaut.

Erst von diesem Standpunkt aus begreift man die notwendige Unduldsamkeit der Geschichte. Das Musterbild, welches jedes Volk, jede Kaste oder Gruppe von sich selber hat, wird mit solcher Andacht ergriffen, daß der Zweifel an den Verklärungen der Geschichte in den vorwiegend geschichtlich eingestellten modernen Zeitaltern so geahndet wird, wie in den ungeschichtlichen der Frevel am Göttlichen. Es handelt sich in der Tat um Grunderlebnisse des Glaubens.

Trug wäre es, zu wähnen, daß schon die elementare Natur Zucht und Richtung berge. Das Element kennt nur blinden Drang, dem Schmerz, dem Untergange zu entgehn. Alles ist von Natur möglich. Jeder Keim, jede Anlage ist millionenfach vorhanden. Was wirklich werden soll, bestimmt erst das Bewußtsein. Alle Möglichkeiten werden sinnlos chaotisch verschwendet, wo nicht als rettender Notausgang Bewußtsein dem Elemente sich enthebt, um formend und fordernd seine Welt aus Millionen möglicher Welten aufzuerbauen, seine Welt der Vorstellung, welche jedes Bewußtsein in ahnungsloser Vermessenheit die ›wirkliche‹ nennt. So verfügt Bewußtsein: Zucht und Züchtung. Das will sagen: ein Gerichtetsein des Lebens im Sinn vorbestimmenden Bereiches der Wahrgesichte und Richtunganbilder (norma).

Dem Leben geben wir das Ziel; wir bringen ihm Gott, Gericht und Wahrheit. Daß wir diese ›vorzufinden‹, der Natur zu entnehmen wähnen, erfolgt gemäß jenem seelengesetzlichem Zwange, Erhofftes als verwirklicht, Ewiges als zeitlos annehmen zu müssen.

An jedem Gemeinschaftsleibe kehrt sie wieder: die Verwirklichung des Glaubens mit Hilfe der Annahme, daß das Geglaubte wirklich sei. Der Mensch baut seinem Richtebilde den Leib dadurch, daß er bestimmte Möglichkeiten des Werdens vorwertet. Und während er glaubt, das Erstrebte in Stoff und Natur ›vorzufinden‹, offenbart und bewährt sich an Stoff und Natur sein weltgestaltender Formungswille.

Die bekannten ›Nationaltugenden‹, welche jede Volkheit ihren Helden, Führern und Göttern zubilligt, ja sogar noch in den Zerrbildern der eigenen Eigenart anbetet, jene Tugenden, von denen es in den Geschichtsbüchern heißt: ›Sie waren seit Ursprung unsern Ahnen eigentümlich‹, sind schließlich wie Fenster, durch welche man auf Wünsche, Hoffnungen, Bedürfnisse, Wunden, Gefährnisse des Volksganzen hinblickt. Volk und Mensch bedürfen des Glaubens an Geschichte, um sich ausheilen und vollenden zu können.

Indem wir in Einfalt diejenigen Eigenschaften uns zubilligen, die wir zu haben benötigen, indem wir sie an uns wachhalten und hochzüchten, gewinnen wir die Ermutigung, daß künftig wirklich werden kann, was angeblich schon ehemals wirklich gewesen ist. Christi Geburt in irdischmenschlicher Gestalt wurde schon von der Gnosis damit begründet, daß die Ermutigung Christi Hoch- und Hehrbild künftig zu erwachsen nur aus der Gewißheit kommen könne, daß es in Stoff und Zeit gegenwärtig gewesen sei.

Die Nationaltugenden eines jeden Volkes sind daher solche, die grade diesem Volke besonders schwer fallen. Seine Mängel werden zu Augen, mit denen es sein Ideal erblickt.

Ich greife aus vielen möglichen Beispielen die deutsche Volkstugend: Treue heraus. Nach A. Ficks Vergleichendem Wörterbuch der indogermanischen Sprache bedeutet arya: treu.

Die deutsche Treue wird in Millionen Liedern täglich gepriesen. Spricht die Geschichte: der ewige Kampf der Kaiser gegen die Fürsten, der Fürsten untereinander, beider gegen die Städte, der Städter unter sich; spricht der Wirrwarr aller Mund-, Stammes-, Landschaftsarten, spricht die ruchlose Unzuverlässigkeit des deutschen Volkstums in fremden Landen, seine niederträchtige Verwelschung, Verengländerung, Verslawung, spricht die grauenhafte Flickwörternatur der neuhochdeutschen Umgangssprache vom Ruhm dieser Treue? Wenn wir morgen die Wiederkehr des alten deutschen Bundesstaates erleben, wird dann diese vielgepriesene Treue stichhalten? Beginnt übermorgen der Zerfall Deutschlands in kleine Volksfreistaaten, wird dann diese vielbemühte Treue wieder mal ›auch anders können‹? Das wurde 1916 geschrieben, nun wo es gedruckt ist, da ist die vorausgesehene große Revolution, (genau um vier Jahre und drei Monate zu spät), eingetreten.

In den alten Liedern der Edda rühmen die Helden ihre Treue, indes immer der eine dem andern übers Ohr haut. Besonders abscheulich ist die unbefangene Verschlagenheit in der Eddaerzählung vom Schmiede Wielant, der, als ihm von seinem Könige Unrecht geschieht, sich dadurch rächt, daß er die Königskinder hämtückisch an sich lockt und ermordet, um aus ihren Knöchelchen Schmuckstücke für die Eltern zu verfertigen, ja zuletzt sogar die zuvor durch einen Schlaftrunk niederträchtig betäubte Königin schändet. Man darf durch das vielangeführte Wort Treue nicht sich verleiten lassen, in den Heldenliedern der Skandinavier, Angelsachsen und Germanen eine echte bewußte Pflichtsittlichkeit zu suchen. Zur Seelenkunde der Treue: ›Weib, Frau, Dame‹ S. 109 f. Wo steckt die Treue im Epos von den Nibelungen? Blutrache, Sippenehre, Gemeinverantwortlichkeit, hartnäckiger Kampfesmut, das alles ist nicht Treue. Gunther bricht Siegfried, Siegfried Brunhilden, Krimhilde dem Gunther, Hagen der Krimhilde die Treue. Ein blutiger Faden von Verrat zieht sich durch das barbarische Epos, indes man zur Messe geht und zum Meister der Liebe singt. Auch das schönste deutsche Liebesgedicht, das Lied von Tristan und Isolde, zeigt eine natürliche einfältige Freude am gelungenen Betruge, ohne daß sein herrlicher Meister Gottfried von Straßburg, je auf den Gedanken käme, daß das falsche Spiel seines blauäugigen Helden und seiner blondlockigen Heldin, ihre Lügen und Listen, falschen Eide und gegen den arglosen Marke geübten Sinnrückhalte den Wert ihrer Liebesleidenschaft vermindern könnte. Deutschlands berühmtester Volksheld, Hermann, der Cherusker, offenbart sowohl in Kleistens wie in Grabbes Drama eine Verschlagenheit, wie kaum je ein hinterhaltiger Punier sie offenbart, aber strömt doch über vom Ruhme der deutschen Treue. Endet sie an der Landesgrenze? Dann wehe jedem, der sich auf sie verläßt! Reineke Fuchs, das Urbild niederdeutschen Volkshumors, zeigt nicht minder wie die kerndeutschen Lügengeschichten des Freiherrn von Münchhausen eine urbehagliche Freude am Überlisten und Übervorteilen. Wollte man das gute deutsche Schrifttum auf die berühmte Treue hin durchmustern, dann würde man zu seiner Verwunderung sehen, daß die herzliche Betrügerei mit gutem Gewissen im deutschen Wesen tiefe Wurzeln schlug. Sogar bei unsern grundehrlichen Luther und Lessing wird treuherzig gelogen. Luther wettert zwar knorrig wider welsche Tücke und römische Arglist. Aber wenn’s mal nottut, dann genehmigt auch er sich List und Lüge, nur freilich mit Entfaltung von viel warmherziger Schützenbrüderlichkeit. Sogar der wackere, biedere Tellheim, der alle undeutsche Windbeutelei verachtet, vermag mit Moral und aus Moral wie ein Franzos zu flunkern. Die Helden Richard Wagners überlisten einander, wo sie können, und seine germanischen Götter begaunern sich mit Tiefsinn und Innigkeit. Nietzsches Zarathustra vermag, während er die neue welterlösende Sittlichkeit begründet, die ›höheren Menschen‹ in seine Höhle zu locken und durchs Schlüsselloch heimlich auszuspähn. 1914, nach Ausbruch des Krieges, gab der Dichter Gustav Frenssen ein Epos ›Bismarck‹ heraus, durch welches er dem deutschen Volk in der Schicksalsstunde ein Vorbild großer Staatskunst zu errichten glaubte. Bismarck ward dargestellt, wie er war: treuherzig-listig, gemütvoll-verschlagen. Das gab einen Sturm der Entrüstung, und dem Dichter blieb nichts übrig, als sein Werk zurückzuziehn und einstampfen zu lassen. Wie nennen wir das bei den Engländern? cant. Und bei uns? Treue. Vielleicht ist das, was man gemeinhin ›Treue‹ nennt: jene stiernackige Rammklotzigkeit des Wesens, welche Tacitus an der bekannten Stelle, Germania Kap. 24, erwähnt: ›So hartnäckig sind die Deutschen selbst in verwerflichen Dingen; sie selber nennen das Treue.‹ Diese von Tacitus erwähnte › pertinacitas‹ ist eine gewisse selbstgerechte Ernsthaftigkeit, der gegenüber die Prahlerei und Ruhmsucht südlicherer Völker kindlicher und darum liebenswürdiger anmutet.

Hier sei eine Frage berührt, deren Verständnis viel Leidwesen, Streit und Bitterkeit würde verhindern können. Ist das einem Staatskörper vorschwebende Volksbaubild Ausdruck bestimmten Blutes fest umgrenzter Rasse? – Überall wird man die Erfahrung machen, daß diejenigen Eigenschaften, die ein Volk als die reinsten Verkörperungen seines Blutes verehrt, von den blutsfremden Gliedern des Volkes am reinsten auferrungen und verleiblicht werden. Die reinsten Vertreter des Deutschtums, Engländertums, Russentums usw. sind durchweg Menschen, die noch nicht allzulange in dem betreffenden Volkskörper verwurzelt sind. Es geht damit wie mit den Bakterien, gegen welche ein Körper, auf dem sie längere Zeit ansässig sind, schließlich völlig gleichgültig und unempfindlich wird, während die Keime sofort neulebendig und sogar für den gegen sie schon unempfindsam gewordenen Körper wieder wirksam werden, sobald sie mit einem blutsfremdem Organismus, wenn auch noch so flüchtig, in Berührung gekommen sind. Ich habe a a. O. diese Tatsachen als Gesetz des Wiederauflebens durch Stauung erläutert.

Die Könige, Führer, Helden, Götter eines jeden Volkes sind daher von fremdher zugewandert. Es ist, als ob kein Volk für das bei ihm selber Geschehene, weder für seine Tugenden noch für seine Fehler, ein genügend unbefangenes Auge habe, so daß erst immer der fremde Blick eine neue Aufmerksamkeit erregen kann. Man kennt ja auch die alte Erfahrung, daß die Sehenswürdigkeiten jeder Stadt wohl von den Durchreisenden besichtigt und gewürdigt werden, dagegen ganz unbeachtet sind von denen, die mitten darunter leben. Von fünf preußischen Hofhistoriographen ist keiner ein Preuße gewesen.

Wie die Bewohnerschaft eines Ameisenhaufens durch einen nur ihr allein wahrnehmbaren feinen Geruch von der Bewohnerschaft jedes anderen Ameisenhaufens sich unterscheidet und daher die von auswärts in den Umkreis des Haufens hereingeratenden fremden Ameisen überfällt und tötet, so verneint eigentlich jeder Mensch den Dunstkreis jedes andersartigen Menschen. Wenn aber der Ameisenforscher die Tierlein aus verschiedenen Haufen in die selbe Zuckerlösung tauchte, so können sie sich nicht mehr auseinanderhalten, sondern wimmeln friedlich beisammen und lecken sich brünstig.

›Und mit solchen Dingen verbringen wir unser Leben
Und droben auf Wolken sitzen die Unsterblichen und lachen über uns.‹

Shakespeare.



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