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VIII. Der historische Ruhm.
§§ 46–51.

›Die Sieger werden gepriesen und die Mittel des Sieges nicht untersucht.‹

Prokop, Gotenkrieg III 3.

§ 46. Über die Richtigkeit des Ruhms.

Geschichte sagt nichts über den Wert von Menschen, sondern verzeichnet ihre historische Wirkung. Diese historische Wirkung aber ist eine Kategorie für sich. Auch von dem Wertvollsten, Größten, Höchsten, in irgendeinem Sinn Bedeutsamsten würde die Geschichte nicht die mindeste Kunde aufbewahren, noch irgendwelche Notiz nehmen, wenn es nicht irgendwo faktisch wirksam und erfolgreich geworden wäre. Und zwar gilt das für die Kunst- oder Geistesgeschichte nicht minder als für die politische Geschichte der Völker. Nicht also die Tatsache, daß geistige oder sonstwelche Werte da sind, sondern daß sie für das Bewußtsein da sind, ist für die Geschichtsschreibung entscheidend; und so kann die Frage aufgeworfen werden, ob vielleicht das wahrhaft Außerordentliche niemals in die Geschichte übergehe, weil es nur für wenige da sein kann.

Es wäre möglich, daß eine gewisse Gradlinigkeit, mindestens aber Beimengung gemeiner Bestandteile die Vorbedingung zeitlicher Wirkung und darüber hinaus der historischen Dauer wäre. Denn damit Personen oder Werke wirken können, muß an ihnen etwas Gemeinverständliches sein. – In der Tat gehört eine grobe Kurzsichtigkeit des Urteils dazu, um in der Kette der historisch Großen auch die ideellen Gipfel des Menschentums zu sehn. Der Mensch ist tiefer und reicher, als Geschichte ahnen läßt. Nicht einmal Goethe, Kant, Shakespeare, Rembrandt usw. sind höchste Spitzen des Geschlechts. Zu Sophokles’ Zeiten hat mehr als ein Sophokles und mehr als nur Sophoklesse gelebt. Nicht die tiefsten, schönsten, adeligsten Seelen kommen auf die Nachwelt, sondern Wertbedürfnisse ergreifen bestimmte historische Personen als Verkörperungen der höchsten zeitlichen Werte. Wohl kommt zuweilen (Namen wie die aufgezählten beweisen es) auch sehr hoher Wert und sehr hohe Seele auf die Folgezeit; dann aber ist es nicht der Wert, der ihnen die Dauer gesichert hat, sondern jene historischen Gesetze, welche ganz unabhängig vom Wert, bald Wertvollem, bald Wertlosem Dauer verleihn. – Wäre der Ruhm nur an Vorhandensein der Werte geknüpft, so wäre die Fortdauer grade der höchsten Menschen unmöglich. Denn jeder kann nur von Seinesgleichen gesehen werden! Wäre der durchschnittliche Mensch imstande, die höchsten Werte zu sehn, so würde er sie nicht verstehn, und würde er sie verstehn, so würde er sie falsch verstehn. Somit ist es ruchlos, zu behaupten, die Geschichte sei das Weltgericht. Wäre sie es, so wäre ihre Rechtsprechung genau so ungerecht und unsittlich wie die jedes anderen Massengerichtes. Auch das heute lebendige Geschlecht ist Nachwelt, und so wenig dieses imstande ist, die verfeinertsten oder geistigsten Elemente der Vorwelt zu erkennen, so wenig wird je eine Gattung tierheitentsprossener und notgeleiteter Wesen das seinen Durchschnitt Überragende beurteilen können. Die edelsten und heiligsten Helden und Märtyrer nennt nicht die Geschichte, und die sie nennt, sind vielleicht die geringsten unter denen, die vergessen werden. Der wahrhaft echte Geist wird darum niemals an Geschichte appellieren oder auf Nachwelt baun. Wohl kennt er den tiefen, nagenden Gram der Verdammnis zur Wirkungslosigkeit! – (gleicht doch der bessere Mensch dem Götterkönige Uranos, der in seiner Herzensgüte an jedem Tage sechs Stunden darauf verwendet, um dem Stier Busiris, der Verkörperung aller kompakten Dummheit, der mit seinen Hörnern die Himmelsburg berennt, die, wenn sie einstürzte, ihn selbst erschlagen würde, einen Vortrag über seinen Unverstand zu halten. An jedem neuen Morgen aber beginnt das Spiel von neuem!) –; zugleich aber kennt auch der Edle die Erbärmlichkeit aller papierenen Kronen, und gleich einer schönen Blume, die in einer Schlucht aufgeblüht ist, wohin nie ein Wanderer kommen und nie ein verstehendes Auge blicken wird, hat er sich zu sagen: daß ich mir selbst gehörte, das war mein Entgelt:

›Was ich mir selber bei mir selbst gewesen,
Das hat kein Buch gewußt, kein Freund gelesen.‹

Die Geschichte ist ein Allerweltsliebchen, das neben den Namen des Märtyrers die seiner Henker schreibt und dem Straßenräuber oder Städteverwüster die selbe Gedenktafel aufhängt wie der reinsten Seele und dem hehrsten Genie. Schließlich aber sind für die jeweils Lebenden das eine Namen und das andere Namen.

›Es währt nur eine kleine Weile, dann liegst auch du, wo alles liegt,
Was nach des Lebens Hast und Eile zum großen Schlummer sich geschmiegt,
Und wenn die Woge dich erfaßte und trug dem großen Meere zu,
Bist bei Millionen du zu Raste, die auch vergessen sind wie du.‹


Eine Untersuchung über die Frage, an welche Bedingungen der historische Ruhm geknüpft sei, würde ich somit für völlig aussichtslos halten. Es ist eben Tatsache, daß das Dümmste, Unsinnigste, Gemeinste Anlaß großer Bewegungen und Veränderungen, also historisch wirksam werden, dagegen das sittlich oder geistig, ästhetisch oder intellektuell Wertvolle völlig übersehen zugrunde gehen kann. Eines nur läßt sich mit Sicherheit sagen, daß Bedürfnis oder Not darüber entscheiden, welche Elemente der Wirklichkeit von idealen Wünschen ergriffen und hochgetragen werden. Damit soll nicht bestritten werden, daß gelegentlich auch Wertvolles vom Erfolg hochgetragen und bewahrt werden kann und daß die beiden Kreise Wirklichkeit und Wert einen gemeinsamen Ausschnitt haben. Dies Verhältnis ist aber nicht gesetzmäßig! Es ist weder so, daß immer Wertvolles den Ruhm davonträgt, noch auch so, daß der Erfolg besondere Vorliebe für Wertlosigkeiten besitzt und man daher aus Mißerfolg, Schweigen, Verborgenheit eines Werks oder einer Person ohne weiteres auf Vorhandensein besonderer Werte schließen dürfte. Noch auch endlich kann man (wie Darwin oder Nietzsche) historischen Erfolg, d. h. Macht, zur Norm für den Wert machen, weil man in diesem Fall, das Leben aus Wert und Wert wiederum aus Leben ableitend, sich unfruchtbar im Kreise bewegen würde. Wohl aber besteht die Tatsache, daß die selben Umstände, die ohne den Ruhm gleichgültig, wertlos oder gar abnorm und unwert sind, im Falle des historischen Erfolges plötzlich wertvoll werden. Es ließe sich sogar eine Untersuchung darüber anstellen, inwiefern die Erkenntnis eines Wertes grade des Abnormen und Widersinnigen als Hintergrundes bedarf, ob z. B. alles, was historisch wirksam wird, nicht zunächst umstritten und bekämpft werden muß, ob wohl ein Nietzsche oder Hölderlin auch ohne ihren Wahnsinn, ob Heraklit, Spinoza, Schopenhauer auch ohne ihre das Gemüt erregenden Schicksale, ja man möchte fast sagen, ob etwas Großes ohne ein dem empirischen Menschen beigemischtes Stückchen Wahnsinn und Narrheit zu historischer Wirkung gekommen wäre. Es gibt kein wahreres Wort als Bonapartes › le succès satisfait tout‹. Sogar der Wert wird erst durch den Erfolg gerechtfertigt! Das Vorhandensein auch der sichersten Werte wäre für die Geschichte vollständig belanglos, wenn nicht erstens ein Bedürfnis für just diese Werte vorliegt, zweitens die Möglichkeit ihrer Betätigung, drittens die Möglichkeit ihres Gesehenwerdens.

§ 47. Über die Ohnmacht des Wertvollen.

Die Geschichte ist nicht darum zumeist Angedenken- und Ruhmeshalle von Personen königlicher und adeliger Abkunft, weil just diese an Wert oder Fähigkeiten der spurlos im Dunkel verbleibenden riesigen Menschenmasse überlegen sind. Im Gegenteil! Alle Bedeutsamkeiten, die die Geschichte von Königen und Herrschern verzeichnet, liegen auch in jedem anderen Menschen und können unter glücklichen Bedingungen von jedem dargelebt werden. Ja, es besteht das Gesetz, daß Begabung und Leistung ganzer Geschlechter schnell absinkt und verlöscht, wo nicht Bedürfnis und Widerstand, auslösend, schürend, aufreizend Spannkräfte der Seele wach erhält, weswegen die Lebensleistung gerade derer, die immer volle Freiheit und Muße zu Leistungen und Werken gehabt haben (z. B. die Leistung fast aller alten Aristokraten- und Herrscherhäuser) auffallend bedeutungslos und gering ist. ›Der Fisch fault zuerst am Kopfe‹, sagt ein orientalisches Sprichwort, und ein indianisches ›Die Faultiere hängen in den obersten Ästen‹. Vgl. hierzu in der ›Philosophie als Tat‹ die Darlegung über die ›Welt als Not‹, Bd. I S. 98 f.

Nun aber besitzen die, sei es durch Geburtsstellung, sei es durch Besitz, bevorzugten Individuen ganz allein die Möglichkeit, ihre Talente und Werte ( wenn Talente und Werte vorhanden sind), zu pflegen, auszubilden, durchzusetzen und anerkannt zu sehen. Und besäßen die glücklichen Besitzenden auch nicht die mindesten Seelen- und Geisteswerte, so besäßen sie doch immer (und zwar sie allein) das Podest der Werte. Darauf aber kommt es an! Denn das unbedeutendste Wort, vom Kirchturm herabgesprochen, ist für Geschichte wichtiger und bedeutungsschwerer als tiefsinnigste Rede, die auf einsamer Haide verhallt.

›Selbst Erwin v. Steinbach oder Michelangelo würden in der Kunstgeschichte nicht als die größten Baumeister gelten, wenn nicht zufällig der eine den höchsten aller Türme und der andere den Haupttempel einer Weltreligion in Auftrag bekommen hätte.

Nicht darum ist Phidias der berühmteste aller bildenden Künstler, weil er der größte war, sondern weil er die repräsentativen Kunstbauten eines sehr reichen Zeitalters in Auftrag bekommen hat. Was wären Raffael und Tizian, Rubens und van Dyck, Greco und Velasquez ohne die glücklichen Bestellungen gewesen, durch die sie zu ihren besten Werken angeregt sind?‹

(J. Burckhardt.)

Auch die höchste Geistigkeit, das edelste Herz sind eine Last für den, der in einer Pariakaste geboren, seine Gaben und Werte im Dienst gemeiner Tagesnotdurft verwerten muß. Er ist grade durch seine höheren Gaben am Vorankommen so gehindert, wie jener große, schwere Vogel Albatroß, welcher, gefangen genommen, vom rohen Schiffsvolk verhöhnt wird, weil er, durch die mächtigen Fittiche beim Gehen auf dem Schiffsverdeck gehemmt, nur ungeschickt und plump sich bewegen kann; droben aber in der Region, wo er leben und gedeihen könnte, wäre sein Vorzug geworden, was nun seine Last ist.

Um den Gegensatz historischen Erfolges zum Wert zu erfassen, durchmustere man die Gestaltenreigen sogenannt großer Zeiten und beobachte, wie die Größe der Zeit doch so gar nichts mit persönlichen Bedeutsamkeiten der sie repräsentierenden Menschen zu tun hat. Wer waren die führenden Geister des höchsten und stolzesten Zeitalters der neueren Geschichte? Nicht Weise, nicht Dichter und Denker, nicht die reifsten und edelsten Seelen jener Tage! Nein, eine Galerie von Spitzbuben, Narren, Bluthunden und Schwärmern. Danton, ein Mensch wie ein rauschiger Eber, wüst und spielerisch. Robespierre, eine doktrinär verengte Seele von zähestem Leder. Marat, jener Blutmensch, den man 1793 im Pantheon beisetzte und dessen Gebeine man 1795 auf die Gasse warf. Henriot, dieser grobe Strolch, der aus dem Rinnstein kam und im Rinnstein endete. Couthon, der kleinherzige, gehässige Krüppel; Tallien, der wagehalsig abenteuernde Emporkömmling; Barras, Hebert, Chaumette, läppische, wüste Raisonneure; diese, ja diese Männer hielten die Erneuerung des Menschengeschlechtes in unreinen Händen und gelten der Geschichte als Repräsentanten einer Zeit, die unendlich reich ist an tiefen Seelen und leuchtenden Geistern.

Historischer Erfolg ist somit nichts als bloße Tatsache und steht als solche jenseits von Sinn, Recht und Gerechtigkeit. Nachdem aber einmal Erfolg da ist, sorgt erstens der Herdentrieb, der hinter dem, was Wirkungen hat, herläuft, und zweitens der Neid, der durch jeden Erfolg verstimmt ist und jeden Erfolgreichen (solange er lebt) bekämpft, dafür, daß derjenige, der Erfolge hatte, nicht leicht wieder aus dem Gedächtnis der Menge herauskommt. Dadurch kann im günstigen Fall nachträglich die ge samte Sphäre des Erfolgreichen zur Materie für Urteils- und Werthaltungsakte werden. Der Scharfsinn kann sich mit ihr beschäftigen, die Urteilskraft an ihr betätigen. Aber auch dann ist Urteilskraft noch so selten, daß die höchsten menschlichen Werte fast immer übersehen, die bekanntgewordenen erst im Laufe vieler Geschlechter durch eine Art unvollkommener Auslese verfestigt werden. Meistens wird auch grade das Größte und Höchste am ehesten wieder vergessen.

§ 48. Die Schwankungen des historischen Ruhms.

Wir bemerken in zahllosen Fällen, daß die historische Dauer einer Person oder eines Werks an vollständig andere Eigenschaften geknüpft ist, als jene waren, durch die ursprünglich der historische Erfolg bedingt war. So sind die Werte, welche wir gegenwärtig an Rembrandt, Leonardo da Vinci, Descartes, Kant preisen, ganz andere als jene, durch welche sie ursprünglich in die Beachtung ihrer Zeitgenossen gerieten und zu historischen Gestalten geworden sind. Ebenso sind die Gestalten Alexanders, Napoleons, Cäsars, Friedrichs, an denen im Kerne nichts als der große Erfolg bewundert wird, in verschiedenen Epochen die Träger verschiedener, ja einander entgegengesetzter Werte gewesen. In welchem Maße je nach Erfolg oder Nichterfolg das historische Urteil zu wechseln pflegt, dafür möge die folgende Stelle aus einer deutschen Geschichte der Befreiungskriege (1813-15) als Beleg dienen:

›Im ersten Augenblick fand man Napoleons Unternehmen tollkühn und abenteuerlich. Wie er aber dennoch Fortschritte machte und seine Macht mit jedem Tage wuchs, wurden die Stimmen immer kleinlauter und besorgter, wovon die damaligen französischen Tagesblätter einen deutlichen, dabei komischen Gradmesser abgaben. Sie lauteten:

›Der Unhold ist aus seiner Verbannung entronnen. Er ist von Elba entwischt.

Der korsische Werwolf ist bei Luzi-Juan ans Land gestiegen.

Der Tiger hat sich zu Gap gezeigt. Truppen sind auf allen Seiten gegen ihn in Bewegung. Er endete damit, als elender Abenteurer in den Gebirgen umherzuirren; entrinnen kann er nicht.

Das Ungeheuer ist wirklich, man weiß nicht durch welche Verräterei, nach Grenoble entkommen.

Der Tyrann hat in Lyon verweilt; Entsetzen lähmte alles bei seinem Anblick.

Der Usurpator hat es gewagt, sich der Hauptstadt bis auf sechzig Stunden zu nähern.

Bonaparte nähert sich mit starken Schritten, aber niemals wird er bis Paris gelangen.

Napoleon wird morgen unter den Mauern von Paris sein.

Der Kaiser ist in Fontainebleau.‹

Die erstaunlichste Einsicht in die Unzulänglichkeit von Geschichte als Wirklichkeitswissen erlangen wir aber erst dann, wenn wir ein und die selbe historische Person im Laufe der Jahrhunderte bald als Ideal in den Himmel erhoben, bald als Scheusal zur Hölle verdammt sehn. Es seien hier einige kennzeichnende Äußerungen über Shakespeare aus dem Munde von Zeitgenossen angeführt:

›Jeder Affe versteht sich besser auf die Natur, jeder Pavian hat mehr Geschmack, das Wiehern eines Rosses hat mehr Verstand und das Murren eines Kettenhundes lebevolleren Ausdruck und echtere Menschlichkeit als das tragische Pathos Shakespeares.‹ (Thomas Riemer, der einflußreichste Literarhistoriker um 1780.)


›Hätte Shakespeare stets in der Manier der Italiener gedichtet und nicht um zu leben Schauspiele geschrieben, so wäre er unser größter Dichter geworden, größer noch als Daniels, der größte Dichter unsrer Zeit.‹ (Thomas Nash, 1780.)

›Was halten Sie von Shakespeare? Gab es jemals so jämmerliches Zeugs wie Shakespeares Sachen? Ist es nicht elendes Zeugs? Was? Was?‹ (Worte Georgs III von England zu Miß Burney 1760.)

Ein Bruder von Descartes, bretonischer Parlamentsrat, äußerte über die Schriften seines Bruders: »Es ist unwürdig und unschicklich für das Glied einer Familie, welche einen Parlamentsrat aufzuweisen hat, solch unnützen törichten Kram zu schreiben.« Ähnlich urteilt Voltaire über Descartes.

Als Manet sein erstes Bild auszustellen wagte, spuckte Napoleon vor dem Bilde aus und drehte sich um; sein ganzer Hofstaat bog sich vor Lachen. Die Bilder von Gauguin, van Gogh, Cezanne, welche heute nur für Hunderttausende feil sind, wurden für wenige Franken gemalt, ebenso erging und ergeht es Matisse, Picasso und Marc. Die heute geglaubten Urteile werden in fünfzig Jahren genau ebenso veraltet sein.

Als ein merkwürdiges Beispiel für den Wandel historischer Meinung führe ich die Überlieferung über die Mörder Cäsars, Cassius und Brutus, an. Diese beiden sehn wir heute durch die Augen Shakespeares. Brutus ›so mit Redlichkeit gepolstert, daß jede Verleumdung an diesem Panzer zerbricht‹. Cassius als hochherzigen Befreier und Fanatiker des Ideals. Aber noch Dante hat gemäß der Geschichtsauffassung seiner Zeit die beiden als die zwei schlimmsten Scheusale des Menschengeschlechts gesehn, welche neben Judas Ischariot im untersten Höllenschlunde vom Luzifer-Dis zerfleischt werden.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich die folgende Beobachtung niederlegen. Es fiel mir auf, daß die Darstellung Shakespeares von der Dantes nicht nur abweicht, sondern daß Shakespeare die Körperlichkeit des Brutus und Cassius just in umgekehrtem Sinn wie Dante schildert. Shakespeare läßt Cäsar wiederholt von der ›Hagerkeit‹ des Cassius reden und von dessen ›hohlem Blick‹, der ihn beunruhige; dagegen wird Brutus als wohlbeleibter, behaglicher Mann dargestellt. Dante aber nennt umgekehrt den Cassius ›kräftig, rund und wohlbeleibt‹ (indem er offenbar den Mörder Cäsars mit dem bei Cicero in der dritten Rede gegen Catilina erwähnten L. Cassius verwechselt). Shakespeare hinwiederum hat (vermutlich auf Grund flüchtiger Kenntnis des Plutarch) die beiden Personen des Brutus und Cassius miteinander vertauscht. So also sieht Geschichte aus! Zwei Personen A und B, der eine blond und schlank, der andere schwarz und dick, werden durch das bekannte historische Und (›Brutus und Cassius‹) zusammengespannt, aber im Laufe der Geschlechter vertauschen sie ihre Identität. Hat ein Historiker den Mut zu behaupten, daß diese tolle Verwechslung einzig dastehe?

Das ganze Mittelalter ist erfüllt von der Erzählung des wunderbaren Todes des Papstes Sylvester II, endlich hat Döllinger in den ›Papstfabeln des Mittelalters‹ nachgewiesen, daß eine Verwechslung der Päpste Johann XVI und Sylvester II vorliegt. Die Neuzeit schwärmt für den im Kyffhäuser verzauberten ›Barbarossa‹, aber es ist zweifellos, daß die Gestalten der Hohenstaufen Friedrich I und Friedrich II dabei vertauscht werden.

Man pflegt in Deutschland besonders Goethe als den klarsten, sachlichsten Beobachter hinzustellen. Was also wäre natürlicher, als daß man sachliche Aufzeichnungen dieses Augenzeugen als historische Feststellung gelten lassen könnte. Weit davon entfernt! Seine historischen Aufzeichnungen sind in unzähligen Einzelheiten berichtigt worden. So wurde Goethes ›Campagne in Frankreich 1792‹ zumal durch Chuquet als völlig unzuverlässig erwiesen.

Wir wissen von vielen, wenn nicht von allen, in der Geschichte fortdauernden bedeutsamen Geisteswerken, daß sie nur durch zufällige Glücksfälle sich bis auf uns erhalten haben, z. B. vom Apoll von Belvedere, der Venus von Milo, dem Laokoon, den Stücken des Äschylos und Sophokles, den Schriften des Plato und Aristoteles, dem Sonnenstaat des Campanella, der Ethik des Spinoza. Wäre Plato, vierzig Jahre alt, auf dem Sklavenmarkte zu Syrakus als Sklave verkauft und nicht zufällig von einem durchreisenden Landsmanne, dem Cyrenaiker Annikeris, losgekauft worden, was wäre von ihm auf die kommende Zeit gelangt? Mit ihm wäre auch die Kunde von Sokrates untergegangen! – Schopenhauers Lebenswerk wäre eingestampft und für immer vergessen worden, wenn nicht die lange Lebensdauer des Philosophen die Erhaltung seines Werks gesichert hätte. (Wir lesen z. B. in den Erinnerungen Karl Gutzkows, daß man in Frankfurt Schopenhauer für eine mißratene Existenz hielt; man nannte ihn den Schaute.)

Es kann auch wohl geschehen, daß ein durch offenbare Nichtigkeiten, ja durch Schurkereien zu Erfolg gekommener (z. B. Baco) nachträglich auch für positive Leistungen und Vorzüge Verzeihung erlangt.

Höchst denkwürdig sind auch jene gar nicht seltenen Fälle, wo grade das historische Mißverständnis zu fruchtbarer Entwicklung führt, z. B. ein Künstler oder Denker von der Geschichte für Leistungen gerühmt oder verworfen wird, die ihn eigentlich gar nichts angehen oder wo nur eine verkehrte Auslegung oder Verwechslung zu wichtigen Entdeckungen führt. So ist z. B. der beständige Kampf gegen einen durchaus nicht historischen, sondern nur in der Phantasie der Historiker bestehenden Aristoteles und Epikur sehr fruchtbar gewesen. Ferner war es ein großes Glück, daß Kant die Werke David Humes zwar kräftig bekämpfte, aber nicht kannte, denn sein Kampf gegen einen von ihm bloß eingebildeten Hume führte ihn zu den besten Leistungen seiner Vernunftkritik, während der wirkliche Hume ihn völlig kühl hätte lassen müssen. Wertaxiomatik S. XII. Man kann vor allem in den ausgezeichneten Schriften des französischen Kritikers Sainte Beuve ein großes Material dafür finden, daß das Bild, welches man von literarischen oder überhaupt von historischen Personen sich macht, fast immer an der wirklichen empirischen Persönlichkeit weit vorbeiblickt.

Endlich will ich nicht unterlassen, dringend zu warnen vor jenen logischen Köpfen, welche imstande sind z. B. zu schreiben: ›dieses Problem läßt fünf Lösungen zu‹, ›in der Neuzeit gibt es sechs Strömungen‹, ›die Geschichte dieser Nation zerfällt in acht Perioden‹ u. dgl. Alle solche Verfügungen sind Arbeitsgedanken, mit denen unser selbstgerechter Übermächtigungswille das Lebendige unterjocht.

§ 49. Das Verhältnis von Ruhm und Ethik.

Die Geschichtskritik darf endlich nicht vor der bittersten und schwersten Frage zurückschrecken, nämlich vor der Frage, ob historische Größe und sittlicher Wert überhaupt miteinander vereinbar sind oder ob sie einander etwa prinzipiell ausschließen?

Für die Geschichte der Eroberer, Feldherrn, Staatsmänner und Herrscher wissen wir wohl ohne weiteres, daß der Satz Macchiavellis: › sola innocentia vivere velle periculosum‹ nicht von der Hand zu weisen ist. Einige wenige besonders hervorleuchtende Beispiele werden das dartun.

Für die ethische Fragwürdigkeit Cäsars bietet die Überlieferung viele Belege. Nach Plut. Cäs. c. 22. Cat. c. 51. Suet. c. 24 trug im römischen Senat Cato darauf an, Cäsar wegen Verletzung des Völkerrechts an die Germanen auszuliefern und zweifellos muß diesem Antrag ein besonders schweres Verbrechen zugrunde gelegen haben. Da wir jedoch den Bericht über die Vorgänge in Gallien nur aus Cäsars eigenem Munde kennen ( Comm. III, 16)› so blieb vor der Geschichte natürlich alles verborgen, was den großen Feldherrn belasten könnte. – Auch Friedrich der Große darf ganz und gar nicht nach ethischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Er hat die Grundsätze Macchiavellis theoretisch widerlegt im selben Augenblick, wo er praktisch ihnen folgte. Die Wegnahme Schlesiens, der Raubeinfall in Sachsen, die Aufteilung Polens, das sind wahrlich wunderliche Belege für die billigen Rechtlichkeitsphrasen seines › Antimacchiavell‹. Rousseau sagt: ›Il pense en philosophe et se conduit en roi‹ und Voltaire: ›Il respecte un moulin, il vole une province‹. Immer wenn er Kriege rüstete, bekannte er sich öffentlich zum Pazifismus, und nachdem er Sieger über ganz Europa geworden war, erklärte er alle kriegerischen Heldentaten für ›heroischen Schwachsinn‹. Und wie stand es mit Napoleon, dem gewaltigsten aller Verbrecher? Er anbefahl ehrlichen Herzens eine allgemeine Landestrauer für George Washington, den Freiheitshelden, in dem selben Augenblick, wo er sich listig zum Despoten über Frankreich aufwarf. Auch über Bismarck ist ein verwandter Zug zu berichten. Man findet in einer Rede, die er in seinen ›Gedanken und Erinnerungen‹ nachträglich geändert hat, die man aber grade so, wie er sie am 3. Dezember 1850 gehalten hat, in R. v. Kraliks Allgemeiner Geschichte der neuesten Zeit, Bd. II S. 624, abgedruckt findet, die schärfsten Worte gegen einen Krieg zwischen Preußen und Österreich; wer ihn je unternähme, heißt es da, ›den muß am Tage des Gerichts der Fluch jedes ehrlichen deutschen Soldaten treffen‹. Als Preußens Machtstellung sechzehn Jahre später das fordert, bricht Bismarck selber diesen von ihm so verfluchten Krieg listig vom Zaun. Wie wollte man solchen Forderungen der Politik mit Wertgesichtspunkten der Ethik gerecht werden. Man kann hier nur darauf hinweisen, daß der Mensch als repräsentatives und als persönliches Wesen eben ein Doppelcharakter ist. Drei Sätze scheinen mir für politische Moralität bedeutend zu sein: 1. Spinozas: Unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (Tract. polit. I 2, 8). 2. Das Wort des Grafen Saint-Simon (Catéchisme des industriels. Oeuvres VIII, 58): ôte-toi de là que je m’y mette. 3. ›oindra un villain, il te puendra, puendra, il t’oindra.‹


›Ich glaube, daß sich in der ganzen Natur nicht leicht an zwei Dingen ein größerer Unterschied dartun wird, als zwischen dem repräsentativen Mitglied einer Gruppe in seiner öffentlichen Funktion und der selben Person stattfindet, wenn sie ihren gewöhnlichen Lebensverrichtungen nachgeht. Sobald der Mensch sich den Mauern eines Versammlungshauses nähert, nimmt er sogleich einen Überzug von ganz verschiedenen Manieren an. Er hat weder Meinungen noch Gedanken, noch Taten, noch Werte, die er sein eigen nennen könnte, sondern alle werden sie ihm wie der Wind von der Orgel mitgeteilt. Die Nahrung, welche er empfängt, ist, ehe sie in seinen Mund kommt, nicht nur gekaut, sondern auch schon verdaut.‹ (Jonathan Swift.)

Als 1099 der Cid Campeador gefallen war, setzte man, um die Völker zu täuschen, statt seiner eine Kleiderpuppe auf sein Roß. Derartige Kleiderpuppen werden in der Geschichte tagtäglich gezeigt. Die Gläubigen der Majestät ahnen nicht, wie menschlich, allzu menschlich die Wesen sind, deren Herzen unter Purpur und Tiara schlagen. Die vor den Tempeln für Shogun und Dalailama freiwillig sterben, rührten keinen Finger für ihre Götter, wenn sie in das Innere der Tempel blicken könnten. Kaiser, Zaren, Päpste, Potentaten, ja eigentlich schon Bürgermeister und Bürovorsteher sind keine Menschen, sondern sind an zufällige Personen geknüpfte Gruppensymbole. Das Studium der Geschichte erweckt zuletzt den Eindruck, als ob statt fühlender Menschen die Röcke, Uniformen, Amtsgewänder, Talare und Kleider miteinander Verträge und Bündnisse, Kriege und Friede machten, indes immer andere Seelen in die alten Röcke hineinschlüpfen. Darum vergleicht Emerson sehr schön die Geschichte mit einem Repräsentantenhaus, in welches man nur sehr schwer hinein-, aber aus dem man nie wieder hinausgelangt. Denn diejenigen, die ihre Wünsche und Interessen an die von ihnen erkorenen Vertreter gebunden haben, werden nicht zugeben, daß ihr ›Repräsentant‹ nicht berufen war. Er muß berufen sein, weil er gewählt ist. Die Erkenntnis des wirklichen Menschen ist daher unmöglich, ja wird beinahe wie ein Religionsfrevel empfunden. Versucht man auf Grund der Quellen die nüchterne Analysis geschichtlich gewordener Personen, so wird man bald einsehn, daß der Volkswille dem Urteile schon die Richtung vorschrieb und daß eine Erkenntnis, die dieser Willensrichtung widerstrebt, vielleicht verstandesmäßig anerkannt werden, nie aber eine geschichtliche Überlieferung verändern kann, denn dieser ist nicht mit der Feststellung psychologischer Wirklichkeit oder sittlicher Wahrheit, sondern einzig und allein mit Wunscherfüllungen gedient.

Hierzu kommt, daß der Geschichtsschreiber, selbst als Biograph oder Autobiograph, kein eigentlich charakterologisches Interesse hat, sondern den Einzelmenschen immer nur symbolisch oder repräsentativ verwertet. Es ist zwar richtig, daß die Vorgänge der Geschichte von Personen ausgehn und in Personen münden, aber es ist ebenso richtig, daß dabei der einzelne nur Vertreter der Vorgänge ist, welche seine Gruppe angehn. Man könnte z. B. behaupten, daß die grausamste Frauengesetzgebung der Erde, der türkische Harem, (durch den Millionen und Abermillionen Frauen im Laufe der Jahrhunderte als Persönlichkeiten zugrunde gingen), lediglich der Untreue eines vierzehnjährigen kleinen Mädchens, der Aischa, zuzuschreiben ist, die den eifersüchtigen alternden Mohammed veranlaßte, die ursprünglich durchaus freie Frauengesetzgebung des Koran umzustürzen. Andrerseits aber wäre doch dieser Verfassungsumsturz nicht möglich gewesen, wenn nicht gewisse Anlagen und Leidenschaften der Gruppe der scheinbaren Willkür Mohammeds entgegengekommen wären. Und so ist jedes Verbrechen der Geschichte (die Inquisition, die Bartholomäusnacht, die Sizilianische Vesper, die Spaltungen des Islam) einmal die Tat einzelner Individuen, andrerseits aber sind diese Taten nur dadurch möglich, daß der einzelne sich bestehender Gruppenwünsche bemächtigt. Man könnte somit wohl behaupten, daß das Einzelschicksal in der Geschichte etwas Sekundäres sei (so daß z. B. nicht ein Personenstreit um die Nachfolge Alexanders oder Karls des Großen, die bekannten Kriege und Reichsteilungen hervorrief, sondern umgekehrt schon gegebene Gegensätze und Spaltungen sich der Personen bemächtigten und in ihnen eine greifbare Symbolik fanden). Die bekannte Frage, was in der Geschichte früher sei, Einzel- oder Gruppen-geschick, ist eine falsch gestellte Frage. Vgl. Kap. X.

§ 50. Die Rechtfertigung des Erfolges von nachhinein.

›Was einmal Erfolg hat, darüber läßt sich nicht mehr urteilen.‹

Goethe.

Wenn Erfolg kein gesetzmäßiges Verhältnis zum Werte hat, so fragt sich, ob nicht Aufgabe der Geschichte eben die sei, dieses Verhältnis zu stiften und eben dadurch die einander entgegengesetzten Bereiche von Zeit und Ewigkeit, Macht und Ideal zu versöhnen. Da nun dürfte folgender Gedanke von Wichtigkeit sein:

Geschichte bewahrt freilich, als Gruppengedächtnis, so wenig just die wertvollen Geschehnisse wie das Einzelgedächtnis just die wertvollen Geschehnisse in Erinnerung aufbewahrt; wohl aber offenbart sich sowohl am Gewebe der gemeinschaftlichen wie an dem der persönlichen Erinnerungen ein Bedürfnis nach Hinaufwertung, eine Sehnsucht nach Heiligung des Alltags. Diese idealen Wünsche haben an Milliarden Zufällen historisch-natürlichen Geschehens den gegebenen Stoff zu ordnender Sinngebung. Daher werden Ruhm und Erfolg, wenngleich sie von Haus aus nur auf Wirkung, nicht aber auf Würde hinweisen, von nachhinein im Sinne und an der Hand sittlicher Normen umgedeutet, und die historische Zufallswelt (Reich- und Arm-, Gesund- und Krank-, Ohnmächtig- und Mächtig-sein usw.), alles wird, insofern denkendes Imgedächtnisbehalten die sittliche Ordnung hineinschaut, indem es aufgefaßt und festgestellt wird, so als Geschichte aufbewahrt, als ob ein Wert und eine Gerechtigkeit auch an sich selber darinnen stecke. Diesen wichtigen Tatbestand nannte die Erkenntniskritik der Geschichte: sacrificatio post eventum. Buch I Kap. 4 §. 27.

Zwei Tatbestände vor allem machen die sacrificatio post eventum unumgänglich nötig. Einmal die unermeßliche Viel- und Alldeutigkeit, sodann die unübersehbare Massenhaftigkeit geschichtlichen Geschehens. – 1. Jede scheinbar unumstößlich gekannte Person oder Tatsache kann plötzlich umgestürzt und von einem andern Gesichtspunkt aus anders gesehen werden. Es gibt z. B. eine große Reihe verschiedener Bonaparte, Bismarck, Goethe, Sokrates. Keiner vermöchte je diese verschiedenen Bilder zu einheitlicher Persönlichkeit zu verschmelzen. Dennoch ist ein jedes Bild folgerichtig und wahr in sich selbst. 2. Ebenso wird eine unübersehbare Menge von Tatsachen, Namen, Werken, Büchern usw. als Geschichte aufbewahrt, so daß der besondere Einzeltatbestand immer weiter verblaßt und verschwindet, weil auch das Seltenste, Sonderbarste, Einzigste unter der Massenhaftigkeit vieler verwandter Werte schließlich erdrückt wird. ›Europa und Asien‹, Kap. VI ›Gesetz der großen Zahl‹. ›Schopenhauer, Wagner, Nietzsche‹, Gesetz der abnehmenden Quantität S. 111 f. ›Wertaxiomatik‹, Gesetz der Entfrommung des Werts S. 29 f.

Wer auch nur ein einzig Werk schöpferischen Lebens innerlich zu eigen fühlt, der weiß, daß alles Verständnis für Wert und Größe ein Verhältnis Seele zu Seele ist, welches wie Freundschaft und Liebe täglich neu gewonnen werden muß und schon heute verloren gehn kann, wenn man noch gestern es besaß. Darum ist alles Historische tot, soweit es nicht mit unserm Blute verschwistert, stündlich neu durch unsere Augen blickt. Was besagen dem gegenüber alle die nützlichen Angaben und sachlichen Feststellungen der Wissenschaft? Sie reden über ein Tausend Menschen, zu deren keinem der Geschichtsschreiber ein letzthin notwendiges Verhältnis hat. Das zeigt sich schon daran, daß er in der Lage und geneigt ist, sein Thema beständig zu wechseln. Nur wer die historische Tatsache, den historischen Menschen täglich neu durchlebt, in Haß oder Liebe, der kennt sie und ist selbst das Stück Geschichte, darinnen etwas Wertvolles aus Vergangenheiten weiterwirkt. Gar nichts aber wissen wir von dem, was wir bloß – wissen. Wenn das Charakterbild einer historischen Figur von ihrer nächsten Umgebung aufgezeichnet wird, so erweist es sich, daß nie zur Deckung zu bringen ist: das Bild, welches der historische Mensch in seinem engen und engsten Kreise hinterläßt, jenes andere, welches er als Geschichte hinterläßt und endlich sein eigenstes Wesen, so wie es wohl an sich selber gewesen sein mag; dieses Dreierlei ist den Druckstöcken beim Dreifarbendruck zu vergleichen, die zwar alle das selbe Bild darstellen, aber gleichwohl nicht miteinander übereinkommen. Berühmung wie Berüchtigung schufen immer schon umfälschende Transparente, durch welche die historisch gewordene Person vorurteilsvoll und unvollständig hindurchgesehen wird; wie sie an sich selbst gewesen ist, das wissen wir niemals.

Es ist nicht einmal sicher, daß der Mensch, der als historische Person zum zweiten Male geboren wird, in seinem ersten Leben ein Wesen von besonderem Werte war. Es kommt vor, daß ein völlig gleichgültiger Mensch dank besonderer Schicksale oder Leistungen in der Geschichte als Gestalt von hoher Bedeutung fortdauert. Besonders häufig aber ist, daß das reale Leben dazu verbraucht wird, um ein bloß legendäres, sei es vor dem Bewußtsein anderer, sei es auch nur vor dem eigenen Bewußtsein aufzubaun. Hierbei kann die empirische Person sich selber entgleiten. Die Gebärde und Haltung, die sie annimmt, sogar vor sich selber, verdrängt dann den ursprünglichen Menschen. Darum ist das Leben der historisch-repräsentativen Gestalten, etwa eines Cäsar oder Napoleon, ein fast durchweg geschauspielertes Leben. Wenn ein Mensch historisch wird, so läßt sich seine Eigennatur eben nicht mehr erraten.

Angesichts dieser völligen Unbestimmbarkeit der historischen Menschen wird es zum schweren Verhängnis, daß Geschichtsschreiber aus der Anerkennung der von ihnen erkorenen Leitbilder (etwa ihrer Bismarck, Luther, Wagner usw.) und nicht minder aus der Anerkennung gewisser negativer Voraussetzungen eine Angelegenheit der Gesinnung machen, indem sie wähnen, daß Weltgeschichte ein Weltgericht sei und daß nun gerade sie, diese zumeist ganz nüchternen, leeren und zu selbsterbluteten Gedanken recht ungeeigneten Schulgehirne, die von Gott berufenen Weltenrichter seien. Man sehe doch nur die komische Wut der Historikerschulen, wenn hier oder dort einmal das harmlose Wagnis unternommen wird, von einem erkorenen Ideal die Patina der Geschichte herunterzuwaschen. Das wird wie Religionsfrevel empfunden! Und doch kommt nichts darauf an, ob ein historisches Urteil richtig ist, da es im Gebiet geschichtlichen Wissens weder schlechthin sichere Tatsachen, noch schlechthin richtige Urteile gibt. Vielmehr kommt es darauf an, daß wir an die Richtigkeit unsrer Urteile glauben und daß wir solche Menschen sind, die das Recht haben zu ihren Urteilen. Denn es gibt keinen schlimmeren Wahn als den, daß jeder beliebige Mensch das Recht haben dürfe, jedes beliebige Urteil auszusprechen, dieweil dieses eben › richtig‹ ist. Übrigens wäre ein Autor, der nichts weiter zu sagen hätte, als etwas Richtiges, ein schlechter Autor.


»Keine Nation hat ein Urteil über das, was bei ihr getan ist.«

Goethe.

An dem großen Widerwillen, der jeder Umwertung begegnet, offenbart sich, daß es in der Geschichte nicht auf Erkenntnisse, sondern immer auf Selbstbestätigungen, d. h. auf gruppengemäße Wunscherfüllungen ankommt. Die erkennende Vernunft brauchte keineswegs davor zurückzuscheuen und keinen Widerspruch darin zu finden, daß die empirische Persönlichkeit vollkommen anders eingeschätzt und gesehen werden muß als ihr fabelhaftes Nachbild in der Geschichte. Warum denn sollten wir nicht den empirischen Kant philiströs, armesündermäßig, bürgerlich gedrückt, ja komisch nennen – (hat doch der schwache Mensch schwer an seinem Genius und seiner Sendung zu tragen!); – dennoch aber zugleich die historische Würde des in die Geschichte neugeborenen Kant durchaus hochzuhalten und nachzufühlen willens sein? Warum sollten wir nicht den empirischen Dante, dieses Urbild christlicher Rachsucht, Grausamkeit und Selbstgerechtigkeit, höchst widerwärtig befinden und dennoch gleichzeitig seine Dichtung mit Bewunderung und steter Neugier durchforschen? Warum sollte uns verboten sein, die empirische Person Richard Wagners zu erspüren, mit all ihren Schlacken und Brüchen, ohne darum im mindesten für Schönheitsgewalt und Wahrheit seines Werkes blind zu werden? Gewiß sind mit obigen Worten auch die Angriffe gegen mein Buch ›Schopenhauer, Wagner, Nietzsche‹ in den trefflichen Wagnerschriften von Max Seiling und Theodor Abbetmeyer zulänglich beantwortet. Sind solche Unterscheidungen uns vielleicht zu verwickelt? uns vielleicht noch zu ungewöhnlich? Der Fanatismus einer auf Wunscherfüllung, auf Lebensermutigung unbewußt ausgehenden Urteilsbildung stemmt sich gegen sie! Man brandmarkt sie mit jenen bekannten Ekelworten: destruktiv, negativ, abbauend, zerstörend. Und doch verbaut man damit nur einer zarteren Ethik und tieferen Menschenkunde den Weg. Ja, man gestattet im Grunde nicht einmal die folgerichtige psychologische oder ethische Fragestellung. Vielmehr befleißigt sich der Historiker einer nichtssagenden Sachlichkeit, deren Trug nicht immer so durchsichtig ist wie bei Ranke, wenn er den zweiten Band seiner ›Englischen Geschichte‹ mit den Worten anhebt: ›Ich wünsche mein Selbst auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.‹ Was hinter dieser scheinbaren Selbstauslöschung steht, das ist einerseits Urteilsenthaltung gegenüber der Tradition, andrerseits das Wertbedürfnis des Kreises, der zu eigener Seelenauferbauung den betreffenden Historiker sich hält und unterhält. Denn so wie der Erfolg eines Theaterabends, ganz gleichgültig, ob das gespielte Stück etwas tauge oder unbedeutend sei, immer mitabhängig ist von der Tätigkeit einer bezahlten oder freiwilligen Claque, so sind die Urteile über das Theater des Lebens von den Geschichtsschreibern abhängig; diese aber sind, freiwillig oder unfreiwillig, nur eine organisierte Claque, die von ihrem Staat oder ihrer Partei dafür bezahlt wird, daß ein bestimmtes Theaterstück nicht durchfalle, wofür sie ihre Nahrung und einen bevorzugten Freiplatz im Parkett erhalten. Damit käuft man sie; sie klatschen sich die Hände wund und dürfen dabei glauben, die Weltenrichter zu sein. – Heil und Dank einer bewußt begrenzten Geschichteschreibung, die ihre Liebe und ihren Haß offen preisgibt, und von ihrem (preußisch, katholisch, demokratisch oder sonstwie) voreingenommenen Standort aus die Erscheinungen ihres kleinen Umkreises schildert und nach ihren Willenszwecken beurteilt. Da weiß man wenigstens, wie man daran ist und wird nicht auf Schritt und Tritt durch das bekannte Pathos der Kultur und Entwicklung und durch den Gestus der ›wissenschaftlichen Voraussetzungslosigkeit‹ betrogen und an der Nase herumgeführt.

Endlich muß ich noch einer gewissen Ethisierung des Erfolgs auf technischem Gebiet gedenken. Indem der Historiker das Aufkommen wichtiger Neuerungen an die Person eines Einzelnen knüpft, folgt er dem bekannten Gesetz kraftsparender Bequemlichkeit. Denn in Wahrheit ist nie eine Erfindung oder Entdeckung von einer Person gemacht worden. Wurde jedoch die Veränderung auf den Namen einer bestimmten Person erst einmal festgelegt, so wird das Leben des historischen Vertreters so zurecht-gebogen, daß die historische Dauer von nachhinein zum Recht wird. Ein Beispiel dafür, wie Entdeckernamen verloren gehn: Der Histologe Stefan v. Apáthy machte jüngst die Entdeckung des geschlossenen Nervenkreislaufes, welche man der Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey an die Seite stellen darf. Nun entsinne ich mich vor mehr als zwanzig Jahren einen Aufsatz gelesen zu haben, wenn ich nicht irre, von einem Arzt namens Kreidmann, welcher die nämliche Entdeckung klipp und klar darlegte. Das prägte sich mir ein, weil jener Aufsatz die Unmöglichkeit bestätigte, die Nervenendigungen in motorischen Muskeln, Drüsen und Epithelien zu sehn, welche mein Lehrer F. W. E. Pflüger zu sehn behauptete (›Philosophie als Tat‹ S. 219-240).

§ 51. Erfolg und Illusion.

›Ein Wahn, der mich beglückt
Ist eine Wahrheit wert, die mich zu Boden drückt.‹

Wieland.

Wenn Geschichte illusionäre Umdeutung natürlichen Geschehens im Sinn idealer Forderung ist, so beginnt diese Umdeutung schon mit Feststellung des Geschehnisses. Wirklichkeit ist ein Gewebe, an welchem menschlicher Wille webt. Schon Feststellen ist wissenschaftliche Übermächtigung des Lebendigen. Daher überschreitet die Feststellung von Wirklichkeit ihr unmittelbares Erleben, als bloßer Vorstufe logischer Umdeutung von Leben zu sogenannter Wirklichkeit. – Wollte man nun aber darum der Geschichte das billige Wort Lüge anhängen, so läge dem ein falscher, für die historischen Wissenschaften unanwendbarer Wahrheitsbegriff zugrunde, denn der Gegensatz von wirklich und nicht-wirklich ist nicht der selbe, wie der von wahr und falsch! Da aber Geschichte von vornherein keine andere Aufgabe erfüllt als diese, lebensnotwendige Illusionen zu schaffen, so sind die Bezeichnungen Lüge oder Wahrheit auf Geschichte gar nicht anwendbar.

Geschichte ist nicht schlechthin ›wirklich‹; darum aber durchaus nicht ›unwahr‹. Denn Geschichte hat innere Wahrheit, nicht anders, als wie ein das Leben spiegelnder Mythus. Sie fällt zwar nicht mit unmittelbarem Leben zusammen, aber sie geht den Spuren des Lebendigen analogisch nach. Sie hat nicht die Absicht, nüchtern die Wirklichkeit kennen zu lehren, sondern erfüllt die Aufgabe, dem Leben des Menschen einen steigernden und fortzeugenden Sinn zu schaffen, also, wenn man so will: der Wirklichkeit Wahrheit einzulügen. Hier münden die Untersuchungen des zweiten Buches in die des dritten, zumal in die Lehre vom Rauschersatz.


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