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7. Kapitel

Manuel macht Bilanz. – Die schwarze Mappe. – Esteban wird benötigt. – Zwischenspiel in San Isidro. – Die Pläne des Generals Oronta. – Die Entscheidung

Das also ist Nebrador, dachte Manuel. Er war in einer mißlaunig erregten, zweifelsüchtigen Stimmung. Die kalte Dusche nach dem Ritt, das krachende Spätnachmittagsgewitter, die ausgeklügelten Luftkühlungsanlagen des Hotels hatten ihn nicht vom unbehaglichen Druck der Schwüle befreit. Stirn und Hände waren feucht, er hatte ein sonderbar kribbelndes, unangenehmes Zittern in den Knien. Das Abendessen, ein wohlausgewogenes Kunstwerk an Leichtigkeit und duftigem Wohlgeschmack, war von ihm durchaus nicht nach Gebühr gewürdigt worden. Die Netze vor den Fenstern hatten nicht verhindern können, daß ein paar geflügelte Kerbtiere als unerwünschte Vertreter der nebradorianischen Fauna in die Zimmer eingedrungen waren und nun mit bösartig weinendem Gesumm irgendwo herumschwirrten. Die Wunderpille aus dem Arzneischrank des Herrn Dr. Mazzini machte ihn nur noch unruhiger und brachte ihn in eine quälende, ziellos antreibende Erregung. Er kam sich unsagbar einsam und verloren vor. Wenn er das Bild Juanas beschwor, sah er ihr schönes, hochmütiges Gesicht, sah den straffen Adel ihrer Haltung, ihre hohen, schlanken Beine, sah, wie gestern im Spielsaal, ihre bräunlich schimmernden Schultern und die kleinen, festen Hügel ihrer Brust unter dem dünnen Stoff ihres Kleides; sah das alles wie atemnahe Wirklichkeit und stieß mit einem Aufstöhnen die geballten Fäuste in die Schläfen. Als er, nach der Zigarettendose tastend, in die Taschen griff, fühlte er plötzlich eine winzige Dose zwischen den Fingern und zog sie neugierig hervor. Eine hübsche, goldene kleine Schachtel; und darin ein weißliches, schuppiges, kristallisch flimmerndes Pulver. Oh, er kannte dieses Pulver, das der General in seiner Litewka vergessen hatte; und er stieß einen leisen Pfiff der Überraschung aus. Kokain. Der Fund bereicherte sein Wissen um das Wesen des Militärgouverneurs von Esperanza. Vieles wurde ihm in diesen Tagen enthüllt.

Das also ist Esperanza, dachte er. Land der phantastischen Gegensätze. Sumpf und kühl ragendes Gebirge; wuchernde Fruchtbarkeit und kahler Karst; Schmutz, Faulheit, Verderbtheit und mächtiges Aufwärtsdrängen; gleichgültige Zerlumptheit und märchenhafter Reichtum, verrottetes Mischblut und die vernachlässigte, überwucherte, verschüttete Kraft einer edlen Rasse; heiße Leidenschaft und versklavendes Laster. Was kannte, was wußte er denn? Bruchstücke, Andeutungen, Umrisse, verbindende Merkmale. Mehr nicht. Und er, vor ein paar Tagen noch ein verachteter Landstreicher und verkommener stowaway, spann tollkühne Pläne und wollte sich die Fähigkeit zutrauen, ganz allein die tiefe Kluft zwischen wirrer Wirklichkeit und einer glanzvoll lockenden Zukunft zu überbrücken? Wahnsinn. Großmannssucht. Ein verrückter Fiebertraum.

Er wußte, zum Beispiel, noch nicht einmal, wo dieser verdammte General Oronta saß und auf den Augenblick lauerte, wo er herauskommen konnte, um seine wohlvorbereitete Revolution zu machen und seinen komischen Doppelgänger wie eine Laus zu zerquetschen. Er kannte noch nicht einmal den Plan, nach dem diese zünftige Aktion abrollen sollte. Nein, nicht einmal das wußte er.

Die Einsamkeit war wie ein Folterwerkzeug, das seine Nerven hübsch langsam auf glühende Spulen wickelte. Aber dagegen gab es drunten in der Bar für den Mann, der heute noch der General Oronta war, ja eiskalte, prickelnde, reizvoll buntfarbige Mittel in beliebiger Menge. Manuel sprang auf; die beiden Ordonnanzen im Vorzimmer rissen verblüfft und widerwillig die Knochen zusammen; Manuel trat auf den Flur hinaus und ging mit langen Schritten zum Fahrstuhl.

Und dann kam die Begegnung, die über alles entschied.

Das leuchtende Gehäuse des Fahrstuhls kam heraufgesummt und hielt mit sanftem Ruck. Aus der aufklirrenden Tür trat der Stabschef, Generalmajor Dorrego. Manuel betrachtete ihn staunend und vergaß das Einsteigen. Dorrego ging an seinem Chef vorüber, sah ihn mit einem leeren starren Blick an und erkannte ihn nicht. Er stelzte sonderbar steifbeinig dahin, mit der an eine Puppe erinnernden Ruckhaftigkeit eines Menschen, der alle Kraft aufbieten muß, um die Herrschaft über seine Beine zu behalten. Auch sein hölzernes, langweiliges Gesicht, auf dem ein ausdrucksloses Lächeln festgefroren schien, und auf dessen Backenknochen zwei runde rote Flecken wie aufgemalt saßen, weckte in Manuel die Erinnerung an eine Puppe aus dem Kasperletheater. Manuel nickte verständnisvoll. Er kannte die Anzeichen. General Dorrego war schwer betrunken. Aber es war nicht die händelsüchtige Trunkenheit, in die damals Major de Souza sich in verzweifelter Stimmung geflüchtet hatte; es war der gewissermaßen vollkommene Rausch des geübten Alkoholikers, der gewohnheitsmäßig die Haltung wahrt. Dorrego nahm schnurgerade Kurs auf sein Zimmer, das schräg gegenüber dem Fahrstuhl lag, zielte mit Erfolg auf die Türklinke und verschwand in seinen Gemächern. Vermutlich, um drinnen sogleich zusammenzuklappen. Manuel sah ihm einen Augenblick fassungslos nach; dann winkte er dem wartenden Fahrstuhlführer ab und kehrte um. Das war eine Begegnung, über die er erst einmal mit sich zu Rate gehen mußte. Denn auch für den blutigsten Laien konnte es nicht zweifelhaft sein, daß dieser nicht mehr vernehmungsfähige Herr Papiere verwahrte, die für den Ablauf der Aktion entscheidend waren.

Manuels Hand zitterte ein wenig, als er sich in seinem Arbeitszimmer eine Zigarette anzündete. Dann blieb er, unter der Wirkung eines plötzlichen Einfalles, stehen, das erloschene Zündholz noch in der Hand. Die schwarze Mappe – unter dem rechten Arm hatte Dorrega eine schwarze Mappe getragen, an den Leib gepreßt und fest unter die Achsel geklemmt, wohl mit einem fast unbewußten Aufwand letzten Verantwortungsgefühls. Und darin waren, da gab es keinen Zweifel, die Papiere.

Langsam ließ sich Manuel in den Sessel sinken und starrte auf den Teppich. Die Papiere. Diese Papiere mußte er haben. Was hatte er vorhin zu sich selbst gesagt? Wahnsinn. Großmannssucht. Ein verrückter Fiebertraum. Und nun diese Begegnung. Wenn er den Inhalt dieser Mappe in die Hand bekam, und wenn er ihn zu lesen verstand, so kannte er alle Geheimnisse Orontas. Die Räder begannen wieder ineinander zu greifen. Das Schicksal trieb ihn vorwärts. Was hatte er zu verlieren, wenn alles fehlschlug? Nichts. Was hatte er zu gewinnen? Alles. Was hinderte ihn also, alles auf eine Karte zu setzen? Nichts.

Das Blut stieg ihm heiß zu Kopf, ihn schwindelte, als würde er von einer unsichtbaren Kraft mit rasender Schnelligkeit vorwärtsgerissen. Überlegen, kühl und vernünftig überlegen. Welchen Weg gab es? Sollte er zu Dorrego ins Zimmer gehen? Unmöglich. Der General konnte sich plötzlich ernüchtert haben, oder es war ein Bursche da, als gefährlicher Zeuge.

Und dann blitzte der zweite Einfall auf: Esteban. Der Zimmerkellner Esteban, der als entlarvter Spion in der Gewalt des Generals Oronta war. Ohne einen Augenblick des Zögerns hob Manuel den Hörer ab.

Er hatte Glück. Jawohl, Esteban hatte Zimmerdienst. Jawohl, er würde sofort zu Exzellenz kommen.

 

»Ich habe«, sagte der Kriegsminister, »alle erforderlichen Maßnahmen getroffen.« Er war ohne ersichtlichen Grund stark verärgert, und sein dicker, weißer Schnurrbart sträubte sich wahrhaft kriegerisch. »Das Hauptquartier in Concepcion ist für jeden Fall gerüstet. Eine Mobilmachung kann in jedem beliebigen Augenblick erfolgen. Aber die Inspektion in den Garnisonen hat keinerlei Anhaltspunkte für einen aufrührerischen Geist im Heer ergeben.«

»Natürlich«, bemerkte der Innenminister Dr. Rocha ironisch.

»Was heißt natürlich?« fuhr der Kriegsminister auf.

»Eine Inspektion durch einen Minister hat hierzulande noch nie irgendwelche Anhaltspunkte ergeben«, sagte Rocha bereitwillig erläuternd.

»Wollen Sie mich nicht lieber gleich für einen Trottel erklären?« brüllte General Esmeraldas.

»Das«, versetzte Rocha gemütlich, »möchte ich erst dann tun, wenn ich die Gewißheit habe, in dieser Ansicht mit Ihnen übereinzustimmen.«

»Meine Herren; meine Herren –!« Der Präsident hob beschwörend beide Hände. Sein vornehmes Gesicht sah tiefbekümmert aus. »Gefährden wir doch die Verhandlung nicht durch persönliche Streitereien! Wie sollen wir denn da zu einem Ergebnis kommen?!«

Die Minister der Regierung hatten sich zu einer späten Beratung im Arbeitszimmer des Präsidenten versammelt. Nun mußten sie zu ihrer Beunruhigung feststellen, daß es viel zu beraten, aber wenig zu beschließen gab. Es erging ihnen wie beim Tauziehen, wenn der andere, der bisher kräftig am Tau gezogen hat, plötzlich losläßt. Esperanza hatte plötzlich losgelassen, und die Herren in San Isidro saßen da und wußten nichts mit sich anzufangen.

»Wenn Oronta«, fing Esmeraldas wieder an, »tatsächlich Putschpläne haben sollte, so stehen ihm nach meiner Überzeugung höchstens einige Garnisonen seines Befehlsbereiches zur Verfügung. Und noch nicht einmal das vermag ich zu glauben. Ich vertraue auf den gesunden Geist unserer Armee.«

»Natürlich«, sagte Rocha. »Revolution ist Ruhestörung, und Ruhestörung ist unerwünscht, und was man nicht wünscht, das glaubt man auch nicht gern.«

Der Präsident schnitt eine heftige Erwiderung des Generals mit einer Handbewegung ab. Er wandte sich an Dr. Rocha.

»Wie lauten die Berichte des Geheimdienstes?« fragte er.

Rocha hob die Achseln. »Nichtssagend. Sie sprechen weder für noch gegen die Wahrscheinlichkeit eines Aufstandes. Es ist ein Stillstand, sozusagen. Oberstleutnant del Vecchio fährt unermüdlich in der Provinz Esperanza herum und führt Besprechungen, aber dabei kann er sich schließlich auf die Erkrankung des Generals und den Straßentumult in der Stadt berufen. Im übrigen habe ich weder das Recht, noch die Möglichkeit, mich über den Inhalt dieser Besprechungen zu unterrichten. Die Quelle der vom ›Pueblo‹ ausgestreuten Gerüchte war bisher nicht zu ermitteln – aber in dieser Hinsicht habe ich meine Vermutungen.«

»Möchtest du sie uns nicht mitteilen?« fragte der Präsident mit leiser Ungeduld.

»Natürlich. Atkinson & Wineman.«

»Und deine persönliche Informationsquelle?« Der Präsident konnte nicht hindern, daß die Frage ein wenig ironisch klang.

Rocha zuckte die Achseln. »Völlig versiegt«, sagte er betrübt. »Oronta tritt seit seinem Fieberanfall überhaupt nicht offiziell in Erscheinung. Er wird täglich von dem Arzt Dr. Mazzini besucht und offenbar behandelt. Alle Mahlzeiten nimmt er in seinem Zimmer ein. Seit dem Besuch der Stadtbehörden nach dem Attentat hat er Besucher von Belang nicht empfangen. Stabsbesprechungen haben, soweit feststellbar, nicht stattgefunden. Er wird zwar ab und zu im Hotel gesehen, ist auch einmal ausgeritten und von der Bevölkerung begeistert begrüßt worden, führt aber im übrigen das Leben eines schonungsbedürftigen Rekonvaleszenten. Ich sehe in alledem ein bewußtes Manöver, natürlich. Aber – –« Er breitete resigniert die Hände aus und ließ sie klatschend auf die prallen Oberschenkel fallen.

»Papiere? Telefonate?« fragte der Außenminister Silva Rostagno, dessen Sätze zumeist nur aus einem einzigen Wort bestanden.

»Die Papierkörbe und Schreibtische sind leer, und irgendwelche Telefongespräche wurden nicht abgehört.«

Dr. Geroninmo Moreno, der Wirtschafts- und Finanzminister, wandte sich an den Präsidenten. Er war der schöne Mann des Kabinetts und hatte die Aufgabe, die Regierung überall dort zu vertreten, wo es auf weltmännische Haltung und Überlegenheit ankam und die Höhe der auf Staatskosten gemachten Aufwendungen nicht beanstandet werden durfte. Seine Anzüge, seine Wäsche, seine Schuhe waren Spitzenleistungen einer vollendeten unaufdringlichen Eleganz.

»Ich habe mir«, sagte er, durch eine höfliche Handbewegung des Präsidenten zum Reden aufgefordert, »über die Kursbewegungen an der Börse von Esperanza berichten lassen. Die Herren werden sich erinnern, daß der Kurssturz in auffälliger Gleichzeitigkeit mit gewissen Gerüchten und Unruhen erfolgte. Der Zusammenhang liegt offen zutage. Die Rückläufigkeit der Kurse für sämtliche Staatspapiere hielt gestern noch an und griff auf den Markt der Industrie- und Handelswerte über, die einen bisher beispiellosen Tiefstand erreichten. Bedeutendes Angebot drückte auf die Kurse, heute ist ein weiteres Abbröckeln zu verzeichnen. Für manche Papiere werden nur noch Briefkurse notiert, da kaum noch Nachfrage nach ihnen ist. Man kann« – er räusperte sich nervös – »man kann, ohne zu übertreiben, schon von einer Panik sprechen. Es ist ein unerklärlicher Vorgang.«

»Finden Sie?« sagte Dr. Rocha lächelnd. »Ich meine doch, es gibt in der neueren Geschichte Beispiele genug dafür, daß solche Börsentransaktionen Ursache oder Begleiterscheinung oder Folge politischer Ereignisse waren. Oder alles das zusammen.«

»Ich verstehe«, sagte der Finanzminister und zupfte etwas pikiert an seiner untadelig sitzenden Krawatte. »Sie denken an Großspekulationen wie etwa Rothschilds Börsenspiel mit der Schlacht bei Waterloo. Damit habe ich mich selbstverständlich beschäftigt. Aber in unserem Falle – –«

Dr. Rocha legte die Fingerspitzen der gespreizten Hände aneinander und lächelte. »Ich bin kein Fachmann, natürlich; wenn auch meine Praxis mir allerlei Einblicke in die unheimliche Welt der Finanzen und der Spekulation gegeben hat. Im übrigen brauchen Sie gar nicht so weit in die Historie abzuschweifen. Sie finden auch in der Gegenwart Beispiele genug dafür, wie man so etwas macht, und ich fürchte, jetzt lernen wir das Verfahren am eigenen Leibe kennen. Unser Fall –? Nehmen wir einmal an, man erzielt durch geschickt verbreitete Gerüchte und sorgsam dosierte Verkäufe erst eine Baisse und dann eine Panik. Damit erzeugt man zugleich Unruhe im Volke, erschüttert das Ansehen der Regierung und bereitet den Boden für einen Umsturz vor. Bricht diese Revolution aus, so kauft man in großzügigem Vorstoß alles, was im Markt ist, zu niedrigsten Kursen auf – soweit man es nicht schon besitzt oder im Terminmarkt gehandelt hat. Gelingt der Umsturz, so hat man es leicht, eine Hausse zu erzeugen. Auch dann wird man bald bei den Briefkursen angelangt sein. Der Gewinn ist ein doppelter: Man hat die Werte des Landes in seinen Besitz gebracht und festigt zugleich das Ansehen der neuen Regierung – die man im übrigen ganz nach Belieben gängeln kann. Es ist ganz einfach. Man muß es nur verstehen. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn es auf der Warenbörse auch schon losgegangen wäre.«

Der Präsident rückte unruhig an seiner Brille. »Du denkst an – –«

»Atkinson & Wineman, natürlich«, sagte Dr. Rocha.

»Und was würdest du – ich meine: was sollte man in unserem Falle – –«

»Ich möchte den Fachleuten nicht vorgreifen, natürlich. Aber ich würde vor allem einmal die Börse auf acht Tage schließen und den Handel von Büro zu Büro, sowie jedes Termingeschäft und die Durchführung bestehender Engagements bei hoher Strafe verbieten. Dann kann man weitersehen.«

»Du weißt«, sagte der Präsident leise, »daß ich ein geschworener Feind solcher Gewaltmaßnahmen bin.«

Der Innenminister ließ ein gereiztes Schnauben vernehmen; wollte losfahren, besann sich, zuckte die Achseln und hüllte sich in Zigarrenrauch und Schweigen.

»Da haben wirs wieder!« polterte General Esmeraldas. »Bloß um Gottes Willen nichts tun! Immer hübsch abwarten und das Handeln dem Gegner überlassen! Wenn es nach mir ginge, wäre dieser Oronta längst abberufen und ein sicherer Mann an seine Stelle gesetzt worden. Dann hätten wir dieser ganzen Unruhestifterei den Kopf abgeschlagen.«

»– und könnten beruhigt weiterschlafen«, bemerkte Dr. Rocha mit deutlichem Hohn. »Oronta aber würde sich widerspruchslos abschieben lassen und in Zukunft friedlich Rinder züchten, natürlich. Man sollte gar nicht glauben, wie einfach das ist.«

Der Präsident klopfte nach seiner Gewohnheit mit dem Knauf des Füllbleistiftes auf die Tischplatte; das helle Klicken tönte wie ein Uhrwerk durch den Raum.

»So kommen wir nicht weiter«, sagte er mit Würde. »Ich werde General Oronta zu einer Besprechung nach San Isidro bitten und mich mit ihm gründlich aussprechen. Nach meiner Überzeugung wird sich zum Wohle des Landes eine gemeinsame Grundlage der Anschauungen und des Handelns finden lassen.«

»Dann möchte ich dabei sein«, sagte der Kriegsminister. »Schließlich bin ich sein militärischer Vorgesetzter.«

»Die Mitglieder des Kabinetts werden Gelegenheit erhalten, an den Besprechungen teilzunehmen«, antwortete der Präsident. »Später werde ich die Ausschüsse einberufen.«

»– natürlich«, fügte Rocha mechanisch hinzu.

Die Herren erhoben sich zögernd, aber mit einer gewissen Erleichterung. Es wurde etwas getan, ohne daß etwas getan zu werden brauchte. Die Überlieferung war gerettet.

Und damit war nach bisheriger Erfahrung schließlich auch wohl Nebrador gerettet.

 

Manuel erkannte den Zimmerkellner Esteban sogleich wieder; der Mann war ihm schon früher aufgefallen. Ein schlanker, ebenmäßig gebauter Mensch mit geräuschlos gleitenden Bewegungen; ein höflich schräg geneigter Schädel mit sorgfältig gewelltem, fettig glänzendem schwarzem Haar; ein verlebtes Gesicht mit verschleierten, graubraunen Augen; über dem etwas zu breiten Mund ein zum dünnen Strich ausrasierter schwarzer Bart. Ein verschlagener und rücksichtsloser Bursche, aber feige, stellte Manuel fest. In Hollywood würde man aus dem Typ einen salopp-eleganten Gangster machen. Mr. Eastham wußte, warum er diesen Esteban zum Zimmerkellner ausersehen hatte. So etwas übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sehnsüchtige Damen im heiklen Grenzalter aus und erzeugt bei ihnen ein für das Hotel vorteilhaftes Wohlbefinden. Im übrigen hatte dieser Esteban noch niemals ein Geschäft verschmäht und noch niemals einen Schwächeren geschont. Er kannte – sein unsteter Blick verriet es – nur eine einzige Hemmung: Die Sorge um die Sicherheit seines eigenen geliebten Lebens. Wenn es um Kopf und Kragen ging, würde Esteban kläglich zusammenklappen. Das war der Mann, den Manuel brauchte.

»Exzellenz befehlen?«

»Mokka«, sagte Manuel.

»Sofort, Exzellenz.« Esteban wollte mit einer Verbeugung zur Tür, aber der General Oronta hatte merkwürdigerweise den Platz gewechselt und versperrte den Ausgang.

»Sie haben eine Braut, nicht wahr, Esteban? – ein hübsches, gefälliges Mädchen. Man darf Sie wirklich beglückwünschen.« Manuel sprach im Plauderton, aber der Kellner witterte sofort die Gefahr.

»Zu gütig, Exzellenz«, sagte er und suchte mit den Augen die Tür.

»Sie sollten aber auf das Mädel besser achtgeben und gefährliche Arbeiten lieber selber ausführen«, fuhr Manuel fort. »Oder finden Sie es eines so schönen und gewandten Kavaliers würdig, ein schutzloses Mädchen Schreibtische und Papierkörbe durchsuchen zu lassen und selbst im Hintergrund zu bleiben? Das arme Kind war völlig fassungslos. Wenn ich wollte, könnte ich jetzt in eurem Bunde sozusagen der Dritte sein. Oder sind etwa noch mehr Teilhaber im Spiel?«

Esteban zuckte zusammen wie unter einem Hieb. Sein Gesicht erbleichte zu einem fahlen Grau. Seine flackernden Augen spähten nach einer Gelegenheit zur Flucht. Aber der General Oronta verbaute mit seiner wuchtigen Gestalt den Ausgang und hatte zudem die Hand wie zufällig auf die Pistolentasche gelegt.

»Ich – ich verstehe nicht, Exzellenz«, stotterte der Kellner.

Manuel schüttelte den Kopf. »Immer dieselbe Redensart, wenn man euch erwischt«, sagte er bekümmert. »Wenn euch Kerlen doch wenigstens mal was Neues einfallen wollte.« Sein Ton wurde knapp und scharf. »Doch, Sie verstehen mich! Ich habe Ihre Braut beim Spionieren in meinem Zimmer ertappt, und sie hat mir in ihrer Angst alles gestanden. Dann habe ich sie laufen lassen, um mich zu gegebener Zeit mit Ihnen zu unterhalten. Es würde mir leid tun, wenn Ihr harmonisches und weitherziges Verhältnis zu Ihrer Braut dadurch getrübt würde, aber das ist dann Ihre eigene Schuld.« Er ließ sich in einem an der Tür stehenden Sessel nieder, zog die Pistole hervor und betrachtete sie mit gespielter Absichtslosigkeit von allen Seiten, als hätte er sie noch nie gesehen. »Sie stehen also als Spitzel im Dienste der Regierung«, sagte er. »Wer ist der Verbindungsmann, von dem Sie Ihre Aufträge erhalten?«

Esteban schluckte krampfhaft, seine zitternden Hände vermochten kaum die Serviette zu halten, aber er schwieg.

»Es ist besser, wenn Sie mir antworten«, sagte Manuel. »Mein Adjutant hat eine weit unangenehmere Art, Gefangene zu verhören.«

Der Kellner setzte mit bebenden Lippen ein paarmal zum Sprechen an. »Der Hoteldirektor«, brachte er schließlich mühsam hervor.

»Soso, der Hoteldirektor.« Wenn es nach mir geht, wird Mr. Eastham in nächster Zeit allerhand neues Personal brauchen, dachte Manuel. »Sie sind sich darüber klar, was wir mit Ihnen machen, nicht wahr! Damit haben Sie ja gewiß gerechnet.«

Der Körper des Mannes zog sich zusammen wie bei einer Katze vorm Sprung, in seinen Augen war ein böses Flimmern. In diesem Augenblick wäre er bei aller Feigheit fähig gewesen, einen Mord zu begehen. Aber stärker noch war die Angst vor der Pistole – und die verzweifelte Hoffnung, irgendeinen Ausweg zu finden. Plötzlich richtete er sich auf. Sein bleiches Gesicht nahm einen Ausdruck verschlagener Frechheit an.

»Exzellenz sollten bedenken, daß wir nicht im Kriege leben«, sagte er.

»Nicht schlecht, Esteban, gar nicht schlecht«, bemerkte Manuel anerkennend. »Wir denken auch gar nicht an ein Gerichtsverfahren mit allem Drum und Dran. Wir lassen Sie ganz einfach verschwinden, und zwar so gründlich, daß kein Geheimdienst der Welt Sie wiederfindet. Das kann man auch ohne Krieg machen.«

Nun geschah, was Manuel erwartet hatte: der Mann klappte zusammen. Es war ein erbärmlicher Anblick. Manuel wartete eine Weile.

»Nehmen Sie sich zusammen, Mensch, und beantworten Sie mir ein paar Fragen«, sagte er dann. »Pflegen Sie den Herrn Generalmajor Dorrego abends in seinem Zimmer zu bedienen?« Er mußte die Frage wiederholen, bevor Esteban sich zu einer Antwort aufraffen konnte.

»Ja, Exzellenz. Der Herr General läßt sich – abends immer noch Mineralwasser bringen.«

»Ist der General häufig abends in dem Zustand wie heute?«

Der Kellner hob den Kopf. Er witterte so etwas wie eine nebelhafte Aussicht auf Rettung.

»Ziemlich oft, Exzellenz.«

»Hm.« Manuel überlegte. »Befindet sich abends eine Ordonnanz in seinem Zimmer?«

»Nein, Exzellenz. Der Herr General schickt den Burschen weg und kleidet sich offenbar allein aus. Wenn ich das Mineralwasser gebracht habe, sperrt der Herr General hinter mir ab und legt sich dann wohl schlafen.«

»So.« Wieder eine Pause. »Was zahlt man Ihnen für Ihre – Dienste? – Na, wird's bald? Heraus mit der Sprache!«

»Ich erhalte für jede brauchbare Nachricht hundertfünfzig Peseten«, antwortete Esteban zögernd. »Allerdings – bisher –« Ein Achselzucken vollendete den Satz.

»Das ist wenig, Esteban, recht wenig. Sie verkaufen Ihre Haut ziemlich billig. Aber es ist schon so – der Staat kann sich einen kostspieligen Spitzeldienst nicht leisten. Bei uns rechnet man nicht so ängstlich.«

Manuel beobachtete unter halb gesenkten Lidern, daß in den Augen des Kellners ein sonderbares Flimmern erschien. »Jetzt nehmen Sie Ihren Kopf zusammen, wenn Sie ihn behalten wollen. Haben Sie beobachtet, daß der General eine schwarzlederne Mappe unterm Arm trug?«

»Jawohl, Exzellenz.«

»Wenn Sie mir diese Mappe innerhalb von zehn Minuten bringen, lasse ich Sie straffrei ausgehen. Im anderen Falle können Sie sich von dieser schönen Welt verabschieden, noch bevor eine halbe Stunde vergangen ist. Sie haben mich verstanden?«

»Ja – das heißt – –« Der Kellner stotterte vor fassungslosem Staunen. »Ich meine – der Herr Generalmajor ist doch – Exzellenz könnten doch selber – –«

»Sammeln Sie Ihren Grips gänzlich für die Erfüllung Ihres Auftrages und kümmern Sie sich um nichts sonst«, sagte Manuel grob. »Sie müssen in solchen Zauberkunststücken doch Übung haben. Außerdem kann es in diesem Falle ja nicht einmal schwierig sein. Wollen Sie oder wollen Sie nicht?!«

»Ich – ich muß wohl, Exzellenz.«

»Richtig. Sie müssen. Ich folge Ihnen auf den Korridor und erwarte Sie auf dem ersten Absatz der Treppe neben dem Fahrstuhl. Dort übergeben Sie mir die Mappe und erhalten von mir dafür zweitausend Peseten. Für den Aufenthalt im Zimmer haben Sie genau zwei Minuten Zeit. Sollten Sie sich unterstehen, in die Mappe auch nur einen Blick zu werfen, so ist Ihr Kopf keine zehn Peseten mehr wert. Wenn Sie auch nur den leisesten Versuch machen, falsch zu spielen, schieße ich Sie sofort nieder. Morgen melden Sie sich krank und verschwinden für eine Woche aus dem Hotel. Lassen Sie sich hier während dieser Zeit nicht von mir erwischen, sonst geht es Ihnen schlecht. Ist das klar?«

»Jawohl, Exzellenz.« In das Gesicht des Kellners kehrte langsam die Farbe zurück; offenbar hielt er die Durchführung des Auftrages für möglich. Aber in seinen Augen war noch immer das hilflose, gehetzt grübelnde Staunen.

»Wo befindet sich das Mineralwasser – für den Fall, daß etwa Ihre Beine auf den Einfall kommen sollten, sich selbständig zu machen?«

»Im Kühlraum neben dem Fahrstuhl.«

»Ausgezeichnet. Also los. Halt – noch eine kleine Formsache. Dort auf dem Tisch finden Sie Papier und Feder. Schreiben Sie!«

Esteban zögerte, aber die Pistole in Manuels Hand veränderte scheinbar zufällig ihre Lage, so daß der Gefangene in das kleine runde schwarze Loch der Mündung blicken konnte. Und fast unheimlicher noch als das Lächeln im Gesicht des Generals Oronta war der überlegene verächtliche Blick seiner Augen. Der Kellner wußte, daß er für den Mann da drüben im Sessel nichts weiter als ein Werkzeug war, das man vernichtet, wenn es sich als unbrauchbar erweist. Seufzend setzte er zum Schreiben an.

»Ort und Datum«, sagte Manuel. »Haben Sie?« Also jetzt: ›Ich, der Kellner Esteban – Ihr Name? – Esteban Valdivieso, wurde von Herrn Generalleutnant Oronta bei dem Versuche ertappt, militärische Dokumente zu Spionagezwecken zu entwenden.‹ Unterschrift. So. Geben Sie her. Man muß immer ein bißchen an künftige Möglichkeiten denken.«

»Und was wird mit der Mappe, Exzellenz?« fragte Esteban ängstlich.

»Die Frage ist verständlich«, lachte Manuel. »Aber sehen Sie, gerade darüber möchte ich Sie ein bißchen im Zweifel lassen. Sie gehören zu den Kunden, mein Freund, die man hübsch an der Kandare haben muß. Ich an Ihrer Stelle würde mal an Luftveränderung denken. Und nun vorwärts!«

Esteban öffnete für Manuel die Tür und ging auf dem Flur eilig voraus; Manuel schlenderte hinterdrein, blieb auf dem ersten Treppenabsatz stehen, zündete sich eine Zigarette an, nahm von einem Tischchen im Treppenwinkel eine Zeitschrift und blätterte darin. Dabei behielt er immer die Tür im Auge: Jetzt war Esteban mit dem Tablett dahinter verschwunden. Trotz der starken Spannung mußte Manuel lächeln. Ein toller Film, das Ganze. Wahrhaftig, jetzt kam Esteban zurück, sehr bleich, sehr eilig. Gerissener Bursche – er hatte die Mappe unter das Tablett geklemmt. Scheu sah er nach allen Seiten. Zum Glück waren Flur und Treppe menschenleer.

»Schlief schon«, sagte Esteban heiser. Manuel warf einen raschen prüfenden Blick in die Mappe: Eine zusammengefaltete Karte, beschriebene Blätter. Es stimmte.

»Da –«, sagte Manuel. »Verschwinde.«

Esteban tat einen kurzen Blick auf die Geldscheine, murmelte einen unverständlichen Satz – war es ein Dank, war es eine saftige Verwünschung? – und hastete die Treppe hinab. Manuel hatte das Gefühl, daß es ein Abschied für immer war. Er hatte nichts dagegen einzuwenden.

 

In dieser Nacht wartete das schöne weiße Bett vergeblich auf seinen Herrn. Stattdessen mußten der Kühlschrank mit den Getränken und die Zigarettendose viel von ihrem Inhalt hergeben. In dieser Nacht tat sich vor Manuel der ganze Plan auf, den der General Oronta mit seinen vertrauten Mitarbeitern gesponnen hatte.

Da war eine Karte der Stadt und Provinz Esperanza und eine Generalstabskarte von Nebrador. Manuel hatte keine Erfahrung im Kartenlesen, aber hier war alles so klar, daß er ohne Schwierigkeit Überblick gewann. Da waren in der Stadt die Punkte bezeichnet, die am Stichtage um fünf Uhr morgens von den Truppen besetzt werden sollten. Da waren, von der Nord-Kaserne aus, die drei Stoßrichtungen des Vormarsches mit roten, grünen und blauen Pfeilen eingezeichnet. Da waren die Garnisonen vermerkt, die sich dem Vorgehen ohne weiteres anschließen würden, und – weiter ins Land hinein – die mit orontistischen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften durchsetzten Garnisonen, die vom Vormarsch überrumpelt und aufgesogen werden konnten. Da waren endlich die Stellungen der regierungstreuen Verbände und ihr Hauptquartier in Concepcion eingetragen.

Nichts fehlte. Es war eine vorbildliche Arbeit. Aus den mit der Maschine geschriebenen Anlagen ersah man die Truppenstärken, ihre Bewaffnung und die Namen aller orontistischen, noch zweifelhaften oder gegnerischen Offiziere und Militärbeamten. Die mit einem grünen Kreuz bezeichneten Leute waren zur Verhaftung vorgesehen. In Stadt und Provinz Esperanza wurde der Belagerungszustand verhängt, der Generalmajor Dorrego wurde zum kommissarischen Gouverneur ernannt. Die Versorgungsbetriebe und notfalls die Schlüsselindustrien und die Häfen wurden besetzt, alle Behörden der Militärgewalt unterstellt. Der gesamte Verkehr mit der Hauptstadt und dem unbesetzten Gebiet wurde unterbrochen und erst im Maße des Vormarsches wieder eingeschaltet. Post, Drahtverkehr und Funkwesen wurden ebenfalls von der Militärgewalt übernommen. Die Bankschalter durften Auszahlungen an die Konteninhaber bis auf weiteres nur bis zu tausend Peseten täglich leisten, sofern es sich nicht nachweislich um Lohngelder handelte. Der bargeldlose Zahlverkehr – Manuel grinste – wurde nicht eingeschränkt.

Ein weiteres Blatt legte die Rolle der Luftwaffe fest: Flugzeuge der Luftwaffe hatten bis auf Widerruf nur Demonstrationsflüge über dem ganzen Lande durchzuführen. Regierungstreue Maschinen waren anzugreifen und abzuschießen. Die Kriegsmarine landete Mannschaften und besetzte sämtliche Hafenanlagen der Küste. Einer Landung von Marinesoldaten durch den Kreuzer ›Minnehaha‹ waren keine Hindernisse in den Weg zu legen.

Folgte eine Aufstellung über die Besetzung der Regierungsstellen nach Abschluß der Aktion. Oronta übernahm die Präsidentschaft mit zunächst unbeschränkter Gewalt, das Kriegsministerium und den Oberbefehl. Die Verfassung blieb in Kraft; die Kammer wurde aufgelöst, Neuwahlen sollten zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschrieben werden. Stellvertreter Orontas wurde der außer der Reihe zum Generalmajor beförderte Oberstleutnant del Vecchio. Chef des Generalstabes: Generalmajor Dorrego. Admiral Costemalle blieb im Amt. Orontas persönlicher Stab wurde unter dem Vorbehalt von Ergänzungen zum Generalstab erhoben. Die übrigen Ministerien wurden kommissarisch mit Herren besetzt, deren Namen Manuel nicht kannte; ebenso die Posten der Provinzgouverneure. Das Schicksal der übrigen Beamtenschaft hing von ihrer Stellungnahme zur neuen Regierung ab. Diese etwas verschwommene Bestimmung wurde erläutert durch ein Blatt, auf dem die Namen gegnerischer oder sonstwie mißliebiger Funktionäre verzeichnet waren: sie wurden abgesetzt oder, in vielen Fällen, verhaftet.

Mit besonderer Spannung las Manuel die beiden letzten Blätter. Da war zunächst ein Aufruf an die Bevölkerung, der, nach Übernahme der Regierungsgewalt, über den Rundfunk, durch Anschlag und Presse verbreitet werden sollte. Gezeichnet: Generalleutnant Maximine Oronta, Präsident. Und endlich die Ernennung Mr. Leo Winemans, Chief-Managers des Bankhauses Atkinson & Wineman, zum Fachberater der neuen Regierung in Wirtschafts- und Finanzfragen. Ihm war das Recht zugestanden, aus in- und ausländischen Fachleuten eine Kommission zu bilden, die im Einvernehmen mit der Regierung Pläne für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes ausarbeiten sollte. Dabei war auf eine Denkschrift über die bisher mit der Regierung in San Isidro und – vertraulich – mit General Oronta geführten Konzessions- und Kreditverhandlungen hingewiesen. Auch diese Denkschrift war vorhanden; sie war umfangreich, und Manuel legte sie beiseite.

Manuel arbeitete. Er glühte wie im Fieber. Aus einem Werk über Nebrador – es stand im Bücherschrank – löste er zwei Karten und zeichnete die Eintragungen über die Stellungen und den Vormarsch ein. Er schrieb mit fliegender Feder – es fiel ihm schwer, weiß der Teufel, aber man schrieb sich Handgelenk und Feder locker – alle Aufstellungen und Dokumente ab. In allen den Jahren seiner wechselvollen Wanderfahrten hatte er nicht so viel geschrieben, wie in dieser einen Nacht. Eine Weile überlegte er dann, was er mit der Denkschrift über die Konzessions- und Kreditverhandlungen anfangen sollte. Sie konnte einmal von entscheidender Bedeutung werden. Aber es war unmöglich, sie abzuschreiben. Ach was, sagte er laut: Ich behalte sie ganz einfach. Basta. Dorrego hält den Mund; dafür werde ich sorgen.

Und nun war er fertig. Noch einmal versenkte er sich in die Betrachtung der Karte. Ja, er hatte alles richtig eingezeichnet, und es war auch für seinen Laienverstand völlig klar. Die Linien, Punkte, Pfeile, die Straßen, Flüsse und Täler belebten sich unter seinem Blick. Marschierende Kolonnen krochen dahin, Kraftfahrzeuge brausten und donnerten über die Straßen, Pferde trappelten, es knarrten und ächzten die Wagen des Trosses, Lafetten heulten heran, durch das aufgestörte Land wälzte sich der Vormarsch. Gefechtslärm brauste auf, es wölkte, krachte, pfiff, donnerte und knatterte. Unerbittlich griff die dreigliedrige Zange zu und schloß sich; die weiße Hauptstadt droben in den kühlen Bergen fiel dem Sieger zu. Und nun begann die neue Zeit. Nun begann die Arbeit.

Für wen? fragte sich Manuel. Für den Mann, der irgendwo im Verborgenen sitzt und mich wie eine Marionette an den Drähten zappeln ließ – zappeln zu lassen meinte? Für den seelenlosen Machtmenschen Oronta und seine ehrgeizige Ichsucht? Oder für – –

In dichter Wolke füllte der schale Zigarettenrauch das Zimmer. Manuels Augen brannten, in seinem schmerzenden Schädel war ein sausendes, kreisendes Summen. Er war todmüde und fühlte sich doch seltsam körperlos. Nicht mehr Manuel, der Namenlose und Ausgestoßene, nicht mehr der gespenstische Zwilling Orontas. Ein Dritter, der wie aus schwankendem Nebel sich formte. Der wußte, was Oronta wußte, fühlte, was Oronta nie gefühlt hatte, und wollte, was zu wollen, Oronta niemals in den Sinn gekommen war. Dieser Dritte, der Neue, der Künftige, mußte kämpfen. Es war sein Schicksal. Und er wollte dieses Schicksal bestehen. Wie – das zu Ende zu denken war er jetzt zu müde. Morgen, dachte Manuel lächelnd. Morgen. Oder vielmehr – heute. Aber erst schlafen.

Zuvor aber war noch etwas anderes zu tun. Manuel sah auf die Uhr: Es ging auf fünf. Er nahm den Hörer ab: »Verbinden Sie mich mit Herrn Generalmajor Dorrego.«

Es dauerte lange, bis eine verschlafene, ärgerliche Stimme sich meldete: »Verdammte Klingelei. Wer ist denn da, zum Donnerwetter?«

»Oronta«, sagte Manuel. »Schließen Sie Ihre Tür auf. Ich komme zu Ihnen.«

Die Ordonnanzen im Vorzimmer schliefen friedlich schnarchend im Sessel. Manuel, die schwarze Mappe unterm Arm, ging mit langen Schritten über den Flur, öffnete Dorregos Zimmertür, trat ein.

Der Stabschef, im zerknitterten Schlafanzug, das dünne Haar wirr um den Kopf, mit fleckigem Gesicht und zwinkernden Augen, bot einen kläglichen und komischen Anblick. Uniformstücke lagen durch das Zimmer verstreut, und Manuel sah, ohne es doch zu sehen, daß in dem halbgeleerten Mineralwasserglase auf dem Tisch ein paar Kohlensäureperlen träge und langsam zur Oberfläche stiegen.

»Exzellenz verzeihen – ich –«, stammelte Dorrego.

»Herr General Dorrego«, sagte Manuel leise und scharf, »Sie befanden sich gestern Abend in einem Zustande, der sich kurz und deutlich als sinnlose Besoffenheit bezeichnen läßt. Das ist eines hohen Offiziers unwürdig. Darüber hinaus« – er hob, einen Einwandversuch Dorregos übertönend, die Stimme zu schneidender Schärfe – »ist es eine ehrvergessene Verletzung der auf Ihnen ruhenden Verantwortung. Ich werde Sie deshalb später zur Rechenschaft ziehen. Das umsomehr, als derartige Pflichtverletzungen schon mehrfach bei Ihnen beobachtet wurden. Schweigen Sie bitte. Jetzt rede nur ich, als Ihr Vorgesetzter. Sie haben Dokumente in Verwahrung, von deren Geheimhaltung das Gelingen oder Mißlingen meiner gesamten Pläne abhängt. Diese Dokumente waren Ihnen anvertraut. Gestern Abend hätte ein Kind sie Ihnen abnehmen können. Ich habe infolgedessen diese Mappe sichergestellt, für die Zeit Ihrer – Bewußtlosigkeit. Sie haben es nicht einmal gemerkt. Hier ist sie.« Er warf die Mappe auf den Tisch. Das Mineralwasserglas kippte um und kollerte auf den Teppich. Dorrego glotzte es mit stieren, entsetzten Augen an und war krampfhaft bemüht, sich zusammenzureißen.

»Ich will annehmen, daß Ihnen diese Lektion genügt«, sagte Manuel. »Im Augenblick sehe ich davon ab, die Folgerung aus Ihrem Verhalten zu ziehen. In den nächsten Tagen erwarte ich von Ihnen tadellose Haltung und unbedingte Selbstbeherrschung. Über das Weitere reden wir nach dem Abschluß der Ereignisse. Haben Sie mich verstanden, zum Donnerwetter?« brüllte er los – denn ihm war eingefallen, daß Oronta an seiner Stelle unbedingt brüllen würde.

»Jawohl, Exzellenz«, antwortete Dorrego schwach.

»Wenn ich aber noch den geringsten Verstoß bemerke, enthebe ich Sie Ihres Postens und stelle Sie vor ein Kriegsgericht. Zusammenschießen lasse ich Sie. Es ist eine verdammte Schweinerei. Schämen Sie sich.«

Er wandte sich zum Gehen. Es war höchste Zeit – kaum noch zu bändigende Lachlust kitzelte ihn im Halse.

»Die finanzielle Denkschrift behalte ich einstweilen zurück, um sie mit meiner Kopie zu vergleichen. Sie brauchen sie ja nicht.«

Die Tür fiel knallend hinter ihm zu.

Ich werde nicht schlafen können, dachte Manuel. Wie kann man unter solchen Umständen schlafen?

Aber sein Kopf hatte kaum die Kissen berührt, als er mit sanftem Fall in samtener Schwärze versank.


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