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X. Person und Gruppe in Geschichte.
§§ 56-59.

›Es muß die Menschheit ringen nach dem Ziele,
Bei welchem angelangt die Welt zerfiele.‹

W. Jordan.

§ 56. Der Einklang von Gruppen- und Personalwert.

Wenn eine Gruppe die zum Erfolg gelangte Einzelperson als Rohmodell für Aufahmungs- oder Wertbildungsvorgänge benützt, so muß irgendeine Übereinstimmung obwalten, welche fügt, daß gerade diese Person von seiten gerade dieser Gruppe dafür geeignet befunden wurde. Es verhält sich damit, wie mit Liebe und Haß. Sie brüten beständig in der Seele; aber die Gelegenheiten, an denen sie sich betätigen, ob der Mensch den Nachbarn oder den Fremdling haßt, ob der Jüngling die Grete liebt oder die Käte, das ist sekundär und oft zufällig. Zumal die Liebe der Geschlechter beweist, daß allein die Selbstgesetzgebung des sittlichen Willens, nicht aber schon die Natur Treue und festes Beharren der Leidenschaften verbürgt. Vgl. die Psychologie der Treue, ›Weib, Frau, Dame‹ S. 103 f.

Das Verhältnis von Gruppe und Person ist nun keineswegs so, daß die Person als Vertreter ihrer Gruppe in der Geschichte dauert und gleichsam nur den Koeffizienten der Gemeinschaftsvorgänge bildet; noch auch besteht Geschichte aus einer Bildnisgalerie großer und fesselnder Einzelnen. Zwischen beiden, Persönlichkeit und Menge, obwaltet vielmehr eine Art ›prästabilierter Harmonie‹, jener vergleichbar, die eine verkehrte Unterscheidung als Verhältnis zwischen Leib und Seele, Stoff und Geist behauptet. Man kann somit Geschichte immer von zwei Enden her anpacken: von der personalen oder von der Gruppenseite! Nie sind beide voneinander zu trennen. Das Individuum ist nichts aus sich selbst, und die Gruppe verkörpert sich nur im Individuum. Der einzelne braucht nur seine allerpersönlichste und einsamste Natur darzuleben, um damit auch das Überpersönliche, Allverbindliche und Allgemeine zu erfüllen. Denn historisch kann nur eine Person werden, die mit ihren persönlichen Lebensinhalten irgendwie dem Lebensinhalt ihres Kreises entgegenklingt. Dabei wird es sich nicht sowohl um Zusammenklang der wirklichen Person und der wirklichen Gruppe, als um Zusammenklang zweier Wertbilder handeln. Das völlig Einsame könnte nicht historisch werden.

§ 57. Der Widerstreit von Gruppen- und Personalwert.

Es besteht andererseits aber auch ein Widerstreit von Person und Gruppe. Kant bezeichnet ihn als ›des Menschen ungesellige Geselligkeit, d. h. sein Hang, in Gesellschaft zu leben, der doch mit einem durchgängigen Widerstand, welcher die Gesellschaft beständig zu sprengen versucht, verbunden ist‹. Die über ihre Lebensgruppe hinausgewachsene Person empfindet grade die Eigenheiten ihrer Umwelt als feindlich und wird hinwiederum (um ihres Hangs zur Vereinzelung willen) auch von ihrer Umwelt als feindlich empfunden. Das heißt: die Besonderheit des Individuums und die Besonderheit der Gruppe laufen einander den Rang ab. Je eigenwilliger, intimer, unterschiedener die Gruppe ist, um so sicherer wird alles Eigenbrödler- und Außenstehertum innerhalb ihrer als Unbequemlichkeit und Kriegserklärung erfühlt. Vgl. in ›Europa u. Asien‹ die Darlegung über Parsen u. Juden; Kap. XIII, sowie in ›Philosophie als Tat‹ den Versuch ›Georg Simmel und die Psychologie des jüdischen Geistes‹.

Aus diesem Widerstreit von Person und Gruppe erwachsen Gesetze der Bevölkerungslehre, die ich hier nicht darlegen kann, aber auf die ich doch hinweisen will mit der Bemerkung, daß die bloße Vermehrung einer gegebenen Art der Höherzüchtung des einzelnen innerhalb ihrer ebenso hinderlich ist, wie umgekehrt die Höhersteigerung (ja schon die bloße Variation) der Art nur stattfinden kann, insoweit man die Vervielfältigung des Gegebenen unterbindet. Die noch an Darwin orientierte Biologie ist weit davon entfernt, dieses Gesetz zu sehn. – Worauf aber kommt es an? Soll Volkswachstum, Volksvermehrung, Volksmacht (im Sinn staatlicher, sozialer, nationaler Politik) das Ziel der Geschichte sein? Oder ist Erhöhung, Verfeinerung, Vergeistigung, Genialität der Einzelseele das Ziel? Beides mißt sich keineswegs aneinander! Beides ist unvereinbar! Ist der Höher-, der Über-mensch das Ziel, so muß Vermehrung und Vervielfältigung der gegebenen Art, muß Quantität und Anzahl von Übel sein. Ist Lebensfähigkeit, Vermehrung und Wohlfahrt der Masse das Ziel, so müßte (wie in Platos Staat) der geniale Einzelmensch möglicherweise ausgestoßen werden, weil vom Standpunkt der Lebenswerte Genie Endartung ist und ein ›Volk von Genies‹ gar nicht lebensfähig wäre; ja vielleicht sogar die höchste Steigerung menschlicher Logik, Ethik, Geistigkeit, Zartheit usw. mit der Aufhebung der gegebenen Menschenwelt zusammenfiele. Umgekehrt aber würden alle Sonderwerte ausgelöscht werden, wenn die Lebensbedürfnisse der Gruppe, des Staates, des Volkes usw. als Norm der Geschichte gälten, denn wer die Werte sich nach dem Leben strecken läßt (das doch seinerseits erst durch sie eine Bestimmung erhalten soll), der vernichtet damit allen Wert überhaupt. Wertaxiomatik. Antinomien der Werte S. 66 f.

Diese Antinomie der Geschichte ist in ihrer ganzen Strenge nie erforscht worden.

§ 58. Der Gegensatz von Durchschnitts- und Einzigkeitswert.

Wenn man lateinische Rasse an germanischer auswertet, so findet man, daß das Werturteil verschieden lauten müßte, je nachdem man den Durchschnitt hüben mit dem Durchschnitt drüben vergliche, oder aber die Spitzen, die hervorragendsten Persönlichkeiten, hüben und drüben aneinander mäße. Denn der durchschnittliche Typus lateinischer Abkunft dürfte (was Verfeinerung, Bewußtheit, Geistigkeit, Leidensfähigkeit angeht) dem deutschen Durchschnitt überlegen sein. Umgekehrt sind die großen Menschen in Deutschland, wenn in Deutschland große Menschen geboren werden, von unvergleichlicher Höhe.

In Frankreich, wo der hervorragende Geist leichter gesucht, anerkannt, geschätzt wird, werden auch die Abseitsstehenden schneller für zeitliche Zwecke, praktische Absichten, bürgerliche Ziele verbraucht. Der Einzelne hat somit wohl bessere Aussichten. Er kommt eher zur Wirkung, aber eben darum auch zu geringerer Werthöhe. In Deutschland dagegen wird der Genius immer neu geboren, damit er immer neu ungenutzt zugrunde gehe. Sein Volksdurchschnitt ist der gegen Geistigkeit stumpfeste der Erde; sein Einzelmensch aber, zumal in Musik und Metaphysik, der schönste. – Dieses Beispiel lehrt, daß die Werte der Volkheit und die der Einzelseele unabhängig von einander bestehen können. Die Deutschen hatten Mozart und Beethoven, aber standen davor wie der Hund vor dem Apfel. Sie hatten Schopenhauer und Nietzsche; aber keine Lehrkanzel für sie. Sie hatten Feuerbach und Marées, aber keine Wände für sie. Es erging deutschem Genius wie dem Knaben Michelangelo. Man gab ihm gnädig den Auftrag, Figuren zu formen – aus Schnee. Er tat es und schrie weinend: »Gebt mir Marmor!«

Ich habe immer wieder zu zeigen mich bemüht, daß die Anhäufung von sachlichen Werten nicht das mindeste für Wert oder Würde der sie tragenden Menschen beweise. Heute aber bin ich tiefer als je davon überzeugt, daß die Massenhaftigkeit der Wert objekte (z. B. die sachliche Höhe von Kunst und Wissenschaft, die Anhäufung von Fertigkeiten, Tüchtigkeiten, Leistungen, Betriebsamkeiten, Könnereien, die Massenhaftigkeit von Büchern, Bildern, Techniken, Produktionen, die allgemeine Gelehrigkeit und Talentiertheit; kurzum die ganze sogenannte › Kultur‹) der Ausdruck der widerwärtigsten Seelenbarbarei ist und das Anzeichen dafür, daß die Gegenstandswelt die Einzelseele überwächst, bis schließlich der innerlich wertloseste Träger die objektiv höchsten Sachgüter hervorbringt und ausnützt. Es erscheint mir als Kernfrage der Zukunft, wie das Leben künftig geschützt werden solle vor der Massenhaftigkeit objektiver, d. h. mechanischer Betriebe und Betriebsamkeiten, zumal aber, wie das Herz seines Herzens gerettet werden kann vor den grauenhaften Folgen des allgemeinen Buchdrucks. Denn die große Zahl sachlicher Arbeits- und Leistungswerte hat das Herz Europas längst um die Unwiederbringlichkeit und Einzigkeit seines lebendigen Menschentums betrogen. Ringsum habe ich alle Menschen arbeiten und kämpfen gesehn um das Beste, was sie besaßen, aber grade dadurch haben sie ihr Bestes verloren. (Vgl. § 75.)

§ 59. Ist Übermensch oder Gattung Ziel der Geschichte?

In einem Springbrunnen drängen sich Milliarden Tropfen. Jeder möchte, die andern verdrängend, die für ihn letzterreichbare Höhe im Strahle erreichen. Nur ein einziger von allen kann die schlechthin letzte Höhe erklimmen. Je höher diese äußerste Höhe rückt, um so dünner und schmächtiger wird der Strahl. Um so mehr Tropfen auf eine größere Höhe gelangen, um so tiefer sinkt naturnotwendig der Pegelstand der gesamten ansteigenden Wassermasse.

Was ist nun das Ziel? Sollen möglichst viele, sollen alle Tropfen hochkommen auf Kosten der äußersten Höhe des Ziels? Soll das Ziel hochgespannt werden auf die Gefahr hin, daß es nur für wenige oder gar nur für Einen erreichbar ist? Soll der Strahl voll und nieder oder soll er dünn aber hoch sprühn?

Dieses ist Vorfrage aller Geschichtswissenschaft: Masse oder Einzelner? Sie ist nie klar gestellt, geschweige denn gelöst worden.

Wie aber, wohlweise Historiker: hat Geschichte ein Ziel? Und wenn sie eines hätte, dieses aber notwendig negativ wäre?

Sollte Geist Aufbrauch des Lebens, sollte Kultur – Sackgasse sein? Vgl. ›Europa u. Asien‹ S. 36. Wertaxiomatik S. 29 f.


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