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XI. Die historische Entwicklung
§§ 60-65.

›Die Welt geht weder vorwärts noch rückwärts, sie bleibt wesentlich eines, wie das Meer, wie die Luft, kurz wie das Element.‹

Kierkegaard.

§ 60. Der Entwicklungsbegriff.

So wenig bezweifelt werden kann, daß eine höhere Lebensform die tiefere verinnerlicht mitumfaßt, so wenig dürften wir darum berechtigt sein, die ›höhere‹ Stufe nun aus den niederen explizite zusammengesetzt und zeitlich entstanden zu denken. Jedes Wesens Geschichte liegt vielmehr nach Vergangenheit und Zukunft in der jeweiligen Gegenwart ganz beschlossen. Aufgabe des Geschichtsschreibers ist es, dieses nicht mechanisch, d. h. nicht als bloßes Nacheinander zusammengestückter Tatbestände, zu fassende Leben analogisch nachzuzeichnen. Dabei verfährt er wie der Dichter, der einen Lebensweg, ohne nach den Ursachen und Bedingungen seiner Stadien zu fragen, zu schicksalsmäßig geschlossener Stetigkeit zusammenschaut. Indem er von Wachstum, Blüte, Reife, Zerfall, Entartung, Übergang usw. spricht, kann er nur Analogien seiner eigenen organischen Lebendigkeit erfühlen. Immer können wir Volk, Staat, Gruppe, Partei usw. und zuletzt das Menschengeschlecht nur als eine organisch stetige Entwicklung vorstellen, aber dieser Organismus ist nirgendwo leibhaft, und seine Einheit besteht nicht außerhalb des Bewußtseins von Einheit. Indem wir von einer Geschichte der Physik, der Malerei, der Philosophie usw. reden, machen wir uns selten klar, daß Physik, Malerei, Philosophie usw. keine lebendige Wesen sind, sondern daß die Einheit und organische Stetigkeit der Entwicklung, die wir Geschichte der Physik, Malerei, Philosophie usw. nennen, unsere eigene Einheit im Akte des Erlebens und Zusammenbauens der als Physik, Malerei, Philosophie usw. aufgesammelten Tatbestände ist. Durch diesen eigenbezüglichen Gedanken beleben wir die ansonsten tote Mechanik zeitlich diskontinuierlicher Mannigfaltigkeiten, nach Analogie der uns einzig unmittelbar erfühlbaren Gegenwart, zu einer durch den Raum und die Zeit hindurchströmenden Lebens- und Entwicklungsgesamteinheit. Mit uns selbst und unsrer Seele versinkt auch alle Geschichte.

Dennoch dürfte in der lebendigen Erfassung historischer Einheiten eine gefühlsmäßige Gewißheit liegen, die sicherer ist als alle sachliche Wissenschaft. Nicht freilich spricht sich logisch-rationale Gewißheit darin aus! Geschichtliche Wirklichkeit ruht vielmehr auf dem Erlebnis ( belief). Nicht wird Entwicklung aus Geschichte erschlossen, sondern an Hand unsres Wachstums- und Entwicklungs erlebnisses wird (nach Analogie von Person und personalem Schicksal) Geschichte von uns selber gestaltet, erarbeitet und geglaubt. Urteilslosigkeit und Selbstgerechtigkeit des Menschen übersieht dabei geflissentlich, daß hinter der vermeintlich historischen Erfahrung stets die im Bedürfnis verankerten Vorformen denkenden Gestaltens liegen, welche Vorformen schließlich auf eine kleine Anzahl abstrakter Klischees zurückgeführt werden können. Es ist nicht unnütz zu betonen, daß die hier gebrauchten Begriffe Leben, Lebenselement, Erleben, Lebensnähe metaphysische Begriffe sind, weitab von dem Modegebrauch dieser Worte. Es könnte z. B. jemand lebenslänglich nichts als eine tote Sprache treiben und eben dadurch in größter Lebensnähe stehen. Umgekehrt können Abenteuer, Reisen, bewegte Welterfahrungen sehr oft das Merkmal toten, lebensfernen ›Lebens‹ sein. Die Lebenstiefe z. B. eines Gedichts, eines Bildes, eines philos. Systems ist nicht am Grade seiner Leidenschaftlichkeit, Reizsamkeit, Lebendigkeit zu ermessen, sondern nur an der Naivität des Gewachsenseins, der Herzensnotwendigkeit und Ursprünglichkeit.

§ 61. Der Gegensatz von Ursach- und Wesensgeschichte.

Jedermann ist davon überzeugt, ›Geschichte‹ zu haben. Was meint er damit? – Offenbar eine Entwicklung, die durch das dynamische Band seiner Eigennatur zusammengehalten, der bloßen Zufälligkeit (Ursächlichkeit) des historischen Geschehens eine Grenze setzt.

Die Ketten äußerer Ursachen und Wirkungen (die der Mensch nach Maß seines Selbst denkt, um sich selbst durchsetzen und das Unberechenbare berechenbar machen zu können) erscheinen ihm willkürlich im Verhältnis zu der durch alle diese zeitlichen Kausalketten hindurchströmenden Willenseinheit seiner Selbst. Der oben gewählte Ausdruck erinnert mit Absicht an gewisse Lehren der deutschen Metaphysik, nämlich an Kants Entgegensetzung des empirischen und intellegiblen Charakters und an Schopenhauers Entgegensetzung von Wille und Vorstellung. – Die Verwandtschaft der diesem Werk zugrunde liegenden Systematik mit der allzu aequivoken Terminologie Arthur Schopenhauers liegt klar auf der Hand. Die Annahme der Willensmetaphysik aber, (die auch Henri Bergsons minder originelle Lehre von der ›Lebensschwungkraft‹ élan vital unterströmt), verbot sich aus den ›Philosophie als Tat‹ S. 362-365 dargelegten Bedenken. Schopenhauers ›Willen‹ entspricht bei mir der viel blassere Ausdruck: Leben, Lebenselement, Urlebendiges (wie ich denn auch nur von ›Wirklichkeit‹ oder ›Bewußtseinswirklichkeit‹ da rede, wo Schopenhauer das Wort ›Vorstellung‹ gebraucht). – Es erscheint mir als Quelle der schlimmsten Mißverständnisse, daß große Denker die Ausdrücke der Psychologie (also Worte wie: Wille, Vorstellung, Unbewußtes usw.) in der Metaphysik verwenden. Ich muß das darum vermeiden, weil die schärfste Trennung des Psychischen, Psychologischen und Logischen (in der dieses ganze Buch durchblutenden Dreiteilung: Leben, Wirklichkeit, Wahrheit) die Stammwurzel meines Systems ist.

Jetzt regnet es, jetzt entsteht ein Erdbeben, jetzt brennt das Haus ab, jetzt gewinne ich in der Lotterie, jetzt stirbt mein Gönner, jetzt verunglückt mein Kind; – aus Milliarden solcher Unberechenbarkeiten wird die Wirklichkeit der äußeren Geschichte gewirkt; aber jedes dieser von außen kausierten Begebnisse ist im Verhältnis zu meinem Wesen: Zufall (mag auch jeder Zufall das Zusammenplatzen mechanischer Notwendigkeiten sein). Eines nur erfasse ich in allen Zufallsgeweben als nicht-zufällig, in allen Ursachketten als nicht-verursacht: das ist der metaphysische Wesenskern, den ich durch mein Selbst bedingt fühle. Ihm gegenüber erscheint alles, was an mir geschieht, nur als Gelegenheits- oder Auslösemoment für – meine Geschichte.

Ganz ebenso steht es um ›Geschichte‹ von Volk, Staat, Gemeinschaft, Partei usw. Immer unterscheidet das Gefühl deutlich die Kette äußerer Kausation (die man in mechanische Reihen einstellen kann) als ›zufällig‹ gegenüber von Geschichte im engeren Sinne, d. h. gegenüber von Schicksals- oder Wesens-geschichte, hinter welcher die Entwicklung eines vorbestimmenden Ich ( dieses Volkes, dieser Gemeinschaft, dieser Partei usw.) gesucht wird. So wie z. B. eine Melodie nicht aus zusammengestückten Tönen a   b   c ›besteht‹, so ›besteht‹ Geschichte nicht aus Haufen von historischen Ereignissen in der Zeit. (Vgl. ›Über die Möglichkeit universaler Charakterologie‹ a. a. O.) – Immer zerbricht am Dieser, Diese, Dieses (hic et nunc; τόδετι) alle Mechanik und mithin alle Wissenschaft.

Daher scheint denn der mechanische Progressus äußerer Geschichte (Katastrophen, Erdbeben, Orkane, Sturmfluten, Feuersbrünste, Revolutionen, Kriege, Krawalle usw.) gar nicht wesenhaft die Geschichte zu sein, so wenig als es meine Geschichte ist, wenn zu bestimmter Stunde ein Dachziegel vom Dache fällt und mich erschlägt. Selbst der Untergang der Erde, der aller Geschichte ein Ende macht, wäre in diesem Sinne nicht: Geschichte! ...

Der unvermeidliche Gegensatz von Kausal- und Wesens-Geschichte verbirgt eine nur dem Mystiker lösbare Antinomie! Man kann nämlich alles was man als Wesenheit anspricht (Karma, Fatum, ἕξις, forma substantialis) andrerseits auch wieder zeitlich entstanden sein lassen. Umgekehrt kann man nicht von historischem Werden sprechen, ohne dabei ein zeitlos wesenhaftes Sein vorauszusetzen.

Der Zirkel wäre also dieser: Alle Geschichte ist Geschichte eines bestimmten Lebens. Dieses bestimmte Leben hinwiederum ist Produkt von Geschichte.

Für erkenntniskritisch-psychologische Untersuchungen, wie die unsern, kommt es nur darauf an, klarzustellen, daß und warum Begriffe wie Entwicklung, Schicksal, geschichtliches Werden letzte Baugedanken voraussetzen.

§ 62. Die Entwicklungslehre.

›Die Erfahrung anempfahlen, merkten nicht, daß Erfahrung erst die Hälfte von Erfahrung ist.‹

Goethe.

Zwei arbeitsame aber grobdrähtige Intelligenzen, Charles Darwin und Herbert Spencer, begründeten (1859) jene Schule des geschichtlichen Entwicklungsoptimismus, welcher eine gewaltige Schar wohlgesinnter und ungedanklicher Jünger, zumal in England und Deutschland, zum Opfer fiel.

Dieses Entwicklungstheologem der Naturwissenschaft nochmals zu bereden, erscheint uns unnötig, da wir alles, was darüber zu sagen wäre, schon vor Jahrzehnten gesagt haben: klarer, schärfer als wir es heute vermöchten, und die Kritik jenes naturwissenschaftlichen Aberglaubens endgültig in einer zu Darwins hundertstem Geburtstag (1909) veröffentlichten Abhandlung zusammengefaßt wurde. ›Philosophie als Tat‹ S. 155-203.

*

Der teuflische Hintergrund der bekannten Entwicklungslehre (bei Hegel, Herder, Darwin und Comte ist dieser: die seelenverödende Mechanisierung der vom bürgerlich-kapitalistischen Europa verbreiteten Kultur besitzt an der Hypothese der historischen Entwicklung die verführerisch betörende Kulisse. Wenn nämlich Geschichte den Fortschritt verbürgt, dann kann jede zur Herrschaft gelangte Macht ruhig sich auf dem Glauben schlafen legen, zeitweiliger Gipfel eines notwendigen Naturprozesses zu sein und somit ihre Gewalt auch als ihr Recht genießen. Fortschritt, Kultur, Entwicklung von Volk, Staat und Vaterland, dass sind die bekannten Redensarten, hinter denen gar nichts steckt, als die Selbstrechtfertigung für Macht- und Erfolgwilligkeiten herrschender oder herrschwilliger Gruppen.

Ebenso unangebracht ist es, das Leben der empirischen Person als die natürliche Abfolge von Fortschrittsstufen hinzustellen, deren letzte, als vollkommenste, den zur ewigen Seligkeit gereiften Todeskandidaten in eine höhere Welt und vollkommenere Ordnung hineinwachsen läßt. Man läßt damit ›Ewiges‹ zeitlich beginnen. Vgl. 3. Buch § 84 ›Gesetz der Transposition auf die zeitliche Ebene‹. Es ist vielmehr offensichtlich, daß jede Lebensstufe Selbstzweck und in sich selbst vollkommen ist, und daß ein über diese Welt aburteilender Geist unmöglich die eine für die andere würde verantwortlich machen können, so daß, wenn es ein ›Weltgericht‹ gäbe, gar nicht einzusehen wäre, wer und was denn eigentlich dabei gerichtet werden sollte.

§ 63. Einige Ergänzungen zur Kritik der Entwicklungslehre.

Unsere Ablehnung historischer Entwicklung bestreitet nicht:

1. die Notwendigkeit von Normen, Idealen, Ausleseprinzipien des Urteils oder der Werthaltung über Geschichte;

2. die Tatsache rastloser Erneuerung, Wandlung, Flutung im lebendigen Element der Geschichte;

3. die allseitige Verwandtschaft der Gestaltungs- und Wesensformen der Erde, sowie ihre wechselseitige Zweckmäßigkeit, Harmonie oder Aufeinanderbezogenheit als Ausdrucksweisen ein und des selben in ihnen manifestierten Lebens.

Dagegen bestreiten wir: – daß geschichtliche Vorgänge in Zeit und Raum von sich aus fortschreitende Wertstufenfolgen, also allmähliches Aufsteigen zum Immerhöheren, Immerbesseren, Immervollkommeneren offenbaren. – Wertrangierungen (wie: hoch und niedrig, einfach und kompliziert, gesund und krank, stark und schwach usw.) sind uns vielmehr nur die Funktion vorbestimmender Gesichtspunkte des Urteils. Sollte der Naturforscher erwidern, mit dem Begriff Entwicklung werde nichts präsumiert als: Was nicht daseinsfähig ist, kann auch nicht dasein. Alles ist jeweils so gut oder schlecht als es sein kann. Alles kommt wie es kommen muß u. dgl. – so wäre dagegen nichts einzuwenden als dies, daß solche Wahrheiten, so lange es Wissenschaft gibt, noch nie bezweifelt sind, und daß es überflüssig wäre, sie als Naturgesetze zu formulieren. Aber es ist gar nicht an dem! Die biologische Literatur gebraucht ihren Begriff Entwicklung (evolution) durchweg im Sinn von Fortschritt (melioration) und meint mit der Deszendenzlehre die Aszendenz zu sich selber hin. Daher besitzt sie die ungeheure Selbstgerechtigkeit, ihr schales Theorem als Gipfel eines langen Ringens der Erde hinzustellen. Sie betrachtet z. B. die mythologische Naturauffassung als bloße Vorstufe zu ihrer weit höheren ›Wissenschaft‹. Oder sie duldet z. B. polytheistische Religionen als primitive Anbahnungen des Kausalbegriffs, u. dgl. mehr. ... Daß dem Altertum unsere Mechanik und Wissenschaft nicht darum mangelt, weil man noch nicht wissenschaftlich denken konnte, sondern darum, weil man das, was wir wissenschaftlich denken nennen, gar nicht können wollte, daß im Kern unvergleichliche Gemütseinstellungen fälschlich in zeitliche Stufenfolge umgedeutet werden, das entgeht dem Aberglauben an historischen Fortschritt

Die verhängnisvollste Seite der Entwicklungslehre aber ist, daß sie die sinnenfällige Wahrnehmungswelt, deren Gewordensein doch erklärt werden soll, als etwas Gegebenes aller Entwicklung voranstellt. Ähnlich wie die klassische Mechanik absolute Zeit, absoluten Raum voraussetzt, um zu beweisen, daß es sie nicht gibt. Der Naturforscher nimmt die zu erklärende Welt eben als gegeben an! In sie hat Gott oder Natur (› deus, sive natura‹) allerlei hineingeboren: Amöben, Seeigel, Frösche, Frauen, Professoren! Alles dieses paßt sich aneinander an. Es wird also nicht gefragt, was Natur, was Entwicklung bedeute? Man stellt vielmehr arglos die falsch formulierte Frage: wie hat die Natur sich aus der Natur entwickelt? Den Naturforscher ficht kein Zweifel an, ob seine Natur in Raum und Zeit, schlechthin › die‹ Natur sein müsse? Er läßt diese Natur eben ›da sein‹: Einiges draußen und das andere drinnen. Und das ›Innere‹ paßt sich an das ›Äußere‹; alles ganz einfach! Die falsche Antithese: Innen – Außen, Seelenwelt – Körperwelt verhunzt mit der Biologie auch die Ästhetik. Auch deren Vorurteil behauptet: Kunst sei Nachahmung von ›Natur‹.

Daß aber gerade der Mensch: Ausgang, Endziel, Leitgesichtspunkt, organische Absicht einer Geschichte ist, das ist keineswegs so selbstverständlich, wie die von vornherein eigenbezüglich orientierte Entwicklungslehre es eben schon voraussetzt – Die Geschichte der Erde offenbart keine Ordnungen des Heils, sondern höchstens eine Ordnung des Heilens, insofern als jede Richtung, die das Leben nahm, nimmt und nehmen wird, ausgehn muß von einem Notstand als von der sie einzig vorbestimmenden Kraft. Dabei bestimmt die Hemmung eben schon die Richtung der sie überwindenden Lebensbewegung! Sie verwaltet ihre eigene Regulation, ähnlich wie der Lauf eines Flusses vorbestimmt wird durch jene Schwierigkeiten, die er zu beseitigen hat. Will man nun diese regulative Funktion der Stauungen logisch, vernünftig, sinnvoll nennen, so mag man das tun. Sicherlich aber hat dieses Zweckmäßigkeitsprinzip alles Lebens gar nichts mit historischem Fortschritt oder mit Wert (im Sinn logischer, ethischer, ästhetischer Normen) zu tun. Es wäre nicht einzusehen, wie denn wohl Leben lebendig sein sollte, wenn es nicht die zweckmäßige Fähigkeit solcher Selbstausheilung in sich trüge. Mit ihrer Konstatierung – (denn auch Krankheit, auch Tod sind Mittel des Lebens und nicht das ›Leben‹, sondern nur der ›Geist‹ kann sterben!) – ist nicht mehr konstatiert, als was eben zum Wesen des Lebens gehört. Vgl. Buch I § 40 S. 92 f.

§ 64. Die Hölle des Fortschritts.

Worlds work is done by its invalids.

Um das ungeheure Paradox der Fortschritts-kultur zu begreifen, müssen wir uns gewöhnen: Leistungen, Bewährungen, Verrichtungen, Funktionen, Werke unerbittlich und unbarmherzig zu unterscheiden von den sie tragenden Seelen, deren Fülle und Tiefe weit zurücksteht hinter der Kraft dessen, was sie können und hervorbringen; ja deren Mängel nicht selten die Voraussetzung werden alle ihrer Kultur genannten Könnereien und Leistereien. Hat man diesen Gegensatz des tragenden Lebens und seiner Produkte in ganzer Tiefe durchschaut, und weiß man, daß das Gebäude der Kultur aus Steinen gebaut wird, die dem Boden, darauf es stehen soll, entzogen werden, ach! dann bemerkt man mit wachsendem Entsetzen, daß das Reich der sachlichen Werte offenkundig in Hader liegt mit dem Blute, daraus es erblüht: just so als ob in dieser Fortschrittshölle jedermann die Aufgabe habe, den Ast anzusägen, der ihm Zuflucht gewährt.

Europa ruht im Christentum. Aber sind die christlichen Ideale nicht grade Mittel, um ihr eigenes Gegenteil zu rechtfertigen? Europa fußt auf wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber ist Erkenntnis nicht dazu da, um dem Unsinn Begründungen zu schmieden?

Wo birgt das gegenwärtige Europa sittliche oder religiöse Ideale, die nicht zu Zeitungsthema, Seminarübung, Teegespräch, Kanzelpredigt, Zungengedresch, Literatur entwürdigt, zerredet, zerschrieben, zerlesen, verkitscht und vermarktet sind? Man sehe diese Urchristen mit Doktortiteln, diese Buddhas mit Kouponscheren, diese Weltheilande im Feuilleton, diese Gotteskinder auf Aktien. Die widersinnigste Doppelnatur von Lebenshaltung und Absicht erregt kaum noch Worte der Verwunderung! Alles wird möglich! Alles ist in tausend Attrappen vorhanden und Du mein Lied eingesargt, ehevor Du nur zu leben begannst. ...

§ 65. Der Geschichtsoptimismus.

Bei alledem ist die weltbejahende Geschichtsauffassung gleichsam zur Ehrenpflicht dieses Zeitalters geworden. Grade als ob die seelendünne Maschinenwelt sich immerfort beweisen müsse, daß sie fröhlich sei und lebe, verkündet sie von jeder Kanzel und von jedem Lehrstuhl herab die bekannten anfeuernden Formeln: Leben, Freude, Tat, Anschauung, Sinnlichkeit, Weltbejahung (oder wie sonst immer die rauschersetzenden Schlagwörter lauten, die als Brücken und Krücken benötigt werden). Der nüchterne Geschichtspessimismus erhält demgegenüber den Makel der Ungesundheit! Wer gleich Hölderlin in den Büchern der Zeiten den Kehrreim liest: ›Vatermord, Brudermord, Säuglinge blaugewürgt. Greulich! Greulich!‹, oder mit Goethe das Wesen der Geschichte so formuliert: ›Die Menschen sind dazu da, einander zu quälen und zu morden. So ist es, so war es und so wird es allzeit sein!‹, – der erhält den Stempel, vergrollter Menschenverächter zu sein; oder noch lieber das Omen, als ein Feigling, Schwächling, Zärtling sich durchs Leben zu ducken. Man hat sich eben so daran gewöhnt, Philosophie gleich Religion unter sogenannt sozialpädagogische Gesichtspunkte zu stellen, daß, wenn man von einer Gesinnung sagen kann, sie sei nicht recht gesund, oder von einem Gedanken, er sei für Staat, Volk und Gesellschaft nicht recht erbaulich, dann eben auch die Gesinnung schon verpönt und der Gedanke erledigt ist. Mit reizender Naivität schreibt einmal Maria Theresia an ihren Sohn Joseph II: ›Philosophen und Freidenker können mich nicht überzeugen, weil ich herausbekommen habe, daß es meistens unfrohe und traurige Menschen sind.‹ – Die vortreffliche Frau hat völlig recht darin, daß der gesunde, natürliche Mensch die Freude als den Kern aller Werte anzusehen hat; aber welch circulus vitiosus ist doch dieses: Man tut alles, um Philosophen und Freidenker in der Welt unglücklich zu machen und sagt dann hinterher: sie überzeugen nicht, denn sie sind nicht glücklich. – Übrigens besteht der Hang, hinter allen lebensbedrohenden Zuständen und Gefühlen eine Schuld zu suchen, mithin auch umgekehrt den gesunden Menschen für den ›guten‹ zu erklären. tristezza bedeutet sowohl Bosheit wie Traurigkeit. (Hierzu I. Buch §§ 27 u. 28.)

Indessen bemerke man dieses: Es wäre immerhin möglich, daß der Ekel vor der Welt, wie sie gegeben ist und eine das Leben verneinende Abkehr vom Leben grade die gesunde, natürliche und lebensstarke Reaktion der gutgearteten, hochgestimmten und kraftvollen Naturen ist (abgesehen davon, daß sachliche Erkenntnis wie die des Pessimismus nicht das mindeste mit persönlicher Lebensstimmung und Gefühlsart zu tun zu haben braucht), während das optimistische Räsonnement jener Glücks- und Fortschrittsethik (für welche Schwarzseher, Weltverneiner, Pessimist eine Art Scheltwort ist) im Kerne auf die abflauende Tatkraft beständiger Aufpeitschung und Lebensermutigung bedürftiger, naturfremder und abgeblaßter Kultur-Generationen hindeuten könnte. Gibt es denn nicht zu denken, daß sowohl ganze Völker wie einzelne geniale Individuen, just auf dem Höhepunkte ihrer Kraft- und Lebensfülle die der Jugend eigentümliche schwermütige Weltflucht offenbaren? In jedem Hinweg und Empor liegt schon eo ipso eine Abkehr von aller geschichtlichen Wirklichkeit oder mindestens ein Versuch sie umzudeuten, während das bekannte Fußen auf Realität, der historische und politische Sinn, die Anpreisung des Praktischen und Gegebenen, Konkreten, Unmittelbar-Notwendigen, die Forderung des Tages (und wie sonst immer die Phrasen der Fortschrittsethik lauten), vielleicht dem dunklen Gefühle entquillen, daß man die reine Wahrheit nicht aushalten würde und ohne die Selbsttäuschung in einer Kette historischen Fortschreitens zu stehen, ja ohne die beständige Narkose mittels ›Arbeit‹ und ›Pflicht‹ sein eigenes Ich und sein gegebenes Leben als leer, unberechtigt, ja vielleicht als ganz unerträglich empfinden müßte! Man verwirft also den Geschichtspessimismus nicht, weil man seine Lehre für unwahr hält, sondern weil man eingesehen hat, daß es sehr schwer oder unmöglich sein müßte, unter dem Drucke seiner Gedanken zu leben; daher man gewohntermaßen vorzieht, solche Gedanken als verrückt, ungesund, volksverderblich usw. zu denunzieren.

Eine große Ahnungslosigkeit liegt ferner auch darin, daß zumal die dichterischen Köpfe sehr gern ›die Kultur‹, ›das Werk‹, die ›Welt des Geistes‹ u. dgl. als feststehendes Gut voraussetzen und dann beweisen, daß es ohne alle die Greuelorgien der Geschichte diese Güter nicht geben könnte. – So rechtfertigt z. B. ein bedeutender Zeitgenosse (Anatole France) 1915 die Barbarei des Weltkriegs folgendermaßen:

›Ich mag gar nicht daran denken, daß dieser Krieg je wieder aufhören könnte, weil ich befürchten müßte, daß die Tugenden und das Heroische, das er hervorgebracht hat, damit ebenfalls wieder verlöschen könnten. Auf den Siegen von Marathon und Salamis beruhten Äschylos, Sophokles, Euripides; auf den Siegen Alexanders die Hellenisierung des Orients und auf den Siegen Roms die Schaffung des lateinisch-griechischen Kulturkreises. Was wäre die Welt ohne diese Kriege und Siege? ...‹

Gesetzt, es beruhte wirklich alle Kultur, ja alle Tugend des Menschengeschlechts auf diesen Metzgereien und Räubereien der Geschichte. Was wäre daraus zu folgern? Doch wohl nur dies, daß es besser wäre, es gäbe kein Menschengeschlecht. Es wäre ja möglich, daß alle Gerechtigkeit aus der Quelle Gewalt, aller Geist aus Kraft der Barbarei und die ganze Welt der Schönheit und Güte aus Not und Leiden gespeist würde. Gestattete das eine Theodicee der Gewalt, der Barbarei oder des Leidens? Nein! Es gestattete nur den Schluß, daß der Gipfel der Schönheit und Güte einer solchen Welt eben ihr Nichtvorhandensein wäre. ...

Man gewinnt aber gegenwärtig den Eindruck, als ob die halbe Literatur Europas nichts anderes bezwecke, als die Menschenseele in ihrer Fortschrittshölle um jeden Preis bei Laune zu erhalten, gemäß dem Worte Gabriele d’Annunzios ›Die Kunst des Lebens ist es, die Wahrheit zu verschleiern‹ oder der Aufforderung Stefan Georges ›So helft Euch aus der Wahrheit, Brüder!‹ Der natürliche Mensch aber, rein und ruhig in sich selber, fühlt das Leben einzig darum als Wert, weil es ihn und seine Gegenwart hervorbrachte und wird kein Hochgefühl aus dem Bewußtsein beziehen, das verbindende Glied an einer Kette der Fortschritts- und Kulturgüter zu sein, die schließlich von jeder Art Geschöpfen übernommen und fortgeführt werden könnte.

Es darf nun freilich nicht übersehen werden, daß in einem Weltalter, wo der ›Kampf ums Dasein‹ (schon vermöge der ungeheuren Geburtenvermehrung) zum Maßstab alles Lebenswertes gemacht werden muß, der Besitz und die Stimmung der fortschrittlich-optimistischen Weltauffassung selber eine starke, ja vielleicht die allerstärkste Waffe im Daseinskampfe der Völker und Gruppen bildet, schon darum, weil eine nihilistische Erkenntnis die Erkennenden im selben Maße schwächt und lebensunfähig macht, als sie Reize und Freuden der konkreten Welt abbaut und die Illusion raubt, in der eigenen Person der notwendige Übergang, der Gipfel, ja die Erfüllung von Geschichte zu sein. Der amerikanische ›Pragmatismus‹ prägte daher für den Geschichtsoptimismus die Formel von der ›healthy minded attitude‹.

Wäre es also statthaft, die Lebensnützlichkeit, d. h. die Befriedigung durch eine Überzeugung zum Kriterium ihrer Wahrheit zu machen, so wäre der Glaube an historischen Fortschritt, selbst wenn er Illusion wäre, die wahrste aller Wahrheiten, weil sie die nützlichste ist. Es versteht sich jedoch von selbst, daß es überhaupt keine Wahrheit gäbe, wenn die Frage wie sich damit leben lasse, als Kriterium für Wahrheit zu gelten hat; in diesem Falle wäre Macht ( power to work) das schlechthin Normative.

Lauscht man aber genau auf die Beweisgründe abendländischer Logik gegen daseinnegierende Weltstimmung (in Buddhismus, Brahmanismus, Christentum), so kommen sie alle zuletzt auf das Eine hinaus, daß sich mit ›destruktiven‹, die Bewußtseinswirklichkeit vernichtselnden Überzeugungen nicht gut leben lasse (was denn freilich durchaus richtig ist). Somit handelt es sich für die Lehre von der historischen Entwicklung keineswegs (wie es in Deutschland viele weitbekannte Forscher darstellten) um den Kampf der Physik gegen Metaphysik, der Wissenschaft gegen das christliche Dogma, sondern es handelt sich um den Ersatz einer auf Nirwana und Jenseits hinzielenden Religiosität durch eine realistisch-diesseitige, bequemere und aktuellere Religion (eine Art Juchhechristentum, freudig-fortschrittlich, welches sowohl seine wissenschaftlichen Dogmen wie seine Pfaffen, Laien und Ketzerrichter längst besitzt). Vgl. hierzu ›Europa und Asien‹ S. 25 f.

Bemerken wir wohl, daß dies Dogma vom historischen Fortschritt die nützlichste aller europäisch-amerikanischen Erfindungen ist, so recht der Welt des Komforts und der Zivilisation zugehörig. Daß es nicht unerläßlich sei, bewies das ganze Altertum. Von Hesiod und Heraklit bis zu Ovid und Cicero war die Vorstellung geläufig, daß die Geschichte des Menschengeschlechtes einen Abstieg zum Dünneren und Ärmeren in sich bergen könne, weil das gewaltige Feuer der Vorwelt wohl auch gewaltigere Leidenschaften und Lebensentladungen beseelt haben möge oder die Keimkraft der Erde als endlich begrenzt zu denken sei und daher ihre Zeugungs- und Vitalkraft in der langen Kette der Arten und Individuen von Stufe zu Stufe sich erschöpfen müßte. Aber auch die Entwicklungsnaturwissenschaft selber zeigte deutlich, daß man die zeitliche Abwandlung der Lebensformen genau so gut auf absinkende Folge von Höherem zum Niederen, wie auf den optimistischen Gedanken des Ausstiegs begründen kann. So liegt z. B. der zarteren Entwicklungslehre Gustav Theodor Fechners der Gedanke einer Herkunft vom Geiste her, nicht aber der eines Anstiegs zum Geiste hin zugrunde, so daß z. B. die organische Welt nicht etwa aus der des Anorganischen sich entwickelt, sondern umgekehrt das Anorganische als das letzte, d. h. als Abfallsprodukt bei Entwicklung des Organischen zu betrachten wäre. – Als auf der ersten deutschen Naturforscherversammlung 1863 die Möglichkeit einer solchen Entwicklungslehre mit umgekehrtem Vorzeichen dem jungen Ernst Häckel vorgehalten wurde, da wußte der darauf nichts zu erwidern, als daß ›eine solche Weltauffassung unmöglich das Gemüt befriedigen könne‹ (was vielleicht richtig ist, aber nicht als Einwand gegen ihre Wahrheit gelten darf).

Es wäre indessen auch noch dies zu erfragen, ob denn wirklich Geschichtsoptimismus und Entwicklungslehre (so sicher sie dem Nutzen dienlich sind) den Bedürfnissen des Gemüts entsprechen und die Freude, den Frieden und das Gleichgewicht der Herzen auf Erden gemehrt haben. Man hat mit dieser Entwicklungsreligion die halbe Erde unglücklich gemacht. Man hat die friedlichsten, harmlosesten Naturvölker ausgerottet; hat sie zur Beute der modernen Raubstaaterei, der modernen Handels- und Säbelimperien werden lassen; immer im Namen des Fortschritts. Ganze Tierrassen wurden zugunsten des Komforts vernichtet. Jede Einsamkeit, jede Landschaft, jede uralt heilige Stätte wurde längst entweiht. Man hat den Schlaf der Welt zerstört, die Einfalt und Unmittelbarkeit ihres Erlebens. Man hat naturentfremdet, naturverwüstend das elementarisch unfaßliche Leben glücklich zu Bewußtseinswirklichkeit und Nutzwelt des Menschen verflüchtigt, so daß das ursprünglichere Seinsgefühl der Vorwelt, ihre Naturkulte und Götter, Sinnenwelten und Urschauer, Ehrfürchte und Heiligungen, ihr weltverlorenes und asketisches Glück uns vielleicht überhaupt nicht mehr zugänglich sind. Was ist nicht allein in Deutschland vom Erdboden letzthin weggefegt! Auerochs, Tarpan, Wisent, Bär, Lux, Wolf, Elch, Wildkatze, Biber, Otter, Marder, Nerz, Schopfibis, Alk, Edelreiher, Steinadler, Uhu, Schwarzstorch, Kolkrabe, Kormoran, Lumme, Kranich. Alles dieses Leben ist bei uns schon Sage geworden. Und in überseeischen Ländern wird Europa bald den letzten Elefanten, den letzten Walfisch, die letzte Riesenschildkröte vernichtet haben, bis von allem wilden Leben nichts übrig bleibt als das Raubtier Mensch, das die Welt nicht nach ihrem Wesen, sondern nach seinem Nutzen begreift. Vgl. ›Europa und Asien‹ S. 19 f. (Über ›Wertreligionen‹ und ›Lebensreligionen‹). S. 69 f. (›Über unsere Stellung zur Tierwelt‹).

Inmitten aller Barbarei von Kultur wird jedoch der Mensch des Fortschritts nicht müde, von einem Ziele der Geschichte zu schwärmen, das beschrieben wird als Vergottung des Menschengeschlechtes, Vergeistigung der Erde, Ziel des vollendeten Staates, Ziel der vollkommenen Ethik oder als das des erreichten Übermenschen. Wüßte man doch wenigstens, was man sich bei diesen von der Geschichte verbürgten Entwicklungszielen eigentlich zu denken habe!

Versteht man z. B. unter Vergottung oder Gottwerdung eine letzte Versittlichung der Erdenmenschheit, so sollte man wohl überlegen, daß man damit eben auch ihr Bestehen unmöglich macht. Die schlechthin vollendete Sittlichkeit würde keinen Trunk und Bissen ohne Gewissensqual tun lassen, da die Erhaltung meines Lebens schon Vernichtung vieler anderer in sich schließt.

Denkt man vollendete Rationalität (d. h. Herrschaft der Vernunft und Vernunftgebote) als Ziel von Geschichte, so erwäge man wohl, ob nicht das Logische auch das Tote und das Lebendige eben darum Leben ist, weil es noch nicht Vernunft ward.

Hält man Vergeistigung für das Endziel, so übersieht man, daß der Geist grade Lückenbüßer des Lebens ist, mit dem Worte Pauli der Pfahl im Fleische, nach Buddhas Wort der Krebs am Leben. Man ist ja auch praktisch jederzeit beflissen, die geistigeren, zarteren, verfeinerten Menschen wissen zu lassen, daß man Christus und Buddha zwar anbetet, ihnen aber, wenn sie leibhaftig wirklich kämen, sicherlich ins Antlitz schleudern würde: ›Gott sei Dank, daß wir gröber und derber fühlen als Ihr!‹ Nur eine Seelenart, die die Problematik der Geistigkeit überhaupt nicht nachzufühlen vermag, kann die Geistwerdung der Erde als Ideal hinstellen, ohne zu merken, daß damit die ganze Menschenwirtschaft dem sicheren Untergange geweiht ist. In Wahrheit erstrebt man nicht Geist und Gott als Ziel, sondern man läßt sie gerade so weit gelten, als man sie für das Leben nötig hat.

Betrachtet man, gleich Kant, den vollkommenen Staat als Ziel der Geschichte, so erwäge man, daß der vollkommene Staat nur auf Kosten der Vollendung des Einzelich sich ermöglicht.

Betrachtet man endlich die letzte Erhöhung zum Übermenschen als Ziel der Geschichte, so vergesse man nie, daß man damit den Staat wie das Glück der Vielen zum bloßen Fußschemel dieses Einzigen macht. Es handelt sich in jedem dieser fünf (im Kern identischen) Fällen um reine Hypothesen, da die Erde und Erdenmenschheit ganz zweifellos lange vor Vollendung eines solchen Zieles, sei es durch eine neue Eiszeit, durch Fortrücken der polaren Tundra oder durch sonst eine Katastrophe zugrunde gegangen sein wird. Vgl. auch Buch III §§ 81 f. über das Verhältnis von Geschichte und Zeitlichkeit zur religiösen Verhaltung.

Wäre es somit nicht redlicher und reiner, das ganze, höchstallgemeine Kultur-, Entwicklungs- und Fortschritts-Gesalbader, wie immer die Formeln lauten, über Bord zu werfen, fest der nackten Wahrheit ins Auge sehend, daß jedes neu zur Welt geborene Wesen sein Ziel einzig in seiner Gegenwart und Freude hält und trägt, indes die Erde als endliche Lebenseinheit, notwendig hintreibt zum negativen Pole, welcher mit Vollendung des Ideals oder der Norm am Menschen auch des Menschen tierische Natur ertötet. Denn immer läuft ein Wille zur Erlösung dem Willen zur Macht den Rang ab.


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