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6. Kapitel

Der mißgelaunte Major – Der Adjutant lüftet die Maske – Der Mann auf der Straße meldet sich – Ausritt mit Juana

Wenn wir sagten, daß der Major betrunken gewesen sei, so möchten wir nicht mißverstanden werden. Er befand sich keineswegs in dem Zustand, der zur Folge hat, daß man ungehörige Lieder singt, weiblichen Wesen unter dem Angebot unverhältnismäßiger geldlicher Gegenleistungen weithin hörbare Vorschläge macht, Weinflaschen in Spiegelglas schmettert, um gleich darauf die eigene Verworfenheit im Andenken an verstorbene Blutsverwandte mit bitteren Zähren zu beweinen. Vielmehr war der Major in jener gefährlich aufgeschlossenen seelischen Verfassung, in der man bereit ist, aufgestauten Gedanken und Gefühlen gegenüber dem Erstbesten oder Erstschlimmsten Ausdruck zu geben, rückhaltlos, wortreich, erschöpfend und unter Hintansetzung jeglicher Vorsicht. Sein häßliches Gesicht mit der klobigen Nase glühte, sein schwarzer Knebelbart war herausfordernd gesträubt, er hatte die dicke Faust auf den Tisch gestemmt und sah sich nach einem Opfer für seinen angesammelten Zorn um.

»Hallo, Major de Souza«, sagte Manuel. »Nein, nein, bleiben Sie sitzen«, wehrte er rasch ab, als er sah, daß der Dicke mühsam hochkommen wollte. »Wenn es Ihnen recht ist, setze ich mich zu Ihnen. Haben Sie das Liebesmahl vorzeitig verlassen?«

»Liebesmahl, El–Ellenz?« sagte der Major zornig und bumste mit der Faust auf den Tisch, daß die leeren Flaschen gegeneinander klirrten. »Was soll ich da noch? Niemand unterhält sich mit mir. Ich bin nicht el–elegant. Ich kann keine Witze erzählen. Ich bin arm. Und ich bin häßlich. Nicht wahr, ich bin häßlich, El–Ellenz?« Die blaßbraunen, jetzt etwas glasigen Augen sprühten Herausforderung.

»Ein Mann«, antwortete Manuel philosophisch und mit einer plötzlichen lächelnden Freude an seiner eigenen Weisheit, »braucht nicht schön zu sein. Ein Mann, und besonders ein Offizier, muß tüchtig und tapfer sein, Major de Souza.«

»Ellenz«, stammelte der Major mit jäher Rührung, und seine Augen wurden feucht, »das war ein menschliches Wort. Das war ein schönes Wort. Wenn jeder so mit mir redete – Verzeihung.« Es war ihm plötzlich halbwegs zum Bewußtsein gekommen, daß er neben dem gefürchteten General Oronta saß, und Manuel fing einen halb mißtrauischen, halb furchtsamen Seitenblick auf. Der Kellner hatte auf seinen Wink eine frische Flasche gebracht und eingeschenkt.

»Zum Wohl, de Souza«, sagte Manuel. »Sprechen Sie sich ruhig aus, wenn es Sie erleichtert.«

Der Major leerte auf einen Zug sein Glas und kam sogleich wieder in Schwung.

»Ich bin tüchtig. Ich bin tapfer«, erklärte er mit Nachdruck. »Aber da soll der Teu– Teufel tüchtig und tapfer sein. Achtundvierzig Jahre und immer noch Major, El– Ellenz. Schulden. Und sieben Kinder. Sieben Kinder«, wiederholte er anklagend, als wollte er seinen Chef dafür verantwortlich machen. »Ich liebe diese Kinder. Es sind reizende Kinder, und wohlerzogen, und klug. Aber sie kosten Geld, immerzu Geld. Sie sollen es zu was bringen. Wie soll man da herauskommen. Traurig ist das. Verdammt scheu– scheußlich traurig. Da kann man nicht herauskommen.«

Manuel spürte eine plötzliche Zuneigung für den dicken Mann. Es war das erste Mal, daß er in Nebrador menschliche Unmittelbarkeit und Echtheit erlebte: bei einem betrunkenen Major aus dem Stabe des Generals Oronta.

»Und wie kam das – ich meine: daß Sie es auf Ihrer Laufbahn nicht weiter gebracht haben?«

»Laufbahn?!« de Souza geriet sogleich wieder in Zorn, und Manuel mußte die Weingläser vor der niederbumsenden Faust retten. »Kriechbahn, sollte man lieber sagen. Immer gebüffelt. Waffenkunde, Ballistik, Ausrüstungswesen. Karthographie. Wenn die an– anderen im Kasino saßen, oder auf dem Korso paradierten, oder in der verdammten Spielhölle da drinnen ihr Geld verjeuten. Immer Spezialkommandos. Immer bloß als Arbeitstier ausgenutzt. Immer übersehen worden, weil die anderen eleganter waren, oder mehr Geld hatten, oder ein besseres Mundwerk. Geheiratet und Familie begründet, und meine Frau Dienstmädchen spielen lassen, und gearbeitet. Was gilt das hier? Einen Dreck. Laufbahn –!«

»Na, na«, begütigte Manuel, »jetzt wird ja vieles anders werden. Dafür kämpfen wir doch schließlich. Unsere Aktion – –«

»Revolution.« de Souzo nickte. »Revolution in Nebrador. Kennen wir. Haben wir alles schon mitgemacht. Großer Krach, und Schießerei, und dann werden ein paar tausend tot– oder krummgeschossen. Die faulen Mischlinge und das Lumpengesindel aus allen Ländern, die kommen heil raus, und wir und die dummen Indianer zahlen die Zeche, und die sogenannten oberen Schichten sehen zu. Dann gibt es eine Proklamation, und dann rollen ein paar Dutzend Köpfe, und dann geht die Schlamperei weiter. Und die fremden Herren mit dem Geldsack und den goldenen Füllfedern, die kaufen das Land auf, mitsamt Dreck und Speck, und machen das Geschäft. So war es, und so bleibt es.« Seine Stimme hob sich. »Warum liegt denn der Kreuzer da draußen und wartet auf den Augenblick, wo er sich in unsere inneren Angelegenheiten mischen kann? Weil wir nicht viel besser sind als ein Niggerstaat. Wir sehen bloß so aus, weil wir Wolkenkratzer und Straßenbahnen und Bu– Bumslokale haben. Die Herren im hübschen, sauberen San Isidro wissen es nicht, und wir dürfen es nicht sagen.« Er hielt inne, in jähem Schreck. »So«, sagte er mit erstickter Stimme, »und jetzt habe ich mich um meinen Hals geredet.«

Manuel schüttelte den Kopf. »de Souza«, sagte er und legte dem Dicken die Hand auf den Arm, »Sie haben erstaunlich grob und unvorsichtig geredet, aber Sie haben Vertrauen zu mir gehabt, und das achte ich. Es ist selten. Außerdem haben Sie in mancher Beziehung nicht einmal so ganz unrecht.« Der Major sah mit ungläubigem Staunen zu ihm auf. »Ich kenne Sie bisher nur wenig, aber ich will auf Sie achten. Vielleicht steckt in Ihnen wirklich mehr, als Sie bisher zu zeigen Gelegenheit hatten.« Er hielt inne – ihm wurde klar, daß er mehr versprach, als er halten konnte. Rasch fuhr er fort – in einem strengen Ton: »Vor allem kann ich es nicht dulden, daß meine Offiziere mit Schulden herumlaufen! Sie werden mir morgen früh durch meine Ordonnanz eine Aufstellung aller Ihrer Verbindlichkeiten schicken, und ich werde Ihnen das Geld geben, um alles zu regeln. Keinen Widerspruch – ich persönlich leihe es Ihnen, niemand erfährt etwas davon, und Sie können es mir später einmal wiedergeben, wenn Sie dazu in der Lage sind. Erledigt. Und nun nehmen Sie sich in Acht und reden Sie nicht mehr, als für Ihren Hals gut ist. Handeln Sie lieber. Es wird sich schon Gelegenheit dazu finden.«

Dem Dicken traten die Tränen in die Augen, und er bewegte die Lippen, aber er brachte kein Wort hervor. Manuel warf dem Kellner einen Geldschein hin. »Alles. Es stimmt so.« Der glatte schwarze Scheitel des Befrackten neigte sich tief in untertänigster Verblüffung. Manuel stand auf. »So. Jetzt gehört der gestern noch kranke General ins Bett, und Sie gehen hübsch nach Hause und sagen Ihrer Frau einen Gruß von mir.« Er reichte dem anderen die Hand.

Major de Souza war mit einem Schlage völlig nüchtern; er stand straff und gerade, und sein Gesicht leuchtete.

»Gehorsamsten Dank. Und wenn – wenn Exzellenz mal einen Mann brauchen, der sich für Sie totschießen läßt – hier steht er.«

Als Manuel das Banknotenbündel, ohne zu zählen, in einer Schublade des Schreibtisches verwahrte, war er mit sich zufrieden. Die Gewinne steigerten sich. Erst hatte er eine Kreatur gewonnen; dann war ihm eine große Geldsumme hingeworfen worden, sinn- und nutzlos, wie es schien. Und nun hatte dieses Geld – oder ein lächerlich geringer Teil dieses Geldes – ihm einen Menschen erschlossen und verpflichtet. Ihm –? Nein. Dem General Oronta. Aber das minderte die Freude nicht. Und außerdem waren dem Schicksal ja noch drei Tage Zeit für weitere Einfälle gelassen.

 

Der Adjutant war sichtlich zerstreut und mit seinen Gedanken nicht bei Manuel und der in den Staatsgemächern gespielten wunderlichen Komödie; er hielt sich nicht mit den sonst üblichen dienstlichen Spiegelfechtereien auf und schien sich eigentlich nur davon überzeugen zu wollen, daß sein Hauptdarsteller noch unbeschädigt vorhanden war. Aber nach der Verabschiedung, schon an der Tür, kehrte er noch einmal um.

»Man hat mir berichtet, daß Exzellenz gestern Abend im Spielsaal ein ganz ungewöhnliches Glück hatten.«

»Ich habe keine Erfahrung auf diesem Gebiet und kann daher auch nicht beurteilen, ob das Glück wirklich so ungewöhnlich war«, sagte Manuel gleichgültig. »Spielende Kinder haben ihren Schutzengel.«

»Darf ich Exzellenz darauf aufmerksam machen, daß der Aufenthalt im Spielsaal in einem gewissen Widerspruch zu den ausgegebenen Krankheitsmeldungen und dem Fernbleiben von den gestrigen Veranstaltungen steht?« Die Stimme des Adjutanten klang höflich und dienstlich wie immer, aber sie hatte einen spürbaren Unterton von Gereiztheit. »Dieser Widerspruch ist peinlich. Das linksradikale Blatt hat bereits eine Andeutung gewagt.«

»Ich langweilte mich so scheußlich, del Vecchio«, lächelte Manuel harmlos. »Da bin ich eben ein bißchen durchgegangen. Es wird Ihrer bewährten Diplomatie schon gelingen, die Falte in meinem Charakterbild wegzubügeln. Na, und außerdem wird es ja jetzt mit dem Durchgehen schwieriger sein.«

»Wieso?« del Vecchio hob erstaunt die Brauen.

»Weil Sie« – Manuels Gesicht strahlte in treuherziger Heiterkeit – »dem himmlischen Schutzengel allein nicht getraut und mir noch einen zweiten in Gestalt einer weiteren Ordonnanz ins Vorzimmer gesetzt haben.«

Der Oberstleutnant zuckte die Achseln. »Fürsorgliche Vorsicht, Exzellenz.«

»Natürlich. Herzlichen Dank. Muß ich das Geld abliefern oder darf ich es einstweilen behalten?«

Das Gesicht des Adjutanten erstarrte in hochmütiger Abwehr.

»Exzellenz sollten es möglichst offenkundig dem Direktor des Hotels zur Aufbewahrung im Stahlfach übergeben – wenn ich mir einen Rat erlauben darf. Die Sache ist bekanntgeworden. Wir befinden uns hier auf einem nicht ganz ungefährlichen Boden.«

»Ach so. Ein bißchen Einbruch wäre nicht weiter schlimm; aber wenn ich jetzt – sagen wir einmal: durch eine allzu drastische Maßnahme bei einem Raubüberfall ums Leben käme, so wäre das noch zu früh. Sie brauchen noch Zeit. Das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?«

»Exzellenz belieben etwas grausam zu scherzen.« Das Einglas flimmerte nervös, und es kam Manuel vor, als sei dem Adjutanten ein schwaches Rot in die Wangen gestiegen.

»Ich scherze nicht.« Manuel hatte sich gesetzt und betrachtete angelegentlich die blanken Spitzen seiner Lackstiefel. »Mir – ich sage mir, sozusagen als Privatmann – ist durchaus nicht nach Scherzen zumute. Sehen Sie, das gestrige Glück hat mich ein bißchen nachdenklich gemacht. In meinem vorigen Dasein ist mir so etwas nie passiert.«

»Wenn Exzellenz mich gütigst beurlauben wollen –? Der Dienst –«

»Natürlich.« Manuel nickte. »Ihre Zeit ist kostbar, das weiß ich. Ganz gewiß kostbarer als meine – obwohl Ihre vermutlich eine längere Zukunftsdauer hat. Trotzdem müssen Sie mir mal ein paar Minuten widmen. Ohne das dienstliche Drum und Dran.«

Der Adjutant überlegte einen Augenblick; dann faßte er einen plötzlichen Entschluß, wie vor etwas Unausweichlichem, und setzte sich. »Bitte«, sagte er knapp.

Manuel hob den Blick und sah dem anderen offen ins Gesicht. »Ich will Ihnen nicht den Dienst aufsagen, Herr Oberstleutnant del Vecchio. Ich habe auch nicht die Absicht, Ihnen auf Grund meines – meines finanziellen Erfolges durchzubrennen; schon deshalb nicht, weil wahrscheinlich dafür gesorgt ist, daß ich nicht weit käme. Ich bin Ihnen ungefähr so sicher, als hätten Sie mich hinter Gitterstäben. Das ist mir klar. Aber haben Sie sich nie Gedanken darüber gemacht, weshalb ich hier so bereitwillig und – ich möchte sagen: anständig und verhältnismäßig intelligent mitspiele?«

del Vecchio sah ihn unverwandt an. »Ja«, sagte er.

Manuel zuckte die Achseln. »Zuerst war es Betäubung und Hilflosigkeit, auch wohl ein bißchen Angst. Mit medizinischer Nachhilfe. Dann war es der Spaß an alledem hier« – sein Blick wanderte durch das Zimmer –, »Neugier und die Freude an der Komödie. Gott, das ist ja nur natürlich. Aus der Neugier ist schließlich Spannung geworden. Auch darüber werden Sie sich nicht wundern. Spannung – und ein gewisser Ehrgeiz. Halten Sie mich für dumm?«

»Nein.« Der Adjutant lächelte.

Manuel nickte. »Das dachte ich mir. Ein wenig Grips gehört ja schließlich auch dazu. Sonst wäre ich wohl schon mal aus der Rolle gefallen. Aber wenn man's recht bedenkt – ich habe ja auch schon allerhand mitgemacht. Ganz ähnlich wie der Herr Generalleutnant Oronta. Schön. Und furchtsam bin ich auch nicht. Man verlernt das. Trotzdem habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie mein Schicksal sich gestalten wird, wenn der Augenblick des – na: des Aufenthaltswechsels gekommen ist. Das verstehen Sie, nicht wahr?«

del Vecchio hatte nach einer Zigarette gegriffen, und es war bezeichnend für die Situation, daß er sich von Manuel Feuer geben ließ. Er rauchte eine Weile; dann sagte er halblaut mit seiner straffen, kühlen Stimme:

»Ich bin nicht undankbar, und Sie haben recht, wenn Sie voraussetzen, daß ich Ihnen tatsächlich Dank schulde. Also sollen Sie eine Antwort haben. Wenn Sie Ihre Rolle gut und ehrlich durchführen, werde ich dafür besorgt sein, daß Sie heil davonkommen und mit einer anständigen Belohnung außer Landes gehen – nach einer angemessenen Sperrfrist. Das liegt, soweit ich es heute übersehen kann, bei mir. Sollten Sie aber aufsässig sein oder gar Verrat versuchen, so ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen offen sage, daß ich in diesem Falle nicht in Ihrer Haut stecken möchte. Weder in der jetzigen noch in der eigentlichen. Ist Ihnen diese Eröffnung etwas Neues?«

»Nur in ihrem zweiten Teil. Für den ersten danke ich Ihnen.« Auch Manuel nahm sich eine Zigarette. »Zum ersten Mal«, sagte er, den Rauch nachdenklich ausatmend, »habe ich gespürt, daß Sie nicht nur denken können, sondern auch ein Gefühl haben – soweit Ihnen das mir gegenüber erlaubt ist. Darf ein Mensch in meiner Lage eine kühne Frage tun – eine Frage, die vielleicht anmaßend und aufdringlich klingt, aber ganz einfach menschlich gemeint ist? Sehen Sie, ich bin ganz allein. Ich bin völlig auf mich selbst angewiesen, ich habe keinen Menschen, der mir hilft, wenn ich Hilfe brauche. Und eigentlich hätte ich sie in den letzten Tagen immer gebraucht. In solcher Lage wird man nachdenklich. Man möchte die Menschen, von deren Willen man abhängt, einmal erkennen, einmal einen Blick hinter die Maske tun. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke. Sie, Herr Oberstleutnant del Vecchio, sind so ganz – anders als die übrigen hier. So undurchsichtig, so unangreifbar. Sie beherrschen sich so vollkommen, daß Sie nie etwas von sich selbst verraten. Ich habe oft darüber gegrübelt, wer – oder vielmehr: wie Sie eigentlich sind, und weshalb Sie hier in Nebrador und für den General Oronta ein Spiel mit so hohem Einsatz spielen? Gerade in Nebrador? – denn ich glaube nicht, daß Sie in diesem merkwürdigen Lande geboren sind. Sie brauchen mir nicht zu antworten, natürlich; ich bin ja für Sie nur ein aufgelesener Tramp. Aber ich würde Ihre Antwort als anvertrautes Gut mitnehmen, so oder so.«

Der Adjutant machte eine Bewegung, als wollte er aufstehen; dann, mit einem plötzlichen Entschluß, nahm er das Einglas aus dem Auge, und es war, als hätte er damit eine Maske abgenommen. Mit einem Male schien sein Gesicht jünger, weicher und seltsam entspannt.

»Geben Sie mir noch eine Zigarette«, sagte er. »Danke.« Er sprach langsam und mit bedachtsamer Wahl der Worte. »Sie seien nur ein aufgelesener Tramp, sagten Sie und meinten damit wohl, daß Sie das Vagabundenleben zumeist sozusagen in seiner unteren Hälfte erlebt haben, daß Sie durch eine lange Pechsträhne in den bösen und bitteren Kleinkrieg mit Not, Hunger, Laster, Gefängnis, Plackerei und Untergang verbannt waren. Es gibt aber auch eine obere Hälfte des wurzellosen Vagabundendaseins. Die Angehörigen dieser Menschenklasse nennen sich Abenteurer. Ihr Gewerbe ist der Bluff, der Schwindel und der elegante Betrug. Sie ernten, was andere gesät, sie beuten aus, was andere geschaffen haben.« del Vecchio sah in den wölkenden Rauch der Zigarette und schien seinen Zuhörer ganz vergessen zu haben. »Wir wollen sie nicht verwechseln mit den kleinen Schwindlern, Hochstaplern und Bauernfängern, die in dem trübseligen Bezirk zwischen Bürgerlichkeit und Zuchthaus schmarotzen und auf unerhebliche Art oben oder unten enden. Der Abenteurer, den ich meine, ist ein hochgezüchteter Typ. Er entwickelt Wagemut, Phantasie und Geist zu hohen Leistungen, aber es ist alles ins Unfruchtbare und Negative gewendet. Da trägt man einen Frack oder einen gutgeschnittenen Anzug, da tanzt man mit trockenem, gelenkigem und erfinderisch überlegenem Witz auf dem Seil, da lebt man auf Luxusschiffen und in großen Hotels, da trägt man Tag und Nacht eine glatte, undurchdringliche Hülle über seinem Wesen, da betrügt man die Menschen und versucht das Schicksal zu betrügen; da nimmt man fremdes Eigentum und nennt das nicht Diebstahl, da tötet man das Gefühl und nennt das nicht Mord, da zerstört man das Leben der Törichten und Ahnungslosen und nennt das nicht Verbrechen, da kämpft man gegen seinesgleichen, gegen Gesetz und Ordnung und Verfolgung einen mörderischen Kampf und trägt Handschuhe dabei. Aber man kennt die Freude nicht, man kennt nicht die Liebe und nicht die Treue; man weiß, daß man im leeren Raum zu Schlacke verbrennen wird wie ein Meteor. Oft ist man sehr müde, man hat oft einen würgenden Ekel vor der Lüge und vor der Sinnlosigkeit, die jeden Gewinn zu schauerlicher Ungestalt verwandelt: Man vermeint, Gold in der Hand zu halten, und es zerrinnt zu Kot. Man sehnt sich oft nach einem Augenblick der Entspannung, nach einem Wort der Aufrichtigkeit, nach einem Herzschlag der wahren Empfindung, nach einer Sekunde des Glücks über ehrlich erworbenen Erfolg. Manchmal sogar nach Sicherheit, nach Stetigkeit, ja nach Bürgerlichkeit. Aber man darf daran nicht einmal denken, sonst stürzt man ab. Es ist nicht leicht, am Rande des Kraters mit Lackschuhen zu jonglieren. Als Landstreicher darf man auch einmal menschlich sein. Der Abenteurer würde solche Anwandlungen ziemlich sicher mit seiner Haut bezahlen.«

Er zerstampfte die Zigarette in der Aschenschale.

»Das Folgende klingt wohl im Anfang wie ein erzählter Film. Ein junger Offizier der Königlich Spanischen Armee, den seine Familie wegen der üblichen leichtfertigen Streiche zur Kolonialtruppe hatte versetzen lassen, wurde in Melilla in eine ziemlich üble Affäre verwickelt. Schuldig –? Ja und nein; er war eigentlich mehr unbedacht, leidenschaftlich und eigensinnig. Aber das Unglück fügte es, daß er einen älteren Kameraden im Zweikampf tötete, und die Vorgeschichte des Duells hätte ihm den Hals gebrochen. Freunde, die Mitleid mit ihm hatten, gaben ihm Geld und verhalfen ihm zur Flucht. Er liebte nämlich das Leben. Ob das eine Stärke oder eine Schwäche ist, wollen wir dahingestellt sein lassen. Als ihm das Geld ausging, war ihm inzwischen klar geworden, daß er auf die Menschen wirkte, daß er sie zu bestricken und zu täuschen vermochte; auch entdeckte er in sich Fähigkeiten, die ihm neu waren: Phantasie, Draufgängertum und Unbedenklichkeit. Da er sonst wenig gelernt hatte, entwickelte er diese Eigenschaften bewußt und mit Erfolg zu negativer Höhe. So abenteuerte er viele Jahre lang durch die Welt – ich brauche das Lamento von vorhin nicht zu wiederholen. Als ihn eines Tages, bei Ebbe, eine schicksalhafte Welle an den Strand von Nebrador spülte, erfuhr er, daß man für den Aufbau der Armee Offiziere brauchte. Man suchte nur militärische Fähigkeiten und Kenntnisse und fragte nicht viel nach dem Woher und Warum. Wer ohne besonderen Grund nach Nebrador kam, hatte ohnehin seine besonderen Gründe dafür. Ihm war es recht, daß er eine verhältnismäßig saubere Beschäftigung in seinem eigentlichen Fach gefunden hatte. Er konnte etwas, er stieg erstaunlich rasch im Rang, mit tropischer Geschwindigkeit. Eines Tages kam er ins Gespräch mit einem neuernannten Generalmajor, der sich mit brutaler Kraft seinen Weg zu Rang und Einfluß gebahnt hatte. Diesem Manne schloß er sich an und verband sich mit ihm zur Durchführung gewisser Pläne – als Adjutant. Der General hatte die Faust, der Adjutant das Gehirn. Man darf das eine gute Verbindung nennen. Und man soll über diese Pläne und über den Adjutanten noch kein endgültiges Urteil fällen, nur weil in Nebrador eine tadellose Offiziersuniform nicht immer einen entsprechend gepflegten Menschen birgt. Es wird hier einstweilen noch mit besonderen Maßen gemessen. Nebrador ist ein Land der verhältnismäßig unbegrenzten Möglichkeiten. Vielleicht ist – – Aber ich wollte nur von Vergangenem reden. Und ich habe Ihren Wunsch, glaube ich, gründlich genug erfüllt.«

Manuel wollte etwas sagen, ein Wort des Dankes, irgendeinen Satz, der diesen Augenblick der Aufgeschlossenheit festhielt, vielleicht vertiefte. Aber der Adjutant kam ihm zuvor; er stand auf und setzte das Einglas wieder ein, er hatte aufs neue die Maske angelegt, er war wieder mit der kühlen Undurchdringlichkeit gepanzert, an der jedes Wort abglitt.

»Ich darf mich empfehlen, Exzellenz –? Guten Morgen.«

Er griff nach Mütze und Handschuhen, die silbernen Sporen klirrten und verklangen.

Manuel war wieder allein. Er wußte, daß Manuel, der Figurant, der erste Mensch war, dem der Oberstleutnant del Vecchio sich entdeckt hatte – und daß dieser Augenblick sich nie wiederholen würde. War das so ungewöhnlich? Wohl nicht. Jeder, auch der Kühlste und Sicherste, muß sich irgendwann einmal mitteilen, dachte er. Aber ein Mensch wie del Vecchio tut das nur, wenn er weiß, daß dem anderen für immer der Mund verschlossen ist.

Es war sehr heiß im Zimmer. Aber Manuel fröstelte.

Die Regierung in San Isidro besaß einen Rundfunksender von leidlicher Reichweite, den eine ausländische Gesellschaft gebaut hatte – es war ein ausgezeichnetes Geschäft gewesen; aber er wurde mit großer Zurückhaltung benutzt. Der Präsident, als konservativer Mann mit archäologischen Neigungen, hielt nicht viel von dieser neumodischen Erfindung, und die durch sie bewirkte Geräuscherzeugung war ihm ausgesprochen unangenehm. Bei der Nachrichtenverbreitung hielt man sich zunächst an die vorhandenen und bewährten Mittel, und das Rüstzeug der politischen Propaganda war in San Isidro nur zu überaus bescheidener Entwicklung gediehen. Ob man den Grund dafür in Wahrheitsliebe oder in Bequemlichkeit sehen will, bleibe dem mehr oder minder freundlichen Ermessen überlassen. Die Indios konnten sich keine Empfangsgeräte leisten, die Kirche war begreiflicherweise abgeneigt, der Aufklärung und der anderweitigen – das heißt: nicht in ihre Spendenbüchsen gelangenden – Verwendung von Sparpeseten im Lande Vorschub zu leisten, und die Besitzer von kostspieligen Röhrengeräten holten sich die Darbietungen nach Gefallen irgendwoher aus dem Äther. So führte der Sender San Isidro ein bescheidenes und wenig beachtetes, mit übernommener ausländischer Musik kümmerlich genährtes Dasein.

Als Manuel, um sich abzulenken, im Arbeitszimmer den Lautsprecher einschaltete, war er daher einigermaßen erstaunt, eine Kundmachung aus der Hauptstadt zu vernehmen. Ein Sprecher der Regierung beklagte sich in vorwurfsvollem und gekränktem Tone über gewisse Ereignisse, die sich in Esperanza abgespielt hatten. Unverantwortliche und staatsfeindliche Elemente, so sagte er, hätten Gerüchte verbreitet, die zur Beunruhigung, ja zu Kundgebungen Anlaß gegeben hätten. Die Regierung sähe sich daher veranlaßt, in aller Form zu erklären, daß die Verhandlungen mit ausländischen Interessentengruppen über die Vergebung von Konzessionen keineswegs abgebrochen, sondern nur zur Klärung einiger technischer Einzelfragen zeitweilig unterbrochen seien. Die bösartige Ausstreuung, daß eine Aussetzung des Zinsendienstes für Staatspapiere, ein Moratorium oder eine Abwertung der Währung beabsichtigt sei, richte sich selbst als nichtswürdige Verleumdung der Regierung und bewußte Untergrabung ihrer Autorität. Es wurde dann zu blumigen Vergleichen geschritten, in denen von vergifteten Brunnen und Schüssen aus dem Hinterhalt die Rede war.

Manuel, der sich in der politischen Apotheke Nebradors nun schon etwas auskannte, stieß einen melodischen Pfiff aus. »Atkinson & Wineman«, sagte er. Und er nahm sich die Morgenblätter vor.

Im ›Diario‹ war man noch nicht so weit; man verzeichnete lediglich, besorgt und bekümmert, einen unerklärlichen Rückgang der Staatspapierkurse an der Börse von Esperanza. Auch wurde das Volk ermahnt, Vertrauen zur Regierung zu haben und sich nicht zur Störung von Ruhe und Ordnung verleiten zu lassen.

Der ›Pueblo‹ dagegen brannte eine ganze Seite von Schlagzeilen ab:

Abbruch der Konzessionsverhandlungen?
Bekommen wir keine Anleihen?
Wie will die Regierung die Arbeitslosigkeit bekämpfen?
Moratorium? Aussetzung des Zinsendienstes?
Abwertung?
Abbau der Beamten- und Ruhegehälter?
Wer rettet Nebrador?

Die Fragezeichen hinter diesen Balkenzeilen waren für den rasenden Leitartikler des ›Pueblo‹ wohl nur eine Formsache; es werde, schrieb er, »in gut unterrichteten Kreisen« ganz offen davon gesprochen, daß die Regierung derartige Maßnahmen mit derartigen Folgen plane oder gar schon eingeleitet habe. Sie müsse nun in zwölfter Stunde die Kammer einberufen und klar und deutlich Rede stehen. »Wir haben«, hieß es in dem Aufsatz, »immer und immer wieder unsere Stimme erhoben und Taten gefordert, aber die Regierung hält es noch nicht einmal für nötig, Worte von sich zu geben. Wozu haben wir eigentlich ein Parlament? Wo verbringt es seine Ferien, während das Volk, das seinen Abgeordneten vertraute, dem Untergang preisgegeben wird? Das Land ist in tödlicher Gefahr! Wirtschaftsleute versichern uns, daß es gleichgültig sei, ob die geschilderten Maßnahmen beabsichtigt seien oder nicht; eine Regierung wie die unsere werde in kürzester Zeit zwangsläufig bei solchen Verzweiflungsmitteln landen. Wir lassen uns nicht länger hinhalten, wir lassen uns nicht durch die Diktatur der Tatenlosigkeit in den Abgrund stürzen! Das Land ist in gefährlicher Gärung. Drohend nahe ist die Gefahr, daß das Volk zur Selbsthilfe greift! Wer rettet Nebrador? Wir wissen es und haben es oft gesagt! Der Mann unseres Vertrauens ist da und wird handeln!«

Manuel pfiff durch die Zähne und griff zum ›Trabajador‹. Hier äußerte sich der Leitartikler mit der gedämpften Freude eines Mannes, der seinen Weizen blühen sieht, aber nicht recht weiß, wer ihn ernten wird. Der drohende Zusammenbruch des kapitalistischen Staates war ihm recht, aber er befürchtete offenbar, daß ein noch schärferer und aktiverer Kapitalismus darauf folgen würde. »Arbeit und Brot« hieß es da, »kann das gequälte Volk nur durch Selbsthilfe, das heißt durch die Diktatur des Proletariats erlangen, nicht dadurch, daß es für ausländische Kapitalisten und Börsenjobber Frondienste tut.« In einem Anfall von Hellsichtigkeit sagte der Verfasser des Leitaufsatzes dann, es zeige sich ja bereits, daß die Hyänen des Kapitalismus und der Ausbeutung, die das Land durch ihre militärischen Handlanger ganz in ihre Gewalt bringen wollten, emsig am Werke seien: Denn der Kurssturz der Staatspapiere sei ganz offenkundig eine Börsenschiebung, um ausländischen Spekulanten die Anleihen und Obligationen zu Schleuderkursen in die Hände zu spielen.

Hier pfiff Manuel abermals, und diesmal noch lauter.

Im übrigen ergab sich, daß vor dem Rathause eine rasch anwachsende Volksmenge Kundgebungen veranstaltet und eine Abordnung zum Bürgermeister geschickt hatte, um Aufklärung über die Gerüchte zu verlangen. Man hatte ihr versprochen, daß man die Regierung um eine Stellungnahme bitten würde. Trotzdem kam es zu Hoch- und Niederrufen, etliche Fensterscheiben gingen in Scherben, und die Polizei hatte einige Mühe, die Demonstranten, unter denen sich auch Soldaten und Studenten befanden, auseinanderzutreiben. Dabei war, wie der ›Trabajador‹ mit schadenfrohem Humor bemerkte, einem Polizeibeamten das Nasenbein in schwer wieder gutzumachender Weise verbogen worden.

Manuel ließ das Blatt sinken und lächelte. Die Herren Wineman und del Vecchio arbeiteten mit einer hervorragenden Regiebegabung. Die Leute, die den Sturmtrupp dieser Kundgebung bildeten, waren ganz gewiß keine Liebhaber der Arbeit, und sie waren auch ganz gewiß vor der Gefahr behütet, bei einer Aussetzung des Zinsendienstes als Leidtragende dem Sarge der Staatspapiere zu folgen. Sie säten nicht; aber damit endete auch ihre Ähnlichkeit mit den Lilien auf dem Felde, denn sie wollten ernten, und der Vater, der sie ernährte, saß nicht im Himmel, sondern im Direktionszimmer der Firma Atkinson & Wineman. Dem Volk von Esperanza aber war es gleichgültig, wofür oder wogegen gebrüllt wurde. Das Brüllenkönnen allein war schon Glück und Seligkeit.

Der Mann, der die Maske des Generals Oronta trug, stand nachdenklich am Fenster und wiederholte die Frage: Wer rettet Nebrador?

Der General Oronta nicht.

Manuels geballte Faust fiel auf das Fensterbrett. Es gab nun schon vieles, sehr vieles, das er wußte; eines aber kannte er noch nicht: Den Operationsplan des Umsturzes. Vieles, sehr vieles hatte ihm der Zufall – oder das Schicksal – schon an guten Karten in die Hand gesteckt. Das Trumpf-Aß fehlte noch.

Und wenn er es bekam? Der Auftakt zur Entscheidung war da.

Das Blut siedete ihm in den Adern und klopfte schmerzhaft in den Schläfen. Langsam, nebelhaft noch, aber schon in werdenden Umrissen formte sich in Manuel, dem ehemaligen Tramp, der große Plan.

 

»Die Art, wie hier in Esperanza gestohlen und betrogen wird, gefällt mir nicht«, sagte Manuel. »Es ist alles so plump und humorlos. In Dayton, wo ich vor Jahren mal als Schofför tätig war, kannte ich einen gewissen Jim Hobson, der hatte so viel Witz und eine so leichte Hand, daß das Stehlen bei ihm wie Zauberei wirkte. Man konnte sich beinahe damit aussöhnen. Obwohl man da ja immer noch an die Moral denken muß; aber die wird da oben ja wohl nicht so wichtig genommen. Sogar die Art, wie Jim aus dem Leben verschwand, war richtig nett. Er machte damals den Trick mit dem Handkoffer. Dazu brauchte er weiter nichts als eine Reisetasche, die er mit Steinen füllte. Dann ging er auf den Bahnhof und stellte sich auf dem Bahnsteig mitten ins Gedränge, und wenn er dann unter dem abgestellten Gepäck ein passendes Stück gefunden hatte, vertauschte er es beim Einfahren des Zuges mit seiner eigenen Tasche und machte sich mit der Beute unsichtbar. Meistens war das ein lohnendes Geschäft. Als er nun eines Abends wieder Erfolg gehabt und den ergatterten Koffer in seine Wohnung mitgenommen hatte, rief er seine Freundin an, um ihr von dem Streich zu erzählen. Mitten im Gespräch hörte sie plötzlich einen gräßlichen Knall, und dann garnichts mehr. Von Jim haben wir nichts mehr wiedergefunden, seine Wohnung war weg, und der Koffer natürlich erst recht. Jim hatte eine Höllenmaschine gestohlen. Ich fand damals, daß das eigentlich eine moralische Lösung war.«

Sie hielten am Rande des Parkes in einem Palmenhain. Weit hinter ihnen lag die Avenida de la Virgen mit ihrem Nachmittagskorso, dem Geschmetter der Musikkapellen, das ganze Gewirr der wunderlichen Stadt. Die gebahnten Wege hatten aufgehört. Die Pferde standen hier oben, am Rande des Hügels, bis zu den Knien in üppig wucherndem und blühendem Gesträuch und Kraut; drunten stieß an dieser Stelle das Dschungel, schwarzgrün, undurchdringlich und sumpfig, bis an den Rand des Parkes vor. Hier war der Ausdehnung der Stadt eine Grenze gesetzt, und die Stadt fand sich damit ab. Die Pferde, vom giftigen Gesumme der geflügelten Sumpfbewohner belästigt, traten unruhig hin und her, mit nervösem Schnauben; es war nicht leicht, sie in Zügel zu halten. Die feuchte, schwere Luft bedrängte Kopf und Lungen mit einem betäubenden Gemisch von Düften. Der Himmel war mit einem seltsam fahlen Dunst wie mit einem Gespinst verhangen, und im Südwesten, über dem Meere, verdichtete er sich zu drohender, blauer Schwärze. Die hohen Königspalmen standen reglos und wie in starrer Erwartung. Aus der Sumpfniederung klang zuweilen der rauhe Aufschrei der Wasservögel, das Plappern, Pfeifen, Schnarren und Kreischen des vielfältigen Urwaldgetiers herauf.

Die Baronesa Juana sah zu Manuel herüber. Zwischen ihren Brauen kerbte sich eine steile Falte – war es Nachdenklichkeit, war es Zorn? Sie hatte gemeint, den General Oronta zu kennen – einen schweren, von plumper Kraft erfüllten Mann, einen bedenkenlosen Abenteurer und rücksichtslos aufwärtsdrängenden Machtmenschen, ebenso verschlagen und grausam wie gewissermaßen übersichtlich; einen Mann, von dem sie sich keine Überraschungen erwartet hatte, weil sie auf jede Äußerung und Entladung primitiver Kräfte gefaßt war. Einen Desperado, einen Tyrannen, aber nicht eigentlich eine Herrennatur. Sie hatte ihn ergründen, zum Reden bringen, ja in gewissem Sinne lenken können, weil sie schön, klug und aus edlem Blut war. Er hatte sich mit seinen Plänen und seinen Erfolgen gebrüstet, weil sie ihm als das einzige Mittel erschienen, Eindruck auf sie zu machen, sie vielleicht sogar zu gewinnen; aber es war ihr leicht gefallen, sein Begehren zu bändigen, ihn fernzuhalten und doch immer wieder anzulocken, ihn zu entmutigen und doch immer wieder zu neuer Hoffnung zu entflammen. Es war ihr leicht gefallen, den Auftrag der Regierung in San Isidro zu erfüllen und den Innenminister über die Vorbereitungen Orontas zu unterrichten, bis der Augenblick gekommen schien, den Rebellengeneral zu fällen. Sie glaubte an diese Aufgabe, und Orontas Wesen hatte ihr die Erfüllung leicht gemacht.

Bis der seltsame Umschwung kam. Alle Fäden des bedachtsam gewobenen Netzes waren ihr entglitten. Sie wußte nichts mehr, erfuhr nichts mehr, erreichte nichts mehr. Der Mann da neben ihr war nicht mehr der General Maximine Oronta von einst. Er war fast ein Fremder. Sie mußte von vorn beginnen – in der Stunde der Entscheidung.

Wenn ihr Blick den Augen des Oronta von einst begegnet war, so schlug ihr daraus eine Flamme des Begehrens entgegen, die sie nur mit der ganzen gelassenen und hochmütigen Kühle ihrer Abwehr niederzwingen konnte. Jetzt gelang es ihr kaum jemals noch, den Blick dieser dunklen Augen zu fangen – er schien immer nach fernen Zielen zu greifen. Und doch spürte sie, daß sein Verlangen sie mehr denn je umfing. Aber er zeigte es nicht mehr. War es eine plötzliche Scheu, war es absichtliche Zurückhaltung? Sein schmaler gewordenes Gesicht verriet nicht weniger Tatkraft als zuvor; aber es war ein verschlossener, bewußt zusammengefaßter Ausdruck, eine wachsame Bereitschaft und zugleich eine gespannte Nachdenklichkeit. So sieht ein Mann aus, der einer großen Entscheidungsstunde seines Schicksals ins Auge blickt, dachte sie: nicht wie ein bedenkenloser Abenteurer, sondern wie – ja, eben wie ein Mann. Seine Hände hielten die Zügel straff und sicher wie zuvor, aber es war eine selbstverständliche, fast unbewußte Sicherheit; er saß fest und breit im Sattel wie immer, aber ihr kam es vor, als ritte er geschmeidiger und leichter. Früher hatte sie oft Mühe gehabt, Wahrheit und protzige Aufschneiderei bei ihm zu trennen. Jetzt redete er leichthin von unwichtigen Dingen und verbarg seine Gedanken. Dennoch spürte sie kein Mißtrauen bei ihm. Rätselhafte Verwandlung! Und fast mit einem Erschrecken erkannte sie, daß auch in ihr selbst sich etwas gewandelt hatte: Sie haßte ihn noch, weil sie seine Ziele und Absichten haßte. Er blieb der Eindringling, der eigennützige Führer einer Pöbelrevolte, der bedenkenlose Schrittmacher landfremder Gewalten. Er blieb der Viehhirt, der nach der Macht über ein ganzes Land griff. Ja, sie haßte ihn noch. Aber sie verachtete ihn nicht mehr.

Nun stand es nicht so um Manuel, daß er die Gegenwart der Baronesa Juana auch nur einen Herzschlag lang vergaß. Er brauchte sie gar nicht anzusehen: unauslöschlich eingebrannt war in ihm das Bild ihres klaren, strengen und doch leidenschaftlichen Gesichtes, ihres schönen, hochmütigen Mundes, ihres vollkommenen Ebenmaßes, ihrer adligen Haltung. Es war ein fast erschreckendes und schmerzendes Glück, sie zu erblicken: wie wenn man einen wirklich gewordenen Traum, eine erfüllte Sehnsucht erlebt. Manuel, der Tramp, hätte sein Begehren vielleicht nicht verhehlt, da er nichts zu verlieren hatte und nichts zu gewinnen hoffen durfte. Manuel, der Schatten Orontas, der dienende Doppelgänger, in dem sich ein eigener Wille und eine trotzige Entschlossenheit zu regen begannen, verbarg mit unsicherer Scheu sein Gefühl. Denn es war ein Gefühl: Er hatte sie mit dumpfer und dunkler Gier begehrt, und nun liebte er sie. Er hatte sich über die Maske gefreut, die er trug, da sie ihm den Weg zu Juana öffnete; nun haßte er diese Maske, da er wußte, daß der wirkliche Oronta eines wirklichen Gefühls nicht fähig war. Warum aber – dies blieb ein Rätsel – bemühte sich die Baronesa Juana um die Verbindung mit dem General Oronta? – Denn sie bemühte sich darum, das war klar.

Während er dies alles dachte, blieb daneben mit gleicher, ja mit noch größerer Kraft das Andere, ja das noch Größere gegenwärtig: Das Land Nebrador; Drohung, Lockung, Siegespreis und unendliche Aufgabe. Der Blick durch die schlanken Schäfte der Palmen; die schwarzgrüne Sumpfniederung; weit drüben, in dieser Hügelfernsicht noch deutlich, die grünen Wellen des Mittelgebirges; jenseits davon der breite gelbgraue Streifen des Karstes, und hoch darüber, eben noch wahrnehmbar im Dunst, die Kette der hohen, schroffen Gipfel, zu denen die Schluchten tiefeingeschnittener Täler hinaufführten.

Die Baronesa tat einen jähen, zornigen Lufthieb mit der Reitgerte, so heftig, daß sie ihr erschreckt steigendes Tier mit harten Zügelgriffen niederzwingen mußte.

»Lassen Sie das, Oronta«, sagte sie hart. »Sie reden ja nur, um Ihre Gedanken zu verbergen. Meinen Sie, ich merke das nicht?«

Er sah sie auch jetzt nicht an. »Es ist nicht schwer, das zu merken«, sagte er mit einem sonderbaren Lächeln. »Verzeihen Sie mir – ich bin wirklich sehr unaufmerksam. Aber sind Ihnen denn meine Gedanken wirklich so wichtig?«

»Weichen Sie mir nicht aus!« sagte sie heftig. »Sie haben mir oft von Ihren Plänen erzählt, haben mich an Ihren Sorgen und Fragen teilnehmen lassen, haben meinen Rat verlangt. Seit Tagen sind Sie völlig verwandelt. Gibt es dafür eine andere Erklärung als die, daß ich Ihr Vertrauen verloren habe?«

»Es gibt eine andere Erklärung dafür«, antwortete er langsam. »Die nämlich, daß ich mich mit Fragen herumschlage, die Sie nicht einmal ahnen können, und über die ich nicht reden kann. Später einmal, wenn ich Ihnen auch dann noch wichtig bin, werden Sie das begreifen.«

Sie schwieg einen Augenblick betroffen; dann sagte sie, und in ihrer Stimme klang herausfordernder Spott:

»Was könnte den General Oronta wohl anderes beschäftigen, als das Schicksal des Generals Oronta?«

Er zog seine Zigarettendose hervor, hielt sie Juana hin, reichte ihr Feuer und antwortete erst, nachdem er die ersten Züge getan hatte.

»Richtig. Und doch auch nicht richtig. Könnten Sie sich nicht vorstellen, daß ich mein Schicksal in einer ganz anderen Verknüpfung sehe?«

»Verknüpfung –?«

»Ja.« Seine Hand beschrieb einen weiten Bogen. »Mit dem da. Mit dem Land Nebrador.«

»– das Sie in wenigen Tagen erobern wollen«, sagte sie rasch. »Da ist ja die Verbindung nicht schwer zu begreifen.«

»Erobern –!« Es klang schwer und bitter. »Das sagt sich so hin. Was – verzeihen Sie – was wissen Sie von mir – und was wissen Sie von Nebrador?«

»Was für eine Frage!« fuhr sie auf. »Nebrador ist meine Heimat!«

»– – während ich ein zugereister Abenteurer bin.« Er nickte. »So müssen Sie es wohl ansehen. Aber Ihre Heimat ist dort oben – in den Bergen, wo die Luft rein und kühl ist und die stolze Überlieferung noch lebendig. Oder doch scheinbar lebendig. Was aber wissen Sie von dem gärenden, dem werdenden, dem noch unerschlossenen Nebrador? Von der Forderung, die es an die Zukunft hat und an den Mann, der seine Zukunft gestalten soll? – Was ich sage, klingt Ihnen vielleicht hochtrabend oder verworren oder angelernt«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Ich bin ja auch nur – – Aber lassen wir das. Sie sehen ja nun, daß ich nicht darüber reden kann.«

»Und das alles«, sagte sie mit einem letzten Wehren gegen ihre tiefe Betroffenheit, »fällt Ihnen erst jetzt ein, ein paar Tage vor den – vor den Ereignissen?«

»Ich habe nur wenige Tage dafür Zeit gehabt«, gab er zurück.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie hilflos.

Seine Hand legte sich einen Augenblick auf die ihre, mit einer fast scheuen Bewegung. »Machen Sie sich keine Gedanken darüber, Baronesa. Vielleicht werden Sie es einmal verstehen; dann ist es gut. Oder aber es bleibt vergebliches Gerede; dann ist es besser, wenn Sie es vergessen. Und mich dazu – den heutigen Oronta, zugunsten des Eroberers, den Sie kannten. Vielleicht muß es der Oronta von morgen sein.«

Er warf die Zigarette weg und sagte in verändertem Tone:

»Ich rede in Rätseln, und Sie haben viel Nachsicht mit mir gehabt. Ich kann mich nur mit der alten Binsenwahrheit entschuldigen, daß man nicht immer scheint, wie man ist, und nicht immer ist, wie man scheint. Manchmal will man auch etwas scheinen, was man erst werden möchte. Dann ist man in der Gefahr, sich lächerlich zu machen. Nehmen Sie mich also heute nicht zu ernst, ich habe noch keinen Anspruch darauf. Und nun schlage ich vor, daß wir umkehren, bevor das verdammte Viehzeug aus dem Sumpf uns so zersticht, daß das liebe Volk von Esperanza uns nicht wiedererkennt. Um mich wäre es ja nicht schade, aber um Sie – –« Er lachte. »Jedenfalls verspreche ich Ihnen, die Malariabazillenzucht da unten trockenlegen zu lassen, sobald ich dazu Gelegenheit habe.«

Er wandte seinen Braunen und ritt voraus; sie folgte, schweigend, tief verwirrt, ratlos. Alles war so einfach gewesen wie eine glatte, selbstverständliche Rechnung. Auf der einen Seite die Heimat, der man dienen mußte; auf der anderen Seite Oronta, der um der Heimat willen unschädlich gemacht werden mußte. Daraus ergab sich die klare, begeistert übernommene Pflicht, reizvoll gewürzt durch Gefahr. Nun ertappte sich Juana bei dem Wunsche, einmal frei zu sein von den Einflüssen, unter denen sie stand, nach denen sie handelte; einmal, und sei es auch nur einen Tag lang, unabhängig und gerecht zu betrachten und abzuwägen, nicht beeinflußt durch die gepflegte advokatische Beredsamkeit des Ministers Dr. Rocha und den von brennendem Haß genährten Fanatismus der alten Señora Mastado. Es war ein unerfüllbarer Wunsch, denn es gab kein Umkehren und keinen Aufschub mehr; und es war wohl auch ein verwerflicher Wunsch. Aber er war da. Seltsam gebannt, mit zusammengepreßten Lippen, sah sie zu dem Manne hinüber, der so gewandt und sicher vor ihr durch den Wald ritt. Der kräftige Rücken, die breiten Schultern, die schmalen Hüften wiegten sich geschmeidig im Rhythmus des Reitens. Einmal zerschlug er ein Gewirr von Lianenranken, das ihnen im Wege hing, mit einem spielerischen Säbelhieb; lachend wandte er sich nach ihr um, die weißen Zähne blitzten zwischen den roten Lippen, das braune Gesicht mit dem eckig gestutzten dunklen Bart sah ganz jung aus.

Am Rande des Parkes, wo der gebahnte Weg begann, warteten die beiden auf Befehl zurückgebliebenen berittenen Burschen. Nun kam der Ritt durch die grelle Stadt, das schwatzende Volk, die buntscheckig und planlos hingestellten Straßen, durch tausendfachen Lärm und brodelnde Gerüche. Juana hatte diese dumpfe, feuchte Schwüle oft kaum noch empfunden. Jetzt spürte sie sie plötzlich und sehnte sich nach einem Hauch belebender Frische.

Alles starrte ihnen nach, Manuel mußte viele Grüße erwidern, auf viele Zurufe hin dankend winken. Einer der Burschen mußte vorausreiten und ihnen den Weg bahnen. Die Schutzleute hielten den Verkehr an, so daß sie ohne Aufenthalt über die Straßenkreuzungen reiten konnten. Der General Oronta war volkstümlich. Auch die ältesten Indioweiber lächelten ihm zu und winkten mit gelbbraunen Wurzelknotenhänden. Die Kinder balgten sich vor den Hufen der Pferde, Esel, Mulos und Lamas um die Geldstücke, die er ihnen hinwarf. Es war für eine Dame wahrhaftig kein Spazierritt; aber man konnte lernen dabei, man erfuhr etwas über Esperanza.

Sie kamen über einen Platz, wo mit Geräusch, Gestank und dröhnendem Fliegengesumm das Volksfest der Feria tobte. Um die Verkaufsstände mit Obst, rohem Fleisch, Maisbier, Geflügel und Brot drängten sich die Käufer in malerischen Trachten und Lumpen, weißes, gelbes, braunes und schwarzes Volk. Juanas Augen weiteten sich vor Entsetzen und Abscheu. Ein schmutzstarrender Indio riß einen mit Säcken schwer beladenen Maulesel am Strick hinter sich her. Als das magere, mit Schwären bedeckte, von Fliegen umschwärmte Tier vor Erschöpfung stehen blieb, schlug der Indio mit seinem Stecken erbarmungslos zu; ein Hagel von Hieben prasselte auf das mit Wunden bedeckte Fell. Der Mulo knickte in den Knien ein, der dunkle Tierblick schrie mit stummer Anklage alles Leid der gequälten Kreatur heraus. Niemand achtete darauf. Manuel hielt mit plötzlichem Zügelruck sein Pferd an, auf seiner Stirne schwoll eine drohende Ader, seine Backenknochen traten in harter Spannung hervor. Langsam ritt er heran; ein pfeifender Hieb der Reitgerte fuhr dem Indio über die Hand, der Stecken fiel zu Boden. Der schrille Aufschrei des Mannes ließ den Lärm des Marktes jäh verstummen. Schweigend, verständnislos glotzend drängte sich das Volk. Auf einen Wink Manuels nahmen die Reitburschen Juana in die Mitte. Langsam zog Manuel die Pistole, beugte sich zu dem Mulo hinab und setzte ihm die Mündung bedachtsam wählend hinter das Ohr. Der Schuß krachte. Das Tier brach zusammen, legte sich auf die Seite und streckte sich, erlöst. Ein schmales Blutrinnsal lief in den Staub.

Die Stille über dem Platz war wie eine drohende Wolke. Nicht einmal der Indio – in seinem weit aufgerissenen Munde sah man die schwärzlichen Zahnstummel – wagte einen Laut. Manuel, gelassen, fast gleichgültig, zwang sein Pferd mit hartem Griff zur Ruhe, verwahrte die Pistole in der Tasche, zog einen Geldschein hervor und warf ihn dem Indio zu.

Und nun brach mit einem Schlage der Jubel los. Die Menschen auf dem Platze verstanden nichts als nur das eine: daß der General Oronta ihnen ein Schauspiel gegeben und dafür noch obendrein Geld bezahlt hatte. Sie drängten heran, sie kreischten und brüllten, aus tausend Mündern entlud sich die Begeisterung. Der General Oronta war volkstümlicher denn je.

Als sie mühsam dem Gedränge entronnen waren, wandte Manuel sich um und sah Juana an. Er lächelte entschuldigend, fast ein wenig verlegen.

»Ich hätte das in Ihrer Gegenwart wohl nicht tun sollen«, sagte er. »Verzeihen Sie; aber ich konnte nicht anders.«

Sie hatte seinen Blick erwidert, fragend, staunend, als sähe sie zum erstenmal sein wirkliches Gesicht. Dann senkte sie die Augen, wortlos.


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