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12. Kapitel

Oronta gegen Oronta. – Der Kampf wird entschieden und beendet

Eine Nacht, wie Manuel sie in Concepcion verbrachte, scheint sich unauslöschlich ins Gedächtnis einzubrennen; dennoch erkennen wir später, daß von ihr nur einzelne scharfe Erinnerungsbilder zurückgeblieben sind: Ein Geruch, der zum Fenster hereinweht; ein plötzliches glühendes Erschrecken und eine ebenso jäh aufflammende Hoffnung; Augenblicke der Verzweiflung, der Gleichgültigkeit, eines seltsam lindernden und lösenden Trostes, für den wir kaum eine Begründung wüßten; unser im Licht an der Wand mit uns wandernder Schatten. Ein Versinken in schweren Schlaf und ein erschrockenes Auffahren, das alles für eine kurze Weile Vergessene wieder ins grelle Licht des Bewußtseins reißt.

Manuel vernahm vom Hof her die Stimme des Generals Esmeraldas, Schritte, Befehle, das Zuklappen einer Wagentür; das Scheinwerferlicht des wendenden Wagens streifte das Fenster. Das war nur so zu deuten, daß Esmeraldas ins Kampfgebiet fuhr. Es mußte wohl schlimm stehen, wenn er sich dazu entschloß. Man hatte Manuel eine Lampe gegeben; eine Weile saß er am Tisch und starrte gedankenlos auf die rohe Maserung des Holzes. Er ertappte sich dabei, daß er in ihr Vormarschlinien verfolgte.

Und dann trat er ans Fenster, unwillkürlich, als vermöchte er dort etwas zu sehen – während er doch wußte, daß er nur bleiche Schatten unter dem Sternenhimmel wahrnehmen konnte. Aber er hatte etwas zu hören gemeint, und es bestätigte sich: Fremde Geräusche erfüllten die Nacht. Von fernher klang Maschinengewehrfeuer, das unregelmäßige Geklapper von Infanteriegefechten, darüberher das gröbere, gereizte Geballer leichter Artillerie. Kein Zweifel: Der Umsturz in Nebrador war eine keineswegs belächelnswerte Wirklichkeit geworden. Oronta hatte die Dunkelheit dazu benutzt, um die verwirrende Wirkung seines Losschlagens zu erhöhen. Und Manuel hatte ihm sozusagen die Steigbügel gehalten. Es ist zu befürchten, daß die Bemerkung, die Manuel dazu machte, sich hier in wortgetreuer Übersetzung nicht gut ausnehmen würde.

Der Gefechtslärm schien näherzukommen, verlief sich wieder in die Ferne, erstarb ganz und zuckte schließlich als unregelmäßiges Geflacker da und dort um den Horizont. Manuel wußte, daß der Schall in den Bergen trügt und Fernes näherrücken, Nahes völlig verschlucken kann. Das Fenster saß ziemlich hoch in der Mauer, das Hinausspähen und Hinaushorchen ermüdete.

Manuel streckte sich auf dem Feldbett aus. Draußen auf dem Flur schwatzten pausenlos und aufgeregt die Wachen. Juana fuhr jetzt, wenn der Streich geglückt war, mitten durch das Kampfgebiet. Es war eigentlich erstaunlich, daß man nicht wahnsinnig wurde vor Sorge. Aber man wurde nicht wahnsinnig. Man schleuderte die hastig geöffneten Stiefel von den Füßen, legte den heißen, von schmerzendem Schwindel summenden Kopf auf das harte Kissen und wußte nichts mehr.

Als die Sonne herauf war, erwachte Manuel von einem sonderbaren Geräusch, das er sich zuerst nicht zu deuten vermochte. Es war ein tiefes, orgelndes, rasch anschwellendes Brummen. Er stieg auf einen Schemel, sah zum Fenster hinaus: Der blaugoldene Himmelsraum war erfüllt vom Motorengedröhn eines Flugzeuges. Jetzt kam die Maschine in brausendem Tiefflug über das Tal herangefegt, sie flog ein paar Runden über dem Hauptquartier, als suche sie sich ein Ziel. Plötzlich gab es einen schmetternden Krach; Manuel duckte sich unwillkürlich, Sand sprühte zum Fenster herein. Der Flieger hatte eine leichte Bombe mitten in den weiten Hof gesetzt, säuberlich ins Ziel, sozusagen als Kostprobe und als Beweis dafür, daß er, wenn es ihm gefiel, die ganze wunderschöne Anlage des Generals Esmeraldas in ihre Bestandteile zerlegen konnte. Weiter geschah nichts. Als die Staubwolke sich verzog, war im Sande des Hofes ein ansehnliches Loch, und das Propellergebrumm verklang schon in der Ferne.

Manuel lief zur Tür: Sie war verschlossen. Von den Posten war nichts mehr zu hören; man konnte vermuten, daß ihr Verschwinden mit dem Bombenwurf zusammenhing. Fernsprecherklingeln schrillten, Türen klappten, sporenklingelnde Schritte eilten durch die Korridore. Manuel setzte sich an den Tisch. Es war klar: Wenn Oronta gesiegt hatte – und was sollte ihn daran gehindert haben, zu siegen? –, so mußte der Vorstoß sehr bald schon das Hauptquartier erreichen. Und Juana –? Manuels Hände ballten sich auf dem Tisch krampfhaft zu Fäusten und öffneten sich wieder, er atmete schwer.

Nach etwa einer Stunde wurde der Schlüssel herumgedreht, ein Offizier trat ein, nahm Haltung an. Manuel erhob sich. Es war einer von den hübschen, wohlgenährten, sauberen Generalstabsoffizieren, die vor kurzem noch mit Richtermiene im Saal gesessen und den staubbedeckten gefangenen General Oronta ironisch und voll legitimistischen Abscheus betrachtet hatten. Der Herr lächelte geschmeidig, er bemühte sich, seine schwierige Aufgabe mit gespielter Mühelosigkeit zu erfüllen.

»Exzellenz gestatten: Oberstleutnant de Flores«, sagte er.

»Nehmen Sie Platz, Herr Oberstleutnant.« Manuel deutete auf einen Stuhl.

»Danke gehorsamst.« Der Oberstleutnant legte die Fingerspitzen der gespreizten Hände gegeneinander, die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn wollten nicht recht zu dem Lächeln in seinem etwas feisten Lebemannsgesicht stimmen. »Exzellenz Esmeraldas hatte mir vor seiner Abfahrt an die – äh – Front die besondere Bewachung Ew. Exzellenz anvertraut.«

»Aha.« Manuel nickte. »Und nun sind gewisse Veränderungen eingetreten, die es Ihnen geraten erscheinen lassen, sich mit mir zu unterhalten.«

»Ganz recht, Exzellenz«. Der Oberstleutnant griff sich unbehaglich in den Kragen, faßte einen Entschluß. »Es ist wohl das beste, wenn ich ganz offen rede. Der Befehl lautete, daß Sie, Exzellenz, und Herr Major de Souza sofort zu erschießen seien, wenn die Gefahr bestünde, daß durch einen Vorstoß revolutionärer Verbände auf das Hauptquartier die Herren befreit werden könnten.«

»Also gewissermaßen ein Rollkommando«, sagte Manuel verständnisvoll. »So ungefähr dachte ich es mir.«

Der Oberstleutnant streckte entsetzt abwehrend beide Hände aus. Am kleinen Finger seiner fleischigen Rechten blitzte ein kostbarer Solitär. »Aber nein, Exzellenz, um Gotteswillen. Die Ausführung eines vom Generalstab – von der Mehrheit des Generalstabes gefaßten Beschlusses. Ein dienstlicher Befehl.«

»Wie Sie wollen. Das Ergebnis wäre für uns dasselbe gewesen. Na – und nun wollen Sie mir ankündigen, daß Sie sich zur Ausführung dieses Befehls entschlossen haben? Oder ist die Veränderung der Umstände so gründlich, daß – –«

»Unzweifelhaft, Exzellenz.« Der Oberstleutnant lächelte; es sollte unbefangen aussehen, aber es sah verlegen aus. »Nach den uns vorliegenden – sehr unvollständigen – Nachrichten sind die Truppen Ew. Exzellenz überall im Vordringen; die Verluste der Regierungstruppen waren bedeutend; jetzt finden, scheint es, kaum noch Kämpfe statt. Ob die zur Verteidigung des Hauptquartiers und der Hauptstadt bereitgestellten Verbände überhaupt noch Widerstand leisten werden, erscheint zweifelhaft.«

»Mir persönlich erscheint es eigentlich nicht zweifelhaft, daß sie es nicht tun werden«, sagte Manuel. »Aber sagen Sie: Machen Sie es wirklich von solchen Erwägungen abhängig, ob Sie einen Befehl ausführen oder nicht?«

»Exzellenz«, sagte der Oberstleutnant in so ungezwungen leichtem Ton, daß er vor Anstrengung schwitzte, »der vom Generalstab gefaßte Beschluß war eine rein militärische Maßnahme, mit der wir – schweren Herzens – einer von Exzellenz Esmeraldas betonten zwanghaften Notwendigkeit Rechnung tragen mußten.« Er atmete leichter; der kunstvoll gedrechselte Satz befriedigte ihn. Jetzt ging es glatter. »Der mit dem Beschluß verfolgte militärische Zweck ist ja nun wohl gegenstandslos geworden, da die Lage sich vermutlich nicht wiederherstellen läßt. Was nun den politischen Zweck angeht, so glaube ich sagen zu dürfen, daß die meisten der Herren – ich nehme mich selbst dabei nicht aus – einen solchen dabei nicht im Auge gehabt haben. Wenn das Wohl des Vaterlandes es erfordert und wir ihm die Ruhe wiedergeben können, werden wir bereit sein, den gegebenen Verhältnissen Rechnung zu tragen.«

»Ich kenne das«, nickte Manuel verständnisvoll. »Man nennt das Realpolitik.«

Merkwürdigerweise schien der Oberstleutnant diese Benennung mit Genugtuung zu begrüßen. »Vor allem«, sagte er geläufig, »war der Beschluß wirklich nur ein Ausdruck soldatischer Disziplin und nicht der einer feindseligen Gesinnung gegen Ew. Exzellenz.«

»Ja ja.« Manuel nickte ernst. »Aus solchen Gründen haben wackere Soldaten schon ihre besten Freunde totgeschossen. Aber was wird Exzellenz Esmeraldas sagen, wenn er erfährt, daß die Herren ihre Haltung so eigenmächtig revidiert haben?«

de Flores wagte ein Lächeln. »Wenn man Ew. Exzellenz so hört, könnte man fast glauben, daß Sie unsere – äh – Haltung bedauern –?«

»Nicht doch«, sagte Manuel. »Ich möchte nur gern wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

Der Oberstleutnant senkte ernst den Kopf. »Ein Kraftfahrer, der aus der Gefechtszone – äh – zurückgekommen ist, brachte uns soeben eine Meldung, aus der wir wohl leider entnehmen müssen, daß der Wagen mit Seiner Exzellenz und vieren unserer Kameraden von den gegnerischen Vorhuten abgefangen worden ist.«

»Ach so.« Manuel stand auf und trat vor den Oberstleutnant hin; de Flores sah mit zwinkernden Augen zu diesem unheimlichen Revolutionsgeneral auf, der breitbeinig, die Fäuste in die Rocktaschen gestemmt, den eckigen Kinnbart angreiferisch vorgereckt, vor ihm stand. »Wenn jetzt meine Leute plötzlich hier im Hauptquartier erscheinen sollten« – der Oberstleutnant warf unwillkürlich einen entsetzten Blick zum Fenster –, »so wird es sich zweifellos herausstellen, daß ich hier während der ganzen Zeit von lauter Freunden umgeben gewesen bin. Ihr Helden habt nur nicht gewagt, es mich wissen zu lassen.« Er wandte sich. »Ich möchte jetzt hier heraus. Lassen Sie auch Herrn Major de Souza holen und geben Sie bitte Anweisung, daß uns zunächst einmal ein ordentliches Frühstück vorgesetzt wird. Dann werden wir weitersehen.«

»Bitte sehr, Exzellenz.« de Flores ging zur Tür, ließ Manuel höflich den Vortritt. Sie gingen über den Flur, auf den Raum zu, der früher dem Abt von Concepcion als Empfangs- und Arbeitszimmer gedient hatte. Der Oberstleutnant öffnete die Tür, einige Offiziere, die in nervöser Erwartung am Fenster gestanden hatten, fuhren herum und nahmen Haltung an. Aber Manuel kam nicht dazu, den Raum zu betreten; er verhielt in jäher Erstarrung den Schritt.

Man hatte den Herren im Hause nicht mitgeteilt, daß eine starke Abteilung orontistischer Kraftfahrer als Vorhut der Angriffsspitze die Sicherungen des Hauptquartiers durchstoßen hatte und in den Ort eingedrungen war: Denn diese Sicherungen hatten keinen Schuß abgefeuert, und was an Truppen im Hauptquartier noch vorhanden war, bezeugte durch sofortige Niederlegung der Waffen seine friedliebende Gesinnung und ging einhellig zur Rolle wohlwollend neugieriger Zuschauer über. Die Kraftfahrer und die beiden ihnen folgenden großen Kraftwagen waren in wenigen Sekunden vorm Klostergebäude angelangt, und alle Ein- und Ausgänge wurden besetzt. Es war ein wirksames und glänzend durchgeführtes Husarenstück, und der Wachthabende, dem die Augen aus dem Kopf kamen, der aber den Oberstleutnant de Flores an Geistesgegenwart und Anpassungsfähigkeit womöglich noch übertraf, ließ kurz entschlossen vor den aussteigenden Insassen der beiden Wagen präsentieren. Dann zuckte er die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. Er glaubte sich zu der Annahme berechtigt, daß eine tätige Teilnahme an den revolutionären Ereignissen von ihm nicht mehr gefordert werden würde. Das erwies sich als richtig.

Die im Zimmer befindlichen Offiziere drängten ohne Innehaltung der Rangordnung an Manuel vorüber nach draußen. Überall klappten Türen auf, und die militärischen Häupter der bisherigen Ordnungsmacht gaben sich gar keine Mühe, den sichtbaren Ausdruck ihrer Verblüffung und Ratlosigkeit zu mildern.

Durch den dämmerigen Flur kam eine Anzahl von Herren, Staubmäntel über den Uniformen, rasch und mit dem lauten, sicheren Schritt von Leuten, die sich als siegreiche Eroberer fühlen und keinen Anlaß sehen, weshalb sie das nicht mit allem ihnen möglichen Nachdruck betonen sollen. Oberstleutnant de Flores, ermutigt durch den bisherigen Erfolg seiner rednerischen Begabung, wollte eben vortreten und durch eine vermittelnde Ansprache die Krise abfangen, als ihm schon das erste Wort im Halse stecken blieb. Der erste der Herren, ein schwerer, breitschultriger Mann, hatte die Sonnenschutzbrille abgenommen und war der Generalleutnant Oronta. Zug um Zug der Generalleutnant Oronta.

Die Blicke des bedauernswerten Oberstleutnants irrten zu dem Manne, der regungslos, mit gekreuzten Armen, den Ankömmlingen entgegensah, ein seltsames, undeutbares Lächeln um die Lippen. Hier begab sich ein toller Spuk, eine unerklärliche, unfaßbare Erscheinung. Am hellen Tage, im Hauptquartier Concepcion, bei strahlendem Sonnenschein und in Gegenwart vieler Zeugen. Diese Zeugen aber starrten mit derselben entsetzten Verblüffung auf die gedoppelte Erscheinung. Denn auch der Mann dort an der Tür war Generalleutnant Oronta. Zug um Zug der Generalleutnant Oronta.

Bei den Herren, die im Gefolge Orontas kamen, schien das Erstaunen nicht geringer. Auch sie standen stumm und ratlos. Nur einer von ihnen beobachtete den Vorgang kühl, mit einer fast ironischen Aufmerksamkeit: Oberstleutnant del Vecchio, der Adjutant. Er schien nicht geneigt, in den Gang der Ereignisse irgendwie einzugreifen. Sein schmales, braunes Gesicht war unbewegt wie immer, sein Einglas flimmerte.

Es erging dem Generalleutnant Maximine Oronta, der seinen Kampf gewonnen hatte und nun der Diktator von Nebrador war, seltsam in dieser entscheidenden Minute. Er hatte diesen anmaßenden Tramp, diesen ausgedienten Doppelgänger wegblasen wollen wie ein lästiges Insekt. Man kann ein solches Insekt mit einem Schlage der flachen Hand vernichten – man kann aber auch großmütig sein und ihm sein kümmerliches kleines Leben lassen. Also würde man diesem Manuel die Maske herunterreißen und ihn wieder zum Tramp machen. Später würde man ihn in aller Stille abschieben. Seinen Dienst hatte er getan, und gefährlich konnte er nicht mehr werden. Den Diktator Oronta aber würde das beifällige, belustigte Gelächter der Welt für den trefflich ausgedachten Streich, die witzige und nützliche Komödie belohnen. Es war eine Steigerung, eine Würze des Sieges, und er kostete sie aus.

Unter dem ruhigen, festen, klaren Blick seines Doppelgängers aber wurde Oronta von einer sonderbaren Schwäche befallen. In diesem Blick war etwas wie gelassene Verachtung, wie eine überlegene Kraft. Das war plötzlich keine Komödie mehr, der man mit einem einzigen Satz, einem einzigen Griff der Faust ein Ende machen konnte. Das Spiegelbild, der selbstgeschaffene Schatten hatte ein gespenstisches und doch sehr wirkliches Eigenleben bekommen. Es war, als hätte es sich mit dem Blute des Urbildes vollgesogen, von seinen Kräften genährt. Oronta spürte eine wunderliche zitternde Schwäche in den Knien. Er hatte in diesen Tagen des Eingesperrtseins, der mühsam gebändigten Ungeduld unmäßig getrunken: er hatte häufiger als sonst nach der kleinen flachen Dose gegriffen, die der lächelnde Mr. Johnson ihm bereitwillig füllte. Die Anspannung und Schlaflosigkeit dieser Nacht, die Fahrt durch die Hitze, das kühle Dämmerlicht dieses Korridors – es wirkte vieles zusammen, um den General Oronta in dieser Minute mit einer Anwandlung von Schwäche zu lähmen, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Ihm wurde heiß unter den Blicken der verblüfften Zeugen. Mit einer heftigen Bewegung riß er Staubmantel und Kappe ab und schleuderte sie zu Boden.

Und dann, mit einem harten Ruck, bekam er sich wieder in die Gewalt.

»Aha«, sagte er. »Da ist er ja. Mit dem Herrn da möchte ich mich mal eine Minute unter vier Augen unterhalten.« Es klang höhnisch, aber seine Stimme war rauh und heiser.

Manuel trat stumm ins Zimmer zurück, Oronta folgte ihm und schmetterte die Tür hinter sich ins Schloß. Knirschend drehte sich drinnen der verrostete Schlüssel.

Der Adjutant hatte seine aufmerksam beobachtenden Blicke zwischen den beiden Doppelgängern wandern lassen. Einen Augenblick hatte es geschienen, als wollte er rasch noch hinter ihm ins Zimmer treten. Aber er blieb, wie aus plötzlich geändertem Entschluß, stehen, im Rahmen der geschlossenen Tür, unbeweglich. Niemand wagte eine Frage an ihn zu richten, obwohl alle spürten, daß er der einzige Wissende war. Sein schmales braunes Gesicht war eine starre Maske, sein Einglas flimmerte kalt und abweisend. Er sah, trotz Nachtfahrt und Staub, gepflegt und untadelig elegant aus wie immer. Man vermochte nicht zu sagen, ob es Absicht war – aber er stand da, als wollte er die Entscheidung, die drinnen im Zimmer fiel, vor fremdem Eingreifen bewachen.

 

Enrique Urbina nahm die Schutzbrille ab, wischte sich mit dem Handrücken über das gerötete, staubbedeckte Gesicht und stellte den Motor ab, der klopfend und unregelmäßig lief. Es war ein Wunder, daß er die Fahrt durchgehalten hatte. Es war überhaupt ein Wunder, daß die Geschichte gut gegangen war. Das hatte wirklich nur ein Mann schaffen können, der in diesem gesegneten Lande jeden Termitenhügel kannte – und der obendrein ein sagenhaftes, ein geradezu unverschämtes Glück hatte. Der padre würde es nicht nötig haben, erzieherische Maßnahmen gegen seinen Sohn zu treffen.

»Sie können nicht weiterfahren«, sagte der Unteroffizier von der Kraftradabteilung. »Bevor ich keine Anweisungen habe, lasse ich niemanden durch.«

Urbina sah sich um. Überall in der Dorfstraße, in den Höfen und auf den Feldern standen die Soldaten der Besatzung, waffenlos, und teilten ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Vorgang auf der Straße, und dem Nationalgericht, das sie emsig und friedfertig aus Blechnäpfen löffelten: Maisbrei mit Pfefferschoten. Und überall an den Wegen entlang hatten die Kraftradfahrer Posten bezogen, grimmig und mit betonter Entschlossenheit, ihre Karabiner schußfertig in den Händen.

»Was ist denn los?« fragte Juana mit mühsam beherrschter Stimme.

»Unsere Vorhuten haben das Hauptquartier besetzt«, antwortete der Unteroffizier mit hörbarem Stolz. »Weitere Abteilungen müssen jeden Augenblick eintreffen. Die Revolution hat gesiegt. General Oronta ist im Stabsgebäude.«

»Oronta –!« Es klang wie ein Schrei. Juana öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen.

»Ich muß sofort – – Großer Gott, ich muß sehen, was – –« Sie schien taumeln zu wollen, fing sich wieder, wendete sich an den Unteroffizier: »Ich bin auf besonderen Befehl des Generals Oronta hierhergebracht worden. Wir sind die ganze Nacht gefahren.«

»Die Señora kann natürlich in den Ort gehen. Aber ob ich auch den Señor –«

»Ich komme besser allein durch«, sagte sie hastig. Sie gab Enrique die Hand. »Haben Sie Dank – und warten Sie hier – – Sie hören von mir – –« Und sie lief davon. Enrique Urbina sah ihr nach, besorgt und ein wenig ratlos. Wenn er geahnt hätte, wie es um sie stand, wäre er nicht zurückgeblieben.

»Kann ich etwas für Sie tun, Señor?« fragte der Unteroffizier höflich.

»Wasser brauche ich«, sagte Enrique. »Schatten. Und ein Frühstück. Und ein Bett. Oder eine Bank.«

»Dort drüben ist eine taberna, Señor.«

»Danke.« Enrique zog sich den Gürtel hoch, schüttelte den Kopf. Er hatte sich das anders gedacht.

Langsam und müde schlenderte er zur Schenke hinüber.

 

Mr. Stephens war so ergriffen, daß er seines Klemmers erst nach einer verzweifelten Jagd durch das halbe Direktionszimmer des Bankhauses Atkinson & Wineman wieder habhaft werden konnte.

»God bless my soul«, sagte er ehrfürchtig, »was für eine story!«

Mr. Wineman hatte, wie das in müßigen Augenblicken die Gewohnheit dieses rastlos tätigen Mannes war, sorgsam und liebevoll seine sämtlichen Bleistifte gespitzt und ordnete sie nun nach der Größe.

»Der Herr wird Ihre Seele nicht segnen, wenn Sie die story jetzt schon schreiben«, sagte er trocken. »Damit werden Sie Gott behüte warten, bis der General es Ihnen erlaubt. Spaß versteht er nur, wenn es sein eigener Spaß ist.«

»Und wie wird es nun werden?« fragte Mr. Stephens gespannt.

»Wie soll es werden?« lautete die gelassene Gegenfrage. »Der Trick mit dem Strohmann hat großartig funktioniert, wenn es auch ein gefährlicher Trick war; die Regierung wird über den Haufen gerannt, die Aktion läuft ab, wir haben das Heft in der Hand. Heute werden wir kaufen, die Kurse werden steigen, und Nebrador gehört uns. Also warum fragen Sie, wie es werden soll?«

»Und ich habe nicht einmal ein Interview«, sagte Mr. Stephens traurig. »Er wollte es mir nicht geben. I say, jetzt bringe ich ja auch schon alles durcheinander: das war ja der Falsche.«

»Was beklagen Sie sich?« lächelte Mr. Wineman. »Ihnen ist er ein Interview schuldig geblieben, mit dem Sie nichts hätten anfangen können. Mir bleibt er Geld schuldig, das gutes Geld war. Das sind Geschäftsunkosten. Man muß sie anderswo wieder einbringen. Seien Sie unbesorgt, wir werden schon.«

Mr. Stephens schüttelte den Kopf, nachdem er vorsichtshalber den Klemmer abgenommen hatte.

»Well, ich weiß nicht«, sagte er bedrückt. »Mir gefällt die Geschichte nicht.«

»Und was gefällt Ihnen daran nicht?« fragte Mr. Wineman erstaunt.

»Ich weiß nicht, was mir daran nicht gefällt. Es muß wohl so was wie eine Ahnung sein.« Mr. Stephens starrte düster auf die Spitzen seiner quadratischen Schuhe. »Jedenfalls gefällt sie mir nicht.«

Ein Flugzeug brauste über die Stadt hinweg und nahm Kurs auf den Flugplatz. Die beiden Herren blickten nicht einmal auf.

Sie hätten dem Vorgang mehr Beachtung geschenkt, wenn sie gewußt hätten, wer in diesem Flugzeug saß, und wie der Auftrag lautete, mit dem er nach Esperanza kam.

 

Juana spürte nicht die Hitze, nicht die neugierigen Blicke der Soldaten. Ein blinder und besinnungsloser Trieb jagte sie vorwärts.

Schon von weitem sah sie, daß der Haupteingang des Klosters stark bewacht war. Man hatte sogar ein Maschinengewehr in Stellung gebracht. Sie umging das Gebäude, das sie von früheren Besuchen her kannte, und gelangte über die Höfe zu einem rückwärtigen Eingang. Hier standen nur drei Soldaten, rauchend und gelangweilt: Denn hier gab es nichts zu sehen und nichts zu erleben. Hier gab es nur abgestellte Krafträder zu bewachen.

»Hallo!« sagte einer von ihnen, sichtlich erfreut und angeregt. »Wohin, Señorita?«

»Zum General Oronta!« keuchte sie. »Ich muß ihn sofort sprechen – ich komme aus Esperanza, mit dem Auto – –« Wenn sie mich durchsuchen und die Pistole bei mir finden, ist es aus, dachte sie. Und sie zwang sich, die Hand aus der Manteltasche zu nehmen.

»Sollen wir sie reinlassen?« fragte der Soldat zögernd.

Der zweite war mißtrauisch und unschlüssig, aber der dritte lächelte eindeutig.

»Warum denn nicht? Habt ihr schon mal erlebt, daß der Alte sich vor einer Dame gefürchtet hätte? Eher umgekehrt. Sie wird schon wissen, weshalb sie es so eilig hat.«

Ja, das weiß ich, dachte Juana und war schon an ihnen vorbei im Hause.

Als sie, noch geblendet vom Übergang aus der grellen Sonne in die Dämmerung der Flure, um die Ecke bog, sah sie vor der Tür eines Zimmers eine Anzahl von Offizieren stehen. Sie erkannte den Adjutanten del Vecchio. Es gelang ihr, eine Tür zu öffnen, bevor man sie gesehen hatte. Sie stand im Speisesaal. Dort drüben mußte das Arbeitszimmer des Abtes sein; und drinnen – sie ahnte, sie wußte es – fiel in diesen Sekunden die Entscheidung. Es mußte doch einen Zugang geben? Ja: Ihr verzweifelt suchender Blick fand in der Täfelung eine schmale, kaum erkennbare Tür. Stolpernd vor Hast lief sie hinüber und drückte auf die Klinke.

Die Tür war unverschlossen.

 

Heiter und mit behäbigem Wohlwollen blickte der letzte Abt von Concepcion – man hatte sein mit viel gutem Willen und Farbenfreude gemaltes Bildnis pietätvoll an seinem Wandplatz gelassen – aus seinem üppigen Goldrahmen auf den gedoppelten Eroberer Nebradors nieder, als vermöchte er, wenn ihm die Gabe der Rede verliehen wäre, auch diese schwierige Lage mit einem milden Wort kirchlicher Diplomatie zu meistern. Den Beweis dafür mußte er freilich schuldig bleiben.

Man preßt eine ungeheure Fülle von Gedanken in solche Sekunden zusammen.

So also sieht er aus, dachte Oronta. Ich mußte ihn einmal ganz ohne Zeugen sehen, um ihn loszuwerden und abzutun. Kann es so etwas von Ähnlichkeit geben? Ein gefährliches Spiel der Natur. So bin ich auch einmal gewesen – jünger, kraftvoller, geschmeidiger. Aber damals war ich ein Nichts – wie der da vor ein paar Tagen noch. Heute bin ich der unumschränkte Herr von Nebrador. Und dieser Manuel, dieser viel zu junge, viel zu kräftige, viel zu kluge Doppelgänger muß weg, muß spurlos verschwinden.

Ein furchtbares Spiegelbild, dachte Manuel – so, als vermöchte man Jahre des Lebens zu überspringen und in einem Augenblick der Entschleierung einem verwandelten und verfallenden Selbst gegenüberzutreten. Ein Zerrbild – vergröbert und entstellt. Warum hat uns das Schicksal zusammengebracht, warum mußte ich in sein Leben hineinwachsen und es überflügeln? Nur um jetzt von ihm zerschmettert zu werden? Ich stehe noch im Beginn; er hat, ohne es zu wissen, den Scheitelpunkt schon überschritten. Kann das der Wille des Schicksals sein – ein solcher Ausgang?

»So«, sagte Oronta abschließend. »Jetzt weiß ich also, wie du aussiehst. Recht gut; viel zu gut. Und viel zu begabt. Alles ausspionieren, mir meine Revolution stehlen, mit meiner – mit der Baronesa ins Bett gehen und mich so ganz nebenbei über die Klinge springen lassen, he? Es wird Zeit, daß wir Schluß machen. Jetzt wirst du wieder zum Landstreicher gemacht, mein Junge, und diesmal endgültig.«

Manuel trat einen Schritt zurück.

»Und was wird mit der Baronesa de Carvalho?« fragte er ruhig.

»Ach so.« Oronta lachte polternd auf. »Du meinst wohl, die kriegst du als Reisezehrung? Nein. Die Dame behalte ich mir als Nachtisch vor.« Und er griff nach Manuel, um ihm die Achselstücke abzureißen.

In diesem Augenblick traf ihn Manuels geballte Faust am Kinn. Er taumelte rückwärts, fing sich im Stürzen mit der Linken an der Tischkante, riß die Pistole aus der Tasche und schoß.

Eine Sekunde lang war Manuel betäubt vom schmetternden Feuerschlag. Er spürte einen stechenden Schmerz an der Stirn, Blut lief ins linke Auge und blendete es. Jetzt kommt der zweite Schuß, dachte er, – oder ist es schon der dritte? – der vierte? – und dann ist es aus. Seine Hand krallte sich um eine Stuhllehne, er schwankte, das Zimmer kreiste um ihn.

Aber er stürzte nicht. Mit ungeheurer Willensanstrengung zwang er sich zum Sehen: Und er sah, daß Oronta plötzlich in den Knien einknickte, einen hilflosen Griff in die Luft tat – die Pistole entfiel seiner Hand –, mit dröhnendem Krach zu Boden stürzte und regungslos liegenblieb.

Manuels Blick irrte durch den Raum: Dort, an der Wand, neben einer offenen Tür, stand Juana. Sie lehnte sich an die Täfelung, bleich, mit geschlossenen Augen. In der herabhängenden Hand hielt sie eine Pistole. Sie hatte den General Oronta erschossen.

In Augenblicken, in denen sich die Spannung und Entscheidung eines ganzen Lebensschicksals ballt und entlädt, können wir es erleben, daß wir wie mit einem gewaltigen und unfaßbar schnellen Ruck allem Zweifel, aller Beklemmung, aller Unsicherheit entrissen sind. Wir begreifen, was wir sonst vielleicht in Stunden und Tagen nicht begriffen hätten, wir nehmen, was uns im nüchternen Alltag unfaßbar schiene, wie ein phantastischer Traum, ohne Zögern als faßbare Wirklichkeit; wir entschließen uns und handeln mit einer Klarheit und Sicherheit, die uns als höherer Wille zum Ziele trägt.

Mit langen Schritten, die wie federnde Sprünge waren, stand Manuel an Juanas Seite, umfaßte sie, ließ sie in einen Sessel gleiten. Die Pistole nahm er ihr aus der Hand.

Sie sah zu ihm auf, ihre Lider zitterten, zwei schwere Tränen lösten sich aus ihren Augen und zogen eine Spur durch den Staub auf ihren Wangen; aber sie versuchte ein tapferes Lächeln.

»Nicht ich«, sagte sie leise. »Die Mastado – –«

»Ich weiß«. Manuel preßte sie einen Augenblick an sich, ganz fest, mit einem Glücksgefühl, das so jäh und heftig wie ein Schmerz war. »Sei ganz ruhig, ich weiß es ja.«

Schläge dröhnten gegen die Tür, sie bog sich bebend und krachend in der Füllung. Manuel ging hinüber, drehte den Schlüssel um, öffnete. Dann trat er an den Tisch zurück und sah den hereinstürzenden Offizieren entgegen: del Vecchio, den anderen Herren vom Stabe Orontas, den zögernden und verstörten Stabsoffizieren des Generals Esmeraldas. Wahrhaftig, da war auch de Souza – ein endlich befreiter, von Wut und Tatendurst dampfender de Souza.

»Meine Herren«, sagte Manuel laut, mit klarer, ruhiger Stimme, »ich möchte Ihnen den Vorgang erklären. Ich habe mich genötigt gesehen, den Mann da drüben niederzuschießen.«

Oberstleutnant de Flores, der einen Augenblick neben Oronta gekniet hatte, erhob sich. »Er ist tot«, sagte er.

Manuel nickte und warf die Pistole auf den Tisch. Mit einem Taschentuch wischte er sich das aus der Stirnwunde quellende Blut aus dem Auge, preßte das Tuch mit einer ungeduldigen Bewegung gegen die Schramme. »Er war ein Landstreicher, der mir zufällig ähnelte, und wir ließen ihn an meiner Stelle öffentlich auftreten, um mir die ungestörte Vorbereitung meines Planes zu sichern. Der Mann versuchte mir meine Revolution zu stehlen und wurde an meiner Stelle gefangengenommen. Hier im Zimmer, als er sein Spiel verloren sah, griff er mich an. Das Weitere wissen Sie – oder vielmehr: Sie sehen es.«

de Souza trat auf Manuel zu, seine Augen strahlten, sein ganzes redliches knebelbärtiges Gesicht leuchtete. Ja, das war sein General, sein geliebter General. Und er hatte gesiegt.

»Exzellenz sind verwundet?« fragte er besorgt.

»Eine Schramme, nichts weiter.« Manuel lachte – er vermochte wirklich zu lachen. Hatte Oronta ihn nicht sozusagen mit eigener Hand in der neuen Gestalt bestätigt? »Das gibt nicht einmal eine neue Narbe, de Souza, das macht nur die alte ein bißchen größer.« Er atmete tief, im Glücksgefühl der Kräfte, die sich drängend in ihm spannten, die ihn lenkten und trugen. Es war wie ein Flug – mit wachsamem Einsatz aller Nerven, aber sicher und stark. Das Schicksal hatte für den Wachsenden und gegen den Niedergehenden entschieden. Mit einem kurzen Blick sah er zum Adjutanten hinüber: del Vecchio stand unbeweglich da, beobachtend, alles erfassend und verzeichnend. Er wartete ab. Mitreißen, dachte Manuel – überrennen und mitreißen.

»Die Herren vom Stabe des Generals Esmeraldas«, sagte er rasch und sicher, »geben ihre Schußwaffen ab und halten sich zu meiner Verfügung. Sie, meine Herren« – er wandte sich an die mit Oronta gekommenen Offiziere – »sorgen dafür, daß unsere Verbände zunächst die gesamten Waffen der in Concepcion befindlichen Regierungstruppen sicherstellen. Die Leute sind bis auf weiteres geschlossen beisammenzuhalten und zu bewachen. Der Vormarsch auf San Isidro ist sodann unverzüglich fortzusetzen.«

Manuel wandte sich: »Herr Major de Souza –?«

»Exzellenz?« de Souza nahm erwartungsvoll Haltung an, das Zusammenschlagen seiner Hacken knallte wie eine kleine Explosion durch den Raum.

»Sie erhalten von mir einen schriftlichen Befehl.« Manuel war schon am Schreibtisch, hatte ein Blatt Papier gefunden, sprach während des Schreibens knapp und scharf weiter. »Sie nehmen eine der auf dem Flugplatz bereitstehenden Maschinen und fliegen sofort nach Esperanza. Dieser Befehl gibt Ihnen unbeschränkte Vollmacht und unterstellt den Generalmajor Dorrego, sowie die gesamten zivilen und militärischen Behörden Ihren Anordnungen. Sie sind nur mir allein verantwortlich und empfangen nur von mir allein Anweisungen.« Er setzte unter das Blatt mit knirschendem Federzug die breite Unterschrift »Oronta« und gab es dem Major. »Sie lassen zunächst alle telefonischen, telegrafischen und drahtlosen Verbindungen mit dem ganzen Lande wiederherstellen, aber bis auf weiteres nur für die dienstliche Befehls- und Nachrichtenübermittlung. In den Städten werden Menschenansammlungen jeder Art untersagt, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang hat sich die Bevölkerung in den Häusern zu halten. Auch die Eisenbahn hat nur Dienstverkehr. Sie haften mir für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung mit allen Mitteln. Die Zeitungen bringen ausschließlich amtliche Mitteilungen in Sonderausgaben. Sie verfügen ferner die sofortige Schließung der Wertpapierbörse, jeder Handel mit Wertpapieren und Devisen, auch von Büro zu Büro, ist untersagt, ebenso die Durchführung schwebender Transaktionen. Die Banken öffnen ihre Schalter lediglich für den täglichen Zahlungsverkehr. Das alles gilt, bis ich andere Anordnungen treffe. Sie erstatten mir heute gegen Abend telefonisch Bericht nach San Isidro.«

Es war lautlos still im Zimmer. Irgend jemand hatte Orontas Leiche mit einem Mantel bedeckt. Manuel sprach weiter:

»Sollte der Kreuzer ›Minnehaha‹ Marinesoldaten gelandet haben, so ist nichts dagegen einzuwenden, daß sie das Generalkonsulat der Korastaaten schützen. Im übrigen aber erklären Sie dem Kommandanten in meinem Auftrage sehr höflich, daß Nebrador als souveräner Staat selbst die Verantwortung für die Sicherheit aller Bewohner, auch der fremden Staatenbürger, trägt und dabei keiner Unterstützung bedarf. Wir haben uns verstanden?«

»Jawohl, Exzellenz.«

»Gut.« Manuel reichte ihm die Hand. »Dann danke ich Ihnen, Herr Oberstleutnant.«

de Souzas Gesicht färbte sich dunkelrot vor Überraschung und Stolz; er wollte etwas sagen, schluckte es mit heftigem Ruck hinunter, salutierte krachend, machte kehrt und dröhnte hinaus. Esperanza durfte ernsthaften Ereignissen entgegensehen.

Ein Soldat der Nachrichtenabteilung trat ein, meldete: »Dienstgespräch aus San Isidro, Seine Exzellenz der Herr Staatspräsident.«

»Hierher die Verbindung!« Manuel war schon am Schreibtisch, hatte den Hörer abgenommen.

»Herr Präsident –? Hier ist Oronta. – Jawohl, das Hauptquartier ist von meinen Truppen besetzt, die Kämpfe können als abgeschlossen gelten. – Ich nehme den Rücktritt der Regierung an, Herr Präsident, und übernehme bis auf weiteres die gesamte vollziehende Gewalt in Nebrador. Alles andere werde ich noch heute von San Isidro aus nach Rücksprache mit Ihnen bestimmen. Ich bitte indessen die Regierung, die Ressorts noch bis zu meinem Eintreffen besetzt zu halten und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dafür sind mir die Herren verantwortlich. Geben Sie mit allen verfügbaren Nachrichtenmitteln bekannt, daß die Regierungsgewalt auf mich übergeht, und daß jeder Widerstand sofort einzustellen ist. – Die Abgeordnetenkammer –?« Manuel lächelte flüchtig. »Wenn ich recht unterrichtet bin, sind die Herren bereits freiwillig in die Ferien gegangen. Aber seien Sie unbesorgt, wir werden sie schon wieder zusammenbringen. Ich danke Ihnen, Herr Präsident. Und nun bitte ich Herrn Dr. Rocha an den Apparat.« Manuel griff nach einer Zigarette. Irgendwer gab ihm Feuer. »Herr Dr. Rocha? Ich erinnere Sie an unser Gespräch hier im Hauptquartier. Sie werden mir für eine vertrauensvolle Mitarbeit zur Verfügung stehen, nicht wahr? – Gut. Ich danke Ihnen. Die von Ihnen in Verwahrung genommenen Papiere besitzen Sie ja und kennen den Inhalt; halten Sie sie bereit. Und sorgen Sie bitte dafür, daß mir heute Nachmittag auch der Sender zur Verfügung steht. Ich verlasse mich auf Sie, Herr Dr. Rocha. Auf Wiedersehen.«

Manuel legte den Hörer auf die Gabel. Es gab ein kurzes Schweigen. Seine Augen begegneten dem Blicke Juanas: Es ging wie ein leuchtender Strom von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Dann sahen die beiden, vom gleichen Gedanken getrieben, den Adjutanten an.

Oberstleutnant Alejandro del Vecchio war außer ihnen der einzig Wissende. Er wußte, daß Oronta tot war, daß Manuel Rolle und Macht des Toten übernommen hatte. Er wußte jetzt auch, in welchem Geiste Manuel diese Macht auszuüben gedachte. Die letzten Minuten hatten es ihm gesagt. Von ihm hing es ab, ob die nächsten Sekunden Bestätigung und endgültigen Aufstieg – oder Verwirrung und Absturz bringen würden. Er hielt das Schicksal Manuels, das Schicksal Nebradors in der Hand.

Der Blick des Adjutanten wanderte langsam von dem Mantel, der den toten Oronta bedeckte, zu Manuel, dem Lebenden – prüfend, wägend und gleichsam messend. Dann nahm er das Einglas aus dem Auge, und es war, als hätte er damit eine Maske abgenommen. Mit einem Male schien sein Gesicht jünger, weicher und seltsam entspannt. Er verneigte sich vor Juana, gemessen, sehr höflich, wie mit ritterlicher Anerkennung. Auch sie neigte den Kopf, ein Lächeln leuchtete auf in ihrem Gesicht. Schon aber saß das flimmernde Glas wieder an seinem Platze, er nahm dienstliche Haltung an, leise klirrten beim Zusammenrücken der Hacken die silbernen Sporen, in der straffen Stimme schwang die Kraft eines großen Entschlusses.

»Dann befehlen Exzellenz also den sofortigen Aufbruch nach San Isidro?«

Ein tiefer Atemzug dehnte Manuels Brust. Nun hatte alles seine Bestätigung und seinen Sinn. Das letzte Hindernis war gefallen. Das Tor war ihm aufgetan. Die Arbeit konnte beginnen.

»Jawohl«, sagte er. »Ich befehle den sofortigen Aufbruch nach San Isidro.«

*

Dies ist, unverbürgten Berichten nacherzählt und eigenwillig ausgedeutet, die Geschichte von Manuel, dem Namenlosen, der die Lumpen des Landstreichers abwarf und die Gestalt eines anderen anlegte, sie erfüllte, begriff, überwuchs und in eine gewandelte Zukunft emporriß. Es ist die Geschichte des Landes Nebrador, dessen sich die in dieser Welt ewige Zunft der Beutejäger bemächtigen wollte, und das Manuel sich eroberte, um es zu retten.

Man findet das Schicksal Nebradors im Buche der Historie nicht verzeichnet; und wenn Zweifelsüchtige nicht glauben wollen, daß ein Mensch unter solchen Umständen in Hülle und Wesen eines anderen schlüpfen könne, so können wir nur auf Manuels Lehrsatz hindeuten, der sich an uns allen täglich als wahr erweist: daß das Unwahrscheinliche möglich sei.

Im übrigen: Was ist ein Name? Er gilt erst durch die Leistung, mit der er sich verknüpft. Und an das Gesetz und die Möglichkeit der Leistung müssen wir glauben, wenn wir leben wollen.

 


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