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XII. Das Fatum in der Geschichte
§§ 66-73.

›Wir schweben über dem Leben.
An dem wir kleben.‹

§ 66. Entweder – Oder.

Die Ausführungen des § 66, im Jahre 1915 geschrieben, richteten sich vornehmlich gegen zwei damals vielgerühmte, schlechthin verbrecherische Werke: ›Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg‹ von Max Scheler und ›Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr‹ von Rudolf Borchardt.

›Blickt um Euch, das alles habet Ihr gesprochen. Die Zeit arbeitet es in Menschenblut um.‹

G. Büchner.

Besäßen wir an der in Zeit und Kausalität verlaufenden Geschichte nicht nur den Reflex des Lebenselementes im Bewußtsein, sondern eben das Elementarische selber, dann wäre es absurd, die ›als Geschichte geoffenbarte Urvernunft‹ menschlich beeinflussen, wider ihren Stachel löcken oder ihr Ziele, Zwecke und bestimmende Programme vorschreiben zu wollen! –, folgerichtig wäre nur die einfache Überzeugung gläubiger Herzen: daß einen jeden das trifft, was gemäß einer undurchdringlichen Heilsordnung ihm vorbestimmt wurde.

Nun aber betrachte man das ruchlos-freche Getriebe der breiten Scharen Theologen, Religionisten, Metaphysiker und Poeten welche, zugleich einfältig und anmaßlich, dünkelhaft und demütig, mit Geschichte gehend und von ihr getragen, gleichwohl doch auch Geschichte machen wollen und daher eine zeitliche Wandlung und historische Genese in das Element des Lebens hineinverlegen.

Die Barbarei der von ihnen ruhig hingenommenen und daher mitverschuldeten europäischen Zeitgeschichte verklären sie willig als den ›notwendigen Wachstumsprozeß des Lebens‹, ›natürliche Angleichung gegebener Kraftrelationen‹, ›Entfaltung metaphysischer Energien‹, ›notwendiges Austragen der Herrschergewalt‹ u. dgl.; auch trägt ihre lächerliche Selbstbezüglichkeit und Selbstgerechtigkeit keineswegs Scheu: als das schließliche Endfazit der vermeintlich urnotwendig im Übernatürlichen verankerten Entwicklung eben Sich Selber und die eigenen politischen, nationalen, ganz aktuellen europäischen Machtforderungen und Programme vorzufinden.

Als klare Illustration zu der Taschenspielerei dieses Historische-Notwendigkeits-Köhlerglaubens Ich wählte den Namen in Erinnerung an die geschichtsphilos. Schriften von R. Köhler (Tübingen 1915), der sein metaphysisches Abrakadabra heroisch mit dem Tode besiegelte. gelten die großen Zeitkatastrophen, die man gerne als Sintflut, Weltgericht, historische Nemesis usw. hinzustellen liebt (womit man nämlich immer das Weltgericht an den andern meint, während jeder Sich Selber die aktive Rolle des Ordners und Strafvollstreckers, nicht die des armen Sünders, dabei zuspricht).

Stellt man die Frage, worin der Sinn und die Absicht all der Neugeburten, Reformationen, Revolutionen und Regenerationen ›historischen Fortschritts‹ eigentlich bestehe, so erfolgt mit Sicherheit die Antwort: Es sollen Zustände geschaffen werden, die die Wiederkehr von Geschichtskatastrophen wie der gegenwärtigen verhindern. Die Logik der Historiosophen ist also diese: Die Geschichte offenbart eine Vernunft, deren Vernunft es ist, sich von Uns zur Vernunft bringen zu lassen.

Man könnte angesichts all dieser ruchlosen Zeitdienerei wohl dahin gelangen, nur eine streng kausale Tatsachen-Festlegung gelten zu lassen und mithin alle Metaphysik von Geschichte zu verwerfen.

Damit geriete man aber in die Schlingen eines weit verfänglicheren Irrtums, denn man übersähe den oben dargelegten Unterschied von mechanischer Ursächlichkeit und immanenter Notwendigkeit.

Es kommt somit darauf an, den Begriff der immanenten Notwendigkeit gegen den der äußeren Kausalität der Geschichte aufs klarste abzugrenzen.

Mechanisch-erklärende Geschichtswissenschaft einerseits und Metaphysik der Geschichte andrerseits gelten beide, jede aber innerhalb bestimmter Grenze; und grade die Bestimmung dieser Grenze wäre unsere Aufgabe.

§ 67. Das historische Apriori.

Zur Abgrenzung der Geschichts metaphysik gegen Geschichts wissenschaft verhelfe uns der Begriff des historischen Apriori, welcher besagt, daß es geschichtliche Schicksals- und Erbschaftsmassen gibt, welchen der einzelne sich so wenig entziehen kann, als es z. B. einer Ente frei stünde, eines Tages auch als Adler davonzufliegen; denn was ihr Lebensloos als Ente a priori festlegt, das ist eben die Geschichte ihrer Art, welche mithin ein Apriori ihrer Geschichte ist. In dem hier gemeinten Sinne des ›fatum‹ gibt es also weder Verdienst noch Schuld. Ob man als wohlgeborene Blüte oder als schnödes Unkraut, als Goethe oder als Thersites sein Leben führt, beides ist Bestimmung. Der Natter ist der Giftzahn und der Rose ihr Duft zur Waffe mitgegeben; jedes Wesen sucht Freude; und es unterscheidet die Wesensarten einzig, worin sie ihre Freude finden.

Dieses an- und ein-geborene Erb- oder Schicksals-kapital der Geschichte benennt man gern mit dunkel-vieldeutigen Worten wie: Karma, Moira, Verhängnis (εἱμαρμένη), Charakter, Idee, Persönlichkeit, und meint damit etwas zugleich Werdendes und Werden Vor-bestimmendes; denn in der Tat ist das, was als Vorgeschichte geworden ist, zugleich vorausbestimmend für den weiteren Verlauf von Geschichte, indem der aus allen früheren Geschichtsbeziehungen herrührende und sie in sich aufbewahrende augenblickliche Lebenszustand als fatum wirkt für künftige geschichtliche Geschehnisse, so daß also sowohl die gesamte Vergangenheit wie die gesamte Zukunft in der jeweiligen Gegenwart immer ganz gegenwärtig ist.

Der in einen Geschichtszustand Hineingeborene kann ihn somit zwar von nachhinein billigen, heiligen, mit Sinn erfüllen (er geht zugrunde, wenn er das nicht tut!), aber er kann nicht dem überkommenen Weltzustande sich entziehen; dieser ist vielmehr sein eigener Wille, den er sowenig abzustreifen vermöchte, wie der Fisch das Meer oder die Pflanze den Boden, der eben in ihnen Gestalt wird. Ich gebrauche hier absichtlich den Terminus Schopenhauers; doch beachte man wohl §§ 57-66 und § 71.

Somit steht es dem Menschen nicht frei, seine Geschichte zu machen, insofern er sich nicht selber macht; dennoch aber kann man sagen, er habe gleichwohl alle Geschichte ›gemacht‹ und sei für sie verantwortlich, insofern seine Geschichte nur offenbart, was für ein Wesen er ist, denn wäre er anderen Wesens, so würde eben auch seine Geschichte eine andere sein. ...

Betrachten wir nun aber den Fluch des Fatum oder Apriori von einer ganz anderen Seite, so enthüllt er sich uns als die dem Lebenschaos abgewonnene Insel: ein umzäuntes Stück Gartenland, ein eroberter Fels im unaufhörlichen Fluß des Elements! Nur grade so weit nämlich reicht fatum als unsere Fest-legung im Unermeßlichen (als Charakter, Form, Gesetz, Prinzip und Gestalt) reicht. Überall unterstehen wir einem immanenten Zwange, aber dieser ist nichts anderes als Notwendigkeit aus Natur und Wesen (oder was dasselbe besagt, als die Freiheit unseres Wesens).

Was wir somit als Einheit und Einheitlichkeit einer Geschichte begreifen, das ist zuletzt bedingt durch die Einheit und Einheitlichkeit der hinter Geschichte stehenden, in ihr sich offenbarenden Lebensnatur.

Nicht also eine blinde elementare, regellos irrationale Gewalt, der wir willenlos uns unterwerfen, nein! die Folgerichtigkeit einer vorbedingenden Wesensart, die wir belasten oder entlasten können, die wir selber, unsere Vor- und unsere Nach-geschlechter in unbewußter Anpassung oder in bewußter Selbstgestaltung, dem sinnlosen Chaos enttauchend, erzüchten und fest-legen; nicht das Sinnlos-Elementare, sondern unsere eigene Sinngebung dieses Sinnlosen, nicht starres Sein des Absoluten, sondern eine an Hand von Idealen selbstgebildete und abgewandelte ›Wirklichkeit‹, – das ist Geschichte!

Mithin umschließt die vielgemißbrauchte ›Historische Notwendigkeit‹ nicht duldende Preisgabe des Menschen und Kapitulation seiner Ethik vor Naturgewalt, sondern offenbart grade umgekehrt den Triumph des eigenen Sinnes über das an sich Sinnlose. Wir besitzen Geschichte grade so weit als wir fatum haben. Geschichte haben besagt eben: schicksalsmäßige Bestimmung haben. Ein Chaos hat keine Geschichte.

§ 68. Auflösung des Fatums.

Volentem ducunt tota, nolentem trahunt.

Auf Grund dieser klaren Grenzbestimmung der fatalistischen Unvermeidbarkeit können wir nunmehr all die duckmäuserische, sophistische, mystagogische Orakelei über ›Historische Notwendigkeit‹ – abweisen!

Es ist zwar richtig, daß die gegebene Geschichte notwendiger Ausdruck gegebenen Wesens ist, warum aber grade dieses Wesen, warum der Mensch just als ein solcher dasein müsse, das läßt sich durch keine Logik begründen. Vielmehr ist kein historischer Tatbestand im logischem Sinne notwendig, sondern alles Geschehen innerhalb der Grenze von Geburt und Tod, ja sogar das Geborenwerden und Sterben selber ist der wertend-beurteilenden Selbstbestimmung und Selbstgestaltung einer Vernunft gegenüber, eben das Nicht-Notwendige und Bloß-Zufällige. Die Welt als vorhistorische Tatsache ist eben nichts als bloßes Material! Der Mensch könnte die Erde so gut zum Himmel machen, wie er sie zur Hölle macht. Er könnte so gut Geschöpf der Freude und Freiheit sein, wie er in allen seinen bürgerlichen und sozialen Tugenden nur das Produkt von Not und Notwendigkeit ist.

Wer also auf Historische Notwendigkeit sich beruft, der beruft sich zuletzt doch nur auf die gegebene Natur menschlichen Wesens. Und man sollte daher nie verfehlen, die Verantwortung für Geschichte eben auch seiner eigensten Wesensnatur zuzuschreiben.

Denn statt mit Geschichte alle Grausamkeit, Willkür, Selbstgerechtigkeit, Selbstsucht, Urteilslosigkeit, Dummheit, Widerstandslosigkeit usw. der menschlichen Despoten-, Sklaven-, Raubtier- und Schafs-Naturen zu rechtfertigen, müßte ein jeder von Rechtes wegen die Geschichte als seine eigenste ungeheure Schuld erfühlen.

Die ›Historische Notwendigkeit‹ darf eben nicht nach Art der logischen oder mathematischen gedacht werden; sondern was Dasein und Geschichte werden solle, das ist vorabhängig von der normierenden Selbstbestimmung des Menschen.

Die Herder-Comtesche Truglehre, daß der Geschichtsprozeß die bloße Weiterführung eines Naturprozesses sei, ist so unrichtig, daß man umgekehrt festhalten muß, daß just mit dem Beginn von Geschichte der Mensch aus der Natur heraus tritt und vom Naturprozesse sich befreit.

Wir finden auch eine ›geschichtliche Wirklichkeit‹ nicht so vor, wie wir › die‹ Wahrheit vorfinden, sondern wir gestalten nach Analogie unsrer selbst die Wirklichkeit als die an und im Lebenselement verwirklichte Wahrheit. So ist also alle Geschichte ein Zeitlich- und Wirklichwerden von Idealen, und man kann sagen, daß das Naturwesen Mensch zwar noch keine Geschichte hat, daß er aber in einer fernen Zukunft eine Geschichte haben kann, denn Geschichte zu haben, das selber ist ja nur Ideal des Menschengeschlechtes.

§ 69. Über die Unerfaßlichkeit des zeitlosen Elementes.

Vgl. § 36.

›Niemand kann sich selbst erkennen,
Sich von seinem Selbst-Ich trennen.‹

Goethe.

Wir haben nunmehr klargelegt, warum › fatum‹ nur ein Grenzbegriff ist, an dem die tiefen Gefühlswahrheiten der Religion (z. B. die Lehre von Erbsünde, Gnade, Kismet, Karma, Nemesis usw.) und die entsprechenden Lehren der Philosophen (z. B. Spinozas Begriff der › causa sui‹, Kants transzendentaler ›intellegibler Charakter‹, Schopenhauers mystische ›Selbst-verschuldung oder -bejahung‹ des Willens usw.) nur einen wege-weisenden Grenzpfahl besitzen, um auf das hinter Geschichte als menschlicher Bewußtseinswirklichkeit liegende lebendige Wesenselement zu verweisen, jenes factum brutum, das man ›Willen‹, ›Lebensschwungkraft‹, ›Unbewußtes‹ oder sonstwie nennen mag und das nur darum als ›sinnvoll‹ und ›bedeutend‹ anmutet, weil es in allen Erscheinungsformen, die sich je darstellen, immer ein und dasselbe, durch Raum und Zeit zerstückelte, aber an jedem Ort und zu jeder Zeit ganz gegenwärtige › Leben‹ ist‹. Die ›Welt‹ ist somit auch ›an sich selbst‹: zusammenhängende Ordnung; nicht aber kausaler Zusammenhang, nicht sinnvolle Ordnung (S. 92 f.).

Dieses Lebendige, welches als Geschichte gelebt wird, kann nicht gleichzeitig auch als Geschichte erkannt werden.

So wenig mein historisches Ich (als Spiegelung meines privaten Wesens in meinem und anderer Bewußtsein) ohne weiteres mit meiner eigensten Natur zusammenfallen kann, so wenig kann das, was wir Geschichte nennen, jemals das lebendige Leben des Geschehens zum Ausdruck bringen.

Es klingt freilich paradox, aber es ist dennoch so: Die Geschichte meines Ich ist etwas ganz anderes als Ausdruck meines Ich!

Das nämlich, was ich als mein Ich wahrnehme, das ist ein nach gruppenbezüglichen Interessen selektiv ausgesiebtes Leben, worin ich niemals mein eigenstes Selbst erfahre, vielmehr mich selber in einem von der Geltungssphäre einer Umwelt präformiertem Bilde erfasse; weswegen gewiß sein dürfte, daß es etwas wie unmittelbare Selbstwahrnehmung überhaupt nicht gibt und niemals geben kann. Vgl. § 6 S. 14.

So wenig das zur Spiegelung einer gegen-ständlichen Welt vorgestaltete Auge sehend sich selber sieht, (mag auch sein Gegenstand Analogon seines eigenen Wesens sein), so wenig kann dasjenige Wesen, welches hinter, in und durch Geschichte sich selber erlebt, in der von Bewußtsein fundierten Kausalkette sich selbst erfassen, (mag auch die Kausalkette Analogon jenes Lebendigen selber sein).

Was ich hier darlege: die Unerfaßlichkeit unsres Wesens durch uns selbst: wird dem, der sie in sich selbst erlebt (als Daimonion, Sendung, Martyrium, freudiges Gezogen-, schmerzliches Getriebensein, Nicht-auch- anders-können, Nur-auf-sich-selbst-gestellt-sein, Instinktsicherheit, Urteilsgewißheit, oder wie immer er das Bewußtsein seines Muß umschreiben mag) – es wird ihm nichts Neues sagen; dagegen muß es vollkommen unklar und dunkel bleiben dem ›sozialen Menschen‹, der durch die Augen seines Kreises, seiner Gesellschaft, seiner Gruppenspielregel, seiner wissenschaftlichen Sprache und Konvention, seiner nationalen oder politischen Urteile, seiner philosophischen Schulung und Schule Sich Selber zu sehen und zu begutachten gewöhnt ward; daher, indem er zu leben glaubt, lebenslang doch nur von Gesellschaft, Wissenschaft, Sprache usw. gelebt wird!

Vergessen wir ferner nie, daß die Wirklichkeit genannte Weltgeschichte eine Wirklichkeit menschlich-irdischer Sinne ist, die, gleich Konsonatoren ausgespannt zwischen Leben und Bewußtsein, vor Bedrohlichem warnen, das Nützliche auffangen, das Notwendige verfestigen. Hätten wir andere Sinne, so hätten wir andere Geschichte! Wir haben aber andere Sinne in solchen Zuständen, die dem normativen Bewußtsein als unter- oder übernormal nebenherlaufen (z. B. im Träumen, Schlafwandeln, Zungenreden, Ekstase usw.). Daß solche Erlebnisse ›abnorm‹, ›pathologisch‹ usw. heißen, besagt nichts; denn auch normale Wirklichkeit ist nur konventionelle Auslegung der als ›gesund‹ erfahrenen, sich selbst erhaltenden Einheit von Bewußtsein. – Ein Mensch, dessen Seele die aller andern überragt, wird notwendig als ein Kranker betrachtet, mißverstanden, gesteinigt, für wahnsinnig gehalten, als Märtyrer enden müssen.

Hat nun aber alles Wissen und Wissenschaft nur mit einer normalen Bewußtseinswirklichkeit in vorbestimmenden Bewußtseinsformen zu tun, so wäre es irrig, den Seelengrund, Lebenskern und Wesensknoten selber in der Reihe des Bewußtseinswirklichen zu suchen.

Indem wir Gestalt und Form unmittelbar-anschauend erfassen, stehen wir dem darin zum Ausdruck gekommenen Leben näher, als indem wir sie in Raum und Zeit kausal – verstehen und über sie etwas wissen und aussagen. So kann Geschichte, als Wissen vom Leben, dem Lebenselemente selber nur entfremden, denn nicht durch Erfassen der ›Inhalte‹ des Bewußtseins (nicht durch Phänomenologie, Psychologie, Introspektion, Intuition usw.), sondern einzig durch Ahmung in Gestalt und Form erfassen wir Leben. Auf ›Ahmungspsychologie‹ (Universale Charakterologie), als Lehre vom Vorbewußten, wird also an dieser wie an anderen Stellen immer wieder verwiesen.

§ 70. Das Vor- und das Übergeschichtliche.

Ich habe in meiner ›Ästhetik der Tragödie‹ dargelegt, warum Tiere und Pflanzen zwar Schicksale aber kein Schicksal haben, zwar ›schuldsein‹ aber nicht ›Schuld tragen‹ können und mithin nicht tragisch sind. Ich müßte nun die selben Gründe, die ich in jenem Zusammenhange anführte, hier wiederholen, um zu begründen, warum Tiere und Pflanzen keine Geschichte haben. Ästhetik der Tragödie. Teil III des ›Fröhlichen Eselsquell‹, Berlin 1912. Wenn wir gleichwohl von Geschichte eines Hundes, Pferdes, Baumes usw. reden, so meinen wir damit entweder eine bloße Relation zu unserer Geschichte oder reflektieren die am Naturwesen ablaufenden Ereignisse in die tragende Einheit einer sich gleichbleibenden zeitlosen Persönlichkeit, nach bloßer Analogie unseres logischen Ich.

Geschichte hat jedes Wesen grade soweit als es ein Selbst ergreift. Darum sind nicht nur Pferde, Schafe, Rinder, Bäume, Pflanzen, sondern auch die überwiegende Mehrzahl der Menschen völlig geschichtslos. Man merkt an der leeren Zufälligkeit der meisten sogenannten Biographien, daß der Menschendurchschnitt weniger lebt als gelebt wird (insbesondere kann die sogenannte talentierte, intellektuelle Menschensorte eigentlich alles, so daß man den schicksals- und sendungsvollen Menschen nie an dem erkennt, was er ›kann‹ und ›leistet, sondern vielmehr daran, daß er Bestimmtes niemals können und leisten kann).

Nur der providentielle Mensch besitzt ein ideelles Sinnsystem, um das herum alle seine Erlebnisse sich gruppieren müssen; darum ist die Geschichte der großen Menschen immer nur die Geschichte ihrer Ideale. Die Sache ist eben die, daß Geschichte ein Akt der Sinn- oder Wertgebung des Natürlichen, nicht aber mit dem Natürlichen selber schon gegeben ist. Auch die Natur erhält nur soweit ›Sinn‹, als wir ihr eine Geschichte geben. An sich kennt die Natur nur blinde Geschehnisse; der Mensch aber macht daraus Ereignisse, indem er das Würfelspiel des Zufalls auszuschätzen und aus dem Sinnlosen Geschichte zu bilden unternimmt. Darum sind die pragmatischen Data der Geschichte als bloße Geschehnisse vollkommen gleichgültig und selbst die ungeheuersten Umwälzungen, wie Eiszeiten, Feuerbrände und Weltendämmerungen würden zu Geschichte erst dann, wenn es gelungen wäre, ihre Zufallsnatur zu eliminieren, somit also an ihnen die logificatio post festum zu vollziehen.

Ein schönes Gleichnis für den Gegensatz des Geschichtlichen zum Vorgeschichtlichen findet man in Goethes Faust, Teil II, am Schluß des 3. Aktes, wo die griechischen Mägde sich zurückverwandeln in Elemente, die einen in Bergwiesen und Laub, die andern in Wellen und Wasser, die dritten in Weinrebe und Rausch; Panthalis dagegen, als die getreue, spricht die Worte:

»Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will,
Gehört den Elementen an; so fahret hin.
Mit meiner Königin zu sein verlangt mich heiß,
Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person.« –

Es gibt nun aber nicht nur ein noch vorgeschichtliches Leben (d. h. ein Leben ohne den Kontrast zum Ideal), sondern es gibt auch ein bereits übergeschichtliches (d. h. ein solches, in dem der aller Geschichte zugrunde liegende und an ihr sich verwirklichende Gegensatz vom Lebensbereich und Wertbereich dadurch überwunden ist, daß das Ideal am Leben sich erfüllte).

Nicht die blumenhafte, fromme Seele, die willenlos Schicksal und Notwendigkeit bejaht, weil sie ja doch nichts daran zu ändern vermöchte, auch nicht der Gott, der gegen Schicksal und Notwendigkeit nicht kämpft, weil er selber Schicksal und Notwendigkeit ist, sondern nur der wertende, urteilende, kämpfende, messende Mensch ist der Träger sowohl der Tragödie wie der Geschichte.

Wie das blumenhafte Leben vortragisch ist, der die Schicksale gestaltende Gott übertragisch, so ist auch das eine vor- und das andere über historisch, das eine noch nicht, das andere nicht mehr › menschlich‹. Die Geschichte aber ist wie die Tragödie eine spezifisch menschliche Angelegenheit des Wertens, d. h. eine ›Verwirklichung‹ von Idealen am Lebendigen.

§ 71. Die Notwendigkeitsbilligung.

Es ist unvermeidlich, an dieser Stelle auf einen Tatbestand Bezug zu nehmen, dessen Darlegung an vielen Stellen meiner Schriften des näheren zu finden ist, hier aber eben nur gestreift werden kann, weil er sonst den Rahmen dieser Psychologie der Geschichte zersprengen würde.

Es handelt sich um jenes Grunderlebnis der Religion, das ich als Notwendigkeitsbilligung ( amor fati, ἀναγκοσφαγὴ) zu bezeichnen pflege. Was von religiös ergriffenen Gemütern als Kern ihrer Erfahrung beschrieben wird: (die Angst, der Abgrund (βῦθος), das Schaudern, die schlechthinige Abhängigkeit, das Gefühl der Kreatürlichkeit, der Auslieferung ( surrender), der Abwertung des Ich, das kosmische Allgefühl, das Verlorensein im Unendlichkeitgrauen (ἀπειροταραξία), die Geborgenheitssehnsucht, das Bedürfnis nach Sicherheit, oder wie sonst immer dieses Erlebnis benannt wurde), – immer kommt er hinaus: auf die eine Tatsache der freudig getönten Bejahung dessen, was unfreiwillig bejaht werden muß.

Ich habe dies Erlebnis des frommen Gemütes gelegentlich klargelegt am Schicksal eines Kälbchens, das, zur Schlachtbank geführt, vor dem Blutgeruch und Schauen des Schlachtraums instinktiv schaudert und durch keinerlei Gewaltmittel dahin zu bringen ist, weiter zu schreiten; plötzlich aber zur Verwunderung seiner Metzger einen freudigen Schrei ausstößt und gesenkten Hauptes das freiwillig tut, wozu es durch rohe Macht doch zuletzt gezwungen worden wäre. Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 471 f. –

Ich lese in der Biographie des Störtebeck, daß, als er und seine mit ihm gefangenen Genossen hingerichtet werden sollten, der Bürgermeister von Lübeck dem Räuber die Erlaubnis gab, in dem Augenblick, wo der Schlag des Henkers ihm den Kopf vom Rumpfe trennte, nach vorwärts zu laufen, vorbei an der Reihe der vor ihm aufgestellten Gefährten, und so vielen, als er ohne Kopf laufend noch vorüberlief, so vielen sollte das Leben geschenkt werden; wobei es ihm denn auch glückte, noch sieben seiner Kameraden zu retten. Diese Beimischung ethischer Aktivität in den Augenblick des Geopfertwerdens benahm der Hinrichtung ihre Schrecken, so daß der Tod des großen Räubers zum bacchantischen Feste wurde, ähnlich dem Untergange des Amokläufers, der in einer unrettbaren Lage so viele andere totschlägt als er irgend vermag, bevor die andern über ihn herfallen und ihn totschlagen. Vgl. hierzu in der ›Ästhetik der Tragödie‹ a. a. O. die Lösung der Frage, in welchem Falle die Darstellung von Todesqualen ästhetisch-erfreulich ist.

Das Gefühl, als wehrloses Schlachttier zur Opferung geschleppt zu werden, erfährt Lösung und Erlösung also dann, wenn man gleichsam mit beiden Füßen in das unvermeidbare Schicksal freiwillig hineinspringt; wir erleben das stündlich im Kriege; in der Lage des Opfertieres ist aber schließlich jeder ins Leben hinein Gestoßene, denn er muß ja leben wollen, wo, wie, als was und auf wie lange auch immer er zur Welt geboren ward. Sich selber, so wie man zur Welt kam, als gottgewollt zu lieben und auch das ungerechte Schicksal hinzunehmen als unergründlicher Heilsordnung zugehörig, das ist die Forderung frommer Einfalt, wodurch auch der Machtlose ein Selbstgefühl erntet und der Verlorene seine Würde gewinnt. Aber sogar noch die scheinbare Umkehrung des Willens gegen sich selbst (jener von Schopenhauer schön beschriebene, nur im Feuer der äußersten Leiden aufleuchtende Silberblick der Selbstverneinung) gründet zuletzt auf dem Triumph des Lebens, das sich preisgibt, um sich in höherem Sinne selbst zu bewahren.

Die Notwendigkeitsbilligung ist also mit dem Wesen des Lebens selber verknüpft und darum unumstößlich: es wäre unmöglich zu leben, ohne sein geschichtlich gegebenes Ich eben auch zu wollen. Jede beginnende Kritik am Historisch- Tatsächlichen ist mithin auch schon eine Verarmung und Vernüchterung des Lebens und eben darum, (solange als das noch irgend möglich ist), verpönt und auf tausend Schleichwegen hintangehalten. Daher wird man immer wieder die erstaunliche Wahrnehmung machen, daß selbst scharfe und klare Köpfe fortfahren, an den ›Sinn‹ im historischen Geschehen zu glauben, wenn ihnen auch noch so deutlich all die sinnlose Irrationalität des Elements von Geschichte bewußt geworden ist; sie können gar nicht anders, denn es handelt sich hier gar nicht um die logische oder empirische Erkenntnis, sondern einfach um ein unausrottbares, unvertilgbares Herzensbedürfnis, wie es z. B. derb und naiv aus folgendem Ergusse Gottfried Kellers hervorleuchtet:

›Ich könnte gar nicht leben, wenn ich nicht mehr glauben dürfte, daß eher ein Berg einstürzt, als daß ein Menschenleben ohne angemessene Schuld zugrunde geht. Daran allein halte ich mich.‹

Die ethische Roheit, ja Verlogenheit dieser Annahme, (bei welcher der Überlebende und Erfolgreiche sich selber eine Schuldlosigkeit zubilligt auf Kosten der Unglücklichen und Unterlegenen), sollte denn doch eigentlich für jedermann auf der Hand liegen; dennoch ist diese Art Notwendigkeitsverklärung niemals auszurotten, da es sich um das Erträglichmachen letzter Gebundenheitsgefühle handelt, vielleicht sogar um die Unterhaltung eines Geborgenheitsglaubens, in dem die ganze Aktivität des Menschen wurzelt.

Erst von hier aus fällt das rechte Licht auf meine Lehre von der logificatio. §§ 57-66.

Alle die bekannten Nachweise der Kabbala, Theosophie und Mystik, die Voraussage der historischen Ereignisse aus der Bibel, die Umdeutung von Zahlen, Symbolen, Bildern in historische Realität, alles das mündet zuletzt in logificatio post festum.

Es gibt keine Religion, für welche nicht dieser Zusammenhang der religiösen Heiligung mit Gebundenheitsgefühlen wesentlich wäre; das tritt besonders an der Vorausbestimmungslehre Calvins hervor und am Kismet und Kaf der Mohammedaner, wie denn das Wort ›Islam‹ soviel wie Ergebung bedeutet; auch könnte man in diesem Zusammenhang an die sehr alte Ableitung des Wortes Religion von religare (= zurückbinden, ligamentum = das Band) erinnern; immer ist der religiöse Mensch vor irgendetwas ›Zitterer‹ (Quäker).

Es sei hier endlich noch auf unsere Darlegung in ›Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 455-476 verwiesen, wo von dem Gegenspiele des Ethischen zu dieser religiösen Hingabe an historisches Schicksal die Rede ist! Das für alle Zeit leuchtende Beispiel schuf hier Fr. Nietzsches Umwertung aller Werte, welche die logificatio unter dem Namen › amor fati‹ zur obersten sittlichen Forderung macht (›Schicksal, dir folge ich freiwillig, denn täte ich das nicht, so müßte ich es ja doch unter Tränen!‹) und vom Übermenschen verlangt, daß er billigen lernen solle: den unentrinnbar umrollenden Ring des Seins, auf alle Ewigkeit, in immer wiederholter Wiederkehr des gleichen Einzelschicksals; worin Zarathustra den ›großen Mittag‹ der Erdgeschichte sieht.

Damit nun aber ist der Gipfel einer Ethik, die sich in Religion auflöst, erreicht. Alles menschliche Trotzen, Aburteilen, Auswerten taucht unter in billigende Hingabe an Notwendigkeit der Geschichte. Das ist die Sackgasse, in welcher nicht nur die alte Moral, sondern jegliche Moral schlechthin erlischt. Und mit der Möglichkeit aller Ethik auch die Möglichkeit denkenden Lebens! Denn was will der Mensch nun noch? Es stünde gar nicht in seiner Macht, irgendetwas am Weltall zu verändern, sondern alles, was von ihm gefordert werden kann, ist das nachträgliche Janicken zu den brutalen Tatsachen, die auch ohne dieses Janicken sich erfüllen müssen. Der Mensch aber ist durch und durch der Bewohner eines Reiches der Mitte, genannt ›die Wirklichkeit‹, als welche nichts anderes ist als die eigenbezügliche Wirklichmachung oder Verwirklichung der Wahrheit am Lebendigen. Die Verwirklichung der Wahrheit am Lebendigen durch den Menschen! Mit dieser Aufgabe steht und fällt er! (§ 2.)

§ 72. Geschichte als Erlösung von Wirklichkeit

Es ist noch wenig erforscht, in welchem Maße der Vorgang der Erkenntnis oder Bewußtmachung erlebten Lebens einen Akt der Befreiung von diesem Leben in sich schließt, um nicht gar zu sagen einen Akt der Abtötung dieses Lebens selbst.

Überall scheint mir die Abstellung eines Erlebnisses in einen Bereich der sachlichen Zeit- und Raum-Wirklichkeit eine Erlösung von dem Erleben selber zu verbergen, indem das Erleben bewußt gemacht (d. h. entwirkt) wird, im selben Maße als es bedrohlich und bedrückend ist.

Daraus nun schließe ich auf eine Heilkraft der geschichtlichen Selbstbesinnung! Und diese scheint mir der eigentliche Kern alles Interesses an Geschichte zu sein, so daß wir also in der Geschichte nicht so sehr die Wiedergabe des wirklichen Lebens, als einen Vorgang der Befreiung von diesem Leben vermittels seiner Wiedergabe und Verwirklichung zu suchen hätten. Nach unserer Auffassung ist schon die ›Wirklichkeit‹ selber ein solcher Befreiungsakt des Lebens von sich selbst. ...

Wenn man sieht, wie die entsetzlichen, sinnlosen, irrsinnigen Gegebenheiten des Lebens von hintennach zu Geschichte umgebogen werden und sich dann schließlich in der Geschichtsüberlieferung so harmlos und einfach lesen, als sei aller Schmerz und alle Not und das ganze Leiden der Seele davon abgestreift (ähnlich wie die großen Ströme allen Schmutz und Unrat der Menschen willig in sich aufnehmen und zuletzt doch in die eine klare, lautere Woge verwandeln); wenn man sieht, wie alles von nachhinein dann wie ein bunter, spannender Roman sich liest, was doch so schmerzlich und rauh zu erleben war, so könnte man wohl auf den Gedanken kommen, daß der Mensch mit der Geschichte nicht die Wiedergabe seiner Lebensereignisse bezwecke, sondern grade das Umgekehrte: seine Ausheilung und Erlösung von allen den quälenden Begegnissen seines Geschicks.

So wie im Leben der Person das Gedächtnis beständig die Geschehnisse verklärt und vergoldet, so daß unsere Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart Licht empfängt und Hoffnung wie Erinnerung über die Stunde hinübertrösten –, wodurch die Seele alles Störende verwindet und ihre Wunde vernarben läßt, – so ist Geschichte als Erinnerung des Menschengeschlechts auch nur ein heilsamer Akt der Selbsttäuschung. Daher stammt die allgemeine Erfahrung, daß das Gräßliche, Grausame, Sinnlose der Geschichte nach einigen Geschlechtern verschwindet, bis man von blutigen Barbareien und Metzeleien zuletzt wie von alten Märchen liest und wohl gar wünscht, mitten in solchen ›Heldenzeiten‹, wie der gegenwärtigen, gelebt zu haben. Ja, wir bemerken sogar eine Art von Vergemütlichung, ein Herabmildern alles Schwer-erträglichen und Tragischen im Verlauf der geschichtlichen Überlieferung. Ganz besonders tritt uns das in der Geschichte der Gedanken vor Augen! An ihnen modelt ein lebensfroher und lässiger Geist, der das Unbequeme, Störende und Umstürzlerische, das Neue und Aufregende nach Möglichkeit vergewöhnlicht und ausgleicht. Dazu dient ihm zunächst das Ignorieren und Sekretieren, Übersehen, Totschweigen, Verbieten oder Augenschließen. Geht es damit schließlich nicht mehr, so arbeitet er daran, das Unbequeme oder den Unbequemen historisch zu machen. Er beeilt sich zu versichern, daß man ›den berechtigten Kern vollauf anerkenne und nur die Übertreibung ablehne‹ und bringt das Unbequeme dort unter, wo es schon, dank der Masse ähnlicher oder verwandter Erscheinungen, seine Seltenheit und Wirkungskraft einbüßt und gleichsam historisch versaufen kann, als etwas nunmehr Gewohntes und Gewöhnliches, um das sich niemand fürder aufzuregen brauche.

Wenn also wirklich einmal die Natur einen seltenen und einsamen Geist hervorbringt, damit er dem Menschengeschlecht die ganze Schwere und Dunkelheit, Tiefe und Widersinnigkeit seines Lebens mit unerbittlicher Klarheit vor Augen stelle, also einen, der mit Kunst oder Philosophie wirklich letzten Ernst macht, dann sind sofort die legendenschaffenden Vermittler und Verwässerer bemüht, das Ungewöhnliche gemütlich, das Unerbittliche mundgerecht zu gestalten, den Problemen ihre Schwere, dem Ausdrucke die Energie, der strengen Wahrheit ihre Herbe und der Erkenntnis ihre Stachel zu nehmen, bis dann zuletzt von dem tragischen und anerkannten Leben so eines Schopenhauer oder Nietzsche, Tolstoi, Strindberg oder Poe gar nichts übrig ist als die Verdünnung, die man Geschichte der Literatur nennt, in Haus- und Lehrbücher aufnehmen, vom Lehrpult gefahrlos darbieten, von der Kanzel anführen, im Salon genießen und beim historischen Gedenkfest beschwätzen kann. Dadurch wird die Unruhe angesichts des Seltenen und Echten glücklich hintangehalten und eine wahre Dankbarkeit bemächtigt sich der vom Genius dank der Gelehrtenarbeit erlösten Menge, wenn bewiesen ist, daß der Große genau das selbe gedacht habe, was Hirt und Herde denkt, und genau ebenso Einer gewesen ist, wie der Herr Rat und der wirkliche Herr Rat und des wirklichen geheimen Herrn Rates Schwiegersohn. Geht es aber auf keine andere Weise, nun! so muß man eben das Beunruhigende zu Tode erklären: z. B. als für ›sehr bedeutend, aber ...‹, – womit die Angelegenheit sich befriedigend erledigt und die Pflicht der herben Nachfolge abgewendet wird. Das wäre die Art, wie man mittels Geschichte sich von Tatsachen erlöst! Man kann durch Anerkennung den Schauder und Schrecken vor Größe in Wissenschaft ertränken, bis alles hübsch historisch ein Schriftstellerthema, ein sinnvolles Spiel geworden ist. Darum kommen auf einen, der sich mit der Sache abgibt, immer tausend, die sich mit ihrer Geschichte abgeben. Das ist Menschenart, sich zu schützen und zu erlösen.

§ 73. Bemerkungen über den Geschichtsunterricht.

›Das Beste, was Geschichte geben kann, ist der Enthusiasmus.‹

Goethe.

Es mögen hier einige Worte stehen über den Unterrichtsgegenstand: Geschichte, der an allen öffentlichen Schulen dem widerstandslosen Gehirne eingehämmert wird, entsprechend der Glaubenslehre, damit schon in zartester Kindheit dasjenige Vorurteil angepflanzt werde, das im Gesichtskreis der jeweiligen Staats- und Lebensformen liegt; also z. B. im gegenwärtigen Deutschland unter Namen wie Manneszucht, Vaterland-Liebe, Bürgerpflicht usw.: eine höchst zweifelhafte Freude an Soldaten- und Kriegsspielerei, ein geistloser Kadavergehorsam gegen Organisation, eine kleinherzige Ehrerbietung vor Rücken, Uniformen, Ämtern, Titeln und Traditionen; eine sentimentale Rücksicht vor Vorzugsrechten des Besitzes und der Zufallsmacht; und dazu ahnungslose Selbstüberhebung gegenüber fremden Nationen (zumal Verachtung der englisch sprechenden Menschheit) und ein ewiges Herumwerfen mit idealen Grundsätzen, hinter denen nichts als die brombeerbillige Selbstsucht brennt.

Was wir unter dem Namen Weltgeschichte den Kindern auf der Schule darbieten, dieser gräßliche Wust von Papst-, Kaiser-, Städte- und Ländernamen, Jahreszahlen, Gedenktagen, zweifelhaften Zusammenhängen, veralteten Gesetzen und Verfassungen, das ist für das Gehirn eine künstlich geschüttete Salpeterplantage unerlebter und gar nicht mehr erlebbarer Gewesenheiten. Und alles das, um den zarten wehrlosen Gehirnen diejenigen Wünsche und Richtungen einzubrennen, die dem jeweiligen Staate und seiner Regierung angenehm sind! Wenn schon die Besetzung der Ämter und Lehrstühle in nicht exakten Fächern ohnehin selten erfolgt gemäß dem Werte der persönlichen Seelenart, sondern meist auf Grund derjenigen Gesinnung, in welcher die Machthabenden und somit Machtgebenden die Bestätigung ihrer Vorurteile erblicken, so ist vollends die Schulprüfung in Geschichte zuletzt eine nackte Gesinnungsprüfung! Was an exaktem Gehalt in der politischen Geschichte steckt, das könnte zwanglos an andere Wissenschaften wie Volkswirtschaftslehre, Staatskunde, Bürgerkunde, Rechtskunde, Erdkunde usw., aufgeteilt werden; es bedürfte dafür nicht des Faches, wie es denn allemal eine heikle Sache ist, die auf Gesinnung und Gemütsbildung abzielende Erziehung einem Lehrfache anzuvertrauen. Aber nicht hier ist der eigentliche Mißstand des Geschichtsunterrichts zu suchen. Seine schlimmere Gefahr ist die, daß er die ganze Oberflächlichkeit der ›allgemeinen Bildung‹, eine leichte, seichte Befriedigung der Wiß- und Neu-begierde und jene Lesewüstheit erzüchtet, die den philologisch-historischen Wissenschaften überall anhaftet. Das geschichtliche Studium befördert eine Kunst des Nicht-genau-hinsehens und Darüber-hinweg-redens, die jedem ganz und ernst von der Sache Durchdrungenen die sogen. historischen Kenner der Sache oft unerträglich macht, z. B. dem tiefbewegtem Künstler die Kunsthistoriker, dem religiösen Gemüt die historischen Theologen, dem denkendem Staatsmanne die politischen Historiker. Denn Vereinfachung, nicht aber Aufhäufung der Gegenstände und Tatsachen tut dem Menschen not. Der Historiker gewöhnt sich eben an Beschäftigung mit Menschen und Werten, auf die er kein Seelenrecht hat, zu denen er schon darum keine notwendige Beziehung haben kann, weil ihm, wie im Wandern durch eine Gemäldeausstellung, jeder starke Eindruck sofort von einem neuem, stärkerem verdrängt wird. Der treue, zuverlässige, gründliche Mensch kann nur zu einem kleinen Kreise von Büchern, Bildern, Menschen in persönlichem Verhältnis leben, diese dann aber ganz und nach allen Richtungen sich einzuverseelen suchen. Er wird zu dem ein Mal als wesentlich Erkannten immer wieder mit zäher Geduld zurückkehren, treu, weil er sich selber treu ist. Der historische Kopf aber ist ein Schmetterling, der aus jeder Blume Honig nascht und keine wahrhaft kennt. Für ihn gilt vor allem Bacos Satz: knowledge is power; aber nicht die Macht, sondern Wesensschau ist letzte Frucht der Erkenntnis ( § 76). Das historische Studium ist somit eine bequeme Art, um mit dem Wissen um und über die Gegenstände die mühevolle Erkenntnis der Gegenstände selbst zu umgehn; daher denn dem historischen Kenner eine gewisse Uferlosigkeit, Unverschämtheit und Anmaßung anhaftet. – Ein verwandtes Seitenstück besitzt das ›historische Interesse‹ an dem heute überschätzten sogenannten psychologischen Interesse, denn auch dieses ist ein nebenzuordnendes Machtmittel für den neugierigen, anstelligen, energischen Willen, der zur eigentlich wesenhaften und tiefen Inschau sich nicht eignet. Solch ein ›psychologisch Interessierter‹ entwöhnt sich des sachlichen Zuhörens und Erfassens und bleibt außerhalb und über der Sache, indem er (besonders gern unter Verwendung modischer Formeln wie: Psychoanalyse, Charakterologie u. dgl.) immer darauf aus ist, zu erkunden, aus welchem Muttergrund, Beweggrund und Zusammenhange die von ihm vernommene Meinung wohl kommen möge. Indem er die Frage nach dem Wie des Zustandekommens stellt, geht ihm aber die Sache verloren. Somit ist beides, das historische wie das psychologische Interesse, der Herrschaftsbereich der Geister zweiten Ranges, denen mehr um die Bemächtigung als um das Wesen der Dinge zu tun ist, während eigenschauende und edlere Naturen gegen beide Geistesarten oft Widerwillen hegen. – Die Grenze dieser Andeutungen und die wesentlichere Ergänzung, wie auch der Geschichtsunterricht fruchtbar und ergiebig zu gestalten wäre, wird der Leser im dritten Buche finden.


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