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Weiter östlich

Zwei Männer im wilden Walde

Ein Gutsbesitzer, der an einem herzhaft rauhen Herbsttage um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den riesigen Wäldern der Umgebung von Lodz jagte und sich dabei gründlich verirrte, setzte sich schließlich müde, verfroren und entmutigt unter einen Baum, um den Morgen heranzuwachen. Die windsausende Wildnis bedrängte ihn mit unheimlichen Stimmen, und er wäre froh gewesen, wenn Frömmigkeit und Aberglaube ihm wenigstens nicht den erleichternden Trost des Fluchens versagt hätten. Als er nun gar noch aus den Zweigen des Baumes ein verdächtiges Krachen vernahm und, aufblickend, im ungewissen Mondlicht einen plumpen Schatten im Geäst gewahrte, stand es bei ihm fest, daß es auf sein Leben abgesehen war. Er nahm seine Flinte und legte an.

Da nun erklang von oben eine zitternde Stimme, die eilig und höflich redete wie folgt: »Mein Herr! Schießen Sie nicht, denn ich bin kein Bär und kein Räuber, sondern, wie Sie, ein verirrter Wanderer. Gestatten Sie mir, mich Ihnen als den Reisevertreter der altrenommierten Weingroßhandlung Stanislaus Brodinsky in Warschau vorzustellen. Ich würde mich glücklich preisen, Ihnen zu gelegener Zeit eine Offerte machen und Ihre geschätzte Bestellung zu den kulantesten Bedingungen effektuieren zu dürfen.«

Ein weißes Blatt flatterte nieder: es war, wie ohne weiteres ersichtlich war, eine säuberlich geschriebene Preisliste. Die höfliche Stimme fuhr fort: »Daß ich hier oben im Baume sitze, erklärt sich daraus, daß ich nicht, wie Sie, über ein Gewehr verfüge. Dagegen habe ich in dem Rucksack, den Sie dort an der Astgabel hängen sehen, ein paar Probeflaschen unserer besten französischen Rotweinmarken.«

»Kommen Sie herunter«, sagte der Gutsbesitzer, »und bringen Sie den Rucksack mit!«

Bald darauf saßen sie eng aneinander geschmiegt am Fuße des Baumes und fanden bei traulichen Gesprächen, männlichen Scherzen und heiteren Liedern die Zeit bis zum Morgen nicht lang.

 

Peter der Große

Der Zweifler

Peter der Große ließ sich auf der Wartburg im Studierzimmer Luthers den berühmten Tintenfleck zeigen, von dem die auf Reiseandenken versessenen Engländer jetzt nur noch ein Loch in der Wand übriggelassen haben. Dort soll, wie man weiß, der streitbare Reformator als »Junker Jörg« sein Tintenfaß wider die Erscheinung des Teufels geschleudert haben. Der skeptische Zar schrieb neben den Fleck die klassischen Worte: »Kann sein, aber die Dinte ist neu.«

Das kleinere Übel

Vor Peter dem Großen erschien angstschlotternd ein Höfling, der aus irgendeinem Grund ein böses Gewissen und deshalb alle Ursache hatte, zu befürchten, daß die Audienz günstigenfalls mit einer gewaltigen Tracht Prügel von Allerhöchster Hand enden würde. Da kam ihm, als sein hilfesuchender Blick das Arbeitszimmer durchstreifte, ein rettender Einfall, da er den Zaren mit seinen leidenschaftlich geliebten chirurgischen Instrumenten hantieren sah.

»Wie siehst du aus?« fragte Peter. »Bist du krank?«

»Majestät«, wimmerte der Ärmste, »ich habe vor Zahnschmerzen die ganze Nacht kein Auge zugetan+…«

»Zahnschmerzen?« Peters düsteres Antlitz strahlte auf. »Zeig her! Welcher ist es? Komm, setz dich! Das werden wir gleich haben.«

Der Delinquent duldete standhaft das in diesem Fall kleinere Übel eines keineswegs schmerzlosen Zahnziehens und sah sich nach vollbrachter Tat von einem gnädig lächelnden Herrscher als geheilt entlassen.

 

Tragikomödie in Wilna

Als der russische General Kutusow – Michail Ilarionowitsch Golenischtschew Kutusow, Fürst Smolenskij – die Niederlage, die ihm Napoleon an der Moskwa bereitete, durch seine Siege bei Tarutino, Malo-Jaroslawez und Smolensk gerächt hatte, zog er auf der grimmigen Verfolgung des Feindes in Wilna ein. Alsbald wurde ihm der Direktor der dortigen Schauspiele gemeldet und trat, da man ihn vorließ, unterwürfig, glatt und geschmeidig lächelnd in Erscheinung.

Er habe, sagte der vielgewandte Mann, sich unterfangen, ein dramatisches Gemälde zur Verherrlichung der glorreichen russischen Armee zu verfassen – ein großartiges, mit geeigneter Musik ausgestattetes und des erhabenen Gegenstandes würdiges Stück; und er bitte untertänigst um die Erlaubnis, es am heutigen Abend in Anwesenheit Seiner Exzellenz und der Offiziere des siegreichen Heeres aufführen zu dürfen.

Kutusow, mächtig, massig, einäugig (das andere Auge hatte er bei der Belagerung von Otschakow verloren), mit nachlässig geöffnetem Waffenrock, lehnte am Tisch und betrachtete den geläufig redenden Herrn mit jener heiteren Aufmerksamkeit, die man einer durch humorige Schöpferlaune hervorgebrachten wunderlichen Kreatur widmet. Dann wischte er den Vorschlag mit einer abschließenden Handbewegung weg.

»Ich verzichte«, sagte er. »Aber ich habe mir erzählen lassen, daß Sie ein ebenso großartiges dramatisches Gemälde zur Verherrlichung der glorreichen französischen Armee verfaßt und zu Ehren des Kaisers Napoleon in Ihrem Theater gespielt haben. Dieses Stück will ich sehen. Sie werden es heute abend vor mir, meinen Offizieren und Soldaten und den vornehmsten Bürgern der Stadt aufführen.« Seine Stimme schwoll zu drohender Stärke. »Sie werden es Wort für Wort so geben wie damals. Wenn Sie etwas weglassen, werden Sie mitsamt Ihren Schauspielern eingesperrt. Und wenn die Aufführung schlecht ist, lasse ich sie so lange wiederholen, bis sie mir gefällt – und sollte es die ganze Nacht dauern.«

Der jammernde Protest des Direktors verhallte, da Kutusows Wink den nachdrücklich drängenden Griff einer Ordonnanz in Tätigkeit gesetzt hatte, auf dem Hausflur.

Am Abend füllte sich das Theater mit den erwartungsvollen russischen Eroberern. Kutusow, von seinem Stabe umgeben, saß mächtig und massig in der Ehrenloge und strahlte in genießerisch ausgekostetem Vergnügen. Neben ihm hockte der unselige Direktor und löste sich angstschlotternd zusehends in seine Bestandteile auf. Die Darsteller, denen der Schweiß durch die Schminke strömte, spielten unter Höllenqualen mit der Todesverachtung, wie sie die Verzweiflung verleiht. Jedesmal, wenn eine schwungvolle Tirade zur Verherrlichung Napoleons und der Franzosen durchs Haus hallte, gab Kutusow das Zeichen: und Gelächter und Beifall donnerten durch das Theater.

»Sie haben mir«, sagte Kutusow am Schluß, als der letzte große Lachanfall über die Apotheose ihn wieder zu Atem kommen ließ, zu den Resten des Direktors, »den seltsamsten Theaterabend aller Zeiten und ein besonders eindrucksvolles Beispiel polnischer Nationaldichtung gezeigt. Da der Kaiser der Franzosen Sie gewiß nicht nach Gebühr belohnt hat, nehmen Sie das da als Zeichen meiner Erkenntlichkeit.« Und der Direktor blieb, zu keinem Wort und keiner Bewegung fähig, mit einem prallen Beutel voll guter russischer Silberrubel in der starren Hand in der leeren Loge zurück.

 


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