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11. Kapitel

Major Samper bekommt einen Gast und bemüht sich vergeblich. – Plötzlich unterbrochenes Gespräch zwischen Manuel und Esmeraldas. – Oronta kommt. – Der Adjutant spielt Schicksal und Juana erlebt erstaunliche Wechselfälle

Von Major Julio Samper, dem Kommandanten des Forts San Bonifacio, hatte einmal ein boshafter Kamerad gesagt, es wäre für ihn nicht von Vorteil gewesen, daß er den Oberstleutnant del Vecchio gesehen hätte. Von diesem Tage an nämlich trug der kleine, magere, hakennasige Herr ein etwas zu großes Einglas, das die peinliche Gepflogenheit hatte, ihm immer in besonders auf Repräsentation gestellten Augenblicken wegzufallen; er vergewaltigte sein welliges und etwas mitgenommenes Haupthaar mit reichlicher Fettanwendung zu einer straff an den Kopf geklebten Glätte; er versetzte den besten Uniformschneider von Esperanza durch verwegene Bestellungen in Bestürzung und vergällte ihm das Leben durch Inanspruchnahme eines beklemmend hohen Kredites; er bewehrte sich mit beinahe echt silbernen Sporen und nahm eine kühle und hochmütige Miene an. Daß sie ihm das Aussehen eines magenleidenden Kakadus gab, wußte er nicht. Vor solchen Erkenntnissen pflegt die gütige Natur ihre Lieblinge zu bewahren.

Daß Major Samper von General Oronta mit dem Kommando im Fort San Bonifacio betraut wurde, war eine Ehre für ihn, aber er trug sie mit gemischten Gefühlen, da sie seinen angestrengten Bemühungen, in Esperanza als Lebemann zu glänzen, ein Ziel setzte. Um nicht in Lethargie zu verfallen, ergab er sich dem Dienst und trieb seine Offiziere und Mannschaften zielbewußt dem Wahnsinn in die Arme.

Vom Fort San Bonifacio ist zu sagen, daß das geräumige, wohlerhaltene alte Kastell eigentlich nur noch aus Pietät als Befestigungsanlage geführt wurde, da es in der kriegerischen Geschichte Nebradors eine rühmliche und romantische Rolle gespielt hatte. Die von der Garnison in San Agostino gestellte Besatzung war nur eine Ehrenwache, denn die alten Geschütze, die durch die Schießscharten martialisch ins Tal hinunterdrohten, taten niemandem mehr etwas zuleide. Der Kastellan, ein ehemaliger Feldwebel, hatte das Recht, Ansichtskarten zu verkaufen, Ausflüglern die Burgräume zu zeigen und ihnen für Erfrischungen beträchtliche Preise abzunehmen. Dieses beschauliche Dasein wurde durch den militärischen Weitblick Orontas jäh gestört. San Bonifacio lag über der Landstraße, auf der bei der geplanten Aktion der mittlere Stoßkeil gegen Concepcion und die Hauptstadt vorgetrieben werden sollte. Sie war, sozusagen als Nahtstelle des langgestreckten Landes, der kürzeste Weg zwischen der Küste und San Isidro, und durch ihre Beherrschung war das Land in zwei verbindungslose Teile zerschnitten. Oronta legte in aller Stille zwei Batterien leichter Motorgeschütze, eine Abteilung schneller Straßenpanzer und einige motorisierte Abteilungen mit leichten Waffen in das Fort: Sie sollten gleich zu Beginn rasch vorstoßen und die im Vormarschbereich liegenden kleineren und größeren Abteilungen zum überrumpelnden Stoß gegen die Regierungstruppen mitreißen. Major Samper hatte eine wichtige Aufgabe, und er ging umher, als hätte ihn der Kriegsgott persönlich zu seinem Stellvertreter eingesetzt. Daß er insgeheim auf einen verhältnismäßig unblutigen Verlauf der ganzen Angelegenheit hoffte, behielt er für sich. Er hatte Aussicht auf Beförderung, und er sagte sich, daß er persönlich daran nur in lebendigem Zustande Freude haben konnte.

Als ihm ein Dienstgespräch seine Gefangene ankündigte, geriet er in eine keineswegs unangenehme Aufregung. Der Adjutant hatte unmißverständlich den Wunsch geäußert, daß die aus politischen Gründen in Gewahrsam genommene Dame streng zu bewachen, aber anständig zu behandeln und unterzubringen sei. Die Frau des Kastellans habe ihr für persönliche Wünsche zur Verfügung zu stehen. Major Samper ließ sogleich ein Zimmer so herrichten, daß es seiner Auffassung von anständiger Unterbringung entsprach. Er rasierte sich zum zweiten Male an diesem Tage und benutzte alle verfügbaren Mittel zur Pflege und Ausschmückung seiner äußeren Erscheinung. Und er begab sich zum Empfang höchstpersönlich auf den Hof hinaus, in der Haltung eines hohen Funktionärs, der zwar gewillt ist, streng und unnachsichtig seiner Pflicht zu genügen, aber dabei auf überlegene Art die ritterliche Form zu wahren. Natürlich wußte er, wer die Baronesa war, und er hatte auch von Orontas Bemühungen um ihre Gunst vernommen. Eine gestürzte Favoritin war keine üble Aufmunterung vor dem Beginn der großen, wenn auch hoffentlich unblutigen Aktion. Man konnte nicht wissen.

Der erwartungsvolle Major wurde enttäuscht. Die Baronesa, die ein Taschentuch gegen die linke Wange gepreßt hatte, stieg rasch aus, streifte ihn kaum mit einem Blick, begab sich in das ihr zugewiesene Zimmer und setzte sich auf das Feldbett. Ihr Blick schien nichts zu erfassen; ihr Gesicht war versteint. Sie war sehr schön – weit schöner, als der Major sie in Erinnerung hatte; seine genießerische Kennerschaft kam durchaus auf ihre Kosten. Er war bereit, im Rahmen des Möglichen alle seine von – allerdings weniger vornehmen – Damen oft anerkannten Vorzüge zur Verfügung zu stellen. Aber was half ihm das? Diese Aristokratin sah ihn nicht einmal an; sie blickte zum Fenster, starr und wie leblos. Als er abermals fragte, ob er ihr irgendwelche Wünsche erfüllen könne, wandte sie kurz den Kopf.

»Ich danke Ihnen, Herr« – ihr Blick suchte seine Achselstücke – »Herr Major. Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich brauche wirklich nichts.« Dabei lächelte sie wahrhaftig, ein gedankenlos höfliches gesellschaftliches Lächeln. Dann drehte sie sich wieder zum Fenster. Major Samper fühlte sich von seiner Gefangenen entlassen.

»Hochnäsige Person«, knurrte er und gab der Ordonnanz einen Wink, das Zimmer zu verschließen. Denn ein Menschenkenner war er nicht: Sonst hätte er immerhin geahnt, daß diese Starrheit, diese scheinbare Fühllosigkeit ein Zustand war, wie ihn das Schicksal starken Naturen im Augenblick der höchsten Gefahr als Schutz vergönnt, um sie davor zu bewahren, daß erzwungene und hilflose Untätigkeit sie der Verzweiflung ausliefert. Es ist das ein eisiges, gleichsam undurchdringliches Warten auf die entscheidende Wendung. Bringt sie den endgültigen Untergang, so nimmt man ihn in gefaßter Haltung hin; eröffnet sie den Weg zur Rettung, so erwachen alle Kräfte aus der Erstarrung sogleich zum höchsten Einsatz.

Davon, wie gesagt, wußte Major Samper nichts. Er fuhr wie ein knatterndes Unwetter unter die Fortbesatzung, und nach einer Stunde schon hätte es in San Bonifacio kein Mitglied der Besatzung gegeben, das für die Erlaubnis, den Kommandanten umzubringen, nicht mit Freuden mehrere Monatslöhnungen geopfert hätte. Zwischendurch inspizierte der Major noch einmal den Korridor, an dem das Zimmer der Gefangenen lag, und benutzte die Gelegenheit, um durch die vergitterte Türklappe zu blicken.

Er schüttelte den Kopf. Die Baronesa hatte sich auf dem Feldbett ausgestreckt und starrte – er sah es deutlich – mit weit offenen Augen zum Fenster. Ihre linke Hand preßte das Taschentuch gegen die Wange. Die Erfrischungen, die ihr die Frau des Kastellans gebracht hatte, standen unberührt auf dem Tische.

Da war nichts zu machen. Major Samper kaute wütend seinen vergeblich gepflegten Schnurrbart und ergab sich dem Dienst.

 

Es begann zu dämmern; der Himmel, im Westen noch von einem letzten Rot getönt, färbte sich zu einem tiefen dunklen Blau, die ersten Sterne glitzerten auf. Die zum Fenster hereinströmenden Düfte wurden schwerer und atmeten betäubende Süße. Manuel hatte sich von der Ordonnanz Zigaretten bringen lassen; er ging ratlos auf und ab und rauchte, die Schale auf dem Tische füllte sich mit Asche und zerstampften Zigarettenenden.

Die Tür flog auf. »Exzellenz lassen bitten.« Der Posten trat zur Seite, Manuel ging zum Speisesaal.

Unter dem Kronleuchter saß wiederum das Tribunal versammelt, Dr. Rocha saß wiederum in seinem Sessel. Es war alles wie vorhin, aber die Luft war von einer geheimen Spannung erfüllt, und es kam Manuel vor, als wären die Gesichter der reinlichen, hübschen Generalstabsoffiziere ein wenig bleicher und nicht mehr ganz so wohlgefällig heiter.

»Herr General Oronta,« sagte Esmeraldas in strengem Verhörston, »ich habe Ihnen eine Frage vorzulegen. Wir haben dauernd versucht, mit den Dienststellen in Esperanza telefonisch Verbindung aufzunehmen. Weder der Chef Ihres Stabes noch Ihr Adjutant ist zu erreichen. Ebensowenig der Polizeipräsident und der Kommandant der Guardia Nacional. Die untergeordneten Stellen wissen dafür keinen Grund anzugeben. Der Bürgermeister ist angeblich erkrankt. Ein von mir zur Berichterstattung nach Esperanza geschickter Offizier ist dort angeblich nicht angekommen. Geht diese Häufung von Zufällen auf eine Anweisung von Ihnen zurück?«

»Nein«, antwortete Manuel.

Esmeraldas lief rot an und pustete wütend durch den weißen Schnauzbart.

»Haben Sie für den Fall Ihrer – Verhinderung Anweisungen hinterlassen?«

»Was würden Sie in einem solchen Falle tun, Exzellenz?« fragte Manuel dagegen.

» Ich habe hier zu fragen«, tobte Esmeraldas. »Ich will von Ihnen klipp und klar hören, ob Sie wissen, was in Esperanza vorgeht.«

»Ich weiß es nicht.« Manuel zuckte die Achseln. »Und wenn ich es wüßte, würde ich es bestimmt nicht sagen.« Ausgezeichnet geantwortet, dachte Manuel; knapp, klar und männlich. Jetzt aber heißt es die Nerven behalten. Ich bin wieder einmal allein – schauerlich allein. Manuel, der Tramp, als Gefangener gegen den Generalstab von Nebrador. Da aber fühlte er Rochas aufmerksam prüfenden Blick, und sofort war er wieder völlig ruhig.

»Ich warne Sie, Herr General Oronta«, sagte Esmeraldas drohend. »Sie machen sich die Lage offenbar noch immer nicht richtig klar.«

»Die Lage ist aber wirklich gar nicht so schwer zu begreifen, Herr General Esmeraldas«, antwortete Manuel. »Als Oberbefehlshaber könnten Sie mich Ihrer Gerichtsbarkeit unterwerfen, als Kriegsminister können Sie sich mit dem Kabinett über die Behandlung meiner Person nicht einigen. Praktisch gesprochen haben Sie mich in Ihrer Gewalt, was andererseits mit der Lage im Lande nicht so ganz der Fall zu sein scheint.«

»Deutlich und bündig«, bemerkte Dr. Rocha beifällig und schnitt die Spitze einer frischen Zigarre ab.

Esmeraldas warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Lassen wir das Gerede. Ich will jetzt von Ihnen eine klare Antwort auf eine klare Frage, Herr General Oronta. Sie sollen hier vom Hauptquartier aus über den Rundfunk die Erklärung abgeben, daß Sie sich der Regierung bedingungslos unterwerfen und auf jede staatsfeindliche Tätigkeit in Zukunft verzichten. Sie sollen ferner Ihren Anhängern befehlen, jede gegen die Regierung gerichtete Aktion sofort einzustellen und den Befehlen der Regierung ohne jeden Widerspruch zu gehorchen. Diese Erklärung haben Sie außerdem handschriftlich auszufertigen. Sie wird durch einen meiner Offiziere im Flugzeug nach Esperanza gebracht werden. Wenn Sie einwilligen, lasse ich Sie und Major de Souza nach San Isidro bringen, die Sache kann dann meinetwegen den Aktenweg gehen. Wenn Sie sich weigern, verfallen Sie beide der Militärgerichtsbarkeit. Entscheiden Sie sich bitte, und zwar sofort.«

»Verzeihung, so war die Sache nicht, natürlich«, warf der Innenminister ein. »Wenn die Erklärung des Generals Oronta hier aus dem Hauptquartier abgegeben wird, weiß jeder im Lande sofort, daß sie nicht aus freiem Entschluß, sondern unter Druck erfolgt. Damit verliert sie ihren Wert und vielleicht auch ihre Wirksamkeit. Nach dem Wunsche des Herrn Staatspräsidenten soll General Oronta die Einsicht haben, einen solchen Aufruf von San Isidro aus über den Rundfunk zu erlassen. Gleichzeitig wird eine Erklärung der Regierung erfolgen, über die noch beraten wird. Sie wird jedenfalls die Aufforderung enthalten, die nationale Disziplin zu wahren und das Land nicht in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Ferner wird sie, wenn ich recht verstanden habe, gewisse Reformen ankündigen und den an der Umsturzbewegung Beteiligten bei loyaler Haltung einen Gnadenakt in Aussicht stellen.«

»Die übliche gottverdammte Wassersuppe!« Esmeraldas schlug krachend auf den Tisch. »Diesmal aber werde ich sie versalzen! Die Sache wird so gemacht, wie ich es bestimme! So und nicht anders!«

»In diesem Falle,« sagte Dr. Rocha, der allmählich in Hitze geriet, »lehne ich jede Verantwortung ab und lege namens des Kabinetts in aller Form Verwahrung ein. Ich kehre sofort zur Berichterstattung nach San Isidro zurück, natürlich.«

»Das können Sie halten, wie Sie wollen«, war die grobe Antwort. »Ich übernehme die Verantwortung ganz allein und stehe zur Verfügung, sobald die Lage geklärt ist. Wenn Oronta meinen Vorschlag ablehnt, wird er noch in dieser Nacht durch das Standgericht abgeurteilt, und Major de Souza desgleichen. Das verstehe ich unter Handeln und klare Verhältnisse Schaffen.«

Der Innenminister sprang auf. Er hatte einen sehr roten Kopf bekommen.

»Das ist eine flagrante Rechtsverletzung«, rief er heftig.

»Ich weiß«, sagte Esmeraldas kalt. »Aber wir haben es hier nicht mit einem Prozeß oder einem Verfassungsstreit, sondern mit einer Revolution zu tun. Deshalb verfahre ich nach Kriegsrecht. Über das andere reden wir später. Entscheiden Sie sich, Herr General Oronta.«

»Einen Augenblick«, sagte Manuel. »Ich werde Ihnen sogleich antworten.« Er trat auf das Fenster zu und sah hinaus. Es war inzwischen dunkel geworden, eine schmale Mondsichel überspann das Tal mit einem schwachen silbergrünen Glanz.

Es ist klar, dachte Manuel, daß die Lage sich für die Regierung wie für Esmeraldas sehr verschlechtert hat, und daß sie nach einem letzten verzweifelten Rettungsmittel suchen. Es ist aber ebenso klar, daß dadurch ich in eine Lage geraten bin, aus der es kaum noch einen Ausweg gibt.

Ich könnte mich vor Esmeraldas erniedrigen und seine Bedingung erfüllen: dann wird Oronta alles aufbieten, um den Betrug zu enthüllen und sein Ziel mit jedem Gewaltmittel zu erreichen. Ich aber bin noch in dieser Nacht als Betrüger entlarvt und finde ein schmähliches Ende.

Ich könnte jetzt die volle Wahrheit sagen und erklären, daß der wirkliche Oronta mit Sicherheit schon in den nächsten Stunden losschlagen wird. Gewiß, das könnte ich – aber man wird mir nicht glauben, man wird es für einen in der Todesangst ersonnenen verzweifelten Trick halten. Und wenn die Ereignisse meine Behauptung beweisen, wird der lächerliche kleine Hochstapler vom Zorn des Generals Esmeraldas wie eine Laus zerquetscht. In der Geschichte Nebradors aber ist mir eine Harlekinrolle sicher.

Ich könnte schließlich diesem pompösen Esel von General erklären, daß ich seine Forderung ablehne. Dann wird er mich ohne Zweifel erschießen lassen, und man wird sagen, daß ich in der geborgten Uniform wenigstens in anständiger Haltung gestorben bin – ein kleiner Abenteurer, der ein großer General werden wollte und als kleiner Held auf dem Sandhaufen fiel – aber immerhin als Held. Mit mir stirbt de Souza – ein kleiner und bisher namenloser Offizier, der treu und furchtlos als großer Held endete. Darin aber verspiele ich meine letzte schwache Aussicht, dann kann ich nichts mehr für Juanas Rettung tun – dann werde ich vielleicht nicht einmal ihr Schicksal erfahren.

Ein Ausweg, dachte Manuel. Gibt es denn wirklich keinen Ausweg? Es ist doch manchmal verdammt schwer, eine sozusagen historische Rolle zu spielen. Das Kohlentrimmen auf dem ›Presidente Dominguez‹ war entschieden einfacher. Vielleicht wäre es wirklich am besten, die Komödie mit einer heroischen Dummheit zu beenden. Habe ich nicht in diesen Tagen Abenteuer und Glück eines ganzen Lebens als Geschenk erhalten? Vielleicht kann ich dem braven de Souza wenigstens das Leben retten. Für Juanas Schicksal wird Rocha sorgen. Ich werde ablehnen.

Und er wandte sich, mit bleichem, aber zur Entschlossenheit gespanntem Gesicht.

Das Schicksal indessen, das ihm mit so erfinderischer Aufmerksamkeit zugetan war, hatte beschlossen, an seiner Stelle die Antwort zu geben. Ein Hauptmann von der Nachrichtenabteilung des Stabes kam hastig herein, suchte mit den Blicken erregt und verwirrt den Oberbefehlshaber, lief zum Tisch und nahm Haltung an.

»Melde gehorsamst, Exzellenz,« stotterte er atemlos, »seit zehn Minuten sind alle telefonischen Verbindungen nach Esperanza und den Küstenprovinzen unterbrochen. Auch nach allen Garnisonen im Norden und Süden des Landes. Wir reichen mit unseren Anrufen nur noch höchstens hundert Kilometer weit. Die Leitungen nach dem Westen und nach San Isidro funktionieren.«

Esmeraldas war aufgesprungen, hochrot im Gesicht. »Und der Telegraf? Die drahtlose Verbindung?« keuchte er.

»Wir wissen es noch nicht, Exzellenz. Aber es scheint das gleiche zu sein. Antworten haben wir bisher nicht erhalten. Das letzte Gespräch führte ich mit dem Bahnhof in San Agostino. Der fahrplanmäßige Abendzug aus Esperanza ist bisher nicht eingetroffen.«

Die adretten Herren vom Generalstab hatten sich sehr plötzlich von ihren Plätzen erhoben und redeten aufeinander ein, ohne einander zuzuhören.

»Ich bitte um Ruhe!« brüllte Esmeraldas. Sein Blick fiel auf Manuel. »Was bedeutet das?«

Manuel zuckte die Achseln. Oronta kommt, dachte er fast fröhlich. Möge er siegen und fünfzig Meter vor dem Hauptquartier schmerzlos vom Schlage dahingerafft werden.

»Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet«, sagte er. »Ich verstehe nichts von solchen technischen Sachen. Vielleicht eine atmosphärische Störung?«

»Abführen!« tobte Esmeraldas. »Die beiden Gefangenen sind strengstens zu bewachen und beim geringsten Fluchtversuch sofort zu erschießen. Weitere Befehle erteile ich noch. Die Herren vom Stabe zur Besprechung!«

Manuel, im Hinausgehen, hörte Dr. Rocha sagen: »Unter diesen Umständen fliege ich sofort nach San Isidro, natürlich.«

»Ich bitte darum«, sagte die Stimme des Generals Esmeraldas.

*

Oberstleutnant del Vecchio hatte sich soeben nochmals rasiert und schloß den Kragen seines Waffenrockes. Eine Duftwolke von Gepflegtheit und Frische umgab ihn. Mütze, Handschuhe, Säbel und Pistole, die Aktentasche mit den Karten lagen bereit. Er setzte das Einglas ein, musterte sich im Spiegel. Sein Gesicht, schien ihm, hatte einen neuen Zug von Hochmut und Härte bekommen. Es war das Gesicht eines Mannes, der kühl und ohne Selbsttäuschung vor schweren Entscheidungen steht. Der Ton der abschließenden Gespräche mit Oronta hatte keinen Zweifel darüber gelassen. del Vecchio zuckte die Achseln. Sollte es gehen, wie es gehen wollte; einmal wäre das alles ja doch gekommen.

»Den Säbel«, befahl er dem Burschen.

In diesem Augenblick schnarrte der Fernsprecher. Dienstgespräch aus dem Fort San Bonifacio. Der Adjutant nahm den Hörer: »Was gibt es?«

Major Samper meldete, es sei ein Offizier im Kraftwagen erschienen und habe einen von Exzellenz Oronta persönlich gesiegelten, geschriebenen und unterschriebenen Befehl vorgewiesen, daß ihm die Baronesa Pereira de Carvalho zu übergeben und nach Esperanza zurückzubringen sei. Er zweifle nicht, sagte Major Samper, daß die Sache ihre Richtigkeit habe, möchte aber der Ordnung halber doch noch einmal um Bestätigung bitten.

»Einen Augenblick«, sagte del Vecchio.

Er überlegte, mit gefurchter Stirn und nachdenklich verkniffenen Lippen. Es war völlig klar, daß San Isidro die Gefangene wieder in seinen Besitz bringen wollte – durch eine Wiederholung des Husarenstückes, dem Manuel zum Opfer gefallen war. In diesem Dr. Rocha steckte doch mehr, als man vermutet hatte. Der Adjutant sah in diesem Augenblick deutlich den Auftritt im Zimmer Orontas vor sich: das wutverzerrte Gesicht des Generals, das schöne, stolze Antlitz Juanas, den feurigen Striemen und das Blut auf ihrer Wange. Sie hatte nicht einmal gezuckt unter dem Schlag. Sie war aus edlem Blut – wie er selbst. Das bewahrte nicht vor Irrtum und Verstrickung; aber es blieb eine Verpflichtung – auch für ihn. Einmal mußte der Anfang gemacht werden mit der Säuberung vom Makel. Er hob den Hörer wieder ans Ohr.

»Herr Major Samper –? Die Sache ist in Ordnung. Übergeben Sie dem Offizier die Gefangene.«

Als er den Säbel im Gehenk befestigte, leuchteten seine Augen in einem seltsamen triumphierenden Glanz, und er lächelte.

*

Juana war dem jungen Offizier, der einen handschriftlichen Befehl Orontas vorzuweisen hatte, schweigend zum Wagen gefolgt und stieg ein. Er setzte sich neben sie, Major Samper legte höflich, aber gekränkt die Hand an die Mütze, die Wache öffnete das Tor, der Wagen rollte auf der Serpentinenstraße zu Tal. Es war dunkel geworden, der Himmel flammte von Sternen, der junge Mond erhellte das Land mit seinem matten, wie grünlicher Nebel verströmenden Glanz. Die starken Scheinwerfer des Wagens stießen grelle Lichtbahnen in die schimmernde Dämmerung.

Juana regte sich nicht; der junge Offizier war vergeblich bemüht gewesen, den Ausdruck ihres Gesichts zu erkennen. Sie preßte noch immer das Taschentuch an die Wange, die vom Schlage Orontas brannte. Er wußte von den Zusammenhängen nur das, was Gerüchte ihm zugetragen hatten, und er kannte nur seinen in der Form sehr klaren, aber in der Durchführung sehr schwierigen Auftrag; man hatte ihm keinen Zweifel darüber gelassen, daß seine Fahrt im Vorstoß durch unsicheres Gebiet in einen Mittelpunkt der gegnerischen Bewegung führte. Befehl war Befehl, und das Abenteuer reizte ihn. Die Offiziere, besonders die jüngeren, aus den Garnisonen in und um San Isidro hatten sich früher um Politik wenig gekümmert. Aber in letzter Zeit wären dem General Esmeraldas gewiß manchmal etliche Bedenken aufgestiegen, wenn er die Gespräche in vertrauten Zirkeln hätte belauschen können. Wohl hatten die leidenschaftlichen oder korrekten Anhänger der Regierung, die Feinde Orontas und die Verfechter der Treue das Übergewicht behalten; aber eine politische Meinung muß durch einen mächtigen Antrieb vorwärtsgetrieben werden, wenn sie sich im Bürgerkrieg durch Schüsse gegen die eigenen Kameraden bewähren soll.

Die Reglosigkeit Juanas war nicht mehr Erstarrung und Betäubung; sie war die Beherrschtheit, die sich zur Ausführung eines Entschlusses spannt. Als sie sich setzte, hatte sie zufällig gefühlt, daß die Tasche im Stoffüberzug der Wagentür einen harten Gegenstand enthielt. Jetzt, im Finstern, tastete sie heimlich danach: der Gegenstand war eine Pistole, die wohl ein früherer Insasse des Wagens darin vergessen hatte. Es gelang Juana, die Waffe unbemerkt herauszunehmen und in der Tasche ihres Staubmantels verschwinden zu lassen. Wenn man sie abermals zum General Oronta brachte, so würde diese Begegnung für ihn das Ende bedeuten. Sie war gewiß, daß sie ihr Ziel mit sicherer Hand treffen würde; sie wußte auch, daß der nächste Tag den Umsturz bringen sollte: Oronta hatte ja jetzt alle Trümpfe in der Hand. Vielleicht war sie dazu ausersehen, seine Pläne durch die Vollstreckung eines Todesurteils zu verhindern. Wenn der junge Offizier an ihrer Seite in diesen Minuten ihre Augen hätte sehen können, hätte er keinen Zweifel mehr gehabt am Wesen der Frau, für die er unter so seltsamen Umständen die Verantwortung hatte übernehmen müssen.

Juana fuhr auf: drunten an der Ausmündung der Bergstraße wandte der Wagen sich nicht, wie sie erwartet hatte, nach links, in der Richtung auf Esperanza, sondern bog nach rechts ab. Der Fahrer schaltete den Kompressor ein, das Summen der Maschine schwoll zum tiefen, machtvollen Brummen, die grell beleuchteten Bäume und Büsche an den Straßenrändern wurden wie von einer reißenden Strömung an ihnen vorüber in die Dunkelheit geschleudert.

»Was bedeutet das?« fragte Juana. »Wohin bringen Sie mich?«

Der Offizier antwortete nicht gleich. Er schien angestrengt zu überlegen. Dann beugte er sich vor und schlug dem Fahrer auf die Schulter.

»Anhalten!« befahl er. »Flagge und Abzeichen entfernen!«

Der Wagen rollte aus, hielt. Fahrer und Beifahrer stiegen aus, die orontistische Kühlerflagge wurde abgenommen, die Kokarden von den Mützen entfernt. Und nun gab der Leutnant, seine Mütze noch in der Hand, endlich Antwort.

»Verzeihen Sie, Baronesa – ich durfte nicht eher reden. Es war zu gefährlich, und wir sind noch keineswegs in Sicherheit. Wir fuhren unter falscher Flagge. Ich habe den Auftrag, Sie zu Seiner Exzellenz dem Herrn Innenminister ins Hauptquartier Concepcion zu bringen.«

»Ins Hauptquartier –?« Juana brauchte Sekunden, um die Bedeutung der Antwort zu erfassen. Zu jäh war die Wandlung. »Der Innenminister ist also in Concepcion?«

»Ganz recht. Er hat mir den schriftlichen Befehl in Gegenwart meines Hauptmanns übergeben. Der Hauptmann hatte mich nämlich dafür vorgeschlagen«, fügte er mit berechtigtem Stolz hinzu.

Juana bemühte sich angestrengt, ihre Gedanken zu ordnen. »Aber – der Befehl muß doch von einer militärischen Stelle ausgehen?«

»Ganz recht. Er war von Seiner Exzellenz dem Herrn Generalleutnant Oronta ausgefertigt und gesiegelt. Das wurde mir gesagt.«

»Oronta –?« Es klang wie ein Aufschrei. »Wie kommt denn – ich meine: seit wann ist General Oronta – –«

»Ich verstehe es auch nicht.« Der Leutnant bot ihr höflich seine Zigarettendose und gab ihr Feuer. »Der General wurde heute gegen Mittag von einem meiner Kameraden ins Hauptquartier gebracht und dem Herrn Kriegsminister vorgeführt. Man spricht sogar von einem Verhör. Es wird überhaupt vieles geredet – manche sagen, die Pläne des Generals Oronta seien durch eine Gefangennahme im letzten Augenblick durchkreuzt worden. Aber im Lande ist der Teufel los, trotzdem. Ich weiß nur, daß Exzellenz Oronta und ein mit ihm gekommener Major in ihren Zimmern bewacht werden.«

Er lebt! Er ist gefangen und in höchster Gefahr! Denn im Hauptquartier herrscht Esmeraldas. Sie haben ihm den Befehl zu meiner Befreiung abgepreßt – und er weiß vielleicht noch nicht einmal, welche Rolle ich in seinem Schicksal gespielt habe. Er hat ihnen nicht gesagt, wer er in Wahrheit ist. Vielleicht glaubt er, daß ich durch Verrat – – Aber Rocha ist im Hauptquartier. Rocha muß ihn retten. Ihre Gedanken jagten.

»Wir müssen weiter«, sagte der Leutnant. »Los, Leute!«

»Lassen Sie fahren, was der Wagen hergibt.« Juanas Stimme klang rauh vor Erregung.

»Keine Sorge.« Der Leutnant lachte. »In dem Schlitten lasse ich mich von keinem abhängen.«

Der Fahrer griff zum Schalthebel, aber er zog mit einem Ausruf der Verblüffung die Hand zurück. Aus einer Seitenstraße, die vor ihnen einmündete, brauste es wie ein tosender Spuk heran, Geknatter und Gedonner, grelle Lichtbahnen von Scheinwerfern. Es bog in die Hauptstraße ein, heulend gingen die Motoren in die Kurve, Staubwolken fegten über die Straße. So nahm es die Richtung nach Westen. Sie unterschieden Krafträder in langer Formation, Lafetten, schwere Wagen mit Maschinengewehren und kleinkalibrigen Geschützen. Zugleich hob hinter ihnen das gleiche Getöse an: Auf der Straße aus Esperanza und dem Fort San Bonfacio kam die Fortsetzung des lärmenden Nachtspuks und schloß sich der vorausgefahrenen Kolonne an. Niemand beobachtete den am Straßenrande haltenden Wagen; den Insassen kam es manchmal vor, als würden sie von dem reißenden Strom zerschmettert oder mitgerissen werden.

»Was bedeutet das?« fragte Juana, als der Lärm verhallt war – und sogleich kam ihr die Frage lächerlich vor. Sie wußte ja, was es bedeutete.

»Es ist losgegangen«, sagte der Leutnant grimmig. »Orontas Anhänger haben sich selbständig gemacht. Der Stoß gilt offenbar dem Hauptquartier. Natürlich waren das nur die Spitzen – die motorisierten Einheiten und die Hauptkräfte werden bald folgen.« Er warf die Zigarette weg, zuckte die Achseln. »Na, egal. Wir müssen sehen, daß wir uns irgendwie nach Concepcion durchschlagen. Befehl ist Befehl. Los!«

Sie kamen nicht weit. Ein Straßenkontrollposten schickte ihnen den tastenden Strahl eines Suchscheinwerfers entgegen, einige mitten auf der Straße stehende Soldaten versperrten ihnen den Weg. Sie hielten. Ein Feldwebel trat an den Wagen heran und salutierte. Seine Taschenlampe leuchtete das Innere der Limousine ab.

»Wohin wollen Sie? Ihre Ausweise, bitte.«

Der Leutnant unterdrückte einen Fluch. Er hatte an der Mütze des Mannes die orontistische Kokarde erkannt. Esel, der er war – führte die Kühlerflagge mit sich und hatte sie nicht gesetzt!

»Ich habe einen Sonderauftrag Seiner Exzellenz des Herrn Generalleutnants Oronta«, sagte er möglichst sicher. »Eilig. Bitte halten Sie mich nicht auf.«

»Herr Leutnant haben keine Abzeichen gesetzt –?«

»Ich habe sie abnehmen lassen, weil wir durch unsicheres Gebiet kamen. Sie sind in der Wagentasche.«

»Hm.« Der Feldwebel überlegte, »Und wohin geht die Fahrt?«

»Richtung Concepcion.«

Der Feldwebel kam zu einem Entschluß.

»Ich muß Herrn Leutnant und die beiden Soldaten bitten, auszusteigen und dem Postenführer die Ausweise vorzulegen. Die Señorita« – er legte grüßend die Hand an die Mütze – »kann im Wagen bleiben.«

Fünf bewaffnete Soldaten und ein Feldwebel – und niemand konnte wissen, was in den Büschen am Straßenrand war – – »Aussteigen«, sagte der Leutnant gepreßt. Er war sehr bleich. Nicht einmal den Befehl hatte er mehr bei sich. Es sah schlimm aus.

Juana, in fieberhafter Angst und Spannung, wartete, bis die Straße leer war. Es blieb nur eines – es gab nur einen einzigen Entschluß. In wenigen Sekunden saß sie am Steuer – der Motor lief noch –, löste die Handbremse, schaltete. Der Wagen sprang mit einem scharf anruckenden Satz vorwärts, in allen Nerven spürte sie die gewaltige Kraft der Maschine. Schüsse peitschten hinter ihr, gingen fehl. Ungezählte Male war sie in früheren Jahren diese Straße gefahren, sie kannte jede Strecke, jede Biegung, jedes Dorf, jedes schlechte Wegstück. Aber dieser schwere Wagen war eine andere Sache als ihr leichtes Sportkabriolett. Sie brauchte alle Kraft der Hände und Arme, um das Steuer zu halten, ihre Zähne waren zusammengepreßt, sie fühlte, daß ihre Stirn feucht wurde. Den Kompressor wagte sie nicht einzuschalten, da sie fürchten mußte, die Gewalt über den Wagen zu verlieren. Dabei überlegte sie angestrengt. Auf der Hauptstraße konnte sie nicht bleiben. Jeden Augenblick konnte sie wieder auf einen Kontrollposten stoßen, jede größere Ortschaft war gefährlich, vielleicht kam sie sogar in den Bereich von Gefechten oder geriet in fahrende Kolonnen. Ein paarmal meinte sie vor sich, dann zur Linken, Maschinengewehr- und Geschützfeuer zu hören. Schließlich fiel ihr ein, daß ein paar Kilometer weiter zur Rechten ein schneisenartiger Waldweg, der fahrbar war, zur Pflanzung des alten Señor Urbina führte. Urbina war ein Freund ihres verstorbenen Vaters, er würde ihr weiterhelfen, ihr vielleicht einen Fahrer mitgeben. Denn allein, das fühlte sie, war sie mit ihren Kräften der Fahrt nicht gewachsen. Jetzt wurde die Straße schlechter, Stöße erschütterten den Wagen, es ging bergan. Zahlloses geflügeltes Getier, grellweiß leuchtend, wurde ins Scheinwerferlicht gerissen und verschwand jäh im Nichts.

Juana sah im Rückspiegel, daß hinter ihr ein einzelnes Licht auftauchte: offenbar ein Kraftrad. Sie wurde verfolgt. Ihr Fuß preßte sich auf den Gashebel, der Verfolger blieb zurück. Nach kurzer Zeit aber mußte sie die Fahrt verlangsamen, und er holte wieder auf. Es geht nicht, dachte sie. Er wird mich einholen, oder er wird mit Pistolenschüssen meine Reifen erledigen: Mein Schlußlicht bietet ihm ein deutliches Ziel. Zu oft hatte sie beobachtet, mit welcher Zähigkeit und teuflischen Geschicklichkeit diese Burschen fuhren. Sie stieß den Atem zischend durch zusammengebissene Zähne aus, ihr Gesicht wurde hart. Es gab kein Ausweichen vor dem Entschluß – ihr ging es um ein Leben, das schwerer wog als das dieses Unbekannten. Sie hielt den Wagen an, schaltete das Licht aus, griff zur Pistole und lehnte sich rückwärtsgewandt aus dem Fenster, wartend. Ihre Augen brannten, aber sie sah mit unheimlicher Klarheit, und ihre Hand zitterte nicht.

Nach dem zweiten Schuß, den sie abfeuerte, fuhr das grelle Licht wie ein Meteor seitab in den Raum, die heranrasende Maschine verzischte ihren Lauf im Agavengestrüpp zur Seite der Straße.

Gott verzeih mir, sagte sie halblaut. Ich konnte nicht anders. Es mußte sein. Ich muß, muß ins Hauptquartier kommen, bevor – – Sie war einen Augenblick blind von jäh aufquellenden Tränen – – Schon aber hatte sie das Licht wieder eingeschaltet und fuhr weiter; fand die Waldlücke, wo die Schneise mündete, und bog von der Straße ab.

Grün und voll leuchtenden Lichtes, üppig fruchtbar und tausendfältig duftend war hier im beginnenden Mittelgebirge am Tage der Wald mit seinen dicht gereihten Stämmen und fruchttragenden Wipfeln; jetzt stand er um den Wagen gedrängt wie feindselig sich ballende Finsternis. Die Räder des Wagens rumpelten über ausgefahrene Geleise und versanken ein paarmal bis zu den Kappen im Schlamm. Flimmernder und flatternder Spuk geisterte in die Lichtkegel. Tierschreie schrillten und gellten aus dem Unterholz. In Biegungen rückten die schlanken Stämme und das hängende Rankengewirr unvermittelt bedrohlich nahe, einmal verfuhr sie sich und fand mühsam die Wagengeleise wieder. Sie mußte alle ihre Kräfte anspannen, sie stammelte abgerissene Worte und zerbiß sich die Lippen. Aber sie hielt durch. Endlich wurde es lichter, der flimmernde Himmel tat sich über ihr auf, sie fuhr durch Zuckerrohrfelder. Das Scheinwerferlicht faßte die Wirtschaftsgebäude der Hacienda und das weiße Herrenhaus.

Durch die Fensterläden schimmerte Licht. Als Juana vor den Stufen der Veranda hielt, öffnete sich die Haustür, und sie sah die hohe, hagere Gestalt des alten Pedro Urbina. Sein dichtes schlohweißes Haar glänzte silbern im Licht der Verandalampe. Er kam heran, erstaunt und unruhig, er spähte in den Wagen. Deutlich sah Juana das vertraute hagere rotbraune Gesicht mit dem weißen Spitzbart, die scharfen gütigen Augen. Erst als sie die Innenbeleuchtung anknipste, erkannte er sie.

»Juana –!« rief er erstaunt. »Kind, was bedeutet das? Wo kommst du her?«

»Sie müssen mir helfen, Onkel Pedro«, sagte sie atemlos. »Ich muß nach Concepcion, zu Rocha. Sofort. Es hängt alles – alles hängt für mich davon ab. Ich brauche Benzin. Und einen Fahrer.«

Er faßte sie mit sachtem, aber energischem Griff am Arm und zwang sie zum Aussteigen.

»Das mußt du mir erst mal erklären«, sagte er. »Wie siehst du denn überhaupt aus? Hörst du eigentlich gar nicht, was los ist?«

Ja, jetzt hörte sie es. Hier, da und dort knatterten ferne Maschinengewehrsalven, dumpfere Einschläge schlugen bumsend dazwischen, man sah das schwache Aufblitzen des Mündungsfeuers.

»Ja«, sagte Juana. »Die Leute Orontas sind im Vormarsch. Ich – ich erkläre Ihnen später alles, Onkel Pedro. Jetzt kann ich nicht. Ich bin mit dem Wagen da geflüchtet, und ich habe, glaube ich, einen Soldaten erschossen. Durch muß ich – irgendwie. Bitte, geben Sie mir – –« Sie schloß, in einem plötzlichen Anfall von Schwäche, die Augen.

»Carlos!« brüllte Urbina. »Wein! Und Brot! Kaltes Fleisch! Schnell! – doch, doch, du mußt etwas essen«, sagte er energisch, als sie abwehrend den Kopf schüttelte. »Bei uns ist kein Mensch schlafen gegangen. Man weiß ja nicht, ob die Knallerei nicht auch hierherkommt.« Er half ihr aus dem Wagen, sie ließ sich in einen Korbsessel fallen, und als der Indio das Tablett brachte, merkte sie erst, wie hungrig und durstig sie war. Fernher aus den Tälern, an- und abschwellend, klang das Geknatter der Nachtgefechte. Die schnellen Truppen Orontas waren offenbar an mehreren Stellen auf Widerstand gestoßen; aber es war ein regellos flackerndes Geschieße. Von der Landstraße, über den Wald hinweg, trug der Wind den brummenden Lärm schwerer Motoren herüber.

»Die Frauenzimmer heutzutage!« sagte Pedro Urbina und schüttelte mißbilligend den von weißem Haar umlohten Kopf. »Treiben Politik, mischen sich in Revolutionen, brausen im Kompressorwagen herum, schießen Soldaten tot. Wo will das hinaus? Ihr hättet die Männer schon längst abgeschafft, wenn sie nicht eben doch nötig wären.« Er wandte erstaunt den Kopf. Von den Wagenhallen herüber kam ein Zweisitzer, fuhr an der Veranda vor, hielt.

»Der padre«, sagte Enrique Urbina beim Aussteigen, »hält Ihnen Reden, Baronesa. Der Sohn – guten Abend! – stellt sich Ihnen mit seinem nagelneuen Wagen als Fahrer zur Verfügung. Mit dem Omnibus da kommen Sie nämlich nie nach Concepcion. Das Biest ist viel zu schwer für die Schleichwege, die wir fahren müssen. Wenn Sie fertig sind, steigen Sie ein. Dann können Sie neben mir ruhig ein Nickerchen machen.«

Juana sah ihn an; sein kühnes braunes Jungengesicht leuchtete von Unternehmunglust, eine schwarze Locke fiel ihm malerisch in die Stirn.

»Der Bengel«, sagte Pedro Urbina, »hat natürlich mal wieder gelauscht und macht sich wichtig. Willst du mich nicht wenigstens um Erlaubnis fragen?«

»Der padre«, lachte der gänzlich unbekümmerte Sohn und suchte schon auf der Karte den Weg zusammen, »würde mir die Hosen strammziehen, wenn ich mich nicht für die Fahrt angeboten hätte.«

»Der Lauselümmel hat recht«, sagte Pedro Urbina und strich sich grimmig den Knebelbart. »Aber wenn du die Juana nicht heil hinbringst und dich womöglich anschießen lassen solltest, kriegst du trotzdem den Hintern voll.«

»Abgemacht!« Enrique öffnete den Schlag. »Fertig? Dann nehmen Sie bitte Platz. Wir haben noch allerhand zu klettern bis zum Morgen.«

»Aber ich kann doch nicht – –« sagte Juana mit schwachem Widerstreben.

»Richtig«, nickte Enrique und faltete die Karte zusammen. »Sie können nicht, aber ich kann. Wenn Sie sagen, daß Sie nach Concepcion müssen, dann müssen Sie eben hin, und ich wäre ja wohl ein Jammerlappen, wenn ich Sie in dem erschöpften Zustand, auf den Wegen, bei der Schießerei und in der Lokomotive da allein losfahren ließe.«

»Aber es ist gefährlich.«

»Das werden wir ja sehen. Bis nachher, padre.«

»Mach's gut, mein Junge.«

Sie gaben sich die Hand, Juana spürte Pedro Urbinas knochige Finger mit schmerzhaftem Druck um ihre Hand, der Wagen ging aufjaulend in die Kurve und bohrte sich durch sprühenden Sand in die Nacht.

Enrique Urbina fuhr rasch, gelenkig und mit vollkommener Beherrschung. Es schien ihm ein Spiel. Juana merkte, daß sein Blick einmal den Striemen an ihrer Wange streifte, aber er machte keine Bemerkung. Über Feldwege, durch Schneisen, auf schmalen Pfaden durch peitschendes Gebüsch, in scharfen Steigungen und jähem Gefälle ging die Fahrt. Sie umkreisten Ortschaften, wichen einmal einem aufflackernden Gefecht aus, fanden immer wieder die Richtung.

»Sie fragen mich ja nichts.« Juana sah im Dämmerlicht des Armaturenbretts das kühne, braune Gesicht, das mit wacher Spannung der Fahrtrichtung zugewandt war.

»Ich bin neugierig wie ein altes Kreolenweib, aber ich frage immer nur Leute, von denen ich annehme, daß sie reden wollen.« Er lachte. »Später müssen Sie mir dann mal tagelang erzählen. Ja?«

Sie starrte in die Spukwelt des Scheinwerferlichts, die heranfliegende und blitzhaft vergehende Welt der Stämme, der Büsche, der entsetzt flüchtenden Tiere. Dann, plötzlich, entglitt sie ins Reich des mühelos schwebenden, erlösten, wohlig traumlosen Dämmers.

Enrique Urbina sah kurz zur Seite und lächelte. Sie schlief. Daß ihre Hand den Kolben der Pistole umklammerte, merkte sie erst beim Erwachen.


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