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9. Kapitel

Begebenheit an der Straßengabelung. – Triumph und Niederlage der Señora Mastado. – Ein Agent hält Ernte und ein Bankdirektor wird erheblich klüger. – Gedanken auf der Fahrt nach Concepcion. – Abermals der General und der Adjutant! – Ein Droschkenbesitzer hat ein Erlebnis

Die Sonne war noch nicht herauf; kühles schimmerndes Frühlicht, im Osten schon rosig getönt, füllte den Himmel. Die Palmen an der Calle de la Paz regten sich leise im feucht fächelnden Hauch des Morgens. Der Doppelposten vorm hinteren Ausgang des Hotels präsentierte, der gelangweilte Polizeiagent, der krampfhaft gähnend seine Nachtwache mit der Ausdruckskraft und dem Wortreichtum langjähriger Übung verwünschte, zog ratlos erstaunt den Hut. Die Straße war menschenleer.

Es ging alles sehr rasch. Major de Souza stieg nach Manuel ein und setzte sich zu seiner Linken; der lange graue Wagen zog an und schoß davon. Im Abfahren sah Manuel zurück und hob winkend die Hand: droben, an einem Fenster des zweiten Stockes, stand Juana. Er wußte, daß ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Liebe ihn begleiteten. Er war reich beschenkt, so reich wie nie zuvor, er war fröhlich und voll federnder Ungeduld. Das große Spiel hatte begonnen.

Als der Wagen nach rascher Fahrt an der Straßengabelung ankam, wo man rechts zur Nord-Kaserne abzubiegen hatte, während links die Landstraße nach Tierra Ardiente und Icuahua führte, bremste der Fahrer mit jähem Ruck. Manuel, geblendet durch das rötlich grelle Licht der aufgehenden Sonne, blinzelte. Der Weg zur Nord-Kaserne war durch zwei nebeneinander haltende Kraftwagen versperrt. Auf beiden flatterte die kleine Kühlerflagge mit der orontistischen Kokarde. Ihnen entstiegen ein Offizier und zwei Soldaten, dann folgten mehrere Leute in Zivil, – sechs, acht, nein: zehn; sie kamen rasch auf Manuels Wagen zu, er war im Nu von ihnen umringt. Major de Souza war mit einem knurrenden Laut aufgefahren und riß die Pistole aus der Koppeltasche, aber Manuel legte ihm rasch die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. Er hatte sogleich erkannt, daß Widerstand aussichtslos war. Die Soldaten hatten schußbereite Karabiner in der Hand, die Zivilisten waren Agenten und führten Pistolen. Ein Wildwestüberfall mit allerbesten Aussichten, denn Hilfe war in dieser Stunde nicht zu erblicken und nicht zu erwarten. Manuel fühlte, wie ihm das Blut in heißer Welle zu Kopfe stieg. Anfänger, sagte er zu sich selber. Lächerlicher Anfänger, zehnmal vernagelter Dummkopf! So was will Nebrador erobern und nimmt sich nicht einmal Bedeckung mit – läßt nicht einmal die Straße zur Kaserne sichern. Guckt in die Sterne und stolpert über einen Bindfaden. Noch die fernsten Generationen von Hühnern werden darüber lachen, wie der Ersatzgeneral Manuel-Oronta sich wie ein Kaninchen in der Schlinge fangen ließ. Einen Augenblick lang packte ihn ein sausender Schwindel der Wut und Verzweiflung; er war nahe daran, blindlings mit der Pistole um sich zu knallen und möglichst viele von diesen Wegelagerern mit sich zu nehmen, bevor sie ihn erledigten. Für ihn war ja doch alles zu Ende. Dann aber fiel ihm sein Begleiter ein – Major de Souza, den er an sein eigenes Schicksal gebunden hatte; der Fahrer und die Ordonnanz, die angstvoll und ratlos ihren General anstarrten. Manuel machte in diesem Augenblick die härteste Erprobung in seiner sonderbaren Laufbahn durch; und es ist zu sagen, daß er sie bestand. Niemand hätte seinem Gesicht die ungeheure Enttäuschung und Erschütterung angesehen; er hatte sogar seine Stimme in der Gewalt, als er sagte:

»Lassen Sie, Major de Souza. Wir werden ja gleich hören, was diese Wegelagererkomödie bedeutet.« Und er wandte sich an den Offizier: »Was ist das für ein Narrenstück? Was wollen Sie?«

Der junge Oberleutnant war sehr aufgeregt; sein hübsches, etwas verlebtes Gesicht war blaß trotz der Sonnenbräune, er mußte sich räuspern, und seine Stimme zitterte ein wenig. Er hatte das Gefühl, daß er dem großen Augenblick nicht ganz gewachsen war.

»Ich habe« – er blickte auf ein Papier, das er in der Hand hielt – »von Seiner Exzellenz dem Herrn Kriegsminister den Befehl, Ew. Exzellenz ins Hauptquartier zu bringen. Ebenso Herrn Major de Souza und die etwaigen Begleiter.«

»Die Begründung?« fragte Manuel knapp.

»Die Gründe sind mir unbekannt, Exzellenz.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»In diesem Falle« – der Oberleutnant sah sich vorsichtshalber um, ob seine Mannschaft kampfbereit war – »lautet der Befehl, alle verfügbaren Mittel zur Durchführung des Auftrages einzusetzen. Ich bitte Ew. Exzellenz, mir diese Notwendigkeit zu ersparen.«

»Ich habe nicht gewußt«, sagte Manuel, »daß ein Offizier der nebradorianischen Armee sich dazu hergeben würde, unter falscher Flagge und mit einer Garde schmieriger Spitzel den Buschklepper zu spielen. Unter meinen Offizieren hätte sich keiner gefunden, der bereit gewesen wäre, den Strauchdieb zu machen. Haben Sie vielleicht auch den Auftrag, mir mein Geld und meine Wertsachen abzunehmen? Oder machen Sie das auf eigene Rechnung?«

Der Offizier war erbleicht unter der ungeheuren Beschimpfung; er trat einen Schritt zurück und rang mühsam nach Fassung. Unter der zivilen Heldenschar erhob sich ein bedrohliches Gemurmel, und einer der Leute wollte sich, gereizt durch einige sehr allgemeinverständliche Bemerkungen des Majors, an den beiden Soldaten vorbei auf de Souza stürzen. Dieser hatte, mit sichtlichem Bedauern, seine Pistole in der Tasche gelassen, aber er empfing den Angreifer mit einem Kinnhaken, der für eine ganze Anzahl weiterer Ankömmlinge gereicht hätte. Der Mann fiel hintenüber und versank in tiefe Teilnahmslosigkeit.

»Zurück!« schrie der Oberleutnant und war plötzlich kirschrot im Gesicht. »Niemand handelt ohne ausdrücklichen Befehl! Wer das noch einmal macht, wird eingesperrt!« Er wandte sich wieder an Manuel: »Exzellenz wollen beachten, daß ich die Kokarde nicht trage, in allem übrigen handle ich nur auf Weisung. Ich soll meine Aufgabe möglichst rasch und unauffällig durchführen. Der Herr Minister wird das bestätigen. Für die persönlichen Bemerkungen hoffe ich später von Ew. Exzellenz Genugtuung zu erhalten. Ich bitte die Herren, die Schußwaffen abzugeben und jeden Widerstand zu unterlassen. Alles Weitere wird sich ja in Concepcion aufklären.«

»de Souza«, sagte Manuel und gab dem Oberleutnant seine Waffe, »es hat keinen Zweck. Wir müssen uns der Gewalt fügen. Das Weitere wird sich ja finden.«

»Schweinehunde«, bemerkte der Major schlicht. »Für diese Bemerkung können Sie sich später auch Ihre Genugtuung holen. Geben Sie aber acht, daß nicht auch ein Kinnhaken daraus wird.« Er warf seine Pistole in den Straßenstaub, einer der Soldaten mußte sie aufheben.

Der Oberleutnant setzte sich neben Manuel, Major de Souza kam mit den beiden Soldaten in einen anderen Wagen, Manuels Fahrer und Ordonnanz in den zweiten. Dann nahm einer der fremden Wagen die Spitze. Manuel fuhr in der Mitte, der dritte Wagen sicherte den Schluß des Zuges. Die Kolonne schlug den Weg nach Tierra Ardiente ein, in scharfer Fahrt, gefolgt von einer riesigen Staubwolke.

Manuel, eine steile Falte auf der Stirn, saß vornübergebeugt und starrte auf seine Stiefelspitzen. Er war unempfindlich gegen den Staub und die steigende Hitze, er sah nichts von seiner Umgebung. Mechanisch holte er eine Zigarette hervor, aber er merkte gar nicht, daß er sie anzuzünden vergaß. Bestürzung, Wut, Scham über seinen Fehler machten es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen.

Wer hatte ihn ausspioniert, wer ihn verraten? Es war sinnlos, diesen Gedanken auszuweichen. Man wußte offenbar in San Isidro alles über die Entschlüsse dieser Nacht, und man hatte Zeit gehabt, mindestens vier Stunden Zeit, diese Straßenfalle vorzubereiten und sich den General Oronta zu fangen. Oder jedenfalls den Mann, der für den General Oronta gehalten werden mußte. Sein Gespräch mit Juana oder die Unterredung mit de Souza mußten belauscht worden sein. Wieder eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit. Belauscht? Aber wie –? Und von wem?

Konnte Major de Souza –? Manuel stellte sich das ehrliche knebelbärtige Gesicht, den knorrigen Ton, die rücksichtslos offene Art des Majors vor und schob den Gedanken mit einer Handbewegung beiseite. Nein. Ausgeschlossen. Der Mann log nicht; er war ein Offizier in des Wortes bester Bedeutung. Und – Juana?

Der Oberleutnant sah mißtrauisch zur Seite, denn Manuel hatte sich mit einer jähen Bewegung aufgerichtet und die zerkaute Zigarette aus dem Wagen geschleudert.

Juana hatte selbst zugegeben, daß sie als glühende Patriotin den General Oronta verachtet und gehaßt hatte. War es nicht denkbar, daß über sie – nein: durch sie Berichte nach San Isidro gelangt waren? Der echte Oronta war ganz gewiß nicht eben wortkarg gewesen, wenn er mit ihr redete. Solche Naturen schwafeln im Zustande des Balzens das Blaue vom Himmel herunter. Aber – nach diesem Gespräch – und nach dieser Nacht? Einen solchen Gedanken durfte man nicht zu Ende denken. So etwas konnte kein Teufel erfinden. Weg damit. Sonst kam ein Sturz in tiefste Nacht, sonst wankte die Welt, und es gab keine Wahrheit und keine Ehre und keinen Gott mehr. Manuels Augen brannten, er rieb sie mit dem Handrücken. War das nur Staub?

Dumpf brummten die Motoren, in schütternder Fahrt sprangen die Wagen über die Unebenheiten der Straße, der weißgelbe Staub legte sich auf die Agavenbüsche und zog über die grünen und gelben Felder der Mais- und Zuckerrohrpflanzungen. Es ging bergauf, sie fuhren durch die staunenden Arbeiterkolonnen an der Baustelle bei Tierra Ardiente. An einer Straßenkreuzung stand ein mächtiges Schild: Cuidado!

Manuel lächelte bitter: Cuidado – Vorsicht! Eine gute Mahnung. Aber sie kam ein bißchen spät.

 

»Herr Korporal –!« sagte der kleine Gefreite besorgt. »Exzellenz ist noch immer nicht zurückgekommen. Sollen wir nicht lieber dem Herrn Oberstleutnant Meldung machen?«

Der Korporal, der in seinem Sessel friedlich der Ablösung entgegenschlummerte, aber den leisen Schlaf des alten Soldaten hatte, öffnete die Augen und sah auf die Armbanduhr.

»Quatsch«, antwortete er gelassen. »Warum soll er denn schon wieder hier sein? Bei solchen Sachen soll man den Leuten Zeit lassen, und den hohen Herren ganz besonders. Das sage ich immer. Für so was habe ich Verständnis.« Und er verzog das Gesicht in eine Faltenlage, die er für ein weltmännisches Lächeln hielt.

»Was für Sachen meinen Herr Korporal?« fragte der Gefreite neugierig.

»Grünschnabel«, versetzte der Korporal. »Da hat der Kerl selber die Blumen hingebracht und fragt noch, was für Sachen ich meine!«

»Ach so«, sagte der Gefreite. Es klang wie ein kleiner neidischer Seufzer.

»Ein Mann von meiner Erfahrung«, dozierte der Korporal, »ist an diesen wichtigen Posten gestellt worden, um Seiner Exzellenz Störungen fernzuhalten und für Seiner Exzellenz Gesundheit zu sorgen. Dazu braucht man Takt und Verständnis. Privatsachen gehen mich nichts an.«

Der Gefreite erwog die Antwort und schien nicht befriedigt, aber der Korporal hatte bereits wieder die Augen geschlossen und nahm gleich darauf den gleichmäßigen Takt seines leisen dienstlichen Schnarchens genau an der gleichen Stelle wieder auf, wo er ihn unterbrochen hatte.

 

Als Juana am Fenster ihres Zimmers stand und Manuel drunten in den Wagen steigen sah, spürte sie ein plötzliches Frösteln. Die kühle Dämmerfrühe schien ihr mit einem Male trostlos und voll beklemmender Drohung. Alle Spannung, alle Hoffnung, alle im brennenden Erlebnis dieser Nacht geglühte Zuversicht war von ihr gewichen. Ihr war, als führe der Mann dort unten, den sie liebte, an den sie glaubte, mit dem sie in alle Zukunft verkettet war, in eine tödliche Gefahr, unbehütet und ganz allein. Sie war so stark gewesen in ihrem neuen Glauben, so ganz erfüllt in ihrer Hingabe, sie selbst hatte ihm die Kraft des letzten Entschlusses gegeben. Und nun war sie hilflos, nun konnte sie nichts mehr tun, nun mußte sie ihn einsam in das große Abenteuer gehen lassen. Sie verkrampfte die Hände, ihre Augen brannten.

»Heilige Mutter Gottes, steh ihm bei«, betete sie inbrünstig.

»Die Gottesmutter wird ihm nicht helfen«, sagte eine dünne, harte Stimme hinter ihr.

Juana fuhr herum und sah in das Gesicht der alten Señora Mastado. Es war ein verwandeltes Gesicht, grau vor Müdigkeit, mit flackernden, rotgeränderten Augen, aber belebt von einem wilden Haß und einem wahnwitzigen Triumph – eine Maske, schauerlich und grotesk wie eine Traumfratze.

»Was sagen Sie da?« fragte Juana, und Zorn und jähe Angst dämpften ihre Stimme zu einem heiseren Flüstern.

Señora Mastado streckte den dürren Arm aus, sie stellte sich auf die Zehenspitzen, ihr gelber Zeigefinger wies auf die Straße hinunter. Es war eine dramatische Siegesgeste, wenn die verrunzelte Hand auch zitterte.

»Er wird nicht ankommen«, sagte die harte Stimme. »Er fährt in das Verderben. Ich habe Nebrador vor diesem Teufel gerettet.«

»Sie haben –« Juana packte die ausgestreckte Hand und riß die Señora mit hartem Griff herum. »Sind Sie wahnsinnig? Was haben Sie getan? Reden Sie doch!« schrie sie.

Señora Mastado sah nicht die flammenden Augen dicht vor ihrem Gesicht, spürte nicht den Schmerz an ihrem umklammerten Handgelenk. Sie hätte in diesem Augenblick einen Dolch nicht gespürt, der sie durchbohrte.

»Sie rufen die Jungfrau um Beistand an und sollten lieber um Vergebung für Ihre Sünden flehen. Waren Sie nicht schon seit langem lässig geworden in Ihrem Dienst für die heilige Sache des Vaterlandes? Und haben Sie sie nicht in dieser Nacht sogar verraten?« Ihre Stimme wurde schrill. »Der Himmel gab mir den Gedanken ein, an Ihrer Tür zu lauschen. Ich habe gehört, wie der General Oronta Ihnen seinen Umsturzplan erzählte, und wie Sie sich von ihm betören ließen. Ich habe gehört, daß Sie ihm den Rat gaben, schon heute morgen überraschend loszuschlagen. Alles habe ich gehört. Und ich weiß auch, daß Sie seine Geliebte geworden sind. Sünde über Sünde. Ich habe aber noch in dieser Nacht nach San Isidro telefoniert. Er geht in eine Falle. Sein Wagen wird abgefangen und – –«

Ihre Worte erstarben in einem erstickten Aufschrei und einem Wimmern. Juana hatte sie in einen Sessel geschleudert und stand über sie gebeugt, ganz dicht. Señora Mastado sah in Augen, die zwei furchtbare Flammen waren, und sie fühlte, daß zwei Hände sich wie stählerne Klammern um ihren Hals schlossen. Nie war sie ihrem Tode so nahe gewesen wie in diesen Sekunden; und sie wußte es.

»Mord –!« röchelte sie. »Hilfe –!«

Und dann ließ Juana plötzlich von ihr ab, richtete sich auf und betrachtete sie, aufmerksam, fast staunend, wie man etwas ganz Neues und unerhört Seltsames betrachtet. So also wie dieses armselige wimmernde Bündel Mensch, kläglich und zerzaust und abschreckend häßlich, so also sah das Schicksal aus. In dieser Gestalt kam es daher und vernichtete Pläne und Hoffnungen, Liebe und Glauben und Zukunft. Es verkleidete sich als fanatische alte Hexe und zerstörte das Leben zweier Menschen, vereitelte die Rettung und das Glück eines Landes.

»Ich habe mich mit Ihnen zusammengetan und von Ihnen führen lassen«, sagte Juana tonlos. »Ich war blind und habe das Gute gewollt. Sie waren blind und haben das Böse gestiftet. Ich bin sehend geworden – und jetzt ist alles vergebens.« Sie hielt inne, sie mußte ihre Gedanken sammeln. »Sie haben den einzigen Menschen geopfert, den ich je geliebt habe und je lieben werde. Den einzigen, der unser Land retten konnte. Aber Sie wußten es nicht. Das Schicksal hat es wohl so gewollt. Ich begreife es nicht. – Gehen Sie«, sagte sie plötzlich. »Und kommen Sie mir nie wieder vor die Augen. Sonst schlage ich Sie tot, bei Gott und allen Heiligen, ich schlage Sie tot. Gehen Sie!« schrie sie rasend.

Señora Mastado erhob sich mühsam, schwankte einen Augenblick wie trunken und schlich zur Tür. Sie brachte kein Wort hervor, und sie hätte auch keines zu sagen gewußt. Sie begriff nichts mehr. Ihr kleines Schicksal war überschattet und ausgelöscht durch ein größeres, das sie selbst mit ihren schwachen Händen ausgelöst hatte: so, wie wenn ein Kind einen Stein schleudert und eine Lawine von Geröll zur tödlichen Talfahrt entfesselt. Sie tastete geblendet nach der Türklinke und taumelte auf den Flur hinaus. Und sie sah nicht, daß draußen eine Gestalt rasch hinter die Ecke eines Seitenflurs zurücktrat.

Juana stand mitten im Zimmer und strich sich mit einer zögernden Bewegung über die Stirne. Verloren, dachte sie, alles ist verloren. Sie mühte sich mit verzweifelter Anstrengung, einen klaren Gedanken zu fassen, irgendeinen rettenden Gedanken, der ihr den Überblick zurückgab, die Möglichkeiten erkennbar machte, vielleicht einen Ausweg zeigte. Es war vergeblich. Vor ihren Augen flirrte es, hinter ihrer Stirn war ein beängstigender kreisender Schwindel, ihre Hände waren kalt und abgestorben. Haltlos wanderte ihr Blick über die Gegenstände im Zimmer: dort das Telefon, dort die Klingelknöpfe, die das Personal herbeiriefen, dort das Fenster. Es mußte etwas geschehen, sofort mußte etwas geschehen – sie wiederholte es sich mit leidenschaftlicher Ungeduld, als wollte sie den Satz einem begriffsstutzigen und unaufmerksamen Kinde verständlich machen. Diese fiebernde, fast zornige Ungeduld aber hinderte nicht, daß sie zugleich eine entsetzliche Angst vor dem Begreifenmüssen hatte. Ihre Gedanken liefen wie auf hauchdünnem Eis über den Sumpf der Verzweiflung. Sie entschied sich für das Fenster – dort war Licht, dort konnte man wenigstens sehen. Aber sie kam nicht bis ans Licht; die Dämmerung des Zimmers schlang sich wie ein zähes Hindernis um ihre Beine. Zu jäh war der Aufschwung gewesen, zu jäh der Sturz. Das ist nicht das Fenster, dachte sie noch; das ist der Teppich. Wie kommt der Teppich dorthin, wo das Fenster sein müßte? Dieser Gedanke währte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann schloß sich kühle, mitleidige Finsternis über ihr.

 

Die Gestalt, die vor Señora Mastado zurückwich, ist uns bereits für ein weiteres Auftreten angekündigt. Es war M. Josèphe-Marie Prat d'Hermenonville.

Er hatte nach dem Abendessen das Gefühl gehabt, daß ihm das Schicksal irgendeine angenehme Wendung zugedacht habe. Solche Vorahnungen pflegte er, obzwar sonst nicht zum Mystischen neigend, mit Achtung zu behandeln und sich danach zu richten. Das hatte sich oft als berechtigt erwiesen. Diesmal bezog er den inneren Vorgang zunächst auf den Spielsaal und machte einen vorsichtigen Versuch mit der Roulette. Aber der für diesen Sektor zuständige Vertreter des Glücksgottes war offenbar nicht gemeint; er sah zwar gutmütig davon ab, Josèphe-Marie auszunehmen, aber er bewilligte ihm auch keinen Gewinn, so daß sich nach etwa anderthalb Stunden ein Gleichgewicht von Gewinn und Verlust ergab und Josèphe-Marie mit unverminderter, aber auch unvermehrter Kasse gelangweilt hinausschlenderte. Die weiteren Möglichkeiten waren um diese Stunde das übliche Dreigestirn: Wein, Weib und Gesang – denn die sonst etwa erreichbaren Rauschzustände vermied er, zum Nutzen seiner Gesundheit. Der Gesang vermochte ihn weder in eigener noch in fremder Darbietung zu reizen; die anwesende Weiblichkeit schien ihm nicht hinlänglich glückverheißend; also widmete er sich dem Wein – ohne freilich auch trotz reichlicher und langanhaltender Bemühung in einen Zustand zu gelangen, der der Verheißung entsprach. Mithin begab er sich schließlich enttäuscht und gekränkt nach oben und strebte seinem Zimmer zu.

Nun wissen wir, daß man niemals verzweifeln soll. Das Glück hält, wie jeder dramatische Autor, ehrgeizig und hartnäckig an der Durchführung seiner Einfälle fest und bedient sich der szenischen Mittel, die es sich vorgenommen hat. In unserem Falle war dieses Mittel eine nicht ganz geschlossene Zimmertür: Señora Mastado hatte sie offen gelassen, als sie ihren Triumphgang zu Juana antrat. Josèphe-Marie wurde mit der Möglichkeit beschenkt, den ganzen Vorgang in Juanas Zimmer zu belauschen, und er machte vorbehaltlos Gebrauch davon. Diskretion konnte sich ein Mann in seiner Lage nur leisten, wenn sie sich auszahlt. Hier war das Gegenteil der Fall.

Wenn Josèphe-Marie in den Besitz von Geheimnissen gelangte, wurde er sachlich. Geheimnisse waren für ihn ein Wertgegenstand, für den er den bestzahlenden Käufer zu ermitteln hatte. Er begab sich in sein Zimmer, nahm in einem Sessel Platz, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Augen, aber keineswegs um zu schlafen.

»Sacré nom d'un nom«, sagte er ehrfürchtig. Dann aber machte er Bilanz.

Fest stand, daß General Oronta, das Oberhaupt der Umsturzpartei, in wenigen Stunden als Gefangener in der Hand der Regierung sein würde. Fest stand ferner, daß davon einstweilen niemand etwas wußte als Oronta selbst, der nicht reden konnte; die Regierung, die erst zu einem späteren Zeitpunkt reden würde; und die beiden Frauen dort im Zimmer, die nach ihrer Agententätigkeit alle Ursache hatten, hier in Esperanza vorläufig nicht zu reden. Die politischen Folgen des Vorganges waren noch nicht abzusehen, und sie hatten für Josèphe-Marie auch nur mittelbare Bedeutung. Sein Augenmerk richtete sich auf die Folgen für die Börse: Und hier wiederum auf den Mann, für den die Politik des Landes ein finanztechnisches Geschäft war. Um es genau zu sagen: Auf Mr. Wineman. Wie er sich entscheiden, was er tun würde, war seine Sache. Zunächst stand fest, daß das Geheimnis, wenn es unverzüglich an ihn verkauft würde, ihm eine beträchtliche Summe wert sein mußte.

Josèphe-Marie Prat d'Hermenonville war ein Mann von raschen Entschlüssen. Er begab sich sogleich an den Tischapparat, ermittelte Mr. Winemans Privatanschluß und drängte, verhandelte und tobte so lange, bis Mr. Wineman geweckt wurde und sich hinlänglich ermuntert hatte, um sich über die Person des Ruhestörers klarzuwerden und Art und mutmaßlichen Wert der andeutungsweise angebotenen Information einigermaßen abschätzen zu können.

Mr. Wineman hielt nicht viel von Josèphe-Marie, aber er besaß eine untrügliche Witterung für nutzbare Imponderabilien. Die Verwirklichung der Vorahnung begann sich anzukündigen: zwanzig Minuten später fuhr Josèphe-Marie, von Mr. Winemans Auto abgeholt, zu Mr. Winemans Villa und entwarf in seinem ermunterten Geiste die Unterredung mit dem Finanzmann.

 

Wenn man einen Mann mehrere Stunden vor der gewohnten Zeit aus dem Bett holen läßt, mit der Ankündigung, ihm aufregende Neuigkeiten mitteilen zu wollen, so pflegt dieser Mann in der nachträglichen Schilderung mit blinzelnden Augen und wirrem Haar zu erscheinen und beim Herausstürzen aus dem Schlafzimmer die Schnur des hastig übergeworfenen Frisiermantels zu schließen. Dieser Vorgang ist uns aus zahllosen Romanen vertraut, von den Filmen gar nicht zu reden.

Oberstleutnant del Vecchio wich, wie es seiner Haltung entsprach, von dieser Üblichkeit ab. Sein Haar lag tadellos glatt wie eine glänzende schwarze Kappe um den schmalen Kopf, das flimmernde Einglas saß an seinem Platze, der hochgeschlossene Morgenrock verhüllte jede Spur davon, daß sein Träger noch vor wenigen Minuten im Bett gelegen hatte, und der Duft der Ermunterungszigarette mischte sich wohlabgestimmt mit dem eines Erzeugnisses, das die Firma Houbigant für zahlungsfähige Weltleute erfunden hat. Mr. Wineman, der im Straßenanzug war und schon eine Autofahrt hinter sich hatte, sah weit weniger angekleidet aus; seine Erscheinung wirkte reichlich improvisiert.

»Guten Morgen, Mr. Wineman«, sagte der Adjutant. »Sie haben mir gewiß etwas Besonderes zu eröffnen.«

Der aufgeregte Mr. Wineman merkte nicht einmal, daß er die sonst sorgsam gewahrte Sprechweise und kühle Überlegenheit des City Businessman nicht zu wahren vermochte.

»Herr Oberstleutnant«, schrie er, »der General ist weg!«

»Verzeihung«, versetzte del Vecchio reserviert, »ich möchte Sie gerne genauer verstehen: Wer ist weg?«

»Der General Oronta ist weg«, sprudelte Mr. Wineman. »Er hat heute Morgen losschlagen wollen, aber die Sache ist an die Regierung verpfiffen worden, und jetzt hat man ihn geschnappt.«

Der Oberstleutnant nahm das Einglas heraus. Er war nun doch merklich verblüfft.

»Welchen meinen Sie?« fragte er rasch. »Den hier aus dem Hotel?«

»Was heißt welchen?« antwortete Mr. Wineman und warf die Hände zum Sitze Jehovas empor. »Natürlich den hier aus dem Hotel. Haben Sie zwei?«

Auf diese Frage ging del Vecchio nicht ein. »Setzen Sie sich«, sagte er. »Und berichten Sie rasch und kurz.«

Mr. Wineman berichtete rasch und kurz.

»Er ist heute Morgen um halb vier mit Major de Souza zur Nord-Kaserne gefahren, um loszuschlagen. Mein Gewährsmann hat eine heftige Unterredung zwischen der Baronesa und der alten Spinatwachtel, ihrer Gesellschaftsdame, belauscht. Die beiden haben schon lange für San Isidro spioniert, jetzt hat die Baronesa sich mit dem General Oronta zusammengetan, die alte Spinatwachtel hat mit San Isidro telefoniert und das Auto ist geschnappt. Verrückte Sache. Die beiden Frauen haben sich angeschrien wie die – wie die – – Mr. Wineman hat mir die Nachricht für eine hohe Summe verkauft, und er wird sie kriegen, wenn es stimmt. – Zwanzigtausend Peseten«, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu.

Der Adjutant erhob sich ohne ein weiteres Wort und leitete eine Anzahl von telefonischen Ermittlungen ein. Jawohl, es stimmte: Manuel war aus seinen Gemächern verschwunden. Die Fahrbereitschaft hatte um halb vier einen Wagen gestellt, und Manuel war mit de Souza abgefahren. In der Nord-Kaserne war der Wagen nicht angekommen. Eine Kolonne von drei Autos, in deren einem man den General Oronta erkannt hatte, war um vier Uhr durch Tierra Ardiente gefahren, in Richtung auf Icuahua.

»Caramba!« sagte del Vecchio gedämpft, aber deutlich.

Sodann traf er unverweilt etliche Anordnungen: Die Abfahrt des Generals war so lange wie möglich geheimzuhalten. Die Wache in seinem Vorzimmer blieb und ließ niemanden hinein; sie hatte sich mit niemandem in ein Gespräch einzulassen. Vor die Zimmertüren der Baronesa und der Señora Mastado wurden Wachen gestellt, die beiden Damen waren am Verlassen ihrer Zimmer zu verhindern, die telefonische Verbindung wurde ihnen gesperrt.

»So«, sagte der Adjutant und setzte sich Mr. Wineman gegenüber. Und dann geschah etwas, das der Finanzmann in keiner Weise erwartet hatte: Der Oberstleutnant begann zu lachen. Er lachte so heiter, so aus tiefstem Herzen, daß er sich die Augen wischen mußte. Er war erstaunlich. Daß er überhaupt lachen konnte, mußte jeder, der ihn beobachtet hatte, bezweifeln; daß er so lachen konnte, hätte kein Mensch für möglich gehalten.

»Großartig!« ächzte er. »Phantastisch!«

»Sie lachen?« erkundigte sich der gekränkte Mr. Winemann überflüssigerweise. »Sie werden bald nicht mehr lachen. Finden Sie das komisch, wenn der General alles vermasselt, und die ganze Revolution im Eimer ist?«

»Entschuldigen Sie, Mr. Wineman«, sagte del Vecchio und hatte sich wieder ganz in der Gewalt, »es ist komisch. Aber das können Sie nicht wissen. Ich will Ihnen sagen, wie die Sache steht. Die Regierung wird mit dem Manne, den sie sich da gefangen hat, nicht viel anfangen können. Aber die Sache hätte bös werden können, und wir haben eigentlich alle Ursache, der »alten Spinatwachtel« dankbar zu sein. Sie hat uns, ohne es zu wollen, einen großen Dienst erwiesen. Sie werden über das, was ich Ihnen jetzt erzähle, ja einen Tag lang schweigen können. Also hören Sie.«

Mr. Wineman hörte. Dabei traten ihm die Augen bis an die Grenze des Möglichen aus dem Kopfe.

»Verrückt«, sagte er, als der Adjutant geendet hatte. »Verrückt, aber genial. Sie sind ein begabter Mensch. Aber hätten Sie mir das nicht eher sagen können?«

»Warum?« war die Antwort. »Jeder weitere Mitwisser hätte eine Gefahr bedeutet.«

»Ein Goldjunge«, bemerkte Mr. Wineman anerkennend. »An der Roulette hat er mich gerupft. Und von der Bank hat er sich auch noch zehntausend Peseten holen lassen. Schade – aus dem hätte sich was machen lassen.«

»Sie können ihn haben, wenn er heil herauskommt«, sagte der Adjutant. »Und jetzt entschuldigen Sie mich wohl; ich muß dem Chef Bericht erstatten. Im Laufe des Vormittags lasse ich Sie wissen, was wir machen wollen.«

Josèphe-Marie saß noch im Wagen und hatte sich ein Schläfchen geleistet, da der Strom der Ereignisse an dieser Stelle nicht an ihm vorüberrauschen konnte.

»Na?« sagte er, als Mr. Wineman zurückkam.

Mr. Wineman lächelte. »Sie sind auf die Butterseite gefallen«, sagte er wohlwollend. »Es stimmt, wie Sie es gehört haben, aber Sie werden den Mund halten, sonst geht alles schief.«

Josèphe-Marie streckte schweigend die Hand aus.

Schweigend, aber mit einem kleinen Seufzer schrieb Mr. Wineman den vereinbarten Scheck; weniger aus dem Drang nach moralischer Entbürdung als vielmehr in dem Wunsche, diesem nicht ganz ungefährlichen Partner den Mund zu stopfen.

»Merci bien. Noch eins, Mr. Wineman«, sagte Josèphe-Marie, nachdem er das Papier geprüft und in Ordnung befunden hatte: »Ich würde ganz gern ein bißchen an der Börse einsteigen. Wozu raten Sie mir?«

»Kaufen«, antwortete Mr. Wineman prompt. »Ich habe verkauft, und ich habe gekauft, und ich habe gefixt; aber ich hab immer dafür gesorgt, daß die Kurse runtergingen. Heute und morgen ist alles noch flau, da muß man kaufen: Was Sie wollen, und was Sie kriegen können. Kommen Sie zu uns, Sie werden gut beraten. Und nicht zu schnell wieder abstoßen – es geht weiter nach oben. Ihnen gesagt. Und jetzt steigen Sie aus, ich will ins Bett.«

»Ich auch«, sagte Josèphe-Marie genußsüchtig.

Die Herren trennten sich mit einem Händedruck, der weniger der Kundmachung einer persönlichen Zuneigung, als der Bestätigung einer durch gemeinsame Anschauungen geknüpften geschäftlichen Verbindung galt.

 

Die beiden Wagen, die San Isidro geschickt hatte, waren ausgezeichnete Maschinen und dem starken Bereitschaftswagen aus Esperanza durchaus ebenbürtig. Man merkte es ihnen nicht an, daß sie in der Nacht schon eine harte Probe bestanden hatten. Der Oberleutnant war in den vorderen Wagen hinübergewechselt und zeigte, wenn sie an Brückenköpfen oder Straßensperren kamen, seine Papiere vor, so daß sie überall rasch und ohne viel Aufhebens durchkamen. Mehrmals mußten sie Wasser nehmen, die Motoren abkühlen lassen, Brennstoff und Luft ergänzen. Die Fahrer wurden dann und wann abgelöst. In einer scharfen Straßenkehre platzte am vordersten Wagen ein Reifen, und der Führer der Kolonne stand mit seinem Fahrzeug auf Handbreite am Abgrund. Die Sonnenverdecke waren hochgezogen, und der Fahrwind fing sich oft scharf und knatternd unter der Leinwand, aber er war nur in den Wäldern kühl, und der Lavastaub überzog die Uniformen, klebte widrig und juckend auf Gesicht und Händen, drang in Nase und Mund. Das flammende Gleißen der sonnenüberglühten Landschaft brannte sich schmerzhaft sogar durch die Gläser der Sonnenbrillen in die Augen ein. Die schweren Wagen mahlten sich brummend durch die Lehmkruste ausgefahrener Radspuren, sprangen über Schlaglöcher, arbeiteten sich durch verschlammte Schneisen und den stinkenden Mist auf Dorfstraßen, flogen mit befreitem Aufdonnern über ausgebesserte Strecken, erkletterten mit zäher Kraft die Steigungen der Paßstraße. Zweimal rasteten sie in kleinen Indiodörfern, und die aufgeregten Wirte der Tabernas mußten hergeben, was sie an Erfrischungen zu bieten hatten. Manuel nahm nur ein paar Bananen und einen Becher Wein. Mehrfach stellte er fest, daß der Oberleutnant größere Ortschaften mied und es vorzog, sich auf furchtbaren Landwegen unter den Schutz der Götter zu stellen. Die orontistischen Flaggen waren längst von den Kühlern verschwunden; offenbar befand man sich bereits in den Bezirken, deren der General Esmeraldas sich sicher fühlte oder sicher fühlen zu dürfen meinte. Dann und wann trafen oder überholten sie marschierende Kolonnen: Infanterie, berittene Abteilungen, Feldartillerie. Von den verstaubten Soldaten konnte man nichts anderes erwarten, als daß sie gleichgültig, nachlässig und schlampig ihres Weges zogen. An einer stark ausgebauten Straßensperre, die von einem Zeltlager umgeben war, verschwand der Oberleutnant in einer Baracke, und Manuel stellte fest, daß er von Stolz geschwellt zurückkam: das Hauptquartier hatte auf dem militärischen Draht die Meldung vom endgültigen Gelingen des Fanges erhalten.

Weit hinter ihnen lagen nun schon die Palmenhaine, die Morastwiesen, Weiden und Pflanzungen, die saftiggrünen Wälder in den Talschluchten des Mittelgebirges; sie fuhren über die öden gelbbraunen Lavafelder und Geröllhalden der Hochebene. In die höllische Glut flog zuweilen wie eine tröstliche Ahnung ein kühler Windhauch, der von den zackigen Graten des Hochgebirges herüberkam. Ein Bild prägte sich Manuel ein: An einer Wegkreuzung, nahe einem Dorfe, dessen Lehmhütten am Berghang klebten, hielt ein berittener Indio und ließ die Wagen vorüber. Er trug mächtige Radsporen an den bloßen Füßen; sein roter Poncho leuchtete in der Sonne. Manuel sah nur sein Gesicht – ein kupferbraunes, strenges, regloses Gesicht, mit schmaler, kühn vorspringender Nase, umrahmt von den schwarzen fettigen Strähnen des langen Haares. Sein Blick schien die vorüberfahrenden Wagen überhaupt nicht aufzunehmen: er ging, als wären sie wesenlos, über sie hinweg zu den Schneegipfeln der Berge.

Im übrigen starrte Manuel unverwandt auf den Rücken des Fahrers vor ihm und grübelte.

Sonderbar ist das, dachte er. Da lebt man viele Jahre lang so hin, sammelt Kenntnisse und verwertet sie nicht, hat tausend Erlebnisse und sieht keinen Sinn darin, klammert sich mit der Zähigkeit einer Katze ans Leben und weiß nicht einmal warum, macht steigend, fallend, stürzend, schliddernd und wieder kletternd seinen Weg und weiß nicht, wohin. Dann sammelt sich in wenigen Tagen ein solches Unmaß von Zufällen, Fügungen, Begebenheiten, als würde man vom Schicksal mit atemversetzender Schnelligkeit einen Steilhang hinauf und auf einen Gipfel geschoben; man entdeckt Fähigkeiten und Kräfte in sich, die man nicht einmal ahnte. Das ganze bisherige Leben scheint nur eine Vorbereitung, ein Aufgespartsein für diesen Tag. Und dann geht irgendwer telefonieren, der dünne Draht trägt eine Nachricht nach San Isidro, an einer Straßengabelung stellt ein kleiner pomadisierter Oberleutnant eine Wildwestfalle, und der steile Aufstieg wird zur Kometenbahn, die im leeren Raum verzischt. Sonderbar ist das. Wo steckt der Sinn?

Er dachte: Warum habe ich weitergelebt – warum habe ich die gute Gelegenheit, auf geräuschvolle Art Schluß zu machen, nicht genützt? Nur de Souzas wegen? Vorwand. Ich muß wissen, wer mich verraten hat. Ich muß wieder an Juana denken können, ohne vor dem fürchterlichen Verdacht schaudernd zurückzuweichen – ich muß dieses eine höchste und tiefste Erlebnis meines Daseins von jedem Schatten des Zweifels befreien. Ist es eine reine und wahre Erfüllung gewesen, so wird noch mein allerletzter Gedanke, mein allerletztes Gefühl überströmender Dank dafür sein – so werde ich um mein und ihr Leben kämpfen mit allen Mitteln der List und der Gewalt. Wenn alles Lüge war, dann ist das Ausgelöschtwerden Erlösung. Wer nicht mehr glauben kann, der kann auch nicht mehr leben, das weiß ich jetzt. Und dann schicke ich, wenn das Schicksal mir wenigstens diese eine Gnade vergönnt, den schnauzbärtigen Operettengeneral da oben in Concepcion als Vorreiter voraus auf dem Wege zur Hölle.

Er dachte: Und wenn ich nun grinsend sagen würde: »Ein kleiner Irrtum, meine Herren, Sie haben mit viel List und Tücke den falschen Fisch geangelt. Der Hecht, den Sie fangen wollten, schwimmt immer noch in den Küstengewässern herum, sozusagen im Brackwasser, und Sie werden in Ihrem Karpfenteich noch allerhand Nettes und Anregendes mit ihm erleben.« Wäre das nicht ein recht hübscher Frühstücksbissen, der dem Herrn General Esmeraldas auf amüsante Weise im Halse stecken bleiben würde? Nein, das wäre, wenn Exzellenz gütigst gestatten wollen, eine ganz gewaltige Dummheit. Man denke: Ein Offizier, der durch alle äußeren Umstände und Merkmale und dank umsichtiger kosmetischer Behandlung einwandfrei als General Oronta ausgewiesen ist, wird auf dem Wege vom Hotel zur Nord-Kaserne verhaftet – oder sagen wir einstweilen: sichergestellt. Man ist offenbar über seine Pläne hinlänglich unterrichtet, um zu wissen, daß er in der nächsten Stunde die seit langem vorbereitete Umsturzbewegung zu entfesseln beabsichtigte. Er trägt in der Brusttasche seines Waffenrockes Papiere, die das Bestehen dieser Absicht völlig klar beweisen. In seiner Begleitung befindet sich ein Offizier seines Stabes. Und dann will dieser Herr plötzlich behaupten, er wäre gar nicht der General Oronta? Selbst gescheitere Leute als der Herr Kriegsminister und Oberbefehlshaber würden einen so kindischen Ableugnungsversuch mit brausendem Hohngelächter aufnehmen. Und Hohngelächter ist ganz genau das, was Manuel jetzt nicht vertragen würde.

Ein grober Stoß erschütterte den an der Spitze fahrenden Wagen, er stellte sich schief und blieb liegen. Der Fahrer stieg aus, besichtigte sein Fahrzeug, zuckte die Achseln. Es gab eine längere Auseinandersetzung, der Oberleutnant entfaltete eine erstaunliche Beredsamkeit, sein schokoladenbraunes Gesicht war malerisch von Staub überkrustet. Achsenbruch. Schicksal. Nichts zu machen. Die zweifelhaften Herren in Zivil wurden nervös, da sie ahnten, daß die Sache sich zu ihrem Nachteil entwickeln würde. Einer machte den Vorschlag, den beschädigten Wagen ins Schlepp zu nehmen; aber der Oberleutnant ging plötzlich in einen unerwartet schneidigen militärischen Ton über: Der Wagen bleibt zurück, und die Herren in Zivil desgleichen. Man benötigt sie nicht mehr und wird sich jetzt mit ihnen nicht aufhalten. Sie werden baldmöglichst abgeholt. »Mañana« sagte Manuel, der sich bisher nicht geäußert hatte, laut und freute sich über die wütenden Gesichter. Die Fahrt ging weiter, auf steiniger Straße, durch das kahle Land des kümmerlichen Grases, des lilabraunen Staubes, der grotesk verkrümmten Kakteen und verkrüppelten Palmen. Dann und wann öffnete sich zur Rechten oder zur Linken ein tiefer grüner Taleinschnitt, in dem ein verborgenes Wildwasser brauste: Aber die Straße führte daran vorüber, und der kühle würzige Anhauch wehte vorbei wie ein Atemzug aus einer dem Fuß verschlossenen Traumwelt.

Manuel dachte: Was wird der Herr General Esmeraldas tun? Triumphieren wie ein alter magerer Puter. Von Kriegsgericht und Erschießen brüllen. Aber alles dies dauert seine Zeit, und San Isidro wird sich vielleicht mal wieder auf Ermitteln und Vermitteln legen. Obwohl man natürlich nicht wissen kann, ob Esmeraldas nicht einfach eine vollendete Tatsache schaffen wird. Einen toten General macht kein Präsident wieder lebendig. Man muß also mit allem rechnen. Wird man sogleich die Nachricht übers Land funken, daß der General Oronta gefangen sei? Vielleicht nicht; denn man weiß, daß Dorrego und del Vecchio noch in Esperanza sitzen und große Teile des Heeres in der Hand haben. Immerhin wird man glauben, daß der Umsturzbewegung der Kopf abgeschlagen sei. Und nur ein Kind kann annehmen, daß der echte Oronta die ungeheure Möglichkeit, die ihm das Glück in die Hand gespielt hat, nicht nützen wird. Er wird aus seiner Verborgenheit hervorbrechen wie der Bulle aus dem Stall, und die ganze Aktion wird abrollen wie ein Uhrwerk. Dafür wird schon der Herr Adjutant sorgen. Die Herren in San Isidro werden glatt überrannt werden – und das gerade dann, wenn sie etwa öffentlich triumphieren. Was sie unter diesen Umständen mit dem in ihrer Hand befindlichen Ersatzgeneral machen, wird man ja sehen. Verhindern läßt es sich ohnehin nicht.

Manuel kam zu dem Schluß, daß es am besten sei, dem Schicksal die Führung zu überlassen – dem Schicksal, das seine Pläne zerstört und ihm Juana genommen hatte. Ob es ihm wohl wenigstens eine reine Erinnerung lassen würde – und sei es auch nur als Gnadengeschenk für kurze Stunden vor einem unrühmlichen Ende?

Der Oberleutnant, der nun wieder neben Manuel saß, stellte mit einem Seitenblick fest, daß der General Oronta sich in die Polster zurückgelehnt hatte und die Augen schloß. Er haßte den General, der ihn tödlich beleidigt hatte, aber er fühlte eine unwillkürliche Bewunderung für einen Mann, der unter solchen Umständen schlafen konnte. Daß Manuels Halbschlummer von einem quälenden Andrängen jagender Traumschatten überfinstert war, ahnte er nicht.

Die beiden Wagen, mühsam kletternd, näherten sich nun dem Hochtal von Concepcion, in dem der General Esmeraldas sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Der Wind stand ihnen entgegen, und zuweilen trug er einen ersten Hauch der Kühle von den Bergen herüber.

 

Der Adjutant saß, in sehr korrekter Haltung, den Säbel zwischen den Knien, auf einem Sessel und blickte aufmerksam zu General Oronta hinüber, der auf dem Bettrand hockte und sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr. Orontas Augen waren gerötet, sein Gesicht sah grau und verquollen aus, aber er hatte sich sogleich ermuntert und mit erstaunlicher Schnelligkeit alles begriffen. Ein gewaltiges Lachen schüttelte seinen schweren Körper, während er in die Lederpantoffeln fuhr, zum Tische kam und sich in einen Sessel fallen ließ.

»Ist es die Möglichkeit!« ächzte er. »Dieser Lausekerl von einem Landstreicher will mir meine Revolution stehlen, und wird statt meiner geschnappt! Das ist der tollste Witz, den ich je gehört habe! Den Burschen stelle ich mir als Hofnarren an. Himmelherrgottsdonnerwetter!« Er hielt sich die Seiten, die Lachtränen kollerten in seinen Bart. Schließlich sah er seinen Adjutanten an. »Was machen Sie denn für ein Gesicht? Ich sag's ja immer, Sie haben keinen Humor!«

del Vecchio hielt es für richtig, das auf die Heiterkeit notwendigerweise folgende Unwetter im Gegenstoß abzufangen. Er nahm sein Einglas heraus und hielt es nachdenklich prüfend gegen das Lampenlicht.

»Doch, Exzellenz«, sagte er trocken. »Der Humor der Sache war mir durchaus aufgegangen, und zuerst habe ich auch gelacht. Aber wir wollen doch nicht verkennen, daß wir nur durch günstige Fügung einer großen Gefahr entgangen sind. Wie groß sie war, könnte uns außer Señor Manuel wohl nur der famose Major de Souza sagen; aber der ist ja nun auch auf dem Wege nach Concepcion. Ich muß bekennen, daß ich meinen Findling in peinlicher Weise unterschätzt habe. Der Mann hat Verstand, Phantasie und Entschlußkraft. Wäre er heil bis zur Nord-Kaserne gekommen, dann säßen Sie, Exzellenz, und ich jetzt hilflos hinter Schloß und Riegel – und wir hätten alle Aussicht, von unserer eigenen Revolution erschlagen zu werden. Täuschen wir uns nicht: Er hatte die Absicht, endgültig der General Oronta zu werden – und es zu bleiben. Und er hat bestimmt alle Vorbereitungen dafür getroffen.«

Oronta stieß ein gereiztes Knurren aus. »Sie haben um Kopf und Kragen gespielt, del Vecchio.«

»– und gewonnen, Exzellenz«, sagte der Oberstleutnant gleichmütig und setzte sein Glas wieder ein. Er sah mißbilligend, daß Oronta sich mit leicht zitternder Hand ein Glas Whisky eingoß und es hinunterstürzte. »Endgültig und mit Sicherheit gewonnen. Ich möchte nur wissen, auf welche Weise sich mein Freund Manuel die Kenntnisse über den Aktionsplan verschafft hat – denn daß er alle Einzelheiten kennt, scheint mir sicher.«

»Die Überwachung hat offenbar böse Lücken gehabt, mein Lieber«, knurrte Oronta.

»Zweifellos. Aber Exzellenz wollen bedenken, daß ich Tag und Nacht mit Arbeit überlastet war und niemanden in die Manuelkomödie einweihen durfte. Ich sage das nicht, um den begangenen Fehler zu verkleinern. Schließlich war das Ganze meine Regie. Es ist mir keineswegs angenehm, daß dieser Amateur mich hinters Licht führen konnte. Über die Einzelheiten werde ich später, nach abgeschlossener Ermittlung, berichten. Einstweilen schlage ich vor, die Gesamtlage rasch zu prüfen, damit wir die einzigartige Gelegenheit nutzen können.«

»Bitte.« Oronta ging im Zimmer auf und ab, die leichten Möbel und Schränke schütterten und klirrten von seinen schweren Schritten. »Zunächst einmal wird Ihr Freund Manuel dem Idioten Esmeraldas triumphierend erzählen, daß er alles andere als Oronta sei.«

»Das glaube ich nicht, Exzellenz«, lächelte del Vecchio. »Er ist klug genug, sich zu sagen, daß ihm das kein Mensch glauben würde. Er trägt keine abnehmbare Maske. Die Umstände, unter denen er gefangen wurde, lassen keinen Zweifel zu. Und das Ganze klingt, unter solchen Voraussetzungen erzählt, einfach wie ein Märchen. Man würde ihn auslachen. Ich bin überzeugt, daß er durchhält und auf den Ausbruch des Kampfes wartet, in der Hoffnung, daß die Regierungstruppen überrannt werden und er vielleicht doch noch eine Gelegenheit zum Entkommen findet.«

»Die Aussicht ist gering«, sagte Oronta grimmig. »Wenn ich den Kerl lebend fange, brate ich ihn auf dem Rost.«

»Zunächst«, begann del Vecchio mit seiner unbewegten Stimme, »entsteht die Frage, ob San Isidro die vermeintliche Gefangennahme des Generals Oronta sofort bekanntgeben wird. Sollte das geschehen, etwa im Laufe des heutigen Tages, so können Exzellenz die Nachricht durch sofortiges Hervortreten entkräften und unmittelbar losschlagen. Wir können ganz einfach sagen: Bitte, die Regierung hat gelogen. Die Folge wäre eine ungeheure Schockwirkung bei der Gegenpartei und ein starker Auftrieb auf unserer Seite. Aber ich persönlich glaube, daß man es so eilig nicht haben wird. Gewiß wird Esmeraldas geneigt sein, in blinder Wut das berühmte Exempel zu statuieren; aber Exzellenz kennen doch den Präsidenten und seine Neigung zum Vermitteln, zum »legalen Vorgehen« und zum korrekten Aktenweg. Er wird die Gegner der Regierung nicht erschrecken und einschüchtern – er wird sie durch Vernunft gewinnen wollen. Und Esmeraldas ist schließlich nicht nur Oberbefehlshaber – er ist auch Kriegsminister und als solcher Mitglied des Kabinetts. Man wird sich streiten, meine ich, und zwar telefonisch. Kriegsgericht gegen Staatsgerichtshof. Daß die Revolution inzwischen losbrechen könnte, wird droben niemand auch nur vermuten, da man ja glaubt, daß man ihr den Kopf abgeschlagen hat. So eröffnet sich uns der zweite Weg, den ich persönlich vorziehen würde, da er das Überraschungsmoment voll ausnutzt, aber größere Sicherheit bietet.«

»Richtig«, sagte Oronta und stemmte die geballte Faust schwer auf den Tisch. »In Esperanza geht alles seinen Gang, als wäre gar nichts passiert. Heute gegen Abend schneiden wir sämtliche Verbindungen nach Concepcion und San Isidro ab, und bei Eintritt der Dunkelheit schlagen wir los. Das wird eine Nacht, an die San Isidro denken wird. Bis dahin bleibe ich hier. Können Sie alles Erforderliche durchführen?«

»Gewiß, Exzellenz. An den Plänen selbst ändert sich ja nichts. Der Termin wird lediglich um acht Stunden vorverlegt. Diese acht Stunden Dunkelheit werden entscheiden.« Er erhob sich. »Ich werde Ew. Exzellenz gegen Mittag Bericht erstatten.«

»Und wenn das Fehlen des Generals Oronta im Hotel bemerkt wird?«

»Wenn schon –! Man weiß ja nichts«, antwortete der Adjutant. »Exzellenz sind eben auf einer Besichtigungsfahrt, die sich in die Länge zieht.« Er rückte die Hacken zusammen, Oronta nickte.

»Halt«, sagte er plötzlich. »Sie haben mir nur erzählt, daß Mr. Wineman seine Kenntnis durch einen Agentenbericht bekam. Wie war das doch? Der Agent hatte seinerseits die Spitzel der Regierung belauscht, nicht wahr? Eine verrückte Geschichte. Warten Sie mal – wo hielten sich die Spitzel der Regierung denn auf? Im Hotel?« Oronta sah mit plötzlich erwachendem Mißtrauen, daß del Vecchio seinem Blick auswich. Das war ihm neu. Er setzte sich auf den Schreibtischsessel und wurde sachlich. »Hier stimmt etwas nicht, mein Lieber, und ich will wissen, was es ist. Es muß ein Zusammenhang mit früheren Spitzeleien bestehen. Wer hat die Pläne Ihres Freundes Manuel an die Regierung verraten? Ich bitte um Antwort.«

Der Adjutant fuhr sich in leichtem Unbehagen mit zwei Fingern in den Rockkragen. Diesmal war es offenbar unmöglich, das Unwetter durch Auffangen abzuschwächen. Er liebte es nicht, wenn sein Chef vor entscheidenden Handlungen in Hitze geriet – die Folge davon war, daß er Fehler beging, und die Folgen von Fehlern kommen auf das Haupt des Adjutanten. Dann aber fiel ihm ein, daß er diesmal mit Recht behaupten konnte, unschuldig zu sein. Die Beziehungen zur Baronesa waren eine rein private Angelegenheit des Generals; ihre Überwachung gehörte nicht zum Dienstplan. Ein kaum merkliches Zucken lief um del Vecchios Mundwinkel.

»Ich bedauere es sehr, Ew. Exzellenz in einem solchen Augenblick eine menschliche Enttäuschung bereiten zu müssen. Es wäre mir lieber gewesen – –«

»Orakeln Sie nicht«, sagte Oronta grob. »Ich will Namen hören.«

»Señora Mastado hat dem Innenminister Dr. Rocha den ganzen Plan gemeldet. Offenbar im Rahmen eines regelmäßigen Dienstes. Ich nehme an, daß eine geheime telefonische Verbindung bestand, Ermittlungen sind eingeleitet.«

»Señora Mastado –? Das ist doch die Gesellschaftsdame der Baronesa? Woher hat denn die alte – –« Mit einem jähen Ruck sprang Oronta auf; sein Gesicht färbte sich dunkel. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß die Baronesa von diesem Spitzeldienst wußte?«

Der Adjutant hob mit bedauernder Geste die gespreizte Hand. »Leider nicht nur das, Exzellenz«, sagte er behutsam. »Ich habe feststellen müssen, daß die Baronesa selbst eine Abmachung mit Dr. Rocha hatte. Sie hat die Mastado nur als unauffällige Mittelsperson benutzt. Allerdings vermute ich, daß die Dienerin weit fanatischer war als die Herrin, treibende Kraft, wenn man so sagen darf.«

»Weiter.« Orontas Gesicht war verzerrt, er hielt das Lineal, das auf dem Kartentische lag, in krampfhaft geballten Fäusten. »Dann hat also die Baronesa auch meinen – Stellvertreter durch die Mastado verraten lassen? In der Meinung, – mich damit zu verraten?«

del Vecchios Stimme war gedämpft, aber klar: verständnisvolle, taktvoll verhaltene Teilnahme.

»Exzellenz müssen noch Schlimmeres annehmen. Die Mastado hat völlig auf eigene Rechnung gehandelt, nachdem sie ein Gespräch zwischen der Baronesa und Manuel belauscht hatte. Das ergibt sich aus dem Bericht, den Mr. Winemans Agent erstattete. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen nach Manuels Abfahrt. Die Baronesa selbst hat sich in der Nacht von Manuel für seine Pläne gewinnen lassen. Das Gespräch ergab ferner – ich bitte um Vergebung, Exzellenz, aber ich berichte nur Tatsachen –, daß sie seine Geliebte geworden ist. Manuel war in den Morgenstunden bei ihr. Wohlgemerkt, immer in der Maske – –«

Das Lineal in Orontas Fäusten brach mit einem hellen Knacken entzwei; er schleuderte die Hälften auf den Tisch. Es gab ein langes Schweigen.

»Wo ist die Person jetzt?« Orontas Stimme klang heiser.

»In ihrem Hotelzimmer, unter scharfer Bewachung. Die Mastado –«

»Zum Teufel mit der alten Hexe! Lassen Sie sie in den Hafen schmeißen! Die andere – –«

Plötzlich erhob sich die heisere Stimme zum Gebrüll:

»Vorführen! Sofort vorführen!«

»Exzellenz – –«

»Hierher bringen! In dieses Zimmer! Augenblicklich! Sonst hole ich sie mir selber!« Die Karten und Schreibgeräte flogen, von einer krampfhaft zuckenden Bewegung der zitternden Fäuste weggewischt, ins Zimmer. Auf Orontas Stirne standen dicke Schweißtropfen, die verzerrten Lippen legten die Zähne bloß. »Vorführen! Sofort!« röchelte er.

»Wie Exzellenz befehlen.« Der Adjutant hob den Säbel an, rückte knapp die Hacken zusammen, ging. In seinen Augen war ein sonderbares Flimmern, sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepreßt.

 

Man wird vielleicht mit einem gewissen Befremden feststellen, daß im Ablauf dieser Geschichte Geheimdienste, belauschte Gespräche und Spitzelberichte eine große und vielfach entscheidende Rolle spielen. Das ist indessen, recht bedacht, keineswegs verwunderlich – ja, es versteht sich eigentlich von selbst. Die nervöse Spannung vor den entscheidenden Ereignissen, die Vielfältigkeit und Gegensätzlichkeit der »Interessen«, der stumme und erbitterte Kampf unter der Oberfläche verwiesen die Parteien ganz natürlich auf das gegenseitige Belauern durch amtliche, halbamtliche und ganz private »Dienste«; und wir haben nun schon genügend über Esperanza und seine Bewohner vernommen, um zu wissen, daß dort für den Handel mit Nachrichten und Beobachtungen ein ergiebiger Markt vorhanden war. Die Zulassung zu dieser Börse war ebenso wenig einheitlich geregelt wie die Preisgestaltung; und eigentlich jeder der Händler, Makler und Käufer verfolgte dabei, ohne nennenswerte Hemmungen, Zwecke, die über das augenblickliche Geschäft weit hinausgingen.

Nach dieser historisch-kritischen Vorbemerkung erscheint es zulässig, uns für einen Augenblick der Person und Tätigkeit des Señor Candido Hernandez zuzuwenden – wie das übrigens ja bereits angekündigt war.

Candido Hernandez, ein fetter, immer etwas schmuddliger Mann mit einem allzu biederen Gesicht und einem einstmals unwiderstehlichen schwarzen Schnurrbart, Vater von neun mehr oder weniger ungeratenen Kindern, betrieb sein vielseitiges Gewerbe »vermittels«, um im Stil der Polizeiberichte zu reden, einer alten Fordlimousine. Der Wagen, von seinem vierten Besitzer aufgegeben, aber von Candido Hernandez dem Friedhof entrissen, für zweihundert Peseten erworben und durch neuen Lack und einen elektrischen Zigarrenanzünder als Droschke hergerichtet, erwies sich als unschätzbares Betriebswerkzeug. Candido, der seinen dicken Bauch mit einer nur ihm selbst erklärlichen Gleitbewegung hinter das Steuerrad klemmte, führte Fahrten und Beförderungen erlaubter und unerlaubter Art zu jeder Tages- und Nachtzeit aus; er brachte es fertig, stundenlang hinter dem Steuerrad zu schlafen, fester und friedlicher als daheim bei den neun Kindern; er lernte, die ewige Zigarette im Mundwinkel, Menschen, Zusammenhänge und nützliche Tatsachen kennen, Verborgenes ergründen und aus Merkmalen Schlüsse ziehen. Nur wenige Menschen in Esperenza wußten, daß der verschlafen blinzelnde Wagenlenker mit der schmierigen Leinenjacke ein zweibeiniges Kompendium gefährlichen Wissens war: Denn Candido Hernandez redete nur dann, wenn jedes Wort einen Gegenwert in gängiger Landeswährung einbrachte. Im übrigen war er ein gläubiger Mann, denn eine rasche dreifache Kreuzbewegung des schwärzlichen Zeigefingers hatte sich bisher als ausreichender Schutz gegen alle Gefahren erwiesen.

Als Candido, nach etlichen lohnenden Nachtfahrten und einem erquickenden Schlaf am Steuer, behaglich seinem Heim zurollte, voll Vorfreude auf seinen Morgenkaffee und ein paar erholsame Stunden Bettruhe, trat er unvermittelt auf die Bremse. Vor der Hinterfront des »Grand Hotel Esperanza« war ihm etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Auf dem Straßenpflaster lag eine dunkle, sonderbar verkrümmte Gestalt, und drumherum standen einige aufgeregte Leute. Candido kletterte aus dem Führersitz und drängte sich, mit gemurmelter Beteuerung seiner Hilfsbereitschaft, in die Gruppe hinein. Die Leute – sieh an, Geheimpolizisten – stießen ihn sogleich zurück: Aber er hatte genug gesehen, um seinen Zeigefinger zu einer raschen dreifachen Kreuzbewegung und sich selbst zum eiligen Rückzug in seinen Wagen zu veranlassen. Was da wie ein achtlos hingeworfenes Kleiderbündel auf dem Pflaster lag, war ein vom Sturz aus dem Fenster zerschmetterter Mensch – war eine alte Frau, die er vor wenigen Stunden noch in seinem Wagen befördert hatte. Er wußte auch den Namen: Señora Mastado, Gesellschaftsdame der Baronesa Pereira de Carvalho. Mit zitternden Fingern – der Anblick war ihm denn doch in die Knochen gefahren – entkorkte er seine Dienstflasche und tat einen tiefen Zug; dann zündete er sich eine frische Zigarette an und sah zu, wie die Beamten den Leichnam und alle Spuren des Ereignisses mit bemerkenswerter Eile beseitigten.

Candido ahnte nichts von dem, was dieser armseligen kleinen Tragödie vorangegangen war: von der einsamen, ratlosen Verzweiflung einer alten Frau, der der flammende Haßausbruch ihrer trotz allem leidenschaftlich geliebten Herrin das Herz versengt hatte; von ihrem tränenblinden Umherirren zwischen den Trümmern ihrer im Augenblick des vermeintlichen Triumphes vernichteten Welt; von ihrem ziellosen Hinausstürzen aus dem Zimmer und ihrem entsetzten Zurückweichen vor dem groben Anruf eines postenstehenden Soldaten; von dem schwankenden Hintappen zum Fenster und dem jähen Sprung in eine erlösende Tiefe. Er hatte die alte Señora mehrfach zu seltsamen Zeiten bis in die Nähe jenes kleinen Ladens bei der Iglesia Espiritu Santo gefahren, und da Alter und Aussehen der Dame gegen die Vermutung sprachen, daß sie auf verborgenen Liebespfaden wandle, auf eine geheime politische Wirksamkeit geschlossen: eine Annahme, die sich auf mancherlei Erfahrungen auf diesem Betätigungsgebiet stützte. Vermutlich hatte diese Tätigkeit jetzt zu einem gewaltsamen Ende geführt. Der fette Wagenlenker schüttelte tugendhaft den Kopf. Das hatte man davon, wenn man für eine Partei Kopf und Kragen riskierte. Es war gefahrloser und einträglicher, unvoreingenommen und ganz unpolitisch den Spitzeln beider Parteien Nachrichten zu verkaufen. Hier schien sich wiederum eine Möglichkeit zu eröffnen. Er beschloß zu warten.

Er brauchte nicht lange zu warten. Vor dem Hinterausgang des Hotels fuhr ein geschlossener Wagen vor, am Steuer saß ein Soldat, neben ihm ein zweiter. Aus der Tür – Candidos Augen quollen bedenklich hervor – trat die Baronesa, ihr folgte Oberstleutnant del Vecchio. Es war gewiß nichts Auffälliges, daß die Baronesa, die ja wohl in Beziehungen zum General Oronta stand, mit dem Adjutanten eine Autofahrt machte – auffällig war nur die frühe Stunde, auffällig das bleiche Gesicht der Dame und ihr unsicherer Schritt, auffällig die starre dienstliche Haltung des Oberstleutnants. Sie stiegen ein, der Schlag klappte zu, der Wagen fuhr ab. Candido war ein Mann von raschen Entschlüssen. Er witterte Zusammenhänge, und zwar von der nutzbaren Art. Mithin beschloß er zu folgen. Er trat auf den Anlasser und fuhr hinterdrein.

 

Die Fahrt war rasch und kurz. Sie umfuhren das Hotel, überquerten die Calle de la Paz, tauchten in den schmutzigen Seitengäßchen unter. Dann hielt der vordere Wagen – Candido bremste in achtungsvoller Entfernung – vor einem Hoftor, der Beifahrer stieg aus und verschwand in einem niedrigen Hauseingang neben dem Tor. Die beiden Flügel taten sich knarrend auf und schlossen sich alsbald wieder hinter der Limousine.

Candido überlegte. Die Sache sah, wenn er sich überhaupt auf etwas verstand, für die Baronesa recht übel aus – nach einer unfreiwilligen Spazierfahrt, vielleicht gar nach einer Verhaftung. Und da der Oberstleutnant sich persönlich bemühte, mußte es wohl eine wichtige Sache sein. Señor Hernandez liebte die körperliche Bewegung nicht, aber sein Gehirn arbeitete wach und flink, und ihm dämmerte so etwas wie eine Ahnung der Zusammenhänge auf. Daß die Gebäude hinter dem Laden Mr. Johnsons geheimnisvolle Bestimmungen und Verbindungen hatten, wußte er seit langem. Seine kleinen, in Fettpolster gebetteten Augen begannen zu funkeln.

Wer etwas erfahren will, muß Ausdauer und Geduld haben. Candido, die Zigarette im Mundwinkel, scheinbar in friedlichem Halbschlummer, aber mit der Wachsamkeit, Ausdauer und Geduld eines Anglers, saß hinter dem Steuerrad und wartete.


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