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XVI. Lehre vom Rauschersatz.
§§ 88-90.

§ 88. Geschichte als notwendige Illusion. Rausch und Licht.

›Wissen ist Leiden. Wer am meisten weiß,
Beklagt am tiefsten die unsel’ge Wahrheit.
Der Baum des Wissens ist kein Baum des Lebens.‹

Byron.

Wir müssen die Annahme machen, daß die als Erdenleben verkörperte lebendige Kraft eine endliche Anzahl und Menge darstelle.

Damit ist gesagt, daß, wenn das Wesen des Erdenlebens historischer Prozeß (sog. Weltprozeß) ist, im Verlaufe dieses historischen Prozesses eine Abnahme seiner Wirkungs- und Lebensfähigkeit eintrifft, in wachsender Annäherung an einen Endzustand (welcher gleich sein müßte mit dem Zusammenfallen der drei das Wesen des historischen Prozesses begründenden Sphären in Eines). Die Voraussetzung dieser bloßen Verbegrifflichung ist, daß die Geschichte der Erde ein aus endlichem Kraftvorrat gespeister Prozeß ist, welcher durch Fortschritt vom elementaren zum bewußten Leben gekennzeichnet werden kann. Für diesen historischen Prozeß gilt das sogen. zweite Prinzip der Thermodynamik, welches besagt: Ein System (›menschliche Geschichte‹) kann nur in einen solchen Zustand übergehen, dessen Entropie größer ist als die Entropie des Anfangszustandes. Man könnte meinen, daß der Begriff Entropie nur physikalisch sei, d. h. nur gültig für tote Prozesse, (solche, die wie ein ›Gefälle‹ gespeist werden und nicht aus sich selber leben). Aber dem ist nicht so. Die letzten Begriffe der Physik, wie: Energie, Entropie, sind seelisch und nichts als Spiegelungen des Erlebens. Das Wort Seele (seivan = bewegen, seivas = der See) bedeutet das See’ele.

Es ist nach Natur menschlicher Erkenntnis unvermeidlich, für den Gesamtvorgang der Geschichte die Anschauung einer Bewegung zwischen zwei Polen festzuhalten, deren ersten Pol wir als aktive (noch potentielle), deren anderen wir als gebundene (schon aktivierte) Kraft vorzustellen haben: Reines Lebenselement als Beginn. Reine Geistigkeit als Ende. Eine bloße Orientierung mit dem Vorbehalt, daß, was wir nach Analogie des Spektrums als von zwei unwirklichen Sphären begrenztes Feld vorstellen, für ein allumfassendes Auge sich zur Einheit des Kreises runden möchte.

Wollen wir einen der beiden Pole unabhängig von der funktionellen Beziehung zum anderen betrachten, so können wir das nur negativ, indem vom ›reinen Element des Lebens‹ gar nichts auszusagen wäre, als daß es noch diesseits von Bewußtseinswirklichkeit, also vorbewußt ist, während vom anderen Pole nur ausgesagt werden kann, daß in ihm Leben und Bewegung eben zur Ruhe kommt.

Die uns einzig zugängliche, nach beiden Seiten hin eingestellte Wirklichkeit liegt in der Mitte, als Bezirk der Verwirklichung einer Sphäre idealer Gültigkeiten am Lebenselement. Wir pflegen die beiden Pole gern antithetisch zu benennen als Eros – Logos, Wille – Vorstellung, Apoll – Dionysos, Europa –Asien.

Je nachdem wir uns hinwenden reinem Geiste oder reinem Elemente zu, erscheint, von der uns gemäßen Mitte aus gesehen, unsere Einstellung gerichtet auf die Verneinung je des entgegengesetzten Poles. Richtung auf Geist: lebennegierend. Richtung auf Leben: geistnegierend. Reiner Kultus des Lebens schlösse von sich aus: Urteilsentscheide und Wertunterschiede. Reiner Kultus des Wertes mündete in Aufhebung des Lebens selbst. Es ist der Gegensatz von Lebensreligion und Wertreligion (Brahmanismus und Buddhismus).

Wie nun vermitteln wir uns den Übergang des einen Pols der Geschichte zum anderen? Dadurch, daß wir nach Vorgang alles Lebens auch den historischen Gesamtprozeß als Übergang von Jugend zu Alter, von Geburt zu Tode hin vorstellen.

Wie der ungebrochene Leib solchen Lebensrausch trägt, daß jede künstliche Reizung der Kräfte zur Lähmung wird, während umgekehrt der abflauende Organismus Lebens-feuer und -rausch nur durch künstliche Reizung aufrechtzuerhalten vermag, so dürfte alle Kraft absinkenden Lebens sich in der Erzeugung von Rausch-Ersatz bewähren, ähnlich wie wir mangelnde Wärme des Leibes durch unentbehrliche künstliche Wärmezufuhr ergänzen.

Dieser Vergleich des Bewußtseins (als der Gesamtheit der sekundären Lebenskräfte) mit einer künstlichen Unterheizung des an sich selbst rein triebhaften Lebens wird als mehr denn bloßes Bild erscheinen, wenn man überlegt, daß der das Leben speisende Wechsel von Schlaf und Wachen immer Wechsel von Vergiftung und Wieder-Entgiftung ist.

Alles Bewußtsein ist Notstand, Fremdstoff, Wunde, Hemmung. Andrerseits aber Beseitigung und Ausheilung von Notstand, Fremdstoff, Wunde, Hemmung. ( § 78.)


Dürfen wir voraussetzen, daß der Vorgang der menschlichen Geschichte anwachsende Erweiterung von Bewußtseinsinhalten in sich schließt, so scheint es uns, daß der ganze Sinn der sogenannten Weltgeschichte in der Erschaffung einer mittelbaren Lebensfähigkeit sich erschöpft, derart, daß jeder Fortschritt zum Wert nur Notausgang des Lebens und umgekehrt jede Nötigung des Lebens Pforte zum Werte ist.

Somit erscheinen uns Ideale (handle es sich auch um scheinbar lebensfeindliche, weltabgewandte) als Notausgänge des Lebens, das sich selber erhält, ausheilt, steigert und im Steigern verbraucht.

Die Kraft, Ideale immer neu vor sich hinzustellen, ist die Kraft des Lebens selbst.

Hätte unser Leben nicht mehr die Fähigkeit zur Selbsttäuschung, so wäre eben damit auch die Fähigkeit zum Leben selber erloschen. Im Erschaffen der das Leben verbrauchenden Werte erschöpft und unterhält sich das Leben selbst.

Dort, wo der Erkennende in Gefahr gerät, an Hoffnungs- und Wahnlosigkeit der Erkenntnisse zugrunde zu gehn ( alle Erkenntnis ist Niederschlag einer Enttäuschung!), da wird unser Fortlebenkönnen abhängig von der Frage, ob wir genug Lebenskraft haben, um neue Ersatzmittel für Lebensdrang und blinden Werdedurst Buddhas bhava-tannā; von Schopenhauer Wille, von Hartmann das Unbewußte, von Bergson évolution créatrice und élan vital genannt. (neuen Trug, neue Rauschsurrogate, neue Wahn- und Blütenträume!) aus uns zu erzeugen. Diese Einblendung (wir nennen sie Wahrheit und Ideal) unterheizt unser Leben nicht anders, als wie Kohle Wärme schafft, wenn Lebens-Wärme zu erlöschen droht.

Und wie die riesigen Kohlen- und Torfflöze der Erde, diese starren Aufspeicherungen gewesenen Lebens alle Frühlinge der Vorwelt in sich aufbewahren, so bewahrt das Geschichte genannte Mausoleum der Wunsch-Anbilder und Wahnformen das längstverschollene Leben und die Frühlinge der Vorgeschlechter, damit sie Wärmequelle werden für das gegenwärtige.


Ist das Täuschung, Trug, Schleier der Maya? Nennt es so! Aber vergeßt nicht, daß Kraft des Lebens sich erfüllt mit der Fähigkeit, die allgemach das Leben bindende Erkenntnis immer neu in erkenntnisfremdes Element aufzulösen.

§ 89. Die Bewußtsein-hintan-haltenden Kräfte.

›Nimm dem Menschen Hoffnung und Schlaf und du machst aus ihm das elendeste aller Geschöpfe.‹

Kant.

Indem wir den Gesamtvorgang einer Geschichte als Aufblühn und Abblühn einer endlichen Lebenskraft anschauen, bekommt der hohe Besitz von ›Kultur‹, ihr Anwachsen an geistigen Werten und die Erweiterung ihres Reiches menschlicher Bewußtseinswirklichkeit ein noch nie bemerktes ernstes Gesicht. Wohl rühmen wir uns des Geistes und seiner Werte. Wohl sind wir stolz auf diese selbstgeschaffene zweite Natur. Und dennoch unterströmt unseren Stolz leiser Schauer, jenem gleich, den der Wissende verspürt, wenn die blauen Eisfelder an den Polen der Erde, von denen gesagt wird, daß sie nach 21 000 Jahren die Oberfläche des Erdballs neuerdings übergletschern werden, nach jedem Erdumlauf um eine unscheinbare Spanne gewachsen sind. ...

Da Geschichte der Menschen, (vergleichbar dem natürlichen Prozeß der Energie-Umwandlung), als eine nicht mehr umkehrbare, einseitig gerichtete (›irreversible‹) Entwicklung zu Bewußtseinswirklichkeit hin zu betrachten ist, so enthüllt sich das denkendgewordene Leben und die Welt der Bewußtseinsinhalte als – Sackgasse.

Damit erst werden Erscheinungen begreiflich, welche unerklärlich wären, wenn Denken und Erkennen ursprüngliche Äußerung des Lebens und nicht gleichsam Ersatz und Entgelt für Leben bildeten. Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 323 f. Intellektualisierung der psychischen Energie. Der Lärm. Eine Studie über die Geräusche unsres Lebens. Kap. I Psychologie der Betäubung.

Die rätselhafte Dummheit und Dumpfheit geschichtlichen Geschehens, seine ungeheure Sinnlosigkeit, ja Sinnwidrigkeit, das Pflichtgebot des Lebens: ›Möglichst wenig denken‹, das allgemeine Mißtrauen, ja die Verschwörung wider das wache Licht des Geistes, all das, was dem wägenden Betrachter das Geständnis abnötigt, daß noch nie ›Vernunft‹ auf Erden Lebensmacht gewesen ist, all das wird erst verständlich, wenn wir die nebengeordnete, sozusagen krankhafte Natur des Bewußtseins und sein Widerspiel zum Lebenselement klar erfaßten.

Soviel man auch vom künftigem Siege der Vernunft, dem kommendem Reiche des Geistes auf Erden träumen mag, nie wird, solange die Erde kreist, ihr durchaus triebhaftes Wesen vernünftig werden, es sei denn, daß das Menschengeschlecht, ein Endziel setzend, Leben in den Dienst der Aufhebung von Leben zwingen sollte.

Der äußere Anblick einer Welt voller Ausgeglichenheit scheint freilich Lüge zu zeihen die Überzeugung, daß hinter allen Scheinordnungen der Bewußtseinswirklichkeit das unausschöpfliche Chaos lauere. Aber abgesehen davon, daß alle Vorrichtungen der Vernunft sehr wohl im geheimen Dienste dieses Vernunftwidrigen stehen könnten, verführt die Tatsache, daß wir Wert und Vernunft, dank deren allein wir uns selbst erhalten, dringlich nötig haben, zu dem falschen Schlusse, was für die Schätzung das Wichtigste am Leben ist, auch für das Wesen des Lebens selber zu halten.

Immer erwies der Mensch sich geneigt, diejenigen Eigenschaften, die er festzuhalten bestrebt sein mußte, für den Kern der Welt anzusehen.

So verfällt er der Täuschung, sich für ein Vernunftwesen, ja sogar eine Macht hinter der Welt für vernünftig zu halten.

Es könnte aber sein, daß der ausschätzende Mensch nur an eine notwendige Täuschung sich anklammert und Vernünftigkeit der eignen Natur vorspiegeln muß, um dank solcher Täuschung ein Ideal der Ordnung in unendlicher Annäherung verwirklichen zu können.


Es ist, als ob in den dunklen Massen ferne Ahnung davon dämmere, daß die Verlockung zu Bildung und Aufklärung sie hineintreibe in wachsende Entnüchterung und Entzauberung, bis Bewußtwerdung in Logik und Ethik das Leben gleichsam vergletschern macht.

Darum fordert der Mensch zuerst und vor allem über Wahrheit und Wachheit hinweggetäuscht zu werden.

Er liebt und bewundert den Verklärer und tötet die Aufklärer. Er vergöttert die großen Schwermacher der Weltschau und verachtet ihre Vereinfacher. Er gewinnt hundertmal lieber eine Verzückung als ein Urteil. Denn das wache, abbauende Wissen droht – den Tod.

Das gesamte Leben der Geschichte durchpulst der Hang nach Bewußtseinsersparnis. Nie wird wissend bewirkt, was triebhaft gewirkt werden kann. Und wo notgedrungen der Weg zur Bewußtheit eingeschlagen wurde, tritt auch schon das Bestreben in Kraft, das bewußt Geschehende mechanisch werden zu lassen. Am liebsten möchte der Mensch seine Welt in eine von instinktivierter Gewohnheit und heiliger Überlieferung fraglos geregelte kosmische Maschinerie umwandeln. Denn wir sind durchaus nicht-gedanklichen Wesens; und nur darum, weil wir es nötig haben, halten wir uns für ›intellektuell‹.

Wie der Hase unter allen Tieren das gehetzteste ist, so ist das wache Licht von einer allgemeinen Lebensverschwörung umlauert, überall gehaßt und unwillkommen, wofern es sich nicht in den Dienst der irrationalen Gewalt, also in eine untergeordnete Glut- und Wärmequelle zurückverwandeln läßt. »Menschen, Hunde, Wölfe, Lüchse, – Katzen, Marder, Wiesel, Füchse, – Adler, Uhu, Raben, Krähen, – jeder Habicht, den wir sehen, Elstern auch nicht zu vergessen, – alles, alles will ihn fressen.«

Der religiöse, metaphysische, künstlerische, mystische Mensch, der Schöngeist, der Gelehrte, jeder versichert, daß er ›anti-intellektualistisch‹ sei, und doch ist diese Versicherung ganz unnötig, da wissende Urteilskraft das letzte ist, was die Erde hervorbringt, ungleich seltener als alle Mächte des Lebens und der Phantasie und schließlich nichts als ein flüchtiges Hervorleuchten schwachen Lichtstrahls aus undurchdringlichen Nebeln des Vorbewußten.

Die Träume einer jeden Nacht, die vollständige Hilflosigkeit, in die das menschliche Denken verfällt, sobald es aus den Geleisen der gewohnten Sachlichkeit und vertrauten Dinglichkeit heraustritt, die Unzulänglichkeit, ja vollkommene Verrücktheit auch der besonnensten Natur unter dem Einfluß körperlicher Wunden, Entbehrungen, Leidenschaften, alles das könnte klar erweisen, daß das urteilende freie Gehirn das zarteste, bedrohteste, seltenste Erzeugnis der Erde ist und daß es keiner Verpönung des ›Intellektualismus‹, ›Nationalismus‹ usw. bedarf, weil ein solcher nie etwas anderes sein kann als – Selbsttäuschung.

So wirken illusionschaffende, bewußtsein-hintan-haltende Mächte, (von Alkohol und Lärm, Nikotin und Haschisch, von den großen Rauschmitteln der Sinne bis hinan zu verfeinerten Rauschmitteln der Bewußtheit selber, bis hinan zu Musik und Dichtung, Religion, Mystik und allen schönen Kräften hohen Wahnsinns und erhabenen Rausches), um das schwere Ende des Todes im Wissen (Buddhas ›letzter Tod, cetovimutti) Jahrtausende hintanzuhalten. Auf die Untergründe der von Wachheit entbundenen Gewalt deutet die verwundersame Erfahrung, daß grade die lebensdünnen Typen die Blässe der Kultur daran offenbaren, daß sie versichern, ›anti-intellektualistisch‹ zu sein.

Ja man könnte schließlich die gesamte Kulturwelt, ihre rastlose Arbeit, ihre Aufspeicherung von Werten, ihre Pflichten und Sitten, Zerstreuungen und Genüsse als eine riesige Vorrichtung zur Erkenntnis-Verlangsamung und -übertäubung auffassen. Das wache Licht, das ist der Feind. Oder wie ein Dichter sagt: ›Das Denken ist das Gräßlichste.‹ In runden Zahlen ausgedrückt, kostete der sogenannte Weltkrieg, welcher von 1914 bis 1918 etwa 10 Millionen Menschen dahinraffte, dem Menschengeschlechte in jeder Sekunde seiner Dauer 6000 Mark, in jeder Minute eine halbe Million, in jeder Stunde 30 Millionen Mark, mit jedem Tage seiner Dauer gingen Werte von 700 Millionen Mark für die Erde verloren. Mit der Hälfte dieser im wörtlichen Sinn verpulverten Kraft hätte man die Wüste Sahara in einen blühenden Garten verwandeln, den Atlantischen Ozean austrocknen, den Kaukasus abtragen können. Es gäbe keine elenden, keine hungrigen Menschen mehr auf Erden, wenn diese Werte und Kräfte statt in den Dienst der auf Jahrhunderte hinaus wirkenden Selbstzerstörung in den Dienst der Vernunft gestellt worden wären. Aber im Jahre 1930 werden die Historiker beweisen, daß das alles ›historisch notwendig‹ war: der große Krieg für die große Revolution, die große Revolution für den großen Krieg; und so ins Unendliche weiter, denn wir Menschen sind – ›intellektuelle Wesen‹.

§ 90. Die Betäubung durch Geschichte.

Erlaßt mir der Geschichte Totenschrein,
Ich will vergessen und vergessen sein.

Wer einen ehrwürdigen Namen eingereiht sieht in Geschichte und nun beobachtet, wie schon durch Zusammenhang und Nachbarschaft, in die jeder eingestellt wird, alle Besonderheit des Wesens vermischt, die Züge des edlen Antlitzes entstellt und jedem Werte seine Lebensfarbe genommen wird, der weiß, daß, wenn die großen Toten der Geschichte auferstehen und sich in diesem Hohlspiegel wiedererkennen könnten, sie entsetzt rufen müßten: Was hat mein Ruhm mit mir zu tun?

Die unergründlichen Unterschiede der Menschen spiegeln sich nicht ohne weiteres in der sachlichen Sphäre der Arbeiten, Taten, Werke, Leistungen, sondern liegen in dem Geistganzen der Lebensschicksale und Lebensgefühle (so daß fast zufällig ist, ob Größe im Praktischen oder Theoretischen, ob als Denker, Dichter, Techniker, Soldat oder sonstwie sich in der Geschichte darlebt). Das echte Interesse kann nur persönlich sein, indem man in Taten und Werken schnell dahinsterbender großer Persönlichkeiten die Lebensspuren und Niederschläge ihrer Seelengeschichte aufsuchen muß; dagegen wird alle Anschauung und Gestalt vertrübt, wenn die geschichtlichen Hinterlassenschaften so behandelt werden, als gelte es nur so schnell als möglich die ›objektiven Resultate‹ einzureihn. Das ist die Unart der Gelehrten! Solch eine Staats-, Kultur-, Geistesgeschichte von Deutschland, England, Rußland usw. verzeichnet viele Tausende Namen ohne Teilnahme am Leben, indem der Historiker sofort auf das ›Objektive‹ sich stürzt als auf den Punkt, wo er mitreden kann, wo es gilt, besser zu wissen, Widersprüche aufzuweisen, zu vergleichen, zu verbessern, gegeneinander auszuspielen.

Geschichte ist daher auf jenen Gebieten am vertrauenswürdigsten, wo das Seelenleben ausgeschaltet werden kann. Kriegsgeschichte und Kriegskunst ist vertrauenswürdiger als Wissenschaftsgeschichte, diese vertrauenswürdiger als Geschichte der Literatur; am zweifelhaftesten ist die Geschichte der Philosophie, weil in ihr die sachliche Leistung nichts anderes als Ausdruck der Größe und Würde eines Menschen ist.

Indem wir von allen Seiten mit Sachlichkeiten: Tatsachen, Leistungen, Kenntnissen, Werken umstellt werden, erstirbt der Mensch und das lebendige Leben. So wird die Historie zur Feindin des Genius und (insofern sie nur sachlicher Natur ist) zum Hemmnis höheren Lebens der Seele. Denn diese ›versteht‹ zuletzt doch nur, wovon sie selber ein Fünkchen in sich trägt und kann wahrhaft richtige Aussagen nur von dem machen, was sie lebendigwirkend liebt.

Wir lesen in Büchern, daß Geschichte der ›gerechte Richter‹ sei! Mit unbarmherziger Folgerichtigkeit zerpflücke sie die falschen Kränze des Ruhms, aber entlohne die ungekrönten Stirnen für die Wege ihrer Lebensmärtyrerschaft. Dieser Glaube an ›historische Gerechtigkeit‹ ist die Illusion, welche der Mensch festhält, weil kein Sterblicher weiterleben möchte, wenn er die ganze Unsinnigkeit und Willkürlichkeit aller der von ihm mitgeschleppten historischen Urteile durchschauen könnte. Es mag freilich in einzelnen Fällen einmal geschehen, daß ein Mozart dem Armengrabe, ein Kleist oder Hölderlin der Nacht seines Irrsinns, ein Schopenhauer oder Nietzsche der Wüste seiner Einsamkeit entsteigt, um vom nachlebendem Geschlechte historisch entschädigt zu werden. Was aber besagen denn diese beseligenden Akte historischer Gerechtigkeit gegenüber den zahllosen und ungezählten Vergessenen, die von vornherein in die Ecke gedrückt, überlärmt und überschrien, durch Armut und Alltag zermürbt, zu ewiger Wirkungslosigkeit verdammt gewesen sind, indes überall die alles könnende, alles leistende glückliche Mittelmäßigkeit unter sich das ausmachte, was die sogenannte Menschheit für ihre Kultur hält. Und sei dem selbst so, daß eine zweifelhafte Nachwelt gerechter sein könnte, als es eine immererbärmliche Mitwelt ist, sei es, daß der Ruhm das Grab erwärmt, tröstet das für den Schmerz des Sichnichterfüllenkönnens? Der Genius sucht auf Erden die Stelle, wo er wurzeln, den Dunstkreis, der ihn tragen kann. Er begehrt Freiheit zu sich selbst; weiter nichts! Wo das verwehrt wird, siecht er hin an geselligen Rück- und Vorsichten. Daß die Geschichte ihn von nachhinein für einen braven Mann erklärt und die Zeitgenossen, die ihn nicht kannten, für Dummköpfe, das tröstet niemanden. Selbstachtung und Selbstwürde sind die einzigen Erträgnisse des Lebens. Der Ruhm der Geschichte ist für seine Eigner wertlos.


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