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Geschichte als Wirklichkeit

 

 

›Lasset nichts unversucht, denn nichts geschieht von selbst, sondern alles pflegt vom Menschen her zu geschehen.«

Herodot VII c. 9. 3.

 

 

Die Vorhalle.

§ 1. Der Scheingegensatz: Natur und Geschichte.

Seit Herodot, der Vater der Geschichte, seines Volkes Chronik im Glauben an Gerechtigkeit schrieb, jenem Glauben, der geneigt macht, das Bewährte gut, das Unterliegende schlecht zu nennen, ist immer und immer wieder dieser fromme Wahn verkündet worden, daß Geschichte Vernunft und Sinn, Fortschritt und Gerechtigkeit wiederspiegele. Und zwar wirklichen Fortschritt, wirkliche Gerechtigkeit, Vernunft und Sinn als wirkliche Befunde einer unmittelbar gegebenen Wirklichkeit dieses unseres Menschenlebens. Keineswegs aber nur als Unterschiebung oder Unterstellung einer vom Geschichte Schreibenden nachträglich zurechtgebogenen oder gar vom Ich erdichteten Wirklichkeit.

Das eben (so meinte man) beweise ja den Unterschied von Geschichte und Naturwissenschaft: Naturwissen erdichte fiktive Wirklichkeiten, wie z. B. die Atome, Monaden, Naturkräfte und zuletzt die mathematischen Definitionen der Mechanik. Geschichte hingegen offenbare eine ganz unmittelbare Beziehung zu dem, was lebt. Die Naturwissenschaft freilich sei wohl nur menschliche Gedankentat. Sie enthalte notwendige Unterstellungen, Arbeitshypothesen, Entschlossenheitsstandpunkte, Definitionen als Mittel und Mittelchen, mit deren Hilfe der Mensch das an sich unausmeßbare Leben bändigen, gewältigen, entwirken, übermächtigen könne. Geschichte dagegen schaffe und setze keine Wirklichkeiten, sondern spiegele die eine, die wahre, echte, eigentliche, unmittelbar gegebene Wirklichkeit. Geschichte sei daher das Leben selber, wenigstens in dem Sinn, in welchem Fichte, Schelling und Hegel Geschichte als ›Einheit des Weltgeschehens‹ definierten und abgrenzen zu können wähnten vom ›bloß Historischen‹ als von der Beschreibung oder Erzählung gelegentlicher Einzelgeschehnisse in Raum und Zeit.

Zahllose Geister hielten und halten seither an diesem Wahne fest, die Inhalte der Geschichte seien wirklicher oder doch in einem anderen Sinne wirklich als Inhalte der Naturwissenschaft. Ja neuere Schulen der Philosophen (gegen die ich frondieren muß) haben die ›Naturwissenschaften‹ und die ›Geisteswissenschaften‹ (und zu diesen soll auch Geschichte gehören) auseinander gerissen, in der Art, daß nur den Geisteswissenschaften die Fähigkeit zuerkannt wird, die ›Innenseite‹ des Lebens zu offenbaren, während Naturwissen, kraftsparend-pragmatisch und bloß Symbole schaffend, über das Leben orientieren müsse. Daher verzichte denn freilich Geschichte (handle es sich nun um Kriegs-, Staats-, Literatur-, Kultur- oder Philosophiegeschichte) auf die strenge Methode einer exakten Wissenschaft. Sie schildere, sie reproduziere Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt des Wertes. Dennoch aber dürfe diese recht eigentlich nicht-exakte Wissenschaft behaupten, das Leben unmittelbarer einzufangen, dem Wirklichen näher zu stehen und aus viel wärmerer Teilhabe das Wirklich-Seiende wiederzugeben, als z. B. die Atomformeln der Strukturchemie, physikalische Formeln über Energieumsetzung, generelle Gesetzmäßigkeiten der Biologie oder Verallgemeinerungen der Psychologie je vermöchten. Die Historiker erkennen freilich willig an, daß sie (in bestimmtem Sinn) ›subjektiver‹ sind als Naturforscher, weil man menschliche Wertgefühle und Wertvorurteile aus der Geschichte nie hinauswerfen könne. Anders als in der Naturwissenschaft! Denn es hätte ja freilich keinen Sinn, z. B. eine preußische, katholische oder buddhistische Zoologie zu schreiben. Dagegen müsse Geschichte durchaus auf Grund solcher a priori Sinn gebender Willenschaften geschrieben werden. Diese Willensbeteiligung wird von jedem besonnenen Geschichteschreiber zugestanden. Dennoch erhebt der Geschichteschreiber den Anspruch, etwas Wirkliches zu bieten. Ja, er behauptet sogar recht eigentlich die Wirklichkeit, unmittelbar und ohne Umschweif für künftige Geschlechter aufzubewahren. ›Geschichte ist die Wirklichkeit selber‹, sagt Leopold v. Ranke, und seine Nachfolge, in Deutschland zahllos, glaubt auch heute, daß ›historische Wirklichkeit sinnvolle Folgen am Faden der Kausalität aufreihe und im Verlaufe der Ereignisse eine natürliche, ja eine göttliche Vernunft offenbare‹ ...


Bekenne ich vorweg, Geschichte weder für Wirklichkeit noch für Wissenschaft zu halten, so kann man solche Skepsis schon auf der Schwelle billig ablehnen: ihr ermangele wohl ›der Sinn für das Wirkliche‹; ihr fehle wohl ›die Anschauung von Realitäten‹; sie habe wohl nicht dasjenige ›Organ‹, welches besonders häufig bei Europäern in staatlichen Berufen und mit akademischen Titeln sich vorfindet und ›historischer Sinn‹, ›politischer Geist‹, ›geschichtliches Organ‹ genannt wird (vergleichbar dem wohlbekannten ›metaphysischen Sinn‹ und ›religiösen Organ‹, auf welche seine Pächter als auf die Quelle ihrer weit tieferen Einsichten sich berufen). Entgegne ich aber, der Besitz dieses ›Organs‹ stamme aus dem Mangel, – aus Mangel des Sinnes für Wert, aus Mangel an sittlichem Trotz gegen das Notwendige, so wären wir in das alte, ganz trostlose Karussell hineingeraten. ›Pragmatiker‹ schimpfen auf ›Vernünftler‹; ›Aprioriker‹ lächeln vornehm über ›bloße Empirie‹. Was aber fruchten alle solche Streitereien? Wen förderten je die Kämpfe der Schulen?

Ich habe im folgenden das allen gemeinsame Gebiet der Erkenntniskritik aufzusuchen, um dieser die Frage vorzulegen: Was bedeutet Wirklichkeit, Fortschritt, Entwicklung, Sinn, Vernunft in der Geschichte? ... Ich wünsche den ersten entschiedenen Versuch zu einer historischen Kategorienlehre darzubieten.

§ 2. Leben, Wirklichkeit, Wahrheit.

(vitalité , réalité, vérité.)

Nennen wir die Geschichte ›Wirklichkeitswissenschaft‹, so wird selbst der naivste Geschichtsgläubige das Wort Wirklichkeit nicht in dem Sinne auffassen, als ob die Wissenschaft der Geschichte das absolute lebendige Urelement des Lebens selber unmittelbar wiederspiegele, da ja schon der Stoff aller Geschichtswissenschaft das sogenannte historische Leben eine bearbeitete Wirklichkeit, nämlich den Wirklichkeit genannten Inhalt menschlichen Bewußtseins darbietet; somit also die Anschauungs- und Bewußtseinsformen wo nicht menschlichen, so doch sicher ›des Bewußtseins überhaupt‹ schon voraussetzt, indem Bewußtsein selber mitsamt seiner ganzen Welt und Wirklichkeit eben nur eine Art Darlebung des lebendigen Elements ist.

Und wie wir die Welt des Bewußtseins, als welche allein Gegenstand von Geschichte ist, vom ›Leben an sich‹ abgrenzen, so müssen wir nach einer anderen Seite hin diese unsere Wirklichkeit auch gegen die Sphäre Wahrheit abgrenzen.

Auch der naivste Geschichtsgläubige, der ›nur Wirkliches für wahr hält‹, wird nicht wähnen, daß eine historische Feststellung in dem Sinne ›wahr‹ sein könne, in welchem mathematische Anschauungen oder rein rationale Erkenntnisse wie bloß logomathische, begriffsanalytische, gegenstandstheoretische Feststellungen eben ›wahr‹ sind. Geschichte hat in der Tat nur mit Wirklichkeit zu tun. Wahrheit aber ist eine normative Sphäre zur Beurteilung oder Auswertung von Wirklichkeiten; also nicht aus Wirklichkeit ableitbar und nicht auf Wirkliches zurückzuführen. Was die Bücher der Geschichte enthalten und überliefern, das ist Leben im Spiegel bewußten Wollens; also weder Element des Ansich-Lebendigen noch auch wahr in zeitlosem Sinne. Geschichte ist zeitliche Wirklichkeit und wie jeglicher Bewußtseinsinhalt eben auch aktiv gestaltet durch jene Kategorien, ohne die Bewußtseinsinhalt überhaupt nicht da wäre: durch die Formen des Zusammenhangs in der Zeit, des Fortschreitens, der Bewegung, worin ein ›historisches Subjekt‹ als Träger der Geschichte sich selber hat, hält und erhält. Keineswegs aber wird durch Geschichte ein verborgener Sinn, ein Kausalzusammenhang, eine Entwicklung in der Zeit per se offenbar; sondern Geschichte ist Geschichteschreibung, das heißt die Stiftung dieses Sinnes, die Setzung dieses Kausalzusammenhangs, die Erfindung dieser Entwicklung. Sie vorfindet nicht den Sinn der Welt; sie gibt ihn. Für die Terminologie erwächst Schwierigkeit daraus, daß die Sprache keine Begriffe darbietet, mittels deren man eindeutig einmal das Unmittelbar-Lebendige vom bloß Bewußtseins-Wirklichen und sodann innerhalb des Bewußtseins-Wirklichen historische Wirklichkeit von ›Wirklichkeit‹ der Naturwissenschaft unterscheiden kann. Meine Leser müssen dreierlei festhalten. 1. Alles, was der Mensch ›wirklich‹ und ›Wirklichkeit‹ nennt, ist nicht unmittelbar lebendig, sondern ist ›Feststellung‹ und somit Geschichte gewordenes, d. h. mechanistisches, in das Lebenselement eingebautes Leben. 2. Der Leser hat sich vor dem liederlichen Sprachgebrauch zu hüten, ›wirklich‹ im Sinn von bündig, sicher, wahr zu gebrauchen, wie es in nahezu der gesamten modernen philosophischen Literatur (z. B, fortdauernd bei Lipps, Külpe, Simmel, Rickert, Bergson) geschieht. 3. Ich bezeichne das unmittelbare, nur zu erlebende, aber nie bewußt zu ›erfassende‹ Lebenselement als das Vorbewußte. Dieses ›Vorbewußte‹ darf aber nicht mit dem ›Transzendentalen‹ der deutschen, kritischen Philosophie verwechselt oder untermengt werden. Diese nennt das Bewußtseinsformale (also: Anschauungsformen, Kategorien, Ideen) vorbewußt.



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