Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Professor – Die Parade – Das Zimmermädchen Der Generalleutnant Oronta – Und das ›Grand Hotel Esperanza‹ abends
Der Adjutant, der einen Vortrag über das Verhalten eines Generals gegenüber seinem Kriegsminister bei Gelegenheit einer Truppenparade hielt, hatte an Manuel einen schlechten Zuhörer. Es war Manuel völlig gleichgültig, ob der Herr Minister von ihm und von der Truppe einen guten oder einen unvorteilhaften Eindruck bekam. Die anfängliche, ein wenig naive Freude am Wohlleben und an der sonderbaren Maskerade war einer verbissenen Spannung gewichen. Er hatte schlecht geschlafen. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn man ihn mit seiner Ottomane, seinen Büchern über Nebrador und seinen Gedanken allein gelassen hätte. Oh, es gab so vieles zum Nachdenken. Zum Beispiel die Frage, was wohl die Baronesa Juana bewog, mit dem einstmaligen Viehhirten und jetzigen General Oronta Freundschaft – Freundschaft? – zu halten; was sie innerlich über ihn dachte; und was sie sagen würde, wenn sie wüßte, daß man ihr jetzt einen aufgelesenen Tramp – aber immerhin einen Schullehrerssohn! – als Double verabfolgte. Diese Fragen waren Manuel keineswegs gleichgültig. Es war ihm klar, daß sein häufiges Auffahren in dieser Nacht, daß die quälende Unrast seiner Nerven und seines Blutes von seiner tollkühnen Unternehmung in der Halle herrührten. Er wußte auch durchaus, was es bedeutete, daß ihm eine rote Welle in die Augen schoß und er die Nägel in die Handflächen grub, wenn er an die Baronesa dachte.
Mr. Johnson, der beim Überholen der Stirnnarbe ein wenig die Haut verletzte, hatte sich einen Anpfiff geholt, daß ihm die Schlitzaugen übergingen und er vor Staunen über den von ihm hergestellten General erstarrte; und Herr Dr. Mazzini, der lächelnd einen Pflichtbesuch machte, sah sich kopfschüttelnd in Ungnade verabschiedet, weil er auf Befragen über die Krankheitsstatistik in Nebrador wenig zu sagen wußte. Er hatte sich nie darum gekümmert; ihm genügte es, daß es in den zahlungsfähigen Kreisen an lohnenden Behandlungsmöglichkeiten jeder Art nicht fehlte.
Nun, der Vortrag ging schließlich zu Ende, und Oberstleutnant del Vecchio bekam ein wenig beiläufig die Versicherung, daß die Sache schon richtig von Stapel gehen würde. Dabei besichtigte Manuel eingehend den eingelegten Griff des von der Ordonnanz bereitgelegten Galadegens, der wirklich ein sehr schönes Stück war.
»Übrigens,« sagte er plötzlich, »ich möchte Geld haben!«
»Geld –?« Der Adjutant hob mit leichtem Erstaunen die Brauen.
»Ja. Eine Brieftasche mit Geld. Für unvorhergesehene Auslagen.«
»Verzeihung,« wandte del Vecchio ein, »– aber Exzellenz brauchen doch hier im Hotel – –«
»– nicht zu bezahlen. Ich weiß.« Manuel lächelte. »Das wäre ja auch noch schöner. Aber ich finde es nicht angängig, den Militärgouverneur von Esperanza so – bargeldlos herumlaufen zu lassen, daß er nicht einmal – zum Beispiel einen Blumenstrauß oder eine Schachtel Konfekt kaufen kann. Er wird Ihnen schon nicht mit der Kasse durchbrennen.«
Der Adjutant hatte ein ganz leichtes Zucken um die Mundwinkel.
»Ich werde Ew. Exzellenz heute Mittag das Gewünschte überreichen,« sagte er.
Der Tischfernsprecher summte. Der Adjutant nahm die Meldung entgegen.
»Ein Professor – wie war der Name? – Gesenius wünscht Ew. Exzellenz seine Aufwartung zu machen«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung, wer das ist.«
»Aber ich,« sagte Manuel. »Und zwar aus den Zeitungen. Er ist der Leiter der Expedition, die kürzlich aus dem Quellgebiet des Rio Verde zurückgekehrt ist. Ich lasse den Herrn bitten.«
»Wollen Exzellenz wirklich –?« Der Adjutant sah unbehaglich aus.
»Ja. Ich habe Ihnen zuliebe allerlei Leute empfangen, die mich nichts angingen; jetzt möchte ich auch einmal einen Besucher haben, der mich interessiert.«
Del Vecchio zuckte die Achseln. Ihm konnte es schließlich gleich sein. »Exzellenz lassen bitten,« sagte er in den Apparat.
Manuel hatte sich von einem deutschen Professor bisher nur die Vorstellung gemacht, die ihm manche Karikaturen in amerikanischen Zeitschriften vermittelt hatten. Er erwartete einen breitbrüstigen Teutonen mit einem rauschenden blonden Vollbart und einer goldgefaßten Brille. Professor Egbert Gesenius, Privatdozent an der Universität in Frankfurt, sah anders aus. Ein behender, fast hagerer, glattrasierter Herr mit einem ruhigen, selbstbewußten Gesicht betrat das Zimmer; die schmale, scharf und gebogen vorspringende Nase zeugte von ungewöhnlicher Energie; wenn nicht sein glatt zurückgekämmtes aschblondes Haar von grauen Strähnen durchzogen gewesen wäre, hätte man ihn ebensogut für Mitte Dreißig wie für Mitte Fünfzig halten können. Seltsam hob sich von diesem hellen Haar das von der Tropensonne rotbraun gebrannte Gesicht ab. Seine grauen Augen blickten kühl und stetig, aber ein paar feine Fältchen in den Augenwinkeln zeugten davon, daß er nicht ohne Humor war.
»Ich habe von der Erkrankung Ew. Exzellenz vernommen,« sagte der Professor in tadellosem Spanisch, als die Vorstellung erledigt war und die drei Herren Platz genommen hatten, »und bitte deshalb um Verzeihung wegen meines Eindringens. Aber ich habe nur eine kurze Bitte vorzutragen, die Ew. Exzellenz Zeit nicht lange in Anspruch nehmen wird. Nur – die Sache ist eben dringlich.«
Manuel stellte sich mit einer höflich auffordernden Handbewegung zur Verfügung.
»Exzellenz werden vielleicht wissen,« fuhr der Besucher fort, »daß ich von meiner soeben beendeten Expedition in die Urwälder eine große Ausbeute an wertvollem und bisher unbekanntem Material mitgebracht habe. Eine Auswahl davon habe ich dem Herrn Staatspräsidenten überreicht. Das übrige soll in den nächsten Tagen an Bord der ›Estrella de Lisboa‹ gebracht werden, um von Portugal aus nach Deutschland zu kommen.« Er lächelte gewinnend; das Spiel der feinen Fältchen in den Augenwinkeln ließ seltsamerweise sein Gesicht jünger erscheinen. »Ich habe nun an Ew. Exzellenz die Bitte um eine schriftliche Anweisung, die mir die reibungslose Abwicklung der Verladung gewährleistet.«
Manuel warf einen hilflosen Blick auf den Adjutanten; der aber schien nicht geneigt, sich einzumischen.
»Wenn ich die Zeitungen richtig verstanden habe,« sagte Manuel zögernd, »hat die Regierung in San Isidro Ihre Unternehmung sehr gefördert. Wozu brauchen Sie da noch einen Geleitschein?«
Das Lächeln des Besuchers verstärkte sich. »Wie ich bereits bemerkte, haben die Sammlungen einen hohen Wert – zum Teil auch im Material. Gewisse – ähem – Anzeichen legen mir die Vermutung nahe, daß für die Sicherheit in Esperanza weniger der Wunsch der Regierung als die persönliche Gewährleistung Ew. Exzellenz bürgt.«
Manuel lachte; er lachte so herzlich, daß der Adjutant entrüstet die Säbelquaste zu mißhandeln begann. »Einen so liebenswürdig und diplomatisch vorgebrachten Wunsch kann man nicht abschlagen. Wir wollen Ihnen das gewünschte Papier ausstellen und die Verladung durch ein Sonderkommando der Polizei überwachen lassen.«
»Sehr wohl.« Der Adjutant, der diesen Satz mit Recht als Anordnung aufgefaßt hatte, war wütend.
»Dann habe ich Ew. Exzellenz nur noch für so viel Verständnis und Entgegenkommen aufrichtig zu danken.« Der Besucher erhob sich.
»Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben?« fragte Manuel mit einem plötzlichen Entschluß. »Ich möchte mir gern noch etwas über Ihre Expedition erzählen lassen.«
»Mit besonderem Vergnügen, Exzellenz.« Der Professor konnte ein leichtes Staunen nicht ganz verbergen.
»Ich bitte Exzellenz gehorsamst, mich zu beurlauben.« Das Einglas des Adjutanten flimmerte böse. »Die Vorbereitungen für den Empfang – –«
Manuel nickte. Die silbernen Sporen klappten klirrend zusammen und klingelten über den Teppich davon.
»Herr Professor,« sagte Manuel, als die Herren sich wieder gesetzt hatten und die Zigaretten brannten, »ich muß Sie um Verzeihung bitten. Über Ihre Forschungsreise werden Sie mir hoffentlich ein andermal etwas berichten. Heute liegt mir daran, Ihre Meinung über das Land Nebrador und seine – Zustände zu erfahren. – Wenn Sie nichts dagegen haben«, fügte er rasch und fast verlegen hinzu.
Professor Gesenius betrachtete sein Gegenüber mit einer ganz unverhohlenen Überraschung. Dieser Revolutionsgeneral wirkte wohl etwas jugendlicher und weniger brutal, als er ihn sich gedacht hatte, aber das Gesamtbild – die muskulöse, breitschultrige Gestalt, die starken Fäuste, die durch den gestutzten Bart und die rote Stirnnarbe betonte rücksichtslose Energie des Gesichtes – entsprachen ganz der Vorstellung. Die panterhafte Geschmeidigkeit der Bewegungen verriet gebändigte Sprungkraft. Und dieser aventurero, dessen Vergangenheit und Absicht bekannt waren, verlangte von ihm, dem immerhin landfremden Gelehrten, einen Vortrag über sein künftiges Reich! Der Professor betupfte seine Stirn mit dem Taschentuch und griff nach dem Glase mit dem Eistoddy. Er war auf solche Überraschungen in Nebrador nicht mehr gefaßt gewesen.
»Wenn ich recht unterrichtet bin,« sagte er diplomatisch, »so bilden doch wohl die Zustände in Nebrador Anlaß und Voraussetzung für die Absichten Ew. Exzellenz. Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen unter diesen Umständen wirklich etwas Neues erzählen kann. Aber Sie haben vielleicht einen besonderen Grund –?«
»Ja,« sagte Manuel. »Mein Vater war ein spanischer Lehrer, meine Mutter war eine Deutsche. Das liegt freilich weit zurück. Aber –«
»Ach so.« Das Lächeln des Professors vertiefte sich, aber es war nichts mehr von Ironie darin. »Das sind ja allerdings drei gute Gründe auf einmal.« Er hob freimütig den Blick. Sein Mißtrauen schwand. Hier konnte vielleicht Ehrlichkeit Gutes stiften. »Ihr Vertrauen ehrt mich, Exzellenz, und ich hoffe, daß ich es nicht enttäusche. Das ist mir umso wichtiger, als ich jetzt zum ersten Male einen Einblick in die wirklichen Beweggründe Ihres Handelns erhalte. Was ich über Nebrador weiß, ist allerdings zum großen Teil nicht auf meinem eigenen Acker gewachsen. Mein Assistent Dr. Krell ist Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker und hat während unserer langen Reise Gelegenheit genug gehabt, mir seine Beobachtungen mitzuteilen.«
»Dann stammt von ihm wohl auch die Idee mit dem Sicherheitspapier?« fragte Manuel.
Der Professor lachte laut: »Nein, doch nicht. Diesen Einfall hatte ich bereits, als mir nach der Ankunft in Nebrador gewisse Gebrauchsgegenstände weggenommen wurden. Offenbar von Fachleuten. Die Auswahl verriet entschieden Sachkenntnis.« Er wurde ernst und sprach sehr bedachtsam. »Es ist davon auszugehen, daß das Land in drei Teile zerfällt: Den Urwald jenseits der Berge, das spanische Kernland diesseits der Berge und die Stadt Esperanza mit ihrem weiten Umland – ich zähle dazu auch die kleineren Hafen- und Landstädte – in der Ebene. Das Urwald- und Dschungelgebiet ist zum großen Teil noch unerforscht und als Ganzes noch unerschlossen. Das spanische Kernland ist ein schönes, ein wunderbar schönes Beispiel alter Kultur – aber es ist im Tiefsten unfruchtbar und unschöpferisch geworden. Der tropische Küstenstrich ist ein gärender und brodelnder Herd der Unruhe. Es ist klar, daß von ihm die Kräfte und Bewegungen ausgehen, die das Antlitz des Landes verändern.«
Der Professor war aufgestanden; er sprach rascher und lebendiger.
»In diesem Lande, Exzellenz, muß alles noch getan werden. Alles. Ent- und Bewässerung. Urbarmachung. Verbesserung und Vervielfältigung der Verkehrswege. Bodenkultur. Erschließung der Bodenschätze. Organisation der Rohstoffe. Modernisierung und soziale Durchbildung der Landwirtschaft. Siedlungspolitik. Soziale Gesetzgebung. Aufbau des Bildungswesens. Schaffung einer Industrie. Lenkung der Währung, der Finanzpolitik, der Ein- und Ausfuhr. Ausgestaltung der Häfen. Aufbau eines Gesundheitswesens. Es ist ja alles nur in Ansätzen vorhanden. Aber eine unermeßliche Fülle des Reichtums drängt zur Erschließung. Das spüren Sie, nicht wahr?«
»Ja,« sagte Manuel.
Professor Gesenius merkte wohl gar nicht, daß er ins Dozieren kam. Er sprach rasch, lebendig, aber planvoll und klar. »Man pflegt, wenn eine Krise akut geworden ist, in diesen Breitengraden eine Revolution zu machen. Mit viel Temperament, Lärm und Hitze – aber meist mit wenig Ergebnis. Zumeist kommt nichts anderes dabei heraus, als daß das Land noch gründlicher in das Ausbeutungsnetz fremder Geldgeber geraten ist und neue Nutznießer die alten ersetzen. In Europa empfindet man diese Vorgänge als operettenhaft. Das ist eine oberflächliche Betrachtungsweise, die nach Äußerlichkeiten urteilt. Ich kenne Sie, Exzellenz, Ihre geheimen Gedanken und Pläne nicht. Aber ich glaube zu spüren, daß Sie doch wohl nicht zu den bedenkenlosen Nutznießern gehören. Verzeihen Sie – ich war in Nebrador auf höhere Beweggründe nicht gefaßt. Wenn Sie aus dem ungeordneten und gärenden Menschenhaufen, der dieses Land bevölkert, eine Nation machen wollen, so haben Sie sich eine ungeheure Aufgabe gestellt.«
»Dominguez«, sagte Manuel aus tiefsten Gedanken heraus.
»Ganz recht – Dominguez. Ich bin über ihn unterrichtet. Es war ein großer Anlauf, aber dabei ist es geblieben. Sehen Sie sich das Volk in Nebrador an. Die begüterten, überfeinerten oder übersättigten, zum guten Teil auch durch Stagnation entwerteten Nachfahren jener Spanier, die sich dereinst des Landes bemächtigt haben: Es wird eine gewaltige Anstrengung kosten, aus ihnen wieder Funken und Feuer zu schlagen. Die braunen Heloten, Abkömmlinge einstmals freier Indianer – nur dem Namen nach vollberechtigte Staatsbürger, in Wahrheit Sklaven, verseucht, faul, trunksüchtig, arm, bigott, unwissend. Dumpf in ihr Schicksal ergeben – aber vielleicht eines Tages, in einer fähigen Hand, eine mächtige Waffe zum Guten oder zum Bösen. Und endlich hier, an der Küste, das bunte Gewirr der Mischlinge oder Zugewanderten, der Hungrigen, des Mobs in den Slums, der Spieler und Abenteurer, der Glücksritter und Parasiten, aber auch der kühlen Rechner und gelassen zuwartenden Ausbeuter. Die nächsten Wochen entscheiden über die Frage, ob die Küste siegt – oder das Land Nebrador.«
»Die Armee wird darüber entscheiden.« Manuel war aufgestanden und wanderte ruhelos durch den Raum; sein Gesicht war tief verschattet von der fast quälenden Anstrengung des Nachdenkens.
»Sie werden darüber entscheiden«, sagte Professor Gesenius. »Die Armee wird tun, was Ihr Wille befiehlt – oder Sie wären nicht der Mann, für den ich Sie halte.«
»Sie sprechen sich sehr deutlich aus.« Manuel war vor seinem Besucher stehengeblieben und blickte angespannt, mit einem Ausdruck grübelnden Staunens in das hagere, kluge, klare Gesicht.
»Ich wurde dazu aufgefordert«, antwortete Professor Gesenius gelassen.
»Und was«, fragte Manuel nach einer Pause, »würden Sie tun, um zu erreichen, daß ein so armes Land wie Nebrador sich aus eigener Kraft erhebt?«
»Ich würde Kapital – auch fremdes – in die Wirtschaft pumpen, aber die Wirtschaft nicht an das Kapital verpfänden. Ich würde Fachleute – auch fremde – ins Land ziehen und strenge Gesetze nicht nur erlassen, sondern auch durchführen. Ich würde tun, was Dominguez tat – aber ich würde es, und sei es mit Gewalt, und sei es mit dem Einsatz meines Lebens, zu Ende bringen. Nebrador ist nicht arm – es ist reich. Es muß und kann sich selber Kredit schaffen. Es gibt an den Universitäten, an den technischen und landwirtschaftlichen Schulen, unter den Gutsbesitzern und in den Handelsfirmen, in den Kanzleien und Fabriken des Landes Leute, die das wissen, deren Können aber bisher niemand praktisch eingesetzt hat. Ich würde mit dem Ausnahmezustand regieren, bis ich dem Wirken dieser Männer freie Bahn geschafft hätte, und bis dahin würde ich mit dem Kapital wirtschaften, das sich in den Händen einer korrupten Schieberschicht, in Winkelbanken und Spielhöllen angesammelt hat.«
»Es lohnt sich«, sagte Manuel zu sich selbst. Er stand abgewandt. Es gab ein langes Schweigen – so lange, daß Professor Gesenius sich schließlich erhob. »Bleiben Sie noch in Nebrador?« fragte Manuel plötzlich.
»Zwei bis drei Wochen, – vielleicht auch länger. Ich möchte noch einige ergänzende Studien machen.«
Manuel streckte dem Besucher die Hand hin.
»Ich danke Ihnen«, sagte er. »Ich habe Ihnen wirklich zu danken. Bitte besuchen Sie mich noch einmal – wenn ich Sie rufen lassen sollte. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie unser Gespräch einstweilen als rein persönlich – ich meine: als vertraulich geführt ansehen würden. Ich habe gute Gründe dafür.«
»Das verstehe ich vollkommen. Ich wünsche Ihnen Erfolg, Exzellenz«, sagte Professor Gesenius. Es klang aufrichtig und herzlich.
Wollen wir wissen, was Manuel dachte, als er nun am Fenster stand und blicklos hinausstarrte? Es ist nicht ganz unwichtig, es zu wissen, wenn man ihn verstehen will.
Er dachte: Der General Oronta hat sich gewiß über alles das kaum jemals Gedanken gemacht. Er will sich die Macht erobern, er will den großen Herrn spielen, seine Geldgeber werden das Geschäft machen, und das Land Nebrador wird die Kosten zahlen.
Warum aber, dachte er, zerbreche ich mir den Kopf über das Schicksal eines Landes, von dem ich noch vor wenigen Tagen nur den Namen kannte? Weil es mich geheimnisvoll anzieht. Weil ein Gefühl mir sagt, daß dies alles nicht nur eine Episode sein kann. Weil ich wie durch Hexerei in wenigen Tagen in diese Rolle hineingewachsen bin, als wäre ich dafür geboren. Und weil ich in diesen Tagen erstaunliche Kenntnisse erworben habe. Der Zufall war von Anfang an mein Verbündeter.
Er dachte: Die Zeit ist kurz. Gegen den anderen bin ich ein Nichts, eine Attrappe. Ich bedeute ihm weniger als eine Puppe. Alle Macht ist auf seiner Seite. Ich hätte, wäre ich – er, vielleicht den besseren Willen, die sauberere Gesinnung. Aber was gilt das hierzulande? Ich bin ja nichts, ich habe mich nie erprobt. Ich stehe ganz allein. Vielleicht würde es ihm nur nützen, wenn die ganze tolle Komödie bekannt wird. Seine Volkstümlichkeit würde ins Ungemessene steigen, und die ganze Welt würde den genialen Spaß belachen. Auch die Baronesa Juana Pereira de Carvalho. Vielleicht würde er mir sogar das Leben schenken, und einen netten Scheck dazu, und ich würde eine Tagesberühmtheit werden. Was also gibt mir das Recht, mich dagegen aufzulehnen – mehr sein zu wollen, als ein – vielleicht – bezahlter Hanswurst? Und mir gar einzureden, ich könnte einen Kampf aufnehmen, der anmuten würde, als ginge man mit den nackten Fäusten einer Kanone zuleibe? Alle Vernunft spricht gegen mich.
Dennoch, dachte er. Es hat sich alles so seltsam gefügt, so unwahrscheinlich, so abenteuerlich und schicksalhaft. Der Außenstehende sähe vielleicht nur eine tolle Filmkomödie vor dem großen Hintergrund eines – eines sozusagen historischen Ereignisses. Für mich aber knistert die Luft von Spannung, von Ahnung, von Geheimnis.
Es gibt keinen Zufall, dachte Manuel.
Seine Exzellenz der Kriegsminister, General Esmeraldas, war ausgesprochen schlechter Laune. Es hatte schon bei der Landung seines Flugzeuges auf dem Militärflugplatz in Esperanza – einer noch sehr entwicklungsfähigen Anlage – begonnen. Der Minister, ein magerer, cholerischer Herr mit einem mißmutig herabhängenden weißen Schnauzbart, fand diese ganze vom Präsidenten gewünschte Inspektionsfahrt sinnlos. Was man ihm nicht zeigen wollte, bekam er ja doch nicht zu sehen, und was er zu sehen bekam, wußte er ohnehin. Er gestattete sich den Luxus, an diese ganze, angeblich bevorstehende Revolution nicht zu glauben; denn nach seiner Lebensphilosophie pflegten Dinge, die jedermann vorhersagte, niemals einzutreffen. Infolgedessen glaubte er an die Loyalitätsbeteuerungen der Garnisonskommandanten, und in seinem Stabe herrschte die vom Chef zur Schau getragene optimistische Stimmung. Natürlich traf man seine Vorbereitungen. Man richtete sich für alle Fälle im Hauptquartier ein. Aber man war nicht geneigt, sich nervös machen zu lassen. Offenbar wollten gewisse Kreise, die den General Oronta vorschoben, den Präsidenten unter Druck setzen. Bueno – das waren politische Sorgen, mit denen sich die Kollegen in Zivil herumschlagen sollten. Wenn jemand merklich muckte, würde man ihm schon auf die Pfoten klopfen.
Es verbesserte die Laune des Ministers nicht, daß der General Oronta sich mit Krankheit entschuldigen ließ, daß man ihm stattdessen den langweiligen und hölzernen Generalmajor Dorrego geschickt hatte, und daß wahrhaftig ein ganzes Bataillon Garde aufgebaut war, dessen Front er auf dem Wege zum Kraftwagen abzuschreiten hatte. Das undurchdringlich suffisante Gesicht des höflichen Oberstleutnants del Vecchio, den er im engsten Kreise ›Monokelfatzke‹ nannte, reizte ihn noch mehr; auch mißfiel es ihm, daß in den Straßen der Stadt ein unwahrscheinliches Aufgebot von Polizei und Guardia Nacional eingesetzt war, während das vielköpfige und vielfarbige Volk von Esperanza sich seinen Kriegsminister völlig stumm und mit einer Art von spöttischer Neugier betrachtete. Hätte er gewußt, daß um die gleiche Zeit Manuel bei der Abfahrt vom ›Grand Hotel Esperanza‹ mit lärmenden Hochrufen begrüßt wurde, so wären ihm vielleicht doch einige Bedenken gekommen.
Auch die Begegnung mit dem General Oronta, der er doch mit einiger Spannung entgegengesehen hatte, brachte keine nennenswerten Überraschungen. Als Manuel auf der Plaza del Estado eintraf, wurde er eingehend besichtigt. General Esmeraldas hatte den Militärgouverneur, der sich so rasch in die vorderste Linie gespielt hatte und ursprünglich das Vertrauen des Präsidenten besaß, immer als einen Eindringling und Emporkömmling angesehen. Er glaubte nicht an die soldatischen Fähigkeiten dieses Polizeigenerals, der die rebellische Küste mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Stiergefechten und Maisbier und gelegentlich mit dem ›kleinen Belagerungszustand‹ regierte. Im Kabinett hatte er immer dafür gestimmt, diesen Oronta einfach abzuberufen, und er begriff nicht, daß der Präsident vor einer solchen Entscheidung zurückschrak. Nun, dem Herrn würde ja ohnehin bald das Geld ausgehen, das angeblich ein verrückter ausländischer Bankier für den ›Haushalt‹ in Esperanza vorschoß.
Er fand Oronta abgemagert, wortkarg und gleichgültig. So pflegt ein Mann, der eine Revolution plant, selbst nach einer kurzen Krankheit eigentlich nicht auszusehen – wenn er nicht etwas enttäuscht und lustlos ist. Während eine Auslese der Truppen, trotz der brüllenden Hitze in leidlicher Haltung, an dem Herrn Minister vorüberparadierte, stand dieser Oronta, auf seinen Säbel gestützt, da und sah aus, als ob er an etwas ganz anderes dächte. Und hinterher bat er knapp und höflich, sich mit Rücksicht auf seinen immer noch leidenden Zustand beurlauben zu dürfen. Acceptado. Die paar Besichtigungen würden auch noch vorübergehen. Hoffentlich war wenigstens das Festessen im Kasino der Süd-Kaserne eine Entschädigung. Auch war Admiral Costemalle, der Befehlshaber der Flotte, ein bewährter Erzähler von Kasinowitzen. Immerhin: Ein verdammter Blödsinn, das Ganze. Esmeraldas pustete wütend durch seinen weißen Schnauzbart. Und die Herren seines Stabes, mitgenommen von der Hitze und ernstlich gelangweit, waren wie immer der Meinung ihres Chefs und machten dementsprechende Gesichter.
Das Volk von Esperanza aber war nach dem Vorbeimarsch seiner Soldaten heimgegangen. Die Veranstaltung hatte damit ihren Reiz verloren. Der Herr Kriegsminister war keine Erscheinung, für deren Anblick man sich einer langen Schwitzkur aussetzte.
Nach der feuchten Tropenhitze in den Straßen war die Dämmerkühle des Hotels eine Wohltat. Jedenfalls empfand Manuel, der in der Glutsonne zweier Kontinente – oder Kontinenthälften – gründlich gedörrt war, sie mit erlöstem Behagen. Er wunderte sich darüber, daß ein paar europäische Herren, die in den Klubsesseln der Halle auf Anregung warteten, sich stöhnend und gottergeben zusehends in ihre Bestandteile auflösten.
Zu seinem Erstaunen war das Vorzimmer leer: Die Ordonnanz hatte die günstige Gelegenheit dazu benutzt, private Angelegenheiten zu regeln. Dagegen fand Manuel im Arbeitszimmer einen Besuch, der die günstige Gelegenheit zu einer ebenso unerlaubten Anwesenheit benutzte. Vor dem Schreibtisch des Generals Oronta stand ein weibliches Wesen, durch die international übliche Berufstracht als Zimmermädchen ausgewiesen, und war ebenso eifrig wie vergeblich bemüht, die Schublade aufzubringen. Das Surren der Ventilatoren hatte das Öffnen und Schließen der Tür übertönt, und der Teppich machte Manuels Schritte unhörbar: Die Besucherin durchblätterte die Schreibmappe, warf sie enttäuscht wieder hin und kniete vor dem Papierkorb nieder, um jeden Fetzen, den er enthielt, genau zu betrachten.
Mit ein paar langen Schritten war Manuel hinter ihr, packte sie an der Schulter und riß sie hoch. Sie kreischte schrill auf und überließ sich, gelähmt von Schreck und Angst, willenlos seinem Griff.
»Du bemühst dich vergeblich, amiguita«, sagte Manuel mit grimmigem Humor. »Es ist dafür gesorgt, daß ihr hier nichts findet.«
»Misericordia, Excelencia«, stammelte das Mädchen. Ihre schwarzen Haare lösten sich und fielen wirr herab, Tränen schossen aus ihren Augen und zogen feuchte Spuren durch den Puder auf ihren runden braunen Wangen; er sah es, als sie den Kopf zur Seite wandte.
»Was mache ich jetzt mit dir?« sagte Manuel und zwang seinen Ton zur Strenge, obwohl ihn ein kaum bezwingliches inneres Gelächter schüttelte. »Soll ich dich erschießen lassen? Oder möchtest du lieber hängen?«
Sie stieß einen rauhen Kehllaut des Entsetzens aus und versuchte sich mit einem blitzschnellen geschmeidigen Ruck zu befreien. Manuels Griff lockerte sich nicht; aber plötzlich, mit einem heißen Erschrecken, fühlte er ihren Körper. Mit sicherem Instinkt witterte sie die Veränderung, die mit ihm vorging. Sie preßte sich an ihn, und ihre runden Schultern drängten sich weich in seine Hände. Als seine Finger, in jähem Krampf, noch fester zupackten, machte sie eine rasche Bewegung. Mit seinen Händen glitt das dünne Kleid von ihren Schultern tief herab, so daß man den Ansatz ihrer festen goldbraunen Brüste sah. Ein fremder, herber Duft, wie Raubtiergeruch, stieg zu ihm auf. Ihm schwindelte.
»Ich will bezahlen, Excelencia«, sagte sie leise, und in ihrer Stimme war eine schwirrende Lockung.
Ein paar Sekunden lang war es vor Manuels Augen wie ein blutroter Nebel, das Surren der Ventilatoren schwoll in seinen Ohren zu donnerndem Rauschen. Sein Blut brandete in wildem Begehren auf aus langer Haft und Einsamkeit. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn so plötzlich ernüchterte. Der Tramp Manuel hätte sich der jäh aufflammenden Begierde überlassen; der General Oronta schob den Körper des Mädchens von sich, so heftig, daß sie in den Schreibtischsessel taumelte und mit fassungslosem Staunen und wiedererwachender Angst zu ihm aufsah. Ihre Hände zogen in unwillkürlicher Bewegung das Kleid wieder hoch. Der General Oronta setzte sich auf die Tischkante und sagte mit einem Lächeln, das gefährlich und grausam war:
»Du bist mir nichts schuldig. Höchstens eine kleine Auskunft. Wer hat dich geschickt, amiguita?«
Aus ihren dunklen, etwas schräggestellten Augen – welcher Blutkreuzung mochte sie ihr Dasein verdanken? – begannen wieder Tränen zu fließen, aber sie gab den Kampf noch nicht auf. Mit einer scheinbar absichtslosen Bewegung zog sie ihren knappsitzenden Rock herauf, um eine gänzlich ungehinderte Betrachtung ihrer wohlgeformten Beine zu ermöglichen.
»Wenn du nicht antwortest«, sagte Manuel ungerührt, »lasse ich dich verhaften und wegen Spionage aburteilen.«
»Ich soll – ich soll alle Papiere bringen, die ich hier finde.« Es war ein kaum vernehmliches Gestammel. Ihre vollen Lippen zitterten. Und dann kam ein komischer kleiner Seufzer: »Aber ich habe keine gefunden. Er sagte, es wäre ganz einfach.«
Manuel lächelte. Die phantasievolle Voraussicht des Oberstleutnants del Vecchio hatte also wieder einmal ihre Frucht getragen. »Er ist dein Auftraggeber, nicht wahr? Wer ist es?« Als sie schwieg, legte Manuel mit unmißverständlicher Drohung die Hand auf den Fernsprechhörer.
»Ich will es sagen«, rief sie angstvoll. »Der Zimmerkellner Esteban.«
»Und wie kommst du zu diesem Vertrauensposten bei ihm?«
»Ich bin seine Braut«, sagte sie naiv.
»Meinen herzlichsten Glückwunsch.« Manuel lachte. »Dann mußt du ihm natürlich gehorchen. Das Weib sei dem Manne untertan. Ist er aber auch damit einverstanden, daß du mit deiner reizenden Persönlichkeit das Lösegeld bezahlst, wenn es schief geht?«
Sie zuckte die Achseln, verständnislos. »Arbeit ist Arbeit.«
»Na schön. Und in wessen Diensten steht der tüchtige Ehrenmann Esteban? Antworte!«
»Ich weiß es nicht«, versicherte sie. »Bei der Heiligen Jungfrau, ich weiß es nicht.«
»Aber ich weiß es. Nur – – –« Manuel überlegte. »Hör zu. Du wirst deinem Esteban kein Wort davon sagen, daß ich dich hier erwischt habe. Wenn ich erfahre, daß du geplappert hast, drehe ich euch allen beiden den Hals um. Du wirst von jetzt ab von meinem Geheimdienst beobachtet. Verstanden?«
Sie nickte. »Ich – ich sage kein Wort. Bei der Madonna, ich – –«
»Dann verschwinde!«
Einen Augenblick starrte sie ihn ungläubig an. Dann zog sie sich mit einer gleitenden Bewegung aus dem Sessel hoch und war in der nächsten Sekunde aus dem Zimmer.
Als Manuel, erfrischt von einer kalten Dusche, umgekleidet und belebt, in einem bequemen Sessel auf das Essen wartete, mußte er sich selbst belächeln. Er hatte wieder einmal General gespielt. Warum? Maske und Uniform begannen sich anscheinend selbständig zu machen und ihn von außen her zu verwandeln. Nun – vielleicht war es gut, über den Zimmerkellner Esteban unterrichtet zu sein. Vielleicht war es gut, einen Mann zu wissen, über den man Gewalt haben konnte, wenn man nur wollte; der sich fügen und jedem Befehl gehorchen mußte, weil es um seinen Hals ging. Wer in diesem Höllenkessel keinen Menschen besaß, der ihm auch nur mit einem Gedanken zugetan war, wenn die Entscheidung kam, war vielleicht glücklich zu preisen, eine Kreatur zu besitzen, die er wie eine Puppe nach seinem Willen tanzen lassen konnte.
Und dann holte sich Manuel Bücher und begann zu lesen. Er spürte die Hitze nicht, er dachte nicht darüber nach, ob sein Beginnen und Bemühen sinnlos war. Ihn hatte ein übermächtiges Verlangen gepackt, zu wissen, zu erkennen, sehend zu werden auf seinem blinden Gang ins Ungewisse. Nie zuvor war ihm Gelesenes so lebendig geworden. Aus den pochenden Adern der Erde von Nebrador sah er die Wasser brechen und Kraft werden – noch ungebändigte, ungenutzte Kraft. In den Massen des Gesteins, in verborgenen Schächten lagen Schätze an Gold, Silber, Kupfer, Zinn und Eisenerzen und warteten auf den Zauberstab, der sie erschloß. In fetter schwarzer Erde war die ungeheure Macht des Öls gestaut. In den Wäldern stand, Stamm an Stamm, das kostbare Holz, lief der klebrige Gummisaft durch die Adern der Bäume. Weithin dehnten sich die Hazienden und sehnten sich danach, reichere Ernten zu tragen an Mais, Zuckerrohr, Kaffee und Baumwolle. Das Land unter der glühenden Sonne und den schwimmenden Güssen des Tropenregens war wie ein von Ohnmacht gefesselter Leib, dem die Parasiten immer gerade nur so viel Blut und Kraft entzogen, daß er nicht starb. ›Mañana‹ sagten sie, ›morgen‹, und ein ›trabajito‹ suchten sie sich, eine ›kleine Arbeit‹, bei der man möglichst wenig ins Schwitzen kam. Wer den schlafenden Leib wecken und seine Kräfte losbinden und dienstbar machen wollte, mußte die Kunst eines Zauberers, die umfassende Klugheit eines Genies und die brutale Faust eines tyrannischen Desperados besitzen. Aber auch ein menschliches Herz.
Manuel sah mit großen Augen zur Decke empor. Aber vor seinem Blick drängten sich die Bilder und Gestalten. Er dachte nicht mehr an sich selbst, an seine seltsame und hoffnungslose Lage. Er träumte einen schöpferischen Traum.
Auf dem Schreibtisch stand ein leuchtender Drache aus mattgelblichem Glase. Sein mit gefährlichen Zähnen bewehrter Rachen war weit aufgesperrt, und seine Augen glühten rot. Aber er spie kein Feuer, sondern er verzehrte Rauch. Denn er war ein moderner Drache und durch einen Steckkontakt an die Lichtleitung angeschlossen. Generalleutnant Oronta sah mit gefurchter Stirn und verkniffenen Augen zu, wie der blaue Zigarettenqualm in dünnen ziehenden Schwaden in dem unersättlichen Drachenmaul verschwand.
In dem Raum, der, tief eingeschachtelt im Termitenbau des Mr. Johnson, dem Militärgouverneur während seiner freiwilligen Haft als Arbeitszimmer diente, war nichts gespart. Er war eine erstaunliche Vereinigung von überlieferter ostasiatischer Kultur und neuzeitlicher Bequemlichkeit. Teppiche, Divane, Matten, Kissen, Bilder, Lackarbeiten und Ampeln waren von erlesenem Geschmack und hohem Wert. Mr. Johnson hatte Geld und wußte es anzulegen. Ganz in der Stille und sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Aber es war ihm eine Ehre, den General zu beherbergen und ihm den Aufenthalt behaglich zu machen. Er war verschwiegen, denn auch er war auf Verschwiegenheit angewiesen. Er war nicht billig, aber er leistete etwas für gutes Geld. Küche und Keller brauchten einen Vergleich mit Mr. Easthams Luxushotel nicht zu scheuen. Auch bei ihm surrten planvoll angelegte Ventilatoren; und er verstand bei Tisch zu bedienen wie Mr. Easthams Oberkellner. Es war vorauszusehen, daß sein Plan, sich mit einer ersparten Million als Großrentner in Florida niederzulassen, gelingen würde. Wir stehen nicht an, zu verraten, daß Mr. Johnsons Ersparnisse weniger im Betrieb seines Barbierladens als beim Handel mit gewissen rauscherzeugenden Genußmitteln anfielen, die in Nebrador seit Dominguez verboten waren. Dieser Handel war nicht schwierig, wenn man die nötigen Verbindungen besaß. Nicht ganz so leicht war es, die zuständigen nebradorianischen Beamten um ihren Gewinnanteil zu betrügen. Aber Mr. Johnson hatte sich auch darin eine beträchtliche Fähigkeit erworben.
General Oronta hatte den Kragen seiner leichten Litewka nachlässig geöffnet. Er rauchte hastig, seine starken Hände waren ruhelos, und aus der Röte seines Gesichtes durfte man schließen, daß der kleine Eisschrank in der Wand die Whiskyflasche häufiger hergeben mußte als den Siphon mit dem Sodawasser. Das Eingesperrtsein bekam Seiner Exzellenz nicht. Die gelbgehefteten Romane, die über Divan und Teppich verstreut lagen, zeigten Spuren einer recht lieblosen Behandlung.
»Ich bitte Ew. Exzellenz, zu bedenken – – –«
Oronta machte eine gereizte Handbewegung. »Tun Sie mir den einzigen Gefallen, del Vecchio, und seien Sie zwanglos. Trinken Sie einen Schnaps, rauchen Sie und reden Sie wie ein Mensch. Ich fliege sonst vor Ihren sehenden Augen in die Luft!«
»Gehorsamsten Dank.« Der Adjutant lockerte seine Haltung, schlug ein Bein über das andere und bediente sich mit einem Whisky und einer Zigarette. Er hatte jetzt die selbstverständlich überlegenen und zwanglosen Formen, die durch eine Schulung in den vornehmsten Klubs gewonnen werden.
»Ich gebe zu bedenken, daß mein Plan uns bereits erhebliche Vorteile gebracht hat«, sagte er. »Unser Freund Manuel ist zweifellos angelegentlich bespitzelt worden, aber da gab es ja nun wirklich nichts zu entdecken. Und er selber weiß gar nichts. Ich selbst werde aufmerksam überwacht, aber es ist mir nicht schwergefallen, die von mir vorher überlegten Finten und Scheinmanöver durchzuführen.«
»Was hören Sie aus San Isidro?«
»Viel Erheiterndes.« Der Adjutant lehnte sich zurück und lächelte. Sein Einglas glänzte wie ein toter Stein im Ampellicht. »Man ist völlig verblüfft durch das plötzliche und völlige Ausbleiben aller Informationen. Das Kabel des Geheimdienstes ist jäh und gänzlich abgeschnitten. Herr Dr. Rocha soll schon mehrere kostbare Pfunde seines Körpergewichtes eingebüßt haben. Es gibt, berichtet Basurto, in den Kreisen um den Präsidenten Leute, die vermuten, daß die Erkrankung Ew. Exzellenz sozusagen ein Vorwand gewesen sei, um die ganze Aktion abzublasen.«
Oronta lachte. »Sie sind ein Satanskerl«.
»Danke gehorsamst«. Der Adjutant verneigte sich leicht im Sitzen.
»Dieser Basurto – –« sagte Oronta unbehaglich.
Der Adjutant wischte den Einwand mit einer leichten Handbewegung weg. »Eine käufliche Kreatur. Gerissen und gewissenlos, aber ohne Format. Wenn er uns später unbequem wird, lassen wir ihn geräuschlos über Bord gehen.«
»Und Sie sind sicher, daß der Termin geheim geblieben ist?«
»Absolut sicher. Außer uns kennt ihn nur der Chief Manager von Atkinson & Wineman. Die Kommandeure der Armee und Flotte und der Kommandant der ›Minnehaha‹ erfahren ihn zwei Stunden vor dem Losschlagen.«
Oronta trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. »Sie haben es leichter,« knurrte er. »Sie können sich wenigstens bewegen. Ich platze noch in dieser verdammten Chinesenhöhle.« Er trank seinen Whisky aus. »Hören Sie mal,« sagte er und stellte nachdenklich das Glas aus der Hand, »halten Sie die Sache mit der ›Minnehaha‹ wirklich für nötig?«
»Nein. Aber für nützlich.« del Vecchios Lächeln funkelte von genießerischem Spott. »Die Herren von den Korastaaten bilden sich ein, daß sie einen Druck auf uns ausüben können, wenn der Kreuzer eine Abteilung Marinesoldaten landet – Schön; lassen wir sie dabei. Aber wir lassen nachher beim Tauziehen plötzlich los, und dann fallen sie auf den – ähem. Ich habe ein paar Leutchen gemietet, die im Generalkonsulat der Korastaaten zwei, höchstens drei Fensterscheiben einwerfen. Wenn die Abteilung gelandet ist, werden diese Leute spurlos verschwinden, und es wird nichts weiter geschehen. Dafür bürgt die Guardia Nacional. Und damit hängt die ganze Aktion in der Luft. Eine recht ungemütliche Situation für die Herren. Das wird uns bei den Verhandlungen sehr zustatten kommen.«
Oronta lachte laut. Seine Laune besserte sich zusehends. »Nehmen Sie sich in acht, daß ich Ihnen nicht das Außenministerium aufhänge.«
»Ich mochte lieber im Waffenfach bleiben, wenn Exzellenz gestatten«, lächelte der Adjutant höflich. »Wenn ich jetzt berichten darf –?«
»Bitte.«
»Die Herren des Stabes ahnen natürlich nicht, daß im Hotel ein Ersatzgeneral wohnt. Soweit ich feststellen kann, hat niemand die Krankheitsgeschichte irgendwie beargwöhnt. Im übrigen sind ja auch keine neuen Anweisungen ergangen. Es handelt sich immer nur um den Zeitpunkt. Der Operationsplan, den wir mit Dorrego ausgearbeitet haben, bleibt ebenfalls unverändert. Er existiert nur in drei Ausfertigungen: Eine haben Sie, Exzellenz, eine hat Dorrego, eine habe ich.« Er schlug leicht mit der Hand auf seine Aktentasche. »Während der gestrigen Felddienstübung ist es gelungen, die Garnisonen unseres Befehlsbereichs unauffällig durch zuverlässige Verbände zu verstärken. Allen diesen Garnisonen haben wir entsprechende Offiziere und Subalternoffiziere zugeteilt. Diejenigen Herren, die wir für unzuverlässig halten, werden bei Beginn der Aktion einstweilen in Gewahrsam genommen. Die Gefechtsmunition liegt zur Austeilung bereit. Die Propaganda unter den Truppen auch in den Mittelprovinzen ist im vereinbarten Sinne verstärkt worden. Ich glaube also sagen zu dürfen, daß eine ziemlich klare Abgrenzung der Fronten erreicht worden ist. Etwa noch vorhandene Unsicherheiten werden zweifellos durch den Schwung der Aktion überrannt.«
»Ausgezeichnet.« Oronta erhob sich und trat vor eine an der Wand befestigte große Generalstabskarte. »Lassen Sie uns noch einmal in großen Zügen wiederholen. Die in der Süd-Kaserne untergebrachten Truppen, ergänzt durch Verbände der Polizei und der Guardia Nacional, besetzen die Stadt, alle Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, die öffentlichen Gebäude, den Flughafen und die Rundfunkstation. Mannschaften der Kriegsflotte besetzen den Hafen. Die Verbände aus der Nord-Kaserne, vom Truppenübungsplatz und aus San Bonfacio, voran die motorisierten Einheiten, stoßen in drei Keilen vor und nehmen die Verbände aus den Garnisonen auf. Der Bahnverkehr in Richtung auf Esperanza wird gesperrt. Ist das klar?«
»Vollkommen, Exzellenz. Wenn es – wie ich vermute – zu Gefechten mit regierungstreuen Einheiten kommen sollte, sind diese von vornherein in einer hoffnungslosen Lage. Trotzdem ist natürlich mit ernsthaftem Widerstand auf den Paßstraßen zu rechnen.«
»Wir werden ihn brechen,« sagte Oronta. Seine Faust fiel schwer auf den Schreibtisch. »Bald ist es ja soweit.«
»Das Wartenkönnen«, sagte der Adjutant philosophisch, »ist auch eine wichtige soldatische Tugend. Ich habe hier« – er entnahm seiner Aktenmappe eine Anzahl mit der Maschine beschriebener Blätter – »eine Aufstellung derjenigen Militärs, sowie Verwaltungs- und sonstigen einflußreichen Zivilpersonen, die offen gegen uns aufgetreten sind oder als Gegner gelten können.«
»Perfectamente.« Oronta überflog die Listen mit einem grimmigen Lächeln. »Die Leute sind, soweit erreichbar, schnellstens in Haft zu nehmen. Ich werde dafür sorgen, daß sie nichts zu lachen haben. Oder bezweifeln Sie das?«
del Vecchio wollte etwas sagen, zuckte aber kaum merklich die Achseln und schwieg.
»Und der Stand unserer Kasse?« fragte Oronta.
»Zufriedenstellend. Immerhin hat mir Mr. Wineman von Atkinson & Wineman zu verstehen gegeben, daß er froh ist, wenn wir erst aus dem Stadium der Vorbereitungen heraus sind.«
Oronta lächelte sardonisch. »Große Geschäfte erfordern beträchtliche Investierungen. Auch später. Das sollte dieser Mr. Wineman wissen. Umsonst ist der Tod. Das ist der Grund, weshalb diese Herren ihn anderen zu überlassen pflegen. Na – und was macht mein neuer Zwillingsbruder Manuel?«
»Ein sonderbarer Bursche,« antwortete del Vecchio nachdenklich. »Ich habe mir einen Tramp anders vorgestellt. Er ist ein seltsames Gemisch aus Naivität, Fügsamkeit und heller Auffassungsgabe. Er redet wenig, fragt überhaupt nicht und tut mit erstaunlicher schauspielerischer Begabung, was von ihm verlangt wird. Das hat er wohl als Filmstatist gelernt. Es ist sehenswert, mit wie guter Haltung er den kranken General spielt. Alle lassen sich täuschen. Wir haben da einen guten Griff getan.«
»Und was treibt er so den ganzen Tag?«
»Er ißt, trinkt, schläft, repräsentiert und liest.«
»Liest –?« Oronta lächelte dröhnend. »Ein Glück, daß ihn dabei niemand beobachtet, sonst wäre der Schwindel gleich heraus. Mich hat noch niemand lesen sehen.«
»Heute Mittag hat er sich von mir eine Brieftasche mit Geld geben lassen.«
»Was will er denn damit?«
Der Oberstleutnant zuckte die Achseln. »Zum Beispiel der Baronesa kleine Aufmerksamkeiten erweisen, vermutlich.«
»Caramba!« Oronta sprang auf, mit dunkelrotem Gesicht. »Der dreckige Landstreicher soll seine Pfoten von der Baronesa lassen!« brüllte er. »Sie sind mir dafür verantwortlich!«
»Er läßt seine Pfoten von ihr«, sagte del Vecchio ruhig. »Wir können ganz zufrieden sein, daß er den Mut gehabt hat, sich ihr zu stellen. So wird jeder Verdacht vermieden. Ich habe nach einem Beisammensein in der Halle ihr Gesicht beobachtet. Sie sah ziemlich ratlos aus.«
Oronta setzte sich wieder hin. »Bueno«, brummte er. »Und was wollen Sie mit dem Jungen machen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen?«
»Ich habe mir gedacht, daß wir ihn kurz vor dem Losschlagen betäuben und in der Nacht, wenn Exzellenz das Haus verlassen, hierher schaffen. Johnson kann ihn dann zurückverwandeln, wie den Landstreicher im Märchen, der ein paar Tage lang König war. Allerdings wird er ihm auch den Bart abnehmen müssen. Wenn Señor Manuel dann bereit ist, mit einem netten Stück Geld bart- und geräuschlos über die Grenze zu gehen, ist es gut. Macht er Schwierigkeiten, – –« Er zuckte vielsagend die Achseln.
»Warum soviel Umstände mit einem hergelaufenen Tramp?« sagte Oronta grob.
»Erstens schulden wir ihm immerhin beträchtlichen Dank. Und zweitens –« wieder das Schulterheben, diesmal ein wenig melancholisch – »ist er eigentlich ein netter und gescheiter Kerl. Schade um ihn.«
»Sentimental, del Vecchio?!« Orontas Lachen polterte durch den Raum. »Ist Sentimentalität eine soldatische Tugend?«
Hierauf antwortete der Adjutant nicht.
In den Stunden zwischen neun Uhr abends und fünf Uhr früh summte und schwirrte das ›Grand Hotel Esperanza‹ von Leben und Betrieb; wenigstens in seinen unteren Räumen. Und es flammte von vielfarbenem Licht; wenigstens in den Räumen, in denen den Gästen dieses Licht erwünscht war. In der Halle freilich saßen nur wenige Herren von weltmännisch zahlungsfähiger Prägung, die sich in ihren sachlichen und fachlichen Gesprächen nicht gern stören lassen wollten.
Manuel, von Wißbegierde und Unrast getrieben, aber äußerlich ganz zusammengefaßte und energische Ruhe, suchte die Baronesa, fand sie aber nicht: Weder im Speisesaal, noch in der Bar. Die Herren vom Stabe waren offenbar nach dem Liebesmahl im Südkasino hängengeblieben. Ein paar andere Offiziere hielten sich offiziell grüßend und respektvoll fern. Am Bartisch, wo Manuel sich einen Cobbler geben ließ, bildete sich so etwas wie ein luftleerer Raum um ihn, und selbst die Bardamen, sonst zu Scherzen jeden Stärkegrades gern bereit, betrachteten ihn mit zurückhaltender Neugier und schüchterner Achtung. In das Kabarett warf Manuel nur einen Blick. Die etwas ausgefranste Diseuse, die sich mit einem drei Jahre alten Broadway-Schlager und heldenmütiger körperlicher Anstrengung um Verworfenheit bemühte, flößte ihm Schaudern ein. Auch der Tanzraum – vor Manuel öffneten sich mit der geräuschlosen Promptheit arabischer Märchenwelt alle Türen – bot für einen gepflegten Herrn in Generalsuniform keine Anhaltspunkte. Die in dichter Wolke auf ihn eindringenden Düfte waren allzu heftig, die Lichteffekte allzu brünstig, der Lärm der Jazzkapelle allzu anreißerisch, die mit Vorhängen verkleidete Verschwiegenheit der Logen allzu indiskret, und die Hitze allzu barbarisch. Auf der von oben und unten bunt angestrahlten Milchglasfläche schoben sich die Paare in jenen Stellungen und Rhythmen, die ekstatisch verzückte Wildheit und übergekippte Zivilisation kunstvoll verschmelzen: Eine verknäuelte Musterschau aller Hautfarben und Mischungen. Aber man war elegant angezogen, man spielte hier im Hotel mit mehr oder weniger Glück vornehme Lebewelt, und der befrackte Aufpasser, ein titanenhafter Quarteron mit den Kinnbacken eines Preisboxers, fand nur selten Anlaß, bedrohliche Wucherungen mit kundiger Hand einzudämmen. Wer handfestere Belustigungen suchte oder sich von den Begrenzungen im ›Grand Hotel Esperanza‹ erholen wollte, fand dazu Gelegenheit in gewissen ›Tanzcafés‹ und noch unzweifelhafteren Höhlen der Hafengegend. Auch gab es an der unteren Calle de la Paz ein Tanzkabarett ›Paradiso‹, das sich in der Sittengeschichte Esperanzas unvergänglichen Ruhm gesichert hatte.
Anders sah es im Spielsaal aus. Die Zahl der Spieler war nicht groß, aber die Ein- und Umsätze waren beträchtlich. Hier fanden sich Pflanzer ein, deren mehr oder weniger elegante Wagen draußen vor dem Hotel parkten; sie spielten aufgeregt und hoch, und der Erlös mancher Ernte wechselte an solchen Abenden den Besitzer. Die Herren aus der Geschäftswelt suchten Spannung und Anregung; sie setzten großzügig, aber sie brachen sich nicht die Hälse. Ein paar undurchdringliche Abenteurer, die im neuen Nebrador eine Goldader anzuschlagen hofften, hielten sich zäh und mit gespannten Gesichtern an ihre ›Systeme‹, und niemand hätte zu sagen vermocht, ob es für sie nicht um die Bezahlung der nächsten Hotelrechnung ging; einige Exemplare der Jeunesse dorée, von denen man im Notfalle sogar begrenzte Wechsel genommen hätte, kämpften mit heißen Köpfen um ihre Taschengelder; einige reiche und einige rätselhafte Damen taten, als wären sie geradewegs aus Ostende oder Monte Carlo oder Wiesbaden hierhergekommen. Mr. Eastham hatte zwar nur eine Kopie der großen Spielsäle zustandegebracht, aber sie war in Anbetracht der Gegebenheiten nicht einmal schlecht. Und der Chefcroupier am Roulettetisch war sogar eine echte Importe, wenn er auch als freiheitsliebender Mann in die europäischen Länder nicht zurückkehren konnte.
Und hier fand Manuel die Baronesa. Sie trug ein mattgelbes Abendkleid von hinreißender Kühnheit, und ihr einziger Schmuck war ein breites Stirnband, dessen Diamanten bei jeder Bewegung ihres schönen Kopfes bunte Farbenblitze schossen. Schlank und straff, ein Gebilde von edler Vollendung, wuchsen die Linien ihres Rückens aus dem tiefen Ausschnitt, hob sich ihr stolzer Nacken, schimmerten ihre Schultern. Mit lässiger Anmut schichtete sie die Scheine, die ihr der Rechen des Croupiers zuschob, flüchtig zusammen, warf sie ihre Einsätze hinüber, hob sie kurz die Hand, wenn sie einen Gewinn stehen lassen wollte. Ihr Gesicht war streng und kühl, ihre dunklen Augen folgten seltsam unbeteiligt, fast gleichgültig dem Tanz der Kugel, dem Hinüber und Herüber des Geldes. Sie beachtete nicht die Gespräche, die gedämpfte Erregung der Ausrufe rings um den Tisch, die mehr oder minder taktvollen Blicke, die ihr galten, ihre Aufmerksamkeit zu wecken trachteten, heimlich oder offen um sie warben. Nur als Manuel hinter ihren Sessel trat, sah sie auf. Er hatte die Fäuste in die Taschen seines Waffenrockes gestemmt und das Pappmundstück seiner Zigarette zwischen die Zähne geklemmt; er sah sehr stark und selbstbewußt aus, und niemand ahnte, wie unsicher er sich fühlte, und wie abscheulich glatt ihm der dicke silbergraue Teppich vorkam.
Die Baronesa Juana lächelte – freundlich und ein wenig spöttisch.
»Oh, General –? Gestattet Ihnen Ihr Gesundheitszustand nächtliche Abenteuer im Spielsaal?«
Sein Blick folgte dem Tanz der Kugel, so aufmerksam, als wolle er das Geheimnis ergründen, das ihren Lauf bestimmte.
»Mein Arzt hat mir einen Spaziergang vor dem Schlafengehen verordnet«, antwortete er. Ob Señora Mastado wohl auch hier ist? dachte er dabei. Richtig, da saß sie, häkelnd wie immer, auf einem Sessel an der Wand; ihm war es, als träfe ihn der Blick der schwarzen Augen in dem gelben Runzelgesicht wie ein haßvoller Dolchstoß. Rasch wandte er sich wieder dem Tische zu. Ihm wurde plötzlich die Kehle trocken; die Nähe dieser nackten Schultern, die aufreizende Schlankheit der geschmeidigen bräunlichen Arme benahmen ihm den Atem. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.
»Vielleicht ruhen Sie sich ein wenig auf meinem Sessel aus –? Das Schicksal hat mir heute Abend keine größeren Entscheidungen zugedacht.« Sie erhob sich. Der Herr, der ihr gegenüber saß, machte, halb aufstehend, eine tiefe Verneigung.
»Gute Nacht, Señor Wineman.« Ein Lächeln, ein Kopfnicken für Manuel. Sie war gegangen, mit dem raschen, weit ausschwingenden Schritt ihrer hohen Beine. Señora Mastado folgte ihr hastig, und Manuel blieb zurück, da man offenbar seine Begleitung nicht wünschte.
Das also war Mr. Wineman, der Chief Manager von Atkinson & Wineman. Manuel betrachtete ihn, während er sich in den Sessel sinken ließ und, ohne hinzusehen, irgendeine Banknote aus der vom Adjutanten gespendeten juchtenledernen Brieftasche auf Rot setzte. Ein etwas aufgeschwemmtes, gelblich getöntes Gesicht mit schlaffen Backen; ein sorgsam gepflegter, zu den Mundwinkeln hin spitz ausrasierter schwarzer Schnurrbart; schütteres, glatt zurückgestrichenes Grauhaar; farblose Augen mit einem unablässig und ruhelos suchenden Ausdruck. Wenn sie dann ein Ziel gefunden hatten, wurden sie plötzlich scharf und glänzten in einem kalten, harten Blau. Wundervolle Perlen in der Hemdbrust, kostbare Ringe an den langen, etwas klobigen Fingern. Die ganze Erscheinung: Verhältnismäßig gut konservierter älterer Lebemann – der dennoch die Spuren unbestimmter Herkunft nicht ganz austilgen konnte. Manuel fing einen vertraulichen Gruß auf und erwiderte ihn zerstreut. Richtig, ja, den Mann hatte man zu kennen.
Er schrak auf: Offenbar hatte Rot gewonnen. Manuel entschloß sich, Einsatz und Gewinn nochmals auf Rot zu setzen. »Rien ne va plus.« Er verstand nichts von der Sache, und sie war ihm auch gleichgültig: Für den Mann, der in der Maske des Generals Oronta gefangen war, hatten ein paar bedruckte Hunderter- oder Tausenderzettel mehr oder weniger eine geringe Bedeutung. Ihn fesselte jetzt weit mehr das Gesicht da gegenüber, mit den ein wenig hängenden Backen, der geschickt auf Durchschnitt frisierten lebemännischen Glätte und den seltsamen Augen, die gleichsam durch eine Gesichtslarve hindurch ihr beunruhigendes Spiel trieben. Manuels Zähne preßten sich in jäher Wut aufeinander, wenn er an den Ausdruck dachte, mit dem diese Augen der Baronesa gefolgt waren. Jetzt fanden sie ein neues Ziel: Sie beobachteten die überaus merkwürdige Art, mit der sich der General am Roulettespiel beteiligte.
Diese Art verursachte freilich rings um den Tisch wachsende Aufregung. So etwas hatte man in diesem Spielsaal noch nicht erlebt. Der General Oronta setzte, mit sonderbar geistesabwesendem Blick, anscheinend wahllos irgendwelche Beträge von seinem stetig anwachsenden Banknotenhaufen auf irgendwelche Nummern – und gewann meistens. Er ließ zuweilen ein paar Spiele vorübergehen und stieg dann plötzlich wieder ein. Er wählte Felder und Beträge völlig regellos; die ältesten und erfahrensten Systemspieler versuchten vergeblich zu ergründen, nach welchem rechnerischen Geheimverfahren dieser unheimliche General spielte. Eine dicke Kreolin, die neben Manuel saß, berührte heimlich seinen Rockärmel; das war, nach dem Spielerglauben, das rechte Mittel, um des Glückszaubers teilhaftig zu werden. In Wahrheit erlebte Manuel nur eine epochale Glückssträhne, und die nachtwandlerische Sicherheit eines spielenden Kindes war ihm verliehen, weil er unbefangen, ja gleichgültig blieb. Die Tausendernote, mit der er begonnen hatte, vervielfältigte sich. Einmal traf er Double Zéro mit einem Betrage, daß dem abgebrühten Angestellten der Bank kleine Schweißtropfen auf die Stirn traten: Und nun wurde ihm klar, daß der General Oronta ein kleines Vermögen vor sich aufgehäuft hatte, das dem Statisten Manuel eine recht geringe Zukunftsaussicht bedeutete. Das Schicksal gestattete sich lächelnd einen ausgeklügelten Witz mit ihm.
Mr. Wineman, der stark in Verlust war, sah mit einem Lächeln herüber.
»Sie verstehen sich zu finanzieren, General«, sagte er mit offener Anzüglichkeit.
Manuel lächelte zurück, ausdruckslos.
»Es ist für einen armen Soldaten die einzige Möglichkeit, Mr. Wineman.«
Das Gespräch wurde halblaut geführt; dennoch stockte die gedämpfte Unterhaltung rings um den Tisch. Es war nicht üblich, über die Roulette hinweg Bemerkungen zu tauschen. Man hatte das Gefühl, daß hier eine geheime Auseinandersetzung ausgetragen wurde. Der Chefcroupier, sichtlich nervös, schrieb eine rasche Aufrechnung auf seinen Notizblock und überprüfte das Vermögen der Bank.
Mr. Winemans Lächeln verstärkte sich, wurde liebenswürdig. »Ein Soldat mit solchem Glück ist nicht arm«, sagte er.
»Faites votre jeu, Mesdames et Messieurs«, mahnte die höfliche Stimme des Croupiers. Zögernd fielen die Einsätze. In Manuel blitzte ein Gedanke auf, packte ihn, wurde unwiderstehlicher, schwindelerregender, atembeklemmender Trieb.
»Das Glück des Soldaten,« sagte er, »besteht darin, im großen Augenblick alles zu wagen.« Er nahm das ganze vor ihm liegende Banknotenbündel und setzte es auf die Nummer 24: Die Zahl, die als Datum über das Schicksal Nebradors entscheiden sollte.
Mr. Wineman kniff die Augen zusammen. Er verstand.
»Well«, sagte er. »Ich bin nicht abergläubisch. Auf der Nummer halte ich mit.«
Und er schob seinen Banknotenbestand auf das gleiche Feld.
Die Kugel schwirrte, hüpfte, taumelte, zögerte einen Augenblick am Rande der 22, besann sich, lief zielsicher weiter und fiel mit einem Klicken, das in der gepreßten Stille überlaut klang, in die 24.
Die Spannung am Tisch entlud sich in einem Ausatmen, das wie ein vielstimmiger Ausruf war. Der Chefcroupier mußte seine ganze Abgebrühtheit zusammennehmen, um nicht in die Gewohnheit längst entschwundener Kindertage zurückzufallen und drei Kreuze zu schlagen.
Mr. Wineman lächelte, und nun lächelte er breit und behaglich.
»Not so bad«, sagte er. »By Jingo, not so bad.«
Manuel, mit starrem Gesicht, nahm das Banknotenbündel entgegen, rollte es oberflächlich zusammen und stopfte es etwas mühsam in die Taschen. Er stand auf und gewann mit einem energischen Ruck die Herrschaft über seine Beine.
»Genug für heute«, sagte er mit einem Lächeln, das vor Anstrengung beinahe grimmig wirkte. »Gute Nacht«. Er machte, ohne irgendwen besonders anzusehen, eine knappe Verbeugung. Die Tür schien ihm merkwürdig weit entfernt, aber er erreichte sie in tadelloser Haltung. Draußen auf dem Flur ertappte er sich dabei, daß er leise vor sich hinsummte: »Guten Abend, gute Nacht – –«, das Kinderlied aus den Glückstagen Manuels des Namenlosen. Wen hatte das Glück nun heute abend gemeint: Manuel oder den General Oronta? Das Geld – seine Hand glitt unwillkürlich über die bauchig abstehenden Taschen – das Geld jedenfalls hatte Manuel, und vielleicht konnte er es sogar brauchen. In Esperanza war alles käuflich.
Im Flur stieß er auf einen langen, dicken blonden Herrn in betreßter blauer Uniform, der ihn mit einem überlauten »Helloa, General!« und dem wohlgelaunten zähnereichen Lachen des unbeschwerten gesunden Optimisten begrüßte, ohne sich mit den üblichen Formalitäten aufzuhalten. Manuel wußte sogleich, wen er vor sich hatte: Kapitän zur See Lichfield, den Kommandanten der ›Minnehaha‹.
»Eine Partie Bac, General?« trompetete die wohlgelaunte Stimme.
»Ein andermal«, sagte Manuel. »Ich bin ein müder, kranker Mann.« Und er flüchtete. Er hatte durchaus genug, und was das ›Bac‹ betraf, so kannte er es kaum dem Namen nach.
Der andere sah verblüfft hinter ihm her. Er begriff den Vorgang nicht. Das änderte sich allerdings, als er im Spielsaal die sensationelle Geschichte der letzten neunzig Minuten erfuhr. Mindestens zehn Leute hatten offenbar nur darauf gewartet, sie ihm erzählen zu können.
Manuel hatte nur noch den Wunsch, auf geradestem Wege sein Badezimmer und sein Bett zu erreichen. Dennoch blieb er stehen, als er im Durchgang zur Bar an einem einsamen Tische einen einsamen Herrn sitzen sah. Er erkannte ihn sofort: Es war der immer mißgelaunte dicke Major, der dem Stabe als Sachverständiger in Ausrüstungs- und Versorgungsfragen zugeteilt war. Der Gegensatz zur vorigen Begegnung war so groß, daß Manuel lachen mußte. Der Major – hieß er nicht de Souza? – sah aus wie der verkörperte, die ganze Welt mißbilligende Trübsinn. Ihm war offenbar wieder alles verquergegangen. Und außerdem war er betrunken.