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I. Das geschichtliche Subjekt.
§§ 7-12.

§ 7. Geschichte als Einheit.

Indem wir Zeit als Form der Geschichte voraussetzen, betrachten wir nunmehr die Einheit der Geschichte in der Zeit, d. h. nicht Geschichte als bloßes Neben- und Nacheinander zeitlicher Wahrnehmungen, sondern Geschichte als den Zusammenhang der Ereignisse.

Es ist vollkommen klar, daß dieser Zusammenhang die Konstante eines tragenden Ich (nenne man das nun: Staat, Nation, Volksgeist, genereller Mensch, objektiver Geist oder sonstwie) schon voraussetzt: jenes geschichtliche Subjekt, auf welches wir alle Geschichte beziehn, als seine Geschichte und welches keineswegs in den Inhalten der Geschichte durch Erfahrung gefunden wird, noch auch etwa durch diese Inhalte hindurch magisch sich offenbart, sondern Form ist, um Geschichte aktiv schreiben, aktiv denken zu können. Reden wir z. B. von einer Geschichte Europas, der sozialistischen Partei, der Vegetariergesellschaft Pomona, so muß eben Europa, die sozialistische Partei oder die Vegetariergesellschaft Pomona schon als wirklich gedacht sein, ehe ich ihre Geschichte feststellen kann; sie entsteht keineswegs erst durch Geschichte und mit Geschichte; sie ist kein Erfahrungsinhalt von Geschichte.


Was aber ist dieses durch Geschichte schreitende geschichtliche Subjekt anders, was kann es anders sein als eine ichbezügliche Spiegelung unseres eigenen Bildes? Eine Art Anbild-Mensch mit allen Interessen, Glücksbedürfnissen und Erhaltungsstrebungen unserer Gattung? – Der generelle Mensch! Das heißt aber auch der zu bloßer Gedankenschablone gewordene, völlig person- und eigenheitfreie, völlig uninteressante, sozusagen ausgelaugte Mensch, der Mensch ohne Sonderzüge. ... Denn wie Deutschland nur aus deutschen, Hellas nur aus hellenisch-, das Christentum nur aus christlich-fühlenden Einzelseelen besteht und es keinen Sinn hätte zu behaupten, der Körper bestehe auch dann, wenn alle die Zellen, deren Wechselwirkung ihn bildet, nicht mehr da sind, so ist geschichtliche Wirklichkeit zunächst gebunden an ein Chaos fühlend bewegter Einzelseelen, deren jede ihr eigenes Sinnsystem in sich trägt. Und aus allen diesen einzelnen Sinnsystemen wird die sogenannte geschichtliche Wahrheit erst durch Übersehen aller Teilwerte und -interessen gewonnen. Durch einen desqualifizierenden (auslaugenden) Vorgang sehr weiter Abstraktion von aller erlebensnahen Wirklichkeit. Sie wird durch den denkend-ordnenden Verstand aus den unmittelbareren Wirklichkeiten des Lebens gleichsam herausgefiltert. Und wie in Logik und Mathematik die Formeln um so wahrer sind, je umfassender und um so umfassender, je inhaltloser sie werden, bis sie zuletzt als bloße Gedankenfiktion sich abscheiden vom Leben, welches gelebt wird, so ist auch Geschichte als Geschichte objektiver Geschichteträger zuletzt die völlig leere Form, welche erst mein Wollen, mein Leiden, mein Bedürfen, meine Liebe und mein Haß, kurz gesagt meine Eins- oder Gegenfühlung mit bestimmter Lebendigkeit bestimmter Wirklichkeiten erfüllen kann; mit meiner Lebendigkeit! Denn ohne diese Teilnahme Für oder Wider wäre alles Historische völlig tot und das Eine so gut wie das Andere. Indem wir aber den an sich gleichgültigen, unübersehbaren oder uferlosen Geschehnissen Wertakzente verleihen, je nachdem wir uns selbst und unsere Einzel- oder Gruppenvorurteile durch sie bestätigt oder verworfen finden, kommen wir zum sogenannten geschichtlichen Zusammenhang.

Dieser Zusammenhang ist ein Gewebe, bei dem wir gleich der Spinne in ihrem Netz immer selber das Zentrum und den Ursprung aller Fäden bilden. Der Gedanke z. B., daß eine hellenische Geschichte von einer römischen und diese zuletzt von einer germanischen abgelöst worden sei, ist lediglich ein Arbeitleitgedanke unseres heutigen Kulturkreises, dessen Wirklichkeitsbild mit uns selber entstand und wieder zugrunde geht. Wir beurteilen beispielsweise die gräßlichen Blutorgien des alten Römerreiches darum als historisch vernünftig und notwendig, weil wir uns selber an ihrem Ende als Erben ihrer Resultate vorfanden, und wir hätten wahrscheinlich keinerlei Fluch für dieses Imperium zu hart erachtet, wenn wir selbst Sklaven unter seinem Joche geblieben wären. Wir beurteilen sogar die unsinnigste historische Wirklichkeit, etwa die Bluttaten und Greuel eines Timur, als historisch unvermeidlich und notwendig, weil ohne Timurs geschichtliche Erscheinung heute Türken in Europa herrschen würden und unsere eigene wertgehaltene Weltgeschichte nicht vorhanden wäre. So liegt aller Geschichte eine logificatio post festum zugrunde, was auch immer auf Erden geschehen mag.

Unsere Geschichtsquellen bewahren nicht die Schicksale der bei der Eroberung Lüttichs zertretenen Veilchen, nicht die Wolkenbildungen vor Belgrad, nicht die Leiden der Kühe im Brande Löwens, sondern mit ungeheuer verengter Einstellung das für gewisse menschliche Interessegruppen Selektiv-Wirksame; und auch keineswegs alle Umstände dieses Wirksamen, denn alles Nicht-Soziale, Nicht-Politische, also just das eigentlich Seelische, soweit es bloß einmalig, nur personal, nur intim ist, wird grob überrädert, wofern es nicht als ›wesentlich‹ gelten kann für jene zuletzt doch nur gespenstisch-abstrakten und wertlosen Staat- und Landkartenverschiebungen, die der Mensch, seiner selber spottend, zuletzt ›geschichtliche Wirklichkeit‹ nennt. –

So ist jedes Ereignis historischer Wirklichkeit zuletzt nur ein mechanisches Anereignis. Vereignet ( owned) durch Menschengruppen an Hand menschlicher Nutzinteressen.

Sic modo quas fuerit rudis et sine imagine tellus
      Induit ignotas hominum conversa figuras.‹

§ 8. Entsprechung zur Naturwissenschaft.

Dieser Vorgang der Gewältigung oder Übermächtigung des Lebens zu Geschichte ist nun aber der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung durchaus analog.

Auch in den Naturwissenschaften handelt es sich um ein Beiseiteschaffen oder, wie ich das oben nannte, um eine Auslaugung (Desqualifikation) alles Einmaligen und Besonderen, wodurch eine erlebte und nur im Erlebnis fühlbare Welt intensiver und qualitativer Empfindungen umgerechnet werden muß in das gedanklich-symbolische Schattenreich der Beziehungen zwischen fiktiven Quantitäten (etwa Atomen, Monaden, Molekülen, Energieeinheiten usw.). Sogar mein eigenes ›Ich‹, insofern es gedacht ist, ist kein unmittelbares Erlebnis, sondern ist gedankliche Setzung, so gut wie ein Gegenstand von vermeintlich größerer Ferne und Äußerlichkeit. Immer handelt es sich (in Naturwissenschaft und in Geschichte) um Bindung und Rhythmisierung von ›Leben‹ kraft des Gedankens. Dieser bildet aus dem an sich Unermeßlichen und Unzugänglich-Unfaßbaren Symbole berechenbarer, begrenzter, harmonischer, ausmeßbarer ›Wirklichkeit‹. Beide Wirklichkeiten fiktiv! beide gegenüber dem Unmittelbar-Gegebenen transzendent. Und die eine nicht wahrer und nicht wirklicher als die andere.

§ 9. Ist Geschichte Natur oder Vernunftstiftung?

In dem in § 8 Gesagten liegt nun freilich ein Scheingegensatz verborgen, der Gegensatz von Naturtatsache und Vernunftstiftung. Ist Geschichte vereignet ( owned) durch Menschengruppen, so kann sie nicht Naturtatsache sein, ist sie Naturtatsache, so sind auch die menschlichen Geistesprozeduren, die zur Bildung von Geschichte führen, Naturtatsache und von historischen Gesetzen mit umgriffen.

Man könnte z. B. behaupten, daß das Umherschieben von Menschengruppen, das Andersaufteilen der Länder, das Herumlaborieren an dem natürlichen Gruppierungs- und Niederlassungsprozeß, ja daß überhaupt Kriege, Revolution, Revolten usw. etwas Künstliches und das Werk der Geschichtemacher seien, demgegenüber man besser die Natur gewähren lassen sollte. Aber man kann auch mit gleichem Rechte behaupten, daß umgekehrt die Natur nie etwas anderes als Kriege, Revolutionen und Revolten aufweisen würde, wenn nicht die Geschichtemacher versuchten, das natürliche Chaos der Gruppierungs- und Niederlassungsverhältnisse, so gut als man das vermag, in ein Netz sachlicher Ordnung zu zwängen.

Der hier in Rede stehende Gegensatz von Geschichte als Natur und Geschichte als Vernunfttatsache scheint mir am klarsten an einem bestimmten Falle der englischen Geistesgeschichte sich darzustellen, nämlich an dem Streite, welcher im Jahre 1804 zwischen dem Nationalökonomen William Godwin und dem Naturphilosophen Thomas Malthus ausbrach. Malthus nämlich versuchte in seinem vortrefflichen › Essay on the principles of population‹ Armut, Übervölkerung, Laster und Not als notwendige Naturgesetze zu erweisen, während Godwin geneigt war, nur die menschlichen Einrichtungen, besonders eine verkehrte Ethik und Sozialpolitik, für die Notstände und Schmerzen der bürgerlichen Existenz verantwortlich zu machen. In diesen Streit aber tönte ein viel älterer Gegensatz hinein zwischen zwei Historikerschulen, deren eine von einem Naturrecht, deren andere von einem Vernunftrecht fabelt.

Wer hat Recht? Durchaus beide. Denn ob ich die Leiden des Lebens, Hungersnöte, Revolutionen, Kriege als Naturereignisse oder als die Folge menschlicher Einrichtungen betrachte, kommt nur auf leere Begriffsstreiterei hinaus. Und leere Begriffsstreiterei ist es, zu erfragen, ob man gleich den englischen Pragmatikern die ganze Welt menschlicher Einrichtung, eingeschlossen die Ideale, als natürlich, naturgeworden, naturgesetzlich zu bezeichnen habe oder wie die deutschen Kantianer Natur und Wirklichkeit eine ›Vorstellung‹ nennen solle.

Diesen Begriffsunklarheiten aber fällt der Geschichteschreiber auf Schritt und Tritt zum Opfer. Er redet von Wirklichkeit, wo Illusion vorliegt. Er verwirft als Illusion, was durchaus dem Wirklichkeitsdenken entquillt. Er fabelt von der ›grauen Theorie‹ und ›des Lebens goldenem Baum‹. Aber niemals weiß er klar zu sagen, wo die Theorie beginnt und wo das Leben aufhört. Er spricht z. B. gern von Realpolitik. Aber was ist das? Glauben sogenannte Realpolitiker nicht an: Entwicklung, Fortschritt, Vernunft? Wähnen sie nicht zu wissen, was Staat sei? Meinen sie nicht zu kennen, was der Menschensumme nottue, die sie ›das Volk‹ nennen? Ja phantasieren sie nicht von dem Menschen, dem Menschengeschlecht? Und sind das nun Naturgegebenheiten? Sind Staat, Volk, Fortschritt, Entwicklung natürliche Realitäten? Nein! Das sind die Gesichtspunkte, die wir selber an unser Erleben heran-, in unser Erleben hineintragen. Was also ist ›graue Theorie‹, was ›goldener Baum des Lebens‹?

Weder Natur noch Geschichte, weder das uns gleichgültige Geschehen noch jenes, das wir als ›historisch‹ zu ergreifen vermögen, trägt in sich selbst den Sinn, nach welchem es zu begreifen wäre. Weder Natur noch Geschichte offenbart ein geistiges Reich unabhängig von erfassendem Bewußtsein und gestaltendem Wollen. Noch auch stößt etwa der Geist als vis a tergo Geschichte empor. Sondern die normative Sphäre, nach welcher wir historische Wirklichkeit machen, indem wir sogenannt natürliche Vorgänge beurteilend durchsieben, kann aus Inhalten der Geschichte nicht entnommen sein.

§ 10. Die Inhalte von Geschichte.

Was denn nun sind – vom Wertgesichtspunkt der Ideologie abgesehen – von Natur die Inhalte der Geschichte? Sinnlose Lebenstragödien eines Ameisenhaufens, der, von Hunger, Brunst, Eitelkeit getrieben, dahinlebt, bis er, sei es durch die Erkaltung der Erde, sei es durch eine andere kosmische Katastrophe spurlos zugrundegehen wird, wie alles verging.

›Junge Könige, die, schlecht beraten, Fehler begehen, alte Könige, die dafür büßen, exilierte Favoriten, weggeschickte und wieder zurückgerufene Minister, dynastische Alliancen, ist es wirklich wahr, daß, wie man in den Büchern liest, solche Gleichgültigkeiten die Geschichte eines Volkes sind? Wir sind das Opfer einer Illusion. Vom Vergangenen bleibt nur ein Bild in den Büchern und dieses Bild ist von den Historikern hergestellt, die alle die Geschichte zugunsten ihrer Vorurteile schreiben. Die Geschichte, das sind die Vorurteile der Historiker in Erzählung gebracht. Was sind die Elemente der Geschichte? Worte, immer Worte! Worte eines Monarchen, eines Ministers, Verteidigungen eines besiegten Generals, Pamphlete eines in Ungnade gefallenen Günstlings, Worte irgendeines Versammlungspräsidenten. – – Worte, in Stein gemeißelt, an Wände gemalt, auf Papyrus, auf Pergament geschrieben, auf Papier gedruckt und dieses von Mäusen verwaltet, die, was sie nicht fressen, als Historie auf spätere Zeiten kommen lassen.‹ (Diane Paalen in der ›Aktion‹ 1916.)

Wenn nun dieses der Inhalt der Geschichte ist, warum meinen dann die Historiker, daß das in den Büchern aufgefangene Leben um ›Ideen‹ sich drehe? Nur darum, weil sie selber, indem sie es auffangen, sich um Ideen drehn. Ideen sind die Leitpflöcke der Geschichtestiftung. Jedes beliebige historische Ereignis, jeder System- oder Beamtenwechsel, jeder Krieg, jede Revolution scheint die Wirksamkeit irgendwelcher idealer Mächte zu verbürgen. Und doch brennt auch hinter den historischen Idealen nie etwas anderes als die aufsummierte Selbstsucht und aufsummierte Dummheit vieler Einzelnen. Hinter jeder Ansicht Absicht, hinter jeder Einsicht Notdurft.

Also: von der einen Seite gesehn besteht der Inhalt von Geschichte aus nichts als aus ichbezüglichen Gewaltakten, Räubereien, Metzeleien, deren Kern immer der Diebstahl der einen an den andern ist – (man begreift kaum, warum man mit diesem ewigen Hin und Her von Schlachten und Schlächternamen sich den Kopf anfüllen und den Sinn der Jugend von früh an verderben soll). – Von der andern Seite jedoch scheinen bei allen diesen ewigen ichbezüglichen Gewaltakten, Räubereien und Metzeleien ›Ideale‹ im Spiele zu sein; wenigstens werden die im Munde geführt.

Gab es denn je in Geschichte eine Niedertracht, für die nicht subjektiv-edle Motive, Tröstungen der Religion, Sophismen der Philosophen in Hülle und Fülle zur Verfügung stunden? Lasset nur das Objektiv-Ruchlose irgendwo zur Regel oder zur Notwendigkeit werden und die gesamte Welt schönen Gefühls, alle das Gesindel, welches eure gelehrten Bücher und zarten Gedichte, eure Dramen und eure Zeitschriften schreibt, wird wahrhaftig nicht zu Märtyrern der reinen Vernunft werden, sondern ganz wie es die Väter taten, ihre Ideale nach der jeweiligen historischen Notwendigkeit strecken. Es gibt keinen einzigen reinen Enthusiasmus, den der Geschichtsgeist nicht mißbraucht, nicht geschändet hätte.

So scheinen denn das Reich der normativen Werte und das der Historie schon im Prinzipe einander feindlich zu sein. Man kann an Hand von Vernunftnormen wohl das geschichtliche Chaos beurteilen. Man kann aber niemals Vernunft und Ethik in der Geschichte selber vorfinden; vielmehr ist es grade das Wesen von Geschichte, daß in ihr alle menschlichen ›Ideale‹ in den Dienst der großen Notforderung geraten. Kein Handelnder entgeht der Erkenntnis, welche Goethe in die Worte faßt: ›Der Handelnde ist immer gewissenlos‹, und Napoleon: › J’ai bientôt appris en m’asseyant sur te trône, qu’il faut bien se garder de vouloir tout le bien qu’on pourrait faire, l’opinion me dépasserait‹. (Februar 1800.)

Man hat an Pflanzen die Beobachtung gemacht, daß eine jede im Laufe eines Tages in einem vorbestimmten Umkreise immer um ihren Schaft rotiert; die Botaniker nennen das die Zircumnutation. Auch von den Gestirnen wissen wir, daß ein jedes, gleich der Erde, die wir bewohnen, immer nur sich selber umkreist. Und so drehen Menschen, Familien, Glaubens- und Überzeugungsgruppen, alle einzig erfüllt von ihrer Gegenwart, beständig um sich selbst und möchten wie die Blumen ein jedes mit seinem Samen die ganze Erde überpflastern, möchten wie die Sterne jeder einen jeden aus der Bahn zerren, in unfaßlicher, nur durch die Not des Widerstreites aller gegen alle auf sich selbst zurückgestauter und geistwerdender Ichbezüglichkeit.


Betrachten wir nunmehr furchtlos, aus nächster Nähe die handelnden Schauspieler und Schauspielerinnen in dem großen Narrentrauerspiel, welches europäische Gelehrsamkeit Weltgeschichte nennt.

Was sind das für Seelen? Von welcher Art ihre Geister?

Richtige und unbezweifelbare Narren, wie z. B. Englands Jakob I und Georg III, Preußens Friedrich Wilhelm I oder Sachsens August I; ganz zu schweigen von all den zahllosen kleinen Voll- und Halbkretins wie Schwedens Karl XII, Dänemarks Gustav III, Neapels Ferdinand IV, Spaniens Karl IV. – Geniale Verbrecher und großartige Räuberhauptleute wie Rußlands Peter und Frankreichs Bonaparte. Gekrönte Bluthunde und Henkersknechte wie die Timur, Dschingiskhan, Iwan. Komödianten und Komödiantinnen wie Louis XIV, Katharina II. Bloße Kleiderständer und Nullen wie die deutschen Kaiser: Karl VI, Franz I, Franz II, Karl VII. Wüstlinge gleich Frankreichs Ludwig XV, Englands Georg IV, Osterreichs Leopold II, Preußens Friedrich Wilhelm II. Gewissenlose Händler mit Menschenfleisch, wie weiland so mancher Landesvater in Braunschweig, Hessen-Kassel, Hessen-Hanau, Hannover, Waldeck, Ansbach, Anhalt-Zerbst. – Notorische Dirnen wie die Dubarry, hübsche Grisetten, die ihr Glück machten, wie die Pompadour, Lagerdirnen, die weder lesen noch schreiben konnten, wie Katharina I. ... Solche ›Gleichnisse Gottes‹ haben auf Erden über ganzer Völker Schicksale entschieden und die Bahnen der sogenannten Weltgeschichte festgelegt. Und wen von ihnen könnte man je verantwortlich machen? Sind doch diese Gleichnisse Gottes nicht nur die verderblichsten, sondern auch die unseligsten aller Geschöpfe. Ein Scheusal wie Caligula, ein Tropf wie Claudius, eine Julia oder Messalina, sie wurden schon im Mutterleibe verbogen. Sind nicht die Menschen schuldig, die alle diesen Mißgestalten die Füße küssen? Joseph II oder Wilhelm III von Oranien, seltene Männer und Menschen auf Königsthronen, ernten den Haß ihrer Völker, aber scheußliche Bestien, wie Iwan IV und Heinrich VIII sind bei ihrem Tode von ihren Völkern ehrlicher und tiefer betrauert worden als Jesus und Buddha.

Verrat am Wert nenne ich jenen gräßlichen Logismus der beiden Köpfeverwüster des 19. Jahrhunderts, Darwins und Hegels, deren einer die Natur, deren anderer die Geschichte, als hätte nie ein Kant gelebt, zur Selbstoffenbarung logischen Sinnes machte.

Verrat am Geist nenne ich den Idealismus der deutschen Geschichteschreiber und Geschichtsphilosophen, welche die selbstgerechte Reichsgeschäftsalgebra der alleinseligmachenden Politik oder am Ende gar die Chronik ihrer Fürstenhöfe für Angelegenheiten halten, um die eine Weltvernunft sich zu bemühen habe.

Wenn Diltheys bekannte Definition von Geschichtewissenschaft richtig ist: ›Was der Mensch sei, das erfährt er nicht durch Grübeln über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte,‹ dann hat diese ›Selbsterkenntnis‹ den Menschen nie etwas anderes lehren können, als daß er das Gemisch ist von einem Narren und von einer Bestie.

§ 11. Der Historismus.

Wir haben in den §§ 6-10 über Geschichte als Einheit in der Zeit abgehandelt. Für diese Annahme, daß Geschichte als ein einheitlich charakterisierbarer Vorgang in der Zeit mit einheitlichem geschichtlichem Subjekt aufzufassen sei, gebrauchen wir den seit 200 Jahren üblichen Ausdruck: Historismus.

Der Typus des Historismus ist die Hegelsche Geschichtsphilosophie, welche annimmt, daß die Geistesgeschichte der Erde die Selbstentwicklung der in Thesis, Antithesis und Synthesis sich selber denkenden ›Idee‹ offenbare, wobei immer der letzte Geisteszustand alle vorhergehenden historisch ›überwindet und aufbewahrt‹. Danach soll Literatur-, Geistes-, Kunst-, Völkergeschichte betrachtet werden als Keimen, Blühen, Früchtetreiben eines sich im Weltall erlebenden Geistes.

Daß dieser Historismus die tollhäuslerische Annahme birgt, daß das Denken eines Prozesses der Prozeß selber sei, daß also z. B. ›der Gedanke eines sich selber denkenden Gottes‹ eben auch die Selbstentwicklung dieses Gottes sei, ferner, daß die Vorstellung eines nach Zielen und Zwecken sich selbstbewegenden Geistes eine Vorstellung der Mechanik ist, das wäre niemals beizubringen den ›historischen Köpfen‹, die ihre dürftige Nüchternheit an Phrasen wie: Fortschritt, Entwicklung, Prozeß, Selbstbewegung der Vernunft billig berauschen.

Indessen sollte wenigstens stutzig machen, daß weder das Altertum noch das Morgenland den Begriff einer universalen Geistes-, Kunst-, Völkergeschichte usw. besessen hat. Grade darum aber konnten die Schöpfungen der Vergangenheit Jahrtausende dauern, erschüttern, bewegen, weil sie unbeschwert von Geschichte, nur Augenblick und Gegenwart mit höchster Innigkeit lebendig darlebten. Dagegen ist die Einreihung der Lebensläufe in die Kette der Tradition ein Gedanke der Mechanik. Man setzt dabei Einheit in Zeit und Raum voraus und rekonstruiert nach der blassen Analogie des Organismus eine geistige Maschine. Diese aber ist nicht das Leben, sondern Lebensnachbild.

Die ehrlichste Art von Geschichteschreibung ist noch jene, die ihren begrenzten völkischen, ihren bestimmten landschaftlichen Boden bewußt behauptet, während keine leerere Windbeutelei erfunden werden kann, als sogenannte Universal- und Weltgeschichte aller Zeiten, Länder-, Kulturen usw. Vergessen wir nie, daß auch unsere umfassendste ›Weltgeschichte‹ die abendländische Angelegenheit eines eng umgrenzten Geschlechtes bleibt und in der nicht allzu fernen Stunde, wo die europäische Kultur zugrundegeht mit zugrundegehen muß.

§ 12. Geschichte als Leben und Wirklichkeit

Da die in Büchern überlieferte Geschichte immer Spiegelung von Leben im Bewußtsein, nicht aber das Leben selber ist, so muß die selbe Kluft, die zwischen Leben und Bewußtseinswirklichkeit klafft, auch zwischen geschichtlichem Leben und Wirklichkeit der Geschichte klaffen.

Das Bewußtsein mitsamt den von ihm umfaßten Inhalten ist kein fließendes Kontinuum, sondern ist intermittierend gleich einem immer wieder verlöschenden und neu aufloderndem Fünkchen. Grade darum, weil Bewußtsein intermittiert, kann es nur annäherungsweise zum Spiegel lebendigen Lebens werden. Notdürftig überbrückt der Geist diese Kluft durch die Hypothese des Unendlich-Kleinen, durch welche jeder kontinuierliche Vorgang gedacht wird als zusammengesetzt aus unendlich vielen uns unbekannten Elementen oder Differentialen, die uns immer nur durch ihre Summe, ihre Integrale bekannt sind. So jagt denn unser funkengleich aufleuchtender Geist dem unhaschbar verfließenden Leben nach, welches selbst durch die zartesten Maschen seines Netzes ihm entschlüpft bis er das allerzarteste Gespinst einer aus unendlichen Ruhepunkten zusammengesetzt gedachten Bewegung ihm überwirft. Aber auch noch dieser Gedanke ist Mechanik. Die Welt der Geschichte, sofern sie uns als Bewußtseinswirklichkeit gegeben ist, ist nie das Lebendige selbst. Der Geschichteschreiber mag, so fein und zart, so geduldig und gewissenhaft wie er will, dem Leben nachspüren; nie wird er es erreichen.


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