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VII. Der historische Bericht.
§§ 41-45.

§ 41. Die historische Zeugenaussage.

homines libenter credunt quod volunt.

Caesar

Über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit historischer Berichte urteilte Pierre Simon Laplace 1812 in seiner › Théorie analytique des probabilités‹ folgendermaßen:

Nehmen wir an, daß eine Tatsache uns durch 20 Zeugen in der Art übermittelt wird, daß sie der erste dem zweiten, der zweite dem dritten berichtet hat und so fort. Nehmen wir ferner an, daß die Wahrscheinlichkeit jeder Zeugenschaft 910 sei, so wird die der Tatsache 18 sein. Man kann die Verminderung der Wahrscheinlichkeit am besten mit der Abnahme der Deutlichkeit der Gegenstände durch Dazwischenstellung von mehreren Glasstücken vergleichen; eine geringe Anzahl von Stücken genügt, um uns den Anblick eines Gegenstandes zu benehmen, den ein einziges Stück deutlich wahrnehmen läßt. Die Historiker scheinen dieser Verminderung der Wahrscheinlichkeit von Tatsachen, wenn sie durch eine große Zahl von aufeinanderfolgenden Generationen gesehen werden, nicht die genügende Aufmerksamkeit zugewendet zu haben; manche historische Ereignisse, die für wahr gehalten werden, würden mindestens zweifelhaft sein, wenn man sie einer solchen Prüfung unterzöge.‹

Für die Unsicherheit auch des einfachsten historischen Berichtes will ich ein beliebiges Beispiel herausgreifen. Es besteht eine umfangreiche Literatur über die Frage, welche Farbe die Augen und der Bart Napoleons III gehabt haben; aber obwohl dieser Kaiser erst wenige Jahre tot ist und seine Witwe und viele andere, die ihm nahestanden, noch heute (1914) leben, konnte die Frage nach der Farbe seiner Augen und seines Bartes nicht mit voller Sicherheit beantwortet werden. – Durch methodische Versuche, indem man z. B. ersonnene oder gefälschte Gerüchte in Umlauf brachte und beobachtete, nach welchen Gesetzen sie sich wandelten, hat man festgestellt, daß hinter dem Wirklichkeitsbewußtsein unbewußte Wunscherfüllungen, immer aber irgendwelche Verschiebungen, Täuschungen oder Verstellungen von Tatsachen lebendig sind. Außer diesem am historischen Wirklichkeitsbewußtsein modelnden Triebe nach Wunscherfüllung gibt es eine zweite, wichtigere und noch unbeachtete Fehlerquelle: die Sucht Erlebtes zu gestalten. Diese Sucht, ein Erlebnis, in das man mit einverschlungen ist, für sich oder andere vergegenständlicht zu sehn, ist im Durchschnitt sogar stärker als der Trieb nach Abenteuer und Erlebnis selbst. Ein Historiker, der als Kriegsfreiwilliger im deutschen Heere kämpft, schreibt darüber (Herbst 1914):

›Ich machte die Beobachtung, daß ein jeder auch zu seinen eigenen Erfahrungen mehr Zutrauen bekommt, wenn er sie schwarz auf weiß gedruckt vor sich sieht; ja viele Leute erfahren erst aus den Berichten des Regiments oder aus den Zeitungen, was sie denn eigentlich mitgemacht und erlebt haben, und sie glauben es fortan immer in der Form, die der zufällige Berichterstatter dem Ereignisse gegeben hat. Der Hang, die historischen Ereignisse abrundend zu formulieren, überholt oft die Ereignisse selbst. Es könnte so gewesen sein, oder man wünschte, es möchte so gewesen sein, also ist es so gewesen! Daher stöhnt der Mensch mehr denn je in der Sklaverei der Zeitungen, die vielleicht diesen ganzen Krieg gemacht haben. ... Die Wahrnehmungssphäre eines Teilnehmers an historischen Ereignissen, an großen Katastrophen, Gewaltakten, entscheidenden Aktionen, mag sie noch so groß oder noch so sachlich sein, ist immer viel enger und subjektiver, als der historische Bericht schließlich erkennen läßt. Denn was immer auch jemand an Strapazen, Gefahren, Verwicklungen und Nöten erlebte, es können doch immer nur seine Strapazen, seine Gefahren, seine Verwicklungen, seine Nöte gewesen sein, und mit voller historischer Verantwortung könnte man doch schließlich nur psychologisch-biographische Tatsachen aufzeichnen. Biographie oder Psychologie ist aber nicht Geschichte, sondern steht als Quelle der Geschichte oft der Feststellung der historischen Wirklichkeit durch den Historiker nur im Wege, indem sie die Geschehnisse vielfältig macht, wo sie für Geschichte einfach, einfach, wo sie für Geschichte vielfältig sind. ... Wenn ein Soldat im Kriege oder ein Teilnehmer an Volksbewegungen seine ihm zugefallene Pflicht tut, und sei er der Höchstgestellte, so ist er mit tausenderlei engen Teilverrichtungen, oft allein mit der Sorge für die Notdurft des Augenblicks, für Schutz vor Regen, Nässe, Kälte, mit Sorge um Schlaf, Ernährung und Verdauung so vollkommen ausgefüllt, daß er während seiner Tätigkeit zu Betrachtung, Reflexion, Gesamtanschauung, Raisonnement keine Gelegenheit hat. Daher wissen die Männer im Generalstab oder die Zeitungsschreiber hinter der Front weit gründlicher, wie sich etwas ereignete, als es derjenige wissen kann, der das Ereignis selbst vor Augen hat. Man glaubt gar nicht, wie wenig man im Kriege sieht und erlebt außer dem, was man eben subjektiv duldet und durchmacht. Ein Kriegsteilnehmer weiß nicht einmal, was eine Meile nördlich oder südlich von dem Ort, wo er selber steht, eigentlich vorgeht und erfährt den Zusammenhang der Ereignisse immer erst hinterher, und von Leuten, die nicht dabei gewesen sind. Jeder ist ganz ausgefüllt von sich selber und von dem eigenen ›täglichen Dreh‹ und weiß nicht einmal etwas Wesentliches vom Nebenmann, den er leben oder auch sterben sieht.‹

Da somit die Einstellung jedes einzelnen durchaus ichbezüglich ist, so gilt schließlich für die Wahrheit der Geschichte der paradoxe Satz, daß die sachlichste Auffassung der Geschichte demjenigen zukommt, der am wenigsten an ihr beteiligt ist. Jene Antwort, die (nach Polyb. V, 33) der Geschichtsschreiber Ephoros dem großen Alexander gibt, als dieser ihn einlädt, ihn auf seinen Zügen als Augenzeuge zu begleiten, entbehrt nicht des tieferen Sinns: ›Deine Geschichte kann ich nur schreiben, wenn ich zu Hause bleibe.‹

§ 42. Die Gewohnheit.

›Doch euch ziemt einzig Tag und Nacht.‹

Goethe.

Hier nun müssen wir von der gewaltigsten aller Mächte reden, die für Geschichte die gleiche Funktion übt, wie für die Körper des Weltraums jene Gewalt, die man Trägheit oder Schwere nennt: Gewohnheit.

In welchem Maße der Mensch, auch innerhalb der wildesten Überraschungen, begrenztes Gewohnheitsgeschöpf ist und wie sehr die Gewohnheit, den Tag zu verbringen, über alle Werte, Wahrheiten, Gesinnungen, Urteile und Auffassungen entscheidet, davon hat auch der größte Menschenkenner eine nur völlig unzulängliche Vorstellung. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, sogar die Vorformen des Fühlens und Denkens sind Produkte der Gewohnheiten, das will besagen: begrenzter Notwendigkeiten der Menschen. Jedermann ist an ein undurchbrechbares Gewohnheitssystem im Körperlichen und Seelischen so sklavisch gebunden, daß man wohl die Stimmung jenes englischen Lords nachfühlen kann, der sich freiwillig tötete aus Verzweiflung darüber, daß er nun ein ganzes Leben lang jeden Abend die Weste ausziehn und jeden Morgen wieder anziehn solle. In großen Bewegungen der Geschichte ändern sich zwar scheinbar die Gewohnheiten, dennoch wird auch da nur das Kinderspiel ›Alle Bäumchen wechseln sich‹ gespielt: semper idem, semper aliter. Man kann daher Geschichte mit dem Gekräusel von Ringen auf der Fläche eines Teiches vergleichen, die einander kreuzen, schneiden, hemmen und somit in jedem Augenblick neue und andere Figuren bilden, dennoch aber allesamt immer an die Kreisform gebunden sind. Der aufs völlig Regellose geworfene Mensch (z. B. Einwohner in brennenden Städten, Hungernde in Hungersnöten, Soldaten im Bajonettkampf) sind durchaus als Seelenkranke oder Geistesgestörte zu beurteilen. Man könnte von Geschichte sagen, daß sie die Darstellung des durch Gewohnheiten modifizierten Wahnsinns ist.

Darum sagt Goethe: ›Der Mensch interessiert sich immer bloß für Nachbarschaft und Gegenwart. Der wichtigste Vorfall, der in Zeit und Raum von ihm entfernt ist, ist ihm gleichgültiger als der kleinste neben ihm.‹ Más sabe el necio en su casa, que el cuercla en la ajena (Don Quijote II c. 43). Ich möchte die folgenden kennzeichnenden Stellen aus der Lebensgeschichte eines verdienten Feldherrn festhalten:

›Von Jugend an hatte er eine ein für allemal feststehende Tageseinteilung angenommen und pflegte zu sagen, daß auch Cäsar, Alexander und Bonaparte ohne die ›Menagerie Gewohnheit‹ nicht ausgekommen wären. Daß um zwei gegessen und von drei bis fünf geschlafen wurde, war sicher wie ein Weltgesetz. Solche Angewohnheiten, wie z. B. eine tägliche Promenade, wenn auch nur von einer Viertelstunde, behielt er das ganze Leben hindurch bei, auch unter den größten Stürmen. Auch pflegte er die Frage, wie man es anfangen müsse, im hohen Alter Leistungen gleich seinen zu vollbringen, so zu beantworten: ›Morgens um fünf aufstehn, abends um neun schlafen gehn, keinen Alkohol trinken, viel turnen!‹ In einem solchen Leben hatten Überraschungen keinen Platz, und wer es von außen betrachtete, hätte es nicht für ein Heldenleben, sondern für das des richtigen Philisters gehalten, denn selbst ein Kant, der wie Hippels ›Mann nach der Uhr‹ lebte, versäumte doch einmal über dem Lesen Rousseaus die Minute des Spaziergangs; ihm aber waren solche Umwälzungen zuwider. Grade darum aber, weil die Gewohnheiten schließlich mechanisch geworden waren, war er viel mehr als andere Menschen von Bedürfnis und Notwendigkeit unabhängig. Er konnte z. B. darauf rechnen, in allen Wechselfällen des Schicksals, wann immer er wollte, zu einer bestimmten Stunde einschlafen und erwachen zu können. Dann wurde eben der ganze Turnus der Lebensgewohnheiten verschoben, innerhalb dieses Turnus aber blieb es beim Alten.‹

§ 43. Die Ichbezüglichkeit in der Geschichte.

Für die eherne Eigenbezüglichkeit der politisch-historischen Größen verweise ich auf das klassische Vorbild des Cajus Julius Cäsar, der zehn Bücher Geschichte über sich selbst in der dritten Person schrieb, ohne jemals irgendeine Beteiligung subjektiver Wertungen und Gefühle zu verraten, dabei aber die Ichbezüglichkeit der historischen Darstellung bis zur Absurdität, ja bis zur Ruchlosigkeit treibt. So vernichtet Cäsar im Jahre 58 v. Chr. die ganze Völkerschaft der Tiguriner und bemerkt dazu harmlos, daß dies darum seine Pflicht gewesen sei, weil sechzig Jahre zuvor in einem Kriege gegen diese Völkerschaft der Großvater seines, des Cäsars, Schwiegervater, in einer Schlacht gefallen sei ( Comm. de bello Gall. I, 12); auf die würdigen Vorstellungen des Abgeordneten Divitiacus, welcher um freien Durchzug der Helvetier durch die römische Provinz bittet und dabei bemerkt, daß die Römer das alte Schlachtenglück und die Tapferkeit der Helvetier schon oft kennen gelernt hätten, erteilt Cäsar in aller Herzenseinfalt den Bescheid, ›daß die göttliche Gerechtigkeit den Helvetiern absichtlich lange Jahre des Wohlergehens geschenkt habe, einzig zu dem Zweck, damit sie nachher den Wechsel des Schicksals bitterer empfänden und für ihre alten Siege durch ihn, den Cäsar, bestraft werden sollten‹: ( Comm. I, 14.) Man kann schwerlich ein schlagenderes Beispiel finden für den immer wiederkehrenden Wahn, die vollkommenste und unbefangenste Sachlichkeit darzubieten, während jedes Wort der Darstellung unbewußt und naiv von der plumpesten Eigenbezüglichkeit des Darstellenden unterströmt wird. Grade solche Historiker, die aus den einseitigsten Wertgesichtspunkten eines bestimmten Kulturkreises, ja einer bestimmten Nationalität alles und jedes Geschehnis begutachten und zurechtebiegen, täuschen sich am geflissentlichsten über das dem Geschichteschreibenden mögliche Maß von Unbefangenheit. Welche Kindlichkeit der Selbsttäuschung offenbaren z. B. die folgenden Worte von Max Lenz (›Über die Aufgabe des Biographen‹, Festrede, 1912):

›Der Historiker kennt keine Grenzen des Geschmacks, weder Sympathie noch Antipathie, noch modische Formen der Anschauung. Er braucht nicht davor zurückzuschrecken, Barbaren oder Verbrecher zu schildern und kann seine Künstlerkraft ebenso an einem Cesare Borgia entfalten wie an einem Freiherrn von Stein.‹ –

Grade als ob es in den Sternen geschrieben stünde, wer denn nun Barbar, wer Verbrecher sei und als ob nicht Wesenswuchs und Wesensfarbe der historischen Gestalten erst durch die Künstlerkraft des Historikers hervorgesucht, wenn nicht gar geschaffen würden!

Aber nicht nur die unbewußte Eigenbezüglichkeit der Geschichteschreibenden, sondern auch die der geschichtlichen Personen selber steht in Frage.

Im Beginne jeder neuen Geschichtskatastrophe hört man die bekannte Stimme der Verwunderung darüber, daß bei der plötzlichen Verschiebung aller Einzelbeziehungen und -Verhältnisse dennoch die große Staats- und Gesellschaftsmaschinerie fortarbeite, als stünde eine vom Menschen unabhängige ›Weltordnung‹ hinter der Geschichte grauenhaftem Zufallspossenspiel, das zuletzt sich in sich selber verzehrt. Ein bedeutender Geschichtsschreiber sagte zu Beginn des europäischen Krieges (1914) darüber folgendes:

›Aus der natürlichen Vernunftordnung des Krieges (!), die aus allgemeinem Instinkt unbewußt sich herausbildet, muß auf den unbewußten sozialen Gesamtwillen geschlossen werden, welcher allen personalen Willenseinheiten übergeordnet, die Glieder des Volkes mit unsichtbaren und unbewußten Fäden der Sympathie magisch aneinanderknüpft. Alle für einen, einer für alle.‹

Hinter dieser Feststellung einer geschichtlichen Vernunft, die an E. v. Hartmanns unbewußte Gesamtvernunft der Geschichte oder an Hegels objektiven Geist erinnert, scheint eine besonders tiefe metaphysische Einsicht zu stehen. Dennoch bleibt diese naheliegende, vulgäre Metaphysik ganz an der Oberfläche der Beobachtung! Was geschieht denn bei einem Kriege, wie dem gegenwärtigen? Eine bestimmte Summe Rauflust, Abenteuerlust, Machtwille, Lebensgier, Abwehr-, Angriffsinstinkt usw., die in toten und normalen Zeiten in der Konkurrenz der Volksgenossen untereinander auf nähere Zwecke und mit scheinbar harmloseren Waffen verbraucht wird, ballt sich gegen einen entfernteren und bedrohlicheren ›Feind‹ und führt damit zu jener scheinbaren Einigkeit aller Kräfte, die, sobald die größere und schwerere Hemmung überwunden ist, sich mit mathematischer Sicherheit wieder gegeneinander kehren müssen. Ist darum der Inhalt der Seelen ein anderer und höherer geworden? Es hieße den historischen Sachverhalt just auf den Kopf stellen, wollte man die Einheit einer Menschengruppe im Kriege als Funktion der positiven Güte oder Liebesbereitschaft ihrer Mitglieder darstellen. Denn weder Wölfe, die sich zu Abwehr- und Raubzügen verbanden, noch Schafe, die in Frost- oder Angstneurosen enger als je zuvor aneinander drängen, werden ›von unsichtbaren und unbewußten Fäden der Sympathie magisch aneinander geknüpft‹. Vielmehr ist hier jene wunderliche Lehre des Empedokles am Platze, welche behauptet, daß Staaten und Gruppen gerade durch den Streit (Eris) verkittet und getragen werden, während die Liebe (Eros) daran arbeite, das Gefüge der Staaten aufzulockern, das Leben eines jeden in das Leben aller anderen hineinziehend und den durch Haß künstlich erhaltenen sozialen Kosmos wieder ins Nichts, d. h. in die Alleinheit zurückeleitend. Grade darum also, weil ein jeder immer nur sein Sinnsystem umkreist, gewährt das Ganze die Illusion einer sittlichen Harmonie, ähnlich der Harmonie des Sternenhimmels, welche die Wissenschaft als Gleichgewichtslage fortdauernder Gefährdungen jedes Himmelskörpers durch jeden anderen Himmelskörper enthüllt. Dementsprechend ist der gewaltigste Krieg, die gewaltigste Revolution doch nur aus Milliarden Einzelwillen und Einzelschicksalen zusammengesetzt, deren jeder und jedes inmitten der von allen gegen alle geübten Störung seine Bahn verfolgend, künstliche Gruppenseelen, Inbegriffe, Geisteswesen bilden hilft, welche grade vermöge der Folgerichtigkeit aller Privategoismen zu einem Gesamtbilde zusammenlaufen, von dem von nachhinein der sinngebende Historiker erzählt: ›Europa faßte den Entschluß‹; ›Amerika huldigte dem Grundsatz‹; ›Die germanische Weltanschauung vertritt den Standpunkt‹ usw. – Dieser Gedanke, daß die scheinbar organischen Wesenseinheiten und Gesamtseelen, ja daß zuletzt die ganze Harmonie des Kosmos grade der Notausgang undurchbrechlicher Eigenbezüglichkeiten einander paralysierender Einzelwesen sein könnte, ist in der Geschichte des Denkens immer wieder aufgetaucht! Eine besonders nachdenkliche Einkleidung dieses Gedankens bietet das 1705 erschienene Werk Bernard de Mandevilles ›Die summende Bienenfabel oder Rechtfertigung der Untugend‹, welches auf das Ergebnis hinauskommt, daß die fortschreitende Ethisierung und Sozialisierung der Einzelseelen zuletzt zum Untergang der Nationalgebilde und Staatengefüge hinführen müsse. In der Volkswirtschaft hat besonders Henry Charles Carey ( The harmony of interests, 1850) und nach ihm Frederic Bastiat ( Harmonies économiques, 1851) die Lehre von dem aus der Folgerichtigkeit privater Ichbezüglichkeiten erwachsendem sozialem Kosmos begründet. Indem wir die Richtigkeit der Lehre vom Egoismus (die in der Regel l’amour de soi mit l’amour propre verwechselt), ganz auf sich beruhen lassen, begnügen wir uns mit der für Geschichte wichtigen Feststellung, daß politische Einmütigkeit oder staatliche Simultaneität nichts mit jener positiven Liebeskraft, Herzensgüte und Brüderlichkeit zu tun hat, die, aller staatlichen Gesetzesethik und weltlicher Gerechtigkeit weit entrückt, Buddha und Christus lehren.

§ 44. Geschichte und Zeitung.

Wenn ein abgeschiedener außenstehender Geist ein Gemälde der gegenwärtigen Tage malen könnte, dann würde er folgendes Bild der Wahrheit entsprechend finden.

Millionen Menschen, welche allesamt nicht über ihren nächsten Tag hinaussehn und deren jeder das denkt, was irgendein öffentlicher Mund ihm zu denken anbefiehlt, finden sich in eine ungeheure mit kalter Sachlichkeit arbeitende Menschen-Vertilgungs-Maschinerie hineingeworfen. Tausende werden zermalmt; andere Tausende verstümmelt; andere unversehrt ausgespieen. Wen es trifft, den trifft es. Die Überlebenden preisen die Geopferten als Helden und leben weiter.

Währenddessen rottet hinter den Fronten der Schlachten eine geistige Hyänenschar sich zusammen. In Pressequartieren, in kleinen Cafés schlachtenbenachbarter, aber sicherer Orte hocken sie in klugen Rudeln. In Autos und Eisenbahnen durchjagen sie das geschändete Land.

Das sind sie, die man ›Vertreter des Geistes‹ nennt (weil sie immer und überall dem Geiste den Weg vertreten). Sie säen Meinung, verschänken Gesinnung, erwählen Völkerbrand und Massenuntergang, Millionenmord und Seelennot zum Stoff ihrer Rede und Dichtung, weil denn Darüberreden und Darüberschreiben den Beruf der alles könnenden, alles sagenden Sendungslosigkeit ausmacht.

Diese, diese Art Menschen verleiht die Lorbeeren der Geschichte! Diese Menschen verhängen, wenn sie wollen, die Strafe bürgerlichen, ja ewigen Todes.

Es gab Zeiten, die hatten Ketzerbrände und Inquisitionstribunale zur Pein und Marterung großer Seelen und freier Geister. Wir aber haben das Henkertribunal der öffentlichen Meinung. Wir haben das furchtbar vergewaltigende Totschweige-, Erpresser-, Aushungerer-, Verfälscher-System der sogenannten Presse. In ihren Fängen verblutet das hohe Herz. Unter ihren Klauen verröchelt der tiefe Geist. Selbst die Sklaverei im Banne des Alkohols, Nikotins, Fleischgenusses, (welche Erhöhung des Menschengeschlechts auf Jahrtausende hinaus verhindern), das grausame Joch der Geschlechtsübel, in das Europa sich spannt, selbst Übervölkerung, Hunger, Millionenmord, alles ist nicht von so teuflischer Natur, nicht so verhängnisvoll wie die ruchlose Seuche der allgemeinen Bücher- und Zeitschriftenleserei. Sie verzehrt den Tag mit dem Tage, vergiftet und verzettelt die Seelen, verfälscht die Werte, gibt die Einfalt der Schlichten und Redlichen in die Gewalt von Ehrgeizigen und Eiteln, und setzt tüchtige Leistung oder kunstvolle Technik an den Platz, der allein dem innerlichen Sein und tieferem Herzen gebührt. Denn so wenig ein hochbegabter und kunstreicher Taschendieb, darum weil er der Meister in seinem Fache ist, eine höhere Wesensart darstellt als der Stümper im Diebstahl, so wenig ist der technisch hochentwickelte und vielkönnende ›Schriftsteller‹ eine bessere Menschenart als der dunkelste und ärmlichste Zeilenschreiber, vielmehr ist der eine wie der andere nur ein Prostituent des Geistes, wenn hinter seinem Können und Schaffen nicht Einsamkeit, Tragik, Martyrium menschheitlicher Sendung brennt. Nichts aber beweist sicherer die Barbarei der Kultur als ihr quantitatives Übermaß an Geschick und Talent, als ihr ungeheurer Überschuß an Können und Leistung, technischer und formaler Fertigkeit, in allen Wissenschaften und Künsten, hinter denen Arbeit und Übung, Schule, Wissen, Begabung und Fähigkeit, alles! nur nicht die opfernde, überweltliche, gottüberwindende Einsamkeit kindlicher Seele glüht. So ist denn eine von bloßen Tagesgrößen und Zeitautoritäten gekittete sogenannte Weltgeschichte zuletzt nur das Piedestal, auf welchem ehrgeizige Absichten und Ansichten der Mächler, Streber, Advokaten, Überredner, Publizisten, Literaten miteinander und gegeneinander wetteifern, indem jeder scheinbar sachliche, scheinbar überzeitliche Ideale seiner parteiischen Macht- und Lebensgier als schützenden Mantel vorhängt.

§ 45. Über Geschichtsfälschung.

Im Jahre 1897 enthüllte sich in Paris eine großartige Schwindelaffäre. Ein Schriftsteller namens Gabriel Jogand-Pagès, mit Schriftstellernamen Leo Taxil, hatte mehr als ein Jahrzehnt, von 1885 bis 1897, aus einer Art ästhetischer Lust am Irreführen und Fabulieren, die katholische Klerisei, ja man könnte sagen, die ganze katholische Christenheit an der Nase herumgeführt. Leo Taxil, am 21. März 1854 zu Marseille geboren, um 1880 nach einem bewegten Leben Leiter eines großen antiklerikalen Verlagshauses, Präsident der französischen Freidenkervereine und bekannter Freimaurer, trat plötzlich in Aufsehen erregender Weise zur katholischen Kirche über. Er trennte sich geräuschvoll von seinen bisherigen Freunden und von seiner Frau und veröffentlichte bald nach seinem Übertritt die religiös gestimmten ›Bekenntnisse eines ehemaligen Freidenkers‹ (deutsch: Freiburg/Schweiz 1888). In diesen Bekenntnissen erzählt er in etwas überschwenglicher, aber durchaus glaubwürdiger Weise die Geschichte seiner religiösen Erweckung und Bekehrung. Und fortan lieferte er eine große Reihe frommer Schriften zur Bekämpfung der Freidenker und Freimaurer. Immer tiefer verfestigte er sich damit im Vertrauen der einflußreichsten Würdenträger der Kirche. Mehrere französische Bischöfe und Erzbischöfe zogen ihn in ihren persönlichen Verkehr und ließen sich durch ihn beraten. Vor allem aber gelang es ihm, gelegentlich einer persönlichen Audienz, bei welcher er mit Exaltation den demütig bereuenden Sünder spielte, das Vertrauen, ja die Zuneigung des Papstes Leo XIII zu gewinnen. Nachdem somit durch sieben Jahre der Boden hinlänglich vorbereitet war, konnte Taxil endlich 1887 mit einer großartig ausgesonnenen Mystifikation sich hervorwagen. Er trat Januar 1887 in sensationeller Weise mit der Entdeckung eines über ganz Europa verbreiteten dämonischen Teufelskultes hervor, welchen er Palladismus nannte. Der Sitz dieser Satansreligion, bei welcher sogenannte schwarze Messen, wollüstige Ausschweifungen, Orgien und Lästerungen eine Rolle spielten, sollten die Logen bestimmter Freimaurer, Odd-fellow-Brüder und Illuminaten sein. Der Entdecker klagte sich selber an, in seiner Jugend an solchen Ausschweifungen der Palladisten teilgenommen zu haben. Alsbald fanden sich verschiedene Personen, welche Taxils Enthüllungen bestätigten, sich selbst des Teufelsdienstes bezichtigten und zur Kirche zurücktraten. Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Arzt, François Bataille, welcher ähnliche Bücher wie Taxil selbst veröffentlichte und zumal in einem Werk › Le geste‹ die Riten und Symbole der Satanisten zu erklären unternahm. Endlich fand sich als Kronzeugin für den maurerischen Verschwörerkult ein blendend schönes junges amerikanisches Mädchen, Miß Diana Vaughan sich nennend. Diese trat, indem sie sich zur katholischen Kirche bekehrte, öffentlich mit der überraschenden Beichte hervor, in früher Jugend von einem freidenkerisch gesinnten Vormund und andern ketzerisch gesinnten Verwandten bei einer Satansorgie geopfert und die Geliebte eines Teufels, namens Asmodäus, geworden zu sein. Dieser sei ihr bei der schwarzen Messe einer Satanistenloge zu St. Franzisko erschienen. Diese ersten Zeugen des von Taxil groß angelegten Geschichtsschwindels waren, wenn auch nur bis zu gewissen Grenzen, in den beabsichtigten Betrug eingeweiht. Jene Diana Vaughan war eine von Taxil eingeschulte und klug gelenkte, äußerst gewandte Pariser Kokotte. Später freilich fanden sich auch völlig gutgläubige Mitläufer und Helfer. Manche davon, wie der greise Abbé de la Tour, Vicomte de la Noé in Rouen, blieben noch lange Jahre nachher, als der Betrug längst erwiesen war, fanatisch überzeugte Anhänger der zu Gott bekehrten Vaughan und vertraten die Wahrheit von deren Angaben und Geschichtsmären in eigenen Schriften. Die Vaughan selber wurde in den Jahren 1885-87 von hohen Kardinälen empfangen und um Auskunft über die Palladistenriten und Satanslogen angegangen. Von welcher Art diese Auskünfte waren, erhellt unter anderm aus der Tatsache, daß unter den Beweisstücken für das Bestehen der satanischen Gegenkirche ein Tierschwanz, ähnlich dem eines Fuchses, figurierte, welchen Diana im Ringen mit einem ihr zusetzenden, zudringlichen Teufel diesem ausgerissen zu haben behauptete. Dieses Ende Schwanz wurde von französischen Bischöfen besichtigt, begutachtet und öffentlich vorgezeigt. Indessen handelte es sich bei dieser tollen, durch ein ganzes Jahrzehnt hindurch fortgesetzten Komödie, bei welcher von Betrogenen und Betrügern eine umfangreiche, höchst wüste historische Bibliothek über angeblich ganz sichere Teufelsdogmen, Kulte, Zaubereien, Beschwörungen und Verschwörer zusammengeschrieben wurde, nicht allein um die alte bekannte Tragikomödie des menschlichen Aberglaubens. Die klügsten der kirchlichen Würdenträger durchschauten den Schwindel. Sie aber ließen die Sache ruhig ihren Weg gehn, weil sie wähnten, die Hauptperson, Leo Taxil, in der Hand zu haben und lediglich zu ihren Zwecken zu benutzen. Sie merkten nicht, in welch raffinierter Weise sie selber von dem Manne genasführt wurden. Taxil nämlich hatte bei Gelegenheit seiner Bekehrung 1880 sich scheinbar auf Gnade und Ungnade an die Kirche ausgeliefert. Er hatte sich dem päpstlichen Nuntius Msgr. di Rende zu Füßen geworfen und begehrt, in ein Kloster aufgenommen zu werden. An ein Jesuitenkloster verwiesen, hatte er sich dort den strengsten Exerzitien unterworfen, seiner Vergangenheit abgeschworen und gebeichtet. Seine Beichte gipfelte in der ausgeklügelten Sebstbezichtigung eines unentdeckt gebliebenen Giftmordes, dessen erfundene, aber glaubwürdig ausgesponnene Einzelheiten er in voller Seelenzerknirschung seinen Beichtvätern anvertraute, womit sein plötzlicher Sinnesumschwung besonders gut motiviert erschien. Die Jesuiten wähnten eines so schwer belasteten Mannes sicher zu sein. Nachdem er die ihm auferlegten Pönitenzen bestanden hatte, glaubte man, ihn als kirchlichen Publizisten gegen die Freimaurer und Freidenker, deren Gesellschaften er genau kannte, klug benutzen zu können. Als aber das Palladismusmärchen und die Mythe vom Satanismus immer weitere Kreise zog und selbst bedeutende Geister, wie die Dichter Huysmans und Péladan beschäftigte, wurden einige vorsichtige Verhandlungen mit dem heißblütigen Taxil angebahnt. Die Jesuiten wünschten, daß in einem südfranzösischen Kloster das Herz der Jungfrau von Orleans möchte gefunden werden. Taxil, den man für einen zwar fantastisch aufgeregten, aber auch leichtgläubigen und ehrlich fanatischen Menschen hielt, schien die geeignete Persönlichkeit, um bei der Entdeckung der unschätzbaren Reliquie dienlich zu sein. Er verhieß denn auch jeden gewünschten Dienst. Aber er fühlte, daß die Komödie nun auf dem Höhepunkte stehe und daß ihre Fortsetzung auf die Dauer seine Glaubwürdigkeit erschüttern könne. So ging er daran, den Bovist mit möglichst großem Geräusch zum Platzen zu bringen. November 1896 wurde auf sein Betreiben ein großer Antifreimaurerkongreß nach Trient zusammengerufen. Dieses neue Tridentinische Konzil wurde von der ganzen katholischen Welt beschickt. Berühmte Kanzelredner, Theologen, Ordensgeistliche, Missionare erschienen; auch jener Spezialforscher über Satanismus Dr. Bataille und die berühmt gewordene Diana Vaughan. Leo Taxil selber fungierte nach Wahl der Teilnehmer als Präsident des Kongresses. Er schickte mir bald nach den Tagen von Trient ein Gruppenlichtbild, welches ihn inmitten der höchsten Würdenträger der Kirche als Vorsitzenden des Kongresses zeigt. Dazu schrieb er mir: ›Beachten Sie, bitte, daß alle Personen auf diesem Bilde ein ernstes Gesicht machen, nur ich bin der einzige, welcher – lacht.‹ Kurze Zeit nach diesem Kongresse trat der mächtige Mann mit dem guten, biedern, vertrauenerweckenden Vatergesicht mit der Enthüllung des Schwindels an die Öffentlichkeit Er bat in Paris die Spitzen der französischen Schriftstellerwelt, Politik und Kirche zu einem scheinbar harmlosen Meeting in einem Pariser Theater zusammen. Vor den Erschienenen trat er, 19. April 1897, zu grenzenloser Überraschung der uneingeweihten Kleriker mit der lachenden Enthüllung hervor, daß er immer noch, wie in der Jugend, Freidenker und Kirchenfeind sei und lediglich ein zehn Jahre lang dauerndes Spiel mit dem Aberglauben und dem Fanatismus der Menschen gespielt habe. Die Einzelheiten seiner Audienzen beim heiligen Vater, seinen Verkehr mit den Bischöfen, die kleinen Züge des von den Jesuiten gewünschten und angebahnten Wunderschwindels, die Lebensgeschichte der Vaughan, alles gab er in behaglich komischer und derb übermütiger Weise dem Gelächter preis. Der Skandal zitterte manche Jahre nach. Taxil hielt während dieser Jahre Vorträge über seine Erlebnisse mit der Kirche in den französischen Städten und gab eine Fülle spöttischer, derb satirischer Schriften heraus, die das Motto tragen › tuons-les par le rire‹ und mit übermütigen Widmungen an die ihm befreundeten Bischöfe oder gar an den Papst zum Dank für die ihm erteilten Segen versehn sind. Er blieb bis zu seinem 1906 erfolgten Tod ein von Voltaire geleiteter, mit dem Leben übermütig spielender Spötter. Ich habe den Mann gekannt und einige Jahre mit ihm Verbindung unterhalten. Daher glaube ich zu wissen, daß weder Eitelkeit, Ruhmsucht, Geldgier noch auch ein Fanatismus für Aufklärung und Freigeisterei die Triebfeder seines Handelns war. Er gehörte, gebotener Gascogner, zu den bewundernswert überlegenen Leuten, die an Spott und Spiel ein wahrhaft künstlerisches Vergnügen haben. Das ist ein Stück Dichtertum, frei von jedem Pathos, außer von einem gewissen Pathos des Witzes. Die Akten und Documente seiner vielen Mystifikationen habe ich lange Zeit gesammelt, weil ich sie zu einem kulturgeschichtlichen Werk zu verarbeiten gedachte. Einsame Gesänge, 1899, S. 254. Zuletzt ließ ich das große Material unbenutzt. Auch kam ein anderer Gelehrter mir zuvor, Hermann Gruber S. J., der in ausführlichen verdienstlichen Schriften (Leo Taxils Palladismus-Roman, 3 Bde., 1897/98, und ›Betrug als Ende eines Betruges‹, 1897) die Taxilschen Geschichtsfälschungen klarmachte und vom Standpunkt der Kirche beurteilte.

Eine minder wichtige, aber doch ebenfalls lehrreiche historische Mystifikation sah ich 1914, unmittelbar vor Ausbruch des Weltkrieges in Paris. Ein junger Journalist erlaubte sich den Spaß, eine Reihe historischer Aufsätze über einen von ihm selbst erfundenen Volkshelden aus der Revolutionszeit, namens Hegesyppe Moreau, zu veröffentlichen. Er brachte es fertig, weite Kreise für diesen angeblich vergessenen Revolutionsmann zu interessieren. Schließlich wurde ein Komitee gebildet, um ein Denkmal für Moreau in Paris zu setzen. Bekannte Schriftsteller, Akademiker, Professoren, darunter auch Historiker, unterzeichneten eitel oder gutgläubig den Aufruf zur Denkmalgründung. Eine Künstlerkonkurrenz ward ausgeschrieben und Gelder gesammelt. Plötzlich, nachdem eine Reihe von Tagesgrößen sich kompromittiert hatten, trat der Veranstalter mit der Enthüllung hervor, daß Hegesyppe Moreau nie gelebt habe. Vor Beginn des Krieges sah man im ›Salon der Humoristen‹ Entwürfe ausgestellt zu dem ausgeschriebenen Denkmal für den historisch gewordenen und doch nicht historischen Volkshelden.

Endlich sei eine persönliche Erinnerung bewahrt, die für das Zustandekommen historischer Überlieferung lehrreich ist. August 1909 wurde ich bei Gelegenheit eines Aufenthaltes in London von amerikanischen Bekannten, die in Ritz Hotel, Piccadilly, wohnten, zu Gast geladen. Ein sozialpolitischer Gedanke verknüpfte uns, denn die Frau des Hauses hatte eine Liga gegen entbehrliche Geräusche begründet und in Amerika den selben Feldzug gegen Lärm unternommen, den ich, ohne von der verwandten amerikanischen Bewegung zu wissen, seit lange in Deutschland führte. Der Nachmittag verging harmlos; wir spielten ein Pfänderspiel und lasen Gedichte. Gegen Abend kam noch ein dritter Lärmfeind, der als Syndikus eines Londoner Verbandes großen Einfluß auf die Zeitungen hatte. Da fiel arglos die Bemerkung, wir sollten künftig einmal eine internationale Tagung aller Vereine gegen Lärm veranstalten, worauf der praktische Engländer meinte, drei solche Vereine seien ja beisammen und so könne dieser 14. August füglich als der erste Kongreß gegen den Lärm gelten. Die amerikanische Dame aber rief, dann möge man nur sogleich die Presse von dieser Konferenz benachrichtigen. Es wurden also sofort einige Zeitungsredaktionen durchs Telephon angerufen und der englische Freund diktierte einen vorläufigen Bericht und den Gedankengang der bei dieser Gelegenheit gehaltenen Reden. Am nächsten Morgen brachten die Zeitungen die Referate, und im Laufe des Tages erschienen in meinem Stübchen, nahe British Museum, besonders findige Journalisten, um zu interviewen. Ich hielt meine Angaben dunkel, und durch schlechte Kenntnis des Englischen wurden sie noch dunkler. In den folgenden Tagen stand in den Zeitungen zu lesen, daß ich, der in London keine Seele kannte, Gegenstand von Ovationen gewesen sei; einige brachten kleine Züge und Anekdoten, die auch nicht die mindeste Ähnlichkeit mit der empirischen Person hatten. Ich hätte ein Schock Prozesse gegen Lärm geführt; bekämpfte Kirchenglocken; hätte einen Apparat erfunden, der das Geräusch knarrender Damenschuhe und rasselnder Säbel musikalisch zerlegt; hätte Ruhehäuser nach eigener Methode erbaut; einen Verein gegen das Spucken begründet, usw. Nunmehr braucht ich nur einige solcher Berichte an führende deutsche und französische Tageszeitungen zu adressieren, und so verbreiteten auch diese Betrachtungen über den ersten Weltkongreß gegen Lärm in London. Wir ließen die unsinnigen Berichte unwidersprochen und nutzten die Sachlage zugunsten unseres Kampfes.


Was von den Quellen zur Geschichte, deren Verzeichnis die Historiker in dicken Wälzern sammeln, in der Regel zu halten sei, ermesse man an der Tatsache, daß die Archive ganzer Königreiche oft im Interesse einer einzelnen Dynastie methodisch gefälscht worden sind, so daß die Haupttätigkeit der Historiker nicht Feststellen des Gewesenen, sondern Widerlegen der Verfälschung des Gewesenen zu sein scheint. So ließ Napoleon III alle Archive Frankreichs zugunsten des zweiten Empire methodisch fälschen. So wurden z. B. sämtliche Berichte über die Schlacht bei Marengo vernichtet und durch neue Berichte ersetzt. Nicht selten scheint der Historiker gutgläubiger Betrüger zu sein, gleich Napoleon I, welcher im Augenblick, wo er faustdicke Geschichtslügen auftischt, ernsthaft versichert: › les véritables vérités étaient bien difficiles à obtenir pour l’histoire‹, oder gleich Cicero, der, indem er seine schiefen Berichte über Catilina vorträgt, gutgläubig erklärt, es sei Pflicht der Geschichte › ne quid falsi dicere audeat, ne quid veri non audeat‹. Hierzu kommt, daß die Hauptquelle für die politische Geschichte die Depeschen und Berichte der Diplomaten sind, welche die Engländer ironisch definieren als › men sent abroad, to lie for the benefit of their country‹. – Endlich berücksichtige man noch, wie vielleicht schon daraus fälschende Vorstellungen folgen, daß man Geschichte der verschiedenen Völker und Reiche notwendig getrennt vortragen muß und nie synchronistisch erzählen kann. Wären wir z. B. seit alters gewöhnt worden, die römische Geschichte vor der griechischen zu behandeln, statt der umgekehrten Gewohnheit, so würde das Abhängigkeitsverhältnis der beiden Kulturen uns wahrscheinlich anders anmuten. Die pragmatische Behandlung der Geschichte, nach welcher immer, wenn das eine Volk ›abgeblüht‹ hat, ein anderes auftritt und seine ›Erbschaft‹ übernimmt, ist nichts als große Einfalt, da doch in Wahrheit alle nur erdenkbaren historischen Tatbestände irgendwo auf Erden nebeneinander bestehn, überhaupt aber Geschichte an sich selbst Entwicklung, Fortschritt, Verfall, Übergangsperioden usw. nicht kennt, sondern einfach das Element ist, in welchem der Mensch lebt, immer neu und immer der selbe.


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