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1. Kapitel

Der Tramp

Niemand konnte – oder wollte – behaupten, daß der »Presidente Dominguez« – 1971 Brutto-Registertonnen, Heimathafen Esperanza – ein schönes Schiff sei. Vielmehr war er, um es seemännisch, aber schonend auszudrücken, ein dreckiger alter Pott, der in den Schiffslisten von mancherlei Staaten unter mancherlei Namen gestanden hatte, bis Jimmy Dodds ihn kaufte: Da bekam er einige – begrenzte – Ausbesserungen, Bordfunk, einen neuen Namen und die Flagge des Staates Nebrador. Jimmy Dodds, der auf allen von ihm befahrenen Meeren mit gutem Grund »Der böse Jimmy« genannt wurde, wußte, was er tat. Seitdem General Maximine Oronta Militärgouverneur in der Hafenstadt und Provinz Esperanza war, gab es für diesen Hafen allerlei Frachten, an denen viel zu verdienen war, wenn man sich mit der Tatsache abzufinden wußte, daß die Art der Ladung sich nicht immer in voller Harmonie mit den Begleitpapieren befand. Jimmy Dodds, als Schiffseigner, wußte sich damit abzufinden. Er begann, auf finanzieller Grundlage, gut nebradorianisch zu fühlen und gab seinem Schiff den Namen des Präsidenten Eulogio Dominguez, da dieser Nationalheld sich gegen eine solche Ehrung nicht mehr wehren konnte; er war seit zweiunddreißig Jahren tot. Sogar eine Versicherung fand sich für das Schiff. Es ergab sich nämlich in der Verhandlung mit dem bösen Jimmy, daß Señor Marcio de la Fuente, der Direktor der »Seguridad«, mit dem Gehalt, das ihm diese Gesellschaft zahlte, nicht ganz herumkam. Dem ließ sich in gewissem Umfange abhelfen. Jimmy konnte auch für andere mitdenken, wenn es sich lohnte.

Manuel wußte von alledem nichts. Er wußte für den Augenblick eigentlich nur, daß er ein Kohlentrimmer war, dem von der Schicht alle Knochen wehtaten. Die bevorstehende Mahlzeit war für ihn kein sonderlicher Ausgleich, denn es war unter der Mannschaft bekannt, daß Dick Peace, der kanadische Koch, seit einigen Tagen ständig einen Colt in der Hosentasche trug, weil einige Bemerkungen, die sich auf die Verpflegung bezogen, ihm nicht gefallen hatten. Darauf beschränkten sich seine Gegenmaßnahmen; der Fraß in der Back blieb sich gleich. Manuel räkelte sich in den Schultern, weil das verschwitzte Hemd ihm auf dem Buckel festklebte, und starrte über die Reling ins Wasser. Es war, mengenmäßig betrachtet, sinnlos, daß er hineinspuckte, aber er tat es dennoch. Der Sturm war gegen Morgen plötzlich abgeflaut, und der »Presidente Dominguez« tuckerte rollend, aber beruhigt und zielbewußt durch die lange Dünung. Schon spürte man hier, im Schutz vor dem Winde, die noch unsichtbare Sonne, die den zartgrauen Dunst durchwärmte und auflöste.

Manuel sah zur Seite, und in seinen müden, geröteten, staubverkrusteten Augen glomm etwas wie Verwunderung auf. Über das Deck kam ein Mann – nein, ein Herr. Ein Caballero. Er trug einen schwarzgrauen Wettermantel und Schaftstiefel aus dunkelbraunem Leder; sein schmales Gesicht war von tief eingebranntem Braun, und das Haar, unbedeckt, schloß sich wie eine glänzende schwarze Kappe glatt um den Kopf. Er ging vorsichtig, aber mit der lässigen Eleganz des seekundigen Reisenden, und wich den Pfützen, die im Rollen des Schiffes über das schmutzige Deck schwabberten, umsichtig aus. Im Vorübergehen streifte er Manuel mit einem flüchtigen Blick; in seinem rechten Auge flimmerte ein randloses Einglas. Manuel glotzte ihn mit dumpfem Staunen an. Ein Caballero mit einem Einglas an Bord des »Presidente Dominguez«! Par Diobre, es gab doch sogar am Äquator noch Überraschungen.

Der elegante Herr blieb wie in plötzlicher Überlegung stehen, wandte sich und lehnte sich neben Manuel leicht an die Reling, um ihn zu betrachten. Auf der schmalen braunen Hand, die sich um die Reling spannte, glänzte ein Siegelring mit einem rotbraunen Karneol. Der Blick, mit dem Manuel sich gemustert fühlte, war scharf, schonungslos prüfend und zufassend, aber sichtlich erstaunt. Die freie Linke zupfte mit einer offenbar gewohnheitsmäßigen Bewegung an dem schmalrasierten schwarzen Schnurrbart.

»Milagro!« sagte der Fremde. Er holte aus der Tasche seines Mantels eine goldene Dose hervor und klopfte sich auf dem Deckel eine Zigarette zurecht. Als er sah, daß Manuels Blicke sich an der Dose festsogen, reichte er ihm nach kurzem Zögern mit spitzen Fingern ebenfalls eine Zigarette, gab ihm ein Zündholzheft und ließ sich von ihm mit Feuer bedienen. Manuel grinste. Natürlich, das ist die Art, wie ein Caballero einem schmierigen Kohlentrimmer etwas zu rauchen gibt.

»Dein Name?« fragte der Fremde.

»Manuel.« Die ersten tiefen Züge aus der schweren Virginia erzeugten ein süßes, taumelndes und schwebendes Schwindelgefühl.

»Und weiter?«

»Nichts weiter, Señor. Den Familiennamen habe ich, nebst Papieren, vor vier Monaten in Buenos verloren. Ist auch wohl besser so. War mal ein anständiger Name, paßt nicht mehr zu mir.« Er dachte: Seit Wochen habe ich nicht mehr so viel geredet. Man wird besoffen von der Zigarette.

»Gestrandet?« fragte die straffe Stimme mit militärischer Knappheit weiter.

»Vollkommen fertig, Señor. Total unten. Habe den ganzen Kontinent abgeklappert. Es gibt nirgends mehr was zu erben. Höchstens ein paar Jahre Sing Sing.«

»Als Trimmer angeheuert?«

»Als blinder Passagier erwischt, Señor. Saß im Laderaum, war halb verhungert und kriegte beim Sturm eine Kiste gegen das Schienbein.« Manuel zog das rechte Bein seiner zerrissenen Hose etwas hoch und wies auf eine lange, borkige Narbe. »Der Alte steckte mich in den Kohlenraum. In Esperanza soll ich ohne Abschied über Achterdeck abmustern. Bordsitte, hab ich mir sagen lassen. Spart beiderseits Scherereien.«

»Aha.« Der Fremde sog nachdenklich an seiner Zigarette. »Was willst du in Esperanza?«

»Verführerischer Name, Caballero.« Das rußverschmierte Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Letzte Hoffnung, sozusagen. Hörte erzählen, daß sich da was Mulmiges vorbereitet. Bueno, hab ich mir gesagt, da kann einer, der nichts mehr zu verlieren hat, vielleicht was gewinnen. Und – krepieren kann man schließlich überall.« Er sackte in jäher Erschöpfung ein wenig zusammen. Auf den kurzen Rausch folgte der Rückschlag.

»Krank?« fragte die Stimme von weither.

Manuel schüttelte den Kopf. »Bloß kaputt.«

»Spanier?« Das Verhör ging weiter.

»Von Vaters Seite.« Manuel rappelte sich auf. »Mutter war Deutsche. Waren in Santiago eingewandert. Der padre war Schullehrer. Arm, streng und anständig.«

»Hast du irgendwas gelernt?«

»O ja. Mehr als in Santiago sonst üblich. Was man so ›gute Schulbildung‹ nennt. Und noch vieles dazu. Da drinnen sind vielleicht noch Reste davon übrig.« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. »In Frisco war ich sogar mal Clerk bei einem Reeder und in Florida Hauslehrer«, fügte er unvermittelt hinzu. Er spuckte den Zigarettenstummel über Bord und starrte ins Wasser. Warum fragt er mich das alles, dachte er dumpf.

Der Fremde beendete mit seinem nachdrücklich zugreifenden Blick die Prüfung. Ein Wrack, dachte er; aber ein Wrack, das sich heben läßt. Das Gerüst unter der verluderten Außenseite ist noch in Ordnung. Bei alledem wich das Staunen nicht aus seinem Gesicht. Ein tolles Spiel der Natur. Zug um Zug fügte sich, wie von einem Maler nachgezeichnet, das Bild dieser beispiellosen Ähnlichkeit. Er schob die Hände in die Taschen, mit einem Ruck, wie er den plötzlichen Entschluß zur Ausführung eines Planes, einer jähen Eingebung bekräftigt.

»Warte hier«, sagte er. »Binnen zehn Minuten hörst du von mir.« Er ging.

Manuel, den Rücken zur See, mit den rückgestemmten Ellbogen auf der Reling liegend, sah ihm nach. So spielt das Schicksal, dachte er. Wäre ich gleich zum Essen gegangen, hätte ich den Mann vielleicht nie getroffen. Und wäre womöglich auf den Kohlen verreckt. Na schön. Warten wir ab. Seine Gedanken verwirrten sich; er döste. Von irgendwoher klang die Stimme des bösen Jimmy; er hielt eine jener fließenden Schimpfreden, von denen man sagte, sie könnten sogar einen Nigger vor Entsetzen zum Albino erbleichen machen. Aber der Redestrom brach plötzlich ab. Eintönig rauschte das graugelbe Wasser an der Bordwand.

 

Es hatte seinen Grund, daß der böse Jimmy mitten in einem zehnfach geschwefelten Fluch verstummt war. Es erging ihm sonderbar. Weder Erdbeben noch Orkan noch Salvenfeuer schwerer Artillerie hätten ihn zum Verstummen gebracht; aber dieses flimmernde Einglas, dieses verächtliche Lächeln auf dem schmalen braunen Gesicht hypnotisierten ihn wie – ihm fiel nichts anderes ein: wie der Schlangenblick das Karnickel. Jimmy Dodds wurde mit den Einwohnern Nebradors fertig, weil er sie insgeheim verachtete – er war in Whitechapel geboren. Wenn er selbst auf Verachtung stieß, war er hilflos. Er entließ den Ersten Offizier, einen Kolonialfranzosen, der an der Wut über die Strafpredigt fast erstickte, mit einer raschen Handbewegung und wandte sich seinem Fahrgast zu.

»Nichts als Ärger, Señor – –« Er schluckte den hier an Bord verbotenen Titel gerade noch hinunter. »Ich werde bestimmt am Schlaganfall sterben.«

Der andere ließ sich Feuer für seine Zigarette geben. »Ich habe mit Ihrem blinden Passagier gesprochen«, sagte er, ohne auf die Lebensaussichten des bösen Jimmy näher einzugehen. »Wissen Sie näheres über den Mann?«

Jimmy Dodds zuckte die Achseln; die Frage verblüffte ihn. »Über den Stowaway, Sir? Ein Tramp. Gehen vierundzwanzig aufs Dutzend. Bad sort. Ohne Papiere. Schweigt, wenn man ihn ausfragt, wie eine geräucherte Flunder. Kommt aus dem Kohlenraum über kurz oder lang auf den Misthaufen.«

Der Fahrgast sah mit zusammengekniffenen Augen in den aufsteigenden und zerflatternden Rauch seiner Zigarette. »Glauben Sie, daß der Mann sich körperlich wieder erholen könnte?«

Der Kapitän gestattete sich ein Grinsen; sein graugelber Struwelbart verdeckte es ohnehin zur Hälfte. »For sure – wenn er einen Gönner fände. Aber–«

»Bueno«. Das Einglas flimmerte gebieterisch. »Der Mann wird sofort von der übrigen Besatzung getrennt. Er bekommt eine abseits gelegene anständige Kabine, in der er für den Rest der Reise zu bleiben hat, und das Essen aus der Offiziersmesse. In Esperanza nehme ich ihn mit von Bord. Die weiteren Anweisungen gebe ich dem Zahlmeister.«

»Beg your pardon, Sir – –?« Der offenstehende Mund des Kapitäns gab schonungslos den Blick auf dreiundzwanzig schwärzliche Zähne frei.

»Sie haften mir für die pünktliche Durchführung meiner Anordnungen. Die Passagekosten können Sie auf die Abrechnung setzen. Weitere Fragen bitte ich gütigst zu unterlassen.« Er nickte flüchtig. »Hasta la vista.« Der Fahrgast war gegangen. Jimmy Dodds stierte sprachlos hinter ihm her.

 

Wenn man sich seit zwei Monaten zum erstenmal wieder richtig gewaschen, seit unvordenklicher Zeit zum erstenmal wieder eine große Mahlzeit – doppelt gereicht – gegessen hat, und wenn man dann seit – ach, der Teufel weiß, seit wie vielen Monaten wieder in einem sauberen Bett liegt, schläft man lange und schwer und weiß hinterher nichts mehr von seinen Träumen. Nur daß sie wüst und grell waren, weiß man noch. Am anderen Morgen, nach einem ausgiebigen Frühstück, spürt man erst recht die Müdigkeit. Man wirft sich wieder auf das Bett, raucht und döst. Jetzt kostet es einen schweren Entschluß, sich zu den Mahlzeiten zu erheben; aber der lockende Duft der Speisen ist stärker als die gelöste, beinahe wollüstige Faulheit. Am Abend kommt dann das große Behagen. Man räkelt sich genießerisch auf dem Bett und überläßt sich, glücklich lächelnd, einem tiefem Schlaf, der freundliche Träume bringt.

Manuel hockte auf dem Rande der Koje und beschäftigte sich mit dem Entschluß, was nun zuerst zu tun sei: Waschen – es stand alles bereit – oder frühstücken – vom Tablett duftete der Kaffee herüber. Als er sich erheben wollte, fühlte er wieder diese sonderbare bleierne Schwere in den Beinen und setzte sich ergeben wieder hin. Das Schiff rollte nicht mehr; es hob und senkte sich in langen, sanften Zügen. Durch das Bullauge schien eine goldgelbe Sonne herein. Manuel lachte einmal kurz auf – er mußte an die stille Wut des gelben Affen von Steward denken, der einen Kohlentrimmer bedienen mußte. Dann glitt sein Blick über den Stuhl, der jetzt hübsch ruhig an der Wand stand. Man hatte ihm eine beinahe saubere Leinenhose mit ebensolcher Jacke, ein nur wenig geflicktes Hemd und ein Paar alter Segeltuchschuhe gespendet Die Welt hatte sich wunderbar verändert.

Er wich einer klaren Entscheidung aus, goß erst einmal eine Tasse Kaffee hinunter und zündete sich eine Zigarette an – auf dem Tablett stand wieder eine frische Schachtel. Es war wohl unnütz, nach Zweck und Ziel dieser Verwandlung zu fragen. Mañana – morgen. Manuel kannte diesen Wahlspruch Ibero-Amerikas. Man würde sehen. Es war gescheiter, sich das Tischchen heranzuziehen, langsam zu kauen und sich willenlos in die Erinnerung an die Träume dieser Nacht zurücksinken zu lassen. Man hat viel zu träumen, wenn man acht Jahre lang getrampt hat, und es wird einem verdammt heiß dabei. Nach der ersten Zeit der vergnügten Rastlosigkeit und des abenteuerlustigen Wanderns das plötzliche Abwärtsschliddern. Hunger und Gier, Gold und Fusel, weiße, braune, gelbe und schwarze Galgengesichter; Asphalt und Landstraßenstaub, Dürre und Wolkenbrüche, Niggermusik und Weiber, Gefängniszellen in Texas, Erdbeben und geil wuchernder Dschungel, ein Wanderzirkus, die Spülküche im Speisewagen der Canadian-Pacific, Fieber, Bronx und Chinatown, Gummiknüppel und die Peitschen der Gauchos, Maisbier und Dreckwasser aus Fieberpfützen, knochendörrende Schufterei auf Baumwollpflanzungen, die Zweizimmerwohnung der schwarzen Mercedes in Valparaiso, tagelange Fahrt auf Güterwagendächern und die strahlende Sonne in Palm Beach, wo man eine richtige Livree auf dem Leibe hatte; das sah damals aus wie ein beginnender Aufstieg – so, als hätte man die große Gelegenheit endlich beim Zipfel gepackt. Aber dann schlug die große Krise dazwischen. Wieder hoffnungsloses Trampen, Betteln, Hungern; und die gräßlichen Nächte unter dem Brückenbogen in Santiago, der Stadt, deren heimatliches Gesicht sich zur feindselig fremden Fratze verwandelt hatte. Alles in dieser Nacht verzerrt zu grellfarbigen Traumfetzen. Ob es wohl wirklich so komisch war, wenn man gehängt wurde? Sid hatte schrecklich gelacht, als sie ihn an den dicksten Ast der Eiche hängten – der lange Sid, mit dem Manuel vier Monate lang in der verlassenen Bretterbude an den Geleisen der Canadian-Pacific gehaust hatte. Auch die schwarze Mercedes fand es lustig und führte dazu einen Tanz auf, bei dem sogar ein abgebrühter Tramp errötete. Merkwürdig nur, daß man dazu immer ein Lied hörte, das die Mutter gesungen hatte – ein deutsches Lied: »Guten Abend, gute Nacht – –«. Die übrigen Worte waren verloren gegangen, aber die Melodie hätte man wohl weitersingen können, ohne das sonderbare Würgen in der Kehle, und wenn der blasse Klavierspieler aus der Blue-Star-Bar nicht so fürchterlich mit seinen Schlagern dazwischengetrommelt hätte.

 

Manuel war gerade ächzend in die Hose geklettert und hatte den zu engen Hemdkragen zugeknöpft, als die Tür der Kabine geöffnet wurde. Der fremde Caballero trat ein.

Er trug jetzt einen gelblichen Rohseidenanzug und ein blaßblaues Seidenhemd. Ein duftender Hauch von Frische, wie man sie in Flaschen Büchsen und Tuben kaufen kann, verbreitete sich in der engen Kabine. Das Einglas blitzte spöttischer und überlegener denn je. Manuel kam sich unendlich schäbig und verächtlich vor. Was in aller Welt wollte der Mann von ihm, dem verdreckten Tramp, den andere im Straßengraben liegen ließen, ohne auch nur den Kopf nach ihm zu wenden? Angst hatte der Señor offenbar nicht; denn er sah nicht so aus, als ob er nicht wüßte, daß eine hungrige Bestie oft nicht zwischen der Hand und dem Futter unterscheidet, das ihr gereicht wird.

Der Herr im rohseidenen Anzug lehnte sich leicht an die wieder geschlossene Tür und besah sich mit ruhiger, gründlicher Aufmerksamkeit das Exemplar, das er sich da aufgelesen hatte. Er durfte sich als sachkundig bezeichnen. Der ehemalige Leutnant der Königlich Spanischen Armee, der nach seinem nicht ganz freiwilligen und formlos plötzlichen Verschwinden aus Melilla die Welt in ihrer unteren Hälfte kennengelernt hatte und dann in Nebrador mit einer kühnen und raschen Kletterpartie in die obere Hälfte zurückgelangt war, wußte genau, ob einer hoffnungslos verlottert war oder noch Kraftreserven hatte. Dem Kerl da hatte der Hunger die Muskeln noch nicht weggefressen und die Sehnen nicht schlaff gemacht. Es war, wie er so dastand, ein deutlich spürbarer Rest von romanischer Grazie in seiner Haltung – als hätten Wasser und Seife etwas von der gleichgültigen Verkommenheit abgewaschen. Schmale Hüften, ein guter Brustkorb, kräftige Hände mit langen, gewölbten Nagelkuppen. Kühn vorspringend stand die Nase in dem merkwürdig kräftig geformten Gesicht. Der dicke, krause, schwarzbraune Bart verstärkte noch diese Ähnlichkeit, die ein kaum glaubhaftes Spiel der Natur war. Man brauchte eigentlich nur die Wangen auszurasieren und – – Sogar die Stimme war fast die gleiche – – Wenn man nur wüßte, was für eine Portion Intelligenz hinter dieser glatten braunen Stirn steckte – – Diablo, man mußte es versuchen. Ein Landstreicher ist ein geringer Einsatz in einem großen Spiel; wer fragt danach, wenn man ihn beim etwaigen Verlieren verschwinden läßt? Ein Chip; nichts weiter.

Manuel wollte den Mund zu einer Frage auftun – irgendeiner Frage; aber der andere kam ihm zuvor. Es war das Seltsame an dieser beherrschten Stimme, daß sie niemals eine Gemütsbewegung verriet; sie klang immer gleich klar und straff.

»In etwa einer halben Stunde«, sagte der Gast, »gehe ich von Bord. Wenn du mit mir kommen willst, mußt du mir alles weitere überlassen.«

»Mit Vergnügen, Señor.« Manuels Handbewegung besagte, daß ihm irgendeine Aussicht besser schien als gar keine. Und der Cabellero machte nicht den Eindruck, als ob er Fragen liebte.

»Du nimmst von meinem Handgepäck, soviel du tragen kannst, und gehst mit mir in die Barkasse. Wenn du dich immer dicht hinter mir hältst, wird dir niemand eine Frage stellen. Im übrigen wünsche ich dich nicht aus den Augen zu verlieren. Verstanden?«

»Verstanden, Señor.«

 

Manuel unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens. Der »Presidente Dominguez« lief mit langsamer Fahrt in die Bucht von Esperanza ein. Sonne stürzte mit ungeheurer Glut und flammendem Licht aus dem Himmelsraum. Grellweiß leuchtete die Stadt am Mündungsdelta des Rio Verde. Ihre Häuserreihen verliefen sich droben zwischen den grünen und gelben Pflanzungen; ein breiter Gürtel dunkelgrünen Waldes trennte das bewohnte Land von den zackigen Höhen des grauen Gebirges. Ein schroffer, spitzer, oben abgeplatteter Vulkankegel sandte einen scheinbar reglosen Streifen dünnen schwärzlichgrauen Rauches in den glühenden Himmel. Träge tuckernde Kutter und Fischerbarken mit buntgeflickten Segeln kreuzten langsam die Bucht. Seitlich der Hafeneinfahrt lag ein Kriegsschiff – ein leichter Kreuzer mit der Flagge der Korastaaten am Heck. Über seinen beiden Schloten kräuselte sich schleiernder Rauch. Auf dem dunklen Metall blitzten die Sonnenreflexe. Zwei Schlepper lagen geschäftig qualmend längsseits. Es schien Manuel, als sähe der Fremde ein paar Augenblicke mit einem sonderbaren Lächeln zu dem Kriegsschiff hinüber.

Der »Presidente Dominguez« stoppte. Als die mit höchster Fahrt heranschießende Barkasse längsseits kam, wurden alle Manöver mit erstaunlicher Präzision ausgeführt, obwohl der böse Jimmy seltsamerweise unsichtbar blieb. Das Fallreep klatschte herab; ein mit viel Gold verzierter Polizeioffizier und sechs bewaffnete Polizisten kletterten an Bord. Während der Offizier auf den Herrn im Rohseidenanzug zutrat, Haltung annahm und halblaut eine unverständliche Meldung machte, verteilten die Polizisten sich sogleich über das Schiff und verschwanden. Manuel blinzelte und hätte um ein Haar einen langen Pfiff ausgestoßen. Die Erkenntnis kam sehr plötzlich, denn sein Hirn war des Denkens entwöhnt; aber sie zerriß gründlich den Schleier, der ihm das Geheimnis dieser Fahrt verhüllt hatte. Unwillkürlich tastete seine Hand nach der Stelle, wo die Leinenhose die verkrustete Narbe an seinem Schienbein verbarg. Was war in der Kiste gewesen, die ihm im Rutschen diese Wunde geschlagen hatte? »Landwirtschaftliche Maschinen« stand daran; aber als sie barst, kam Maschinengewehrmunition zum Vorschein. Manuel kannte diese langen Metallbänder mit den blanken, tödlich zubeißenden Zähnen. In den übrigen Kisten sah es gewiß ebensowenig friedlich aus. Der Bauch des schäbigen, harmlos scheinenden »Presidente Dominguez« barg kriegerisches Rüstzeug für die kommenden Ereignisse im Staate Nebrador. Und der militärisch aussehende Herr hatte, als Supercargo, die wichtige Ladung heil in den Hafen geleitet. Madre de Dios, wie dumm und blind war man doch manchmal!

Dieser Manuel, den das Schicksal noch einmal vorm Versacken im Sumpf zurückgerissen hatte, war in den Jahren seines Landstreicherdaseins zumeist ganz einfach nur ein Vagabund gewesen wie die vielen tausend anderen, die durch den sogenannten neuen Erdteil trampten, gegerbte, bedenkenlose Burschen, in denen nicht viel anderes mehr wirkt als nur noch der Trieb, sich das Letzte zu erhalten, das sie noch besitzen: das Leben; in denen Durst und Hunger und Gier die Hemmungen, die Gefühle, das Denken und Wissen verschüttet und erstickt haben. Die Flamme des Lebens brennt in ihnen nur noch als die verzweifelte Hoffnung: vielleicht doch noch, um jeden Preis und mit jedem Mittel, das rettende Seil zu packen, an dem sie sich wieder hochreißen können. Man erfährt und redet auf dem riesigen Erdteil nicht von den Tausenden, die in diesem Kampf zerschrotet werden; auch von den Wenigen nicht, die sich in ein namenloses kleines Dasein der Auskömmlichkeit zurückretten können; man weiß nur von ein paar von der Laune des Geschickes Erwählten, die aus der Tiefe auf bestaunte Höhen der Macht und des Besitzes geklettert sind – oder emporgeschleudert wurden. Oder von denen, die sich wenigstens einen malerisch-blutigen Abgang verschafft haben. Als Manuel auf der raschen Barkasse durch den Außenhafen von Esperanza flog, begab sich, ihm selbst noch unbewußt, eine Wandlung in ihm. Verschüttete Kräfte taten ihre ersten Regungen und begannen sich zaghaft und unmerklich zu spannen; sein Instinkt nahm die erste Witterung des großen Abenteuers auf; er sah wieder.

Was er sah, waren freilich nur ein paar ladende und löschende Dampfer an ziemlich verwahrlosten Kajen; drei alte Torpedoboote, ein wunderlicher, greisenhafter Monitor, zwei moderne Kanonenboote, ein leichter Kreuzer, ein als Hilfskreuzer herausgeputztes ausrangiertes Schulschiff: die Kriegsflotte von Nebrador. Die Barkasse schwenkte in einen Seitenhafen ein, der verödet lag, und legte an einem kleinen hölzernen Landungssteg an. Sie erstiegen eine schmutzige Steintreppe und betraten den Boden der Republik.

Der Herr im rohseidenen Anzug schritt rasch auf einen langgestreckten geschlossenen Zweisitzer zu, der offenbar auf ihn wartete; vorher verwies er Manuel mit einer Handbewegung zu dem zweiten wartenden Wagen, der durch ein Schild mit leuchtenden Goldbuchstaben als Beförderungsmittel des »Grand Hotel Esperanza« ausgewiesen wurde. Es war Manuel nicht ganz klar, wie er mitsamt dem Gepäck seines Schutzherrn in den Wagen gelangte. Schon warf ihn der scharfe Ruck des anfahrenden Autos mitten zwischen die Koffer auf die mit rotem Leder überzogene Bank. Der Fahrer, die goldbetresste Mütze schief über dem braunen Indiogesicht, hatte ihn zuerst nur mit einem Seitenblick gestreift, und einen Augenblick kam es Manuel vor, als stutze der Mann und versuche, sich auf etwas zu besinnen; aber er wandte sich gleich wieder ab und setzte sich ans Steuer. Die beiden Wagen bohrten sich mit herzbeklemmender Geschwindigkeit durch das grellbunte Gewimmel der Hafengassen. Wenn man in Esperanza eine Arbeit zwischen die Finger bekam, hätte man bei einem etwaigen Wettbewerb mühelos den Weltrekord in Bedächtigkeit geschlagen; hielt man aber Lenkrad und Schalthebel eines Wagens in der Hand, so jagte man drauflos, als gelte es, alle vor der Erfindung dieses Fahrzeugs verabsäumten Höchstleistungen nachzuholen.

Da das »Grand Hotel Esperanza« Schauplatz und Ausgangspunkt für einen beträchtlichen Teil der hier geschilderten Angelegenheiten ist, rechtfertigen sich einige Angaben über dieses zweifellos bemerkenswerte Haus. Ein Mr. Edgar Eastham aus Birmingham, der sein durch vielseitige Talente erworbenes Vermögen vor drohenden Kollisionsgefahren mit den englischen Gesetzen umsichtig bewahrt und es durch gewisse Geschäftsverbindungen mit der nebradorianischen Gesandtschaft geschlossen nach Esperanza abtransportiert hatte, kam an einem überaus heißen Tag auf den Gedanken, die Hafenstadt um ein Luxushotel zu bereichern. Daß er sich dafür die Calle de la Paz ausgesucht hatte, entsprang den Gegebenheiten, gewann aber durch die Rolle, die das Haus in der Geschichte des Landes zu spielen berufen war, einen ironischen Reiz. Ein englischer Architekt lieferte die Pläne, ein einheimischer Architekt bekam die Erlaubnis, den Bau mit den landesüblichen klassischen, maurischen, spanischen und indianischen Zutaten zu verzieren, und Mr. Eastham stampfte mit eiserner Tatkraft und finanzpolitischer Genialität alles aus dem Boden, was zur Finanzierung gehörte. Nun stand das massive Hotel mit seinen vierhundert Zimmern – nebst einhundertvierzig Badezimmern – inmitten eines Gewirrs von Bauplätzen, nüchternen Geschäftshäusern, Baracken, grellweißen, säulenverzierten Prunkkulissen, mit Stuck überkleisterten Bretterbuden, eleganten Läden und stinkenden Spelunken: Ein mächtiger Bau, dessen wuchtige Maße zu betonen schienen, daß ein so imponierendes und kostspieliges bauliches Erzeugnis es sich leisten konnte, sich mit ausschweifendem Schmuck in Marmor und vergoldetem Gitterwerk herauszuputzen. Die Landeskundigen hatten Mr. Eastham für einen verrückten Spekulanten erklärt, aber es erwies sich, daß er weiter sah als sie. Wenn man in jedem Betracht liberal war, fand man im Boden Nebradors Goldadern. Es war Mr. Eastham gleich, ob seine Zimmer von stadthungrigen Pflanzern, weiß-, braun- oder gelbhäutigen Geschäftsleuten, internationalen Abenteurern oder wißbegierigen Reisenden aus allen Ländern bewohnt wurden. Die Kunst des französischen Oberkochs, die Schätze des Kellers, der prunkhafte Speisesaal, die durch kunstvolle Lüftung gekühlte Halle, die Bar, die Bäder und Schönheitssalons, der – gemäßigt verstaatlichte – Spielsaal, das angeschlossene Lichtspieltheater und alle sonstigen Einrichtungen des Hauses standen ihnen ohne Ansehen der Hautfarbe zu hohen Preisen gleichermaßen zur Verfügung, und der angeblich aus Athen gebürtige, mit allen Wassern der Welt gewaschene Direktor hatte lediglich für die Vermeidung von Zwischenfällen und pünktliche Bezahlung zu sorgen: Was er mit solchem Erfolg tat, daß Mr. Eastham Fett anzusetzen begann, sich liebevoll mit der Oberaufsicht über die gebotenen leiblichen Genüsse beschäftigte und sich einen Agenten aus Frisco kommen ließ, der die nicht mehr genügende einheimische Banda durch eine Jazzkapelle und ein zweimonatlich wechselndes Kabarettprogramm ergänzte. Denn Mr. Eastham hatte auch Talent zum Mäzen im weitesten Sinne.

Völlig glücklich aber war er erst, seitdem über seinem Portal die Kriegsflagge Nebradors wehte. General Maximine Oronta, den der Staatspräsident mit dem Kommando in der – nach seinem Geschmack allzu unruhigen – Hafenstadt und Provinz Esperanza betraut hatte, verlegte sein Stabsquartier in das »Grand Hotel Esperanza«. Er brauchte so ziemlich ein ganzes Stockwerk dafür; er war ein großzügiger, einträglicher Gast; und er zog zahlreiche andere Gäste an, die Morgenluft witterten und sich darin wohlfühlten. Denn Morgenluft kündigt einen Tag an, und ein Tag kann vieles bringen.

 

Der schlanke Zweisitzer bremste aus einem prachtvoll gefahrenen Bogen vor dem Eingang des Hotels; der Türhüter riß den Schlag auf, und der Herr im rohseidenen Anzug stieg aus. Ein Soldat trat herzu und empfing in strammer Haltung ein paar halblaute Befehle; dann verschwand der Caballero durch die blitzende Drehtür. Der Soldat wandte sich dem zweiten Wagen zu, und wieder meinte Manuel, als er ausstieg, im Gesicht des Mannes ein kurzes überraschtes Stutzen, einen suchenden und nachdenklich forschenden Ausdruck wahrzunehmen. Aber das dauerte nur einen Augenblick; braunhäutige Hotelbedienstete nahmen das Gepäck, Manuel folgte einem Wink des Soldaten, sie gingen durch einen Nebeneingang und erstiegen eine kahle Treppe; durch viele teppichbelegte Flure ging der Weg. Der Soldat klinkte eine Tür auf, sie betraten das kleine Vorzimmer eines Appartements. »Du sollst da warten«, sagte der Soldat und wies auf einen Stuhl. Dann ging er mit den beiden Leuten in das Appartement: Manuel erhaschte einen Blick in einen großen, kostbar eingerichteten Salon.

Er wartete. Der Stuhl war bequem, und der Raum war kühl, denn das »Grand Hotel Esperanza« hatte ein wissenschaftlich ausgeklügeltes System von Lüftungsanlagen. Die Spannung ließ ein wenig nach; Manuel fingerte vorsichtig an der juckenden Narbe auf seinem Schienbein.

Diesmal dauerte es lange; Manuel glaubte das Rauschen von Badewasser zu hören. Er hatte Durst, aber er wagte sich nicht zu rühren. Nach einer Weile kam vom Flur ein weißgekleideter alter Mann herein, geräuschlos, auf Bastsohlen; der graue Knebelbart, die schrägen Augen verrieten den Chinesenmischling. Er lächelte Manuel freundlich beruhigend an, »Barbier!« sagte er und verschwand nach leisem Anklopfen im Salon. Nach etwa einer Viertelstunde kam er zurück. Die Zeit dehnte sich. Der Ventilator summte. Manuel schlief ein.

Er erwachte von dem Gefühl, daß er betrachtet wurde. Den kühlen Blick der dunklen Augen, das Flimmern des Einglases kannte er. Aber der Herr, der vor ihm stand – Manuel sprang auf – trug jetzt eine schneeweiße Tropenuniform, mit aufgesetzten schmalen roten Streifen an den scharfgebügelten Beinkleidern. Manuel bemerkte Achselstücke aus dickem Goldgeflecht, ein Scharlachband im Knopfloch, eine Spange mit blitzenden Orden. Der Offizier stand in einer Duftwolke von Gepflegtheit und Frische. Er hatte eine juchtenlederne Tasche unter den linken Arm geklemmt.

»Ich werde nun einmal sehen, was ich für dich tun kann.« Die klare, leise Stimme hatte jetzt einen Klang von soldatischer Schärfe. »Du wartest hier.« Die Tür zum Flur klappte hinter ihm zu.

Warten, dachte Manuel; immer warten. Worauf? Na ja – auf den Ausgang dieser unwahrscheinlichen Affäre, die einen Tramp im vorletzten Stadium mit einem hohen Offizier der nebradorianischen Armee in Verbindung bringt. Eine plötzliche Unruhe zerrte an seinen Nerven. Nach kurzem Zögern schlich er zur Tür und trat auf den Gang hinaus. Er entsann sich, daß es links um die Ecke ging. Dort war eine Balustrade – vergoldet, wie jeder nur mögliche Teil der baulichen Einrichtung im »Grand Hotel Esperanza«. Von dort konnte man vielleicht – –.

Ja, man konnte in die Halle hinuntersehen. Manuel drückte sich eng an die Wand, wo die Balustrade begann, und spähte vorsichtig hinunter. Der riesige, durch bemalte Wandschirme und Palmengruppen da und dort abgeteilte Raum war um diese Zeit ziemlich leer. Ein paar dunkelgebrannte, schwarzbärtige Pflanzer in weißen Anzügen saßen um einen großen Tisch, redeten geräuschvoll und hielten die Kellner in Atem: Immer neue Tabletts mit bunten eisgekühlten Getränken mußten herangeschleppt werden. Drei blonde, lederzähe deutsche oder englische oder skandinavische Kaufleute besprachen beim Mokka mit ernsthaften Gesichtern ernsthafte Geschäfte. Ein paar aufgedonnerte Kreolinnen schwitzten in den Korbsesseln und sahen mit heldenhafter Anstrengung immerzu verführerisch aus. Etliche Exemplare der Lebejugend von Esperanza schäkerten mit den Damen vom Hauskabarett ungestraft unter Palmen. Der Kapellmeister dämpfte mit energisch beschwörenden Bewegungen die Leistungen seiner Musikanten zu zartestem Flautando, denn in diesen Stunden hingen an fast allen Zimmertüren die Schilder, mit denen man sich Störungen verbietet. Manuels Blick glitt über das alles hinweg – und fand endlich, was er suchte.

An einem Ecktisch, ziemlich weit von Manuel entfernt, saßen fünf Gäste: Eine Dame und vier Offiziere. Von der Dame sah Manuel nur ein klares, strenges Profil und einen auf die Lehne des Sessels gestützten, nackten, schlanken Arm; ihr blauschwarzes Haar war im Nacken zu einem schweren Knoten geschlungen. Sie rauchte aus einer langen, dunkelroten Spitze eine Zigarette. Ihr zur Linken saß ein Offizier, der verbindlich und offenbar sehr angeregt auf sie einredete; der weiße Waffenrock spannte sich über seinem kräftigen Rücken, sein dunkles, glatt zurückgestrichenes Haar – Manuel sah ihn von hinten – schien schon von einem grauen Schimmer überzogen. Einmal trank er ihr zu; sie erwiderte es lächelnd. Die drei anderen, offenbar jüngeren Herren unterhielten sich miteinander, heiter und wohlgelaunt, aber mit der spürbaren Zurückhaltung, wie man sie in Gegenwart eines Vorgesetzten wahrt. Nun kam Bewegung in die Gruppe, und alle sahen gespannt dem Neuankömmling entgegen, der durch die Halle auf den Tisch zuschritt. Es war – Manuel hatte es erwartet – der Fremde vom »Presidente Dominguez«. Die Herren erhoben sich. Der neue Gast küßte der Dame die Hand, nahm vor dem Offizier an ihrer Seite Haltung an, begrüßte ihn und die anderen Herren mit einem Händedruck. Es gab ein paar Augenblicke verbindlichen Geplauders, dann zog sich der ältere Offizier, nach einer entschuldigenden Verneigung, mit dem Neuankömmling an einen etwas entfernteren Tisch zurück. Die Unterhaltung war ernsthaft und sachlich gespannt; der Inhalt der Juchtenmappe wurde hervorgeholt, geprüft und besprochen; dann begann Manuels Schutzherr einen längeren, eindringlichen Vortrag. Der andere lauschte unbeweglich und sehr aufmerksam; er trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte, er stellte Fragen, überlegte, machte Einwendungen, bedachte sich wieder. Es war klar: Da unten ging es um einen großen und folgenschweren Entschluß. Einmal, als der Ältere im Gespräch den Kopf wandte, sah Manuel einen Augenblick in sein Gesicht; und das war seltsam, war beklemmend und unwirklich: So, wie wenn man im Traum sehr fern, undeutlich, wie in einem nebelüberwogten Spiegel in sein eigenes Gesicht blickt. Aber es währte nur eine Sekunde. Auf dem Flur kamen Schritte heran. Manuel zog sich eilig ins Zimmer zurück.

 

Er saß gerade wieder auf seinem Stuhl, als der Soldat, mit dem er vorhin heraufgekommen war, eilig eintrat. »Der Herr Oberstleutnant kommt«, sagte der Mann und verschwand im Salon. Manuel stand auf.

»Ich habe mit dem Herrn General über dich gesprochen. Er ist bereit, dich in seine Dienste zu nehmen. Laß dich einmal anschauen.« Die dunklen Augen bohrten sich in Manuels Gesicht, hielten ihn zwingend fest. »Ja. Also du wirst dich jetzt ein bißchen herrichten lassen – drüben, gegenüber dem Hotel, wohnt ein Barbier. Mein Bursche bringt dich hin. Später« – ein flüchtiges Lächeln zuckte über das schmale Gesicht – »werden wir dich neu einkleiden.« Die klare Stimme wurde noch leiser; in ihrer straffen Gespanntheit schwirrte es wie eine versteckte Drohung. »Ich denke, du wirst dich erinnern, daß du ohne mein Dazukommen vor die Hunde gegangen wärst. Ich denke auch, du wirst wissen, daß du außer deinem Leben nichts mehr zu verlieren, aber vielleicht viel zu gewinnen hast. Wer fertig und am Ende ist, wie du, fragt nicht. Er gehorcht und nützt, was sich ihm bietet. Wenn du meinen Erwartungen entsprichst, kannst du viel gewinnen. Wenn du mich enttäuschst, werfe ich dich weg wie einen alten Handschuh. Endgültig. Das ist bei uns in Esperanza so üblich, und niemand kümmert sich darum. Du hast mich verstanden?«

Manuel hatte plötzlich ein scheußlich flaues Gefühl im Magen und eine zitternde Schwäche in den Kniekehlen. Ihn schwindelte. Ich habe Angst, dachte er. Ganz gewöhnliche, niederträchtige Angst. »Ich habe verstanden, Herr Oberstleutnant«, sagte er gepreßt.

Der zwingende Blick ließ ihn los. »Dann geh jetzt.« Das klang leicht und abschließend. Offenbar war alles gesagt.

An der Seite des Soldaten, der gleichgültig und doch aufmerksam neben ihm herging, schlich Manuel die Treppe hinab. Seine Beine waren weich und wie ohne Gelenke; er merkte kaum, daß er die Füße bewegte. In seinen Ohren war ein feines, helles Summen, und er fand, daß es nutzlos war, denken zu wollen. Auf die Spannung und Erregung der letzten Stunden war eine tiefe, schmerzhafte Erschöpfung gefolgt. Er taumelte und wäre geradenwegs unter ein Auto gelaufen, wenn der Soldat ihn nicht zurückgerissen hätte. Er fühlte, daß die sengende Sonne auf ihn niederprallte, aber vor seinen Augen wogte purpurne Finsternis. Undeutlich sah er, als sie die Calle de la Paz überquert hatten, ein niedriges, schmales, verwahrlostes Haus vor sich; eine Türglocke bimmelte, sie betraten einen dämmrigen, heißen Raum, in dem es roch wie in allen Barbierstuben der Welt. Manuel riß die Augen auf und sah, daß in vier Rasierstühlen vier Leute saßen, denen vier andere Leute mit vorsichtig gehaltenen Messern die Wangen schabten. Niemand kümmerte sich um die Ankömmlinge. Es war nichts Ungewöhnliches dabei, und doch verspürte Manuel ein verzweifeltes, aber ohnmächtiges Verlangen nach Flucht. Das lächelnde Gesicht mit dem grauen Knebelbart, das plötzlich vor ihm auftauchte, kannte er. Es gehörte dem Chinesenmischling aus dem Hotel.

»Barbier«, sagte die freundliche, beruhigende Stimme. Und: »Ich heiße Johnson«, fügte sie unvermittelt hinzu. Johnson –? dachte Manuel dumpf. Komisch; der Kerl sollte Ah Lung oder Li Hsuen Tschang heißen. »Hier ist voll, bitte nebenan«, säuselte die Stimme weiter. Eine sanfte Hand faßte Manuels Arm. Der Soldat war verschwunden.

Sie gingen durch einen finsteren Gang, in dem es nach scharf gewürzten Speisen roch; Manuels Führer öffnete eine Tür und tastete nach einem Lichtschalter. Blendende Helle glänzte auf. Der kleine niedrige Raum enthielt nichts außer einem Tisch, ein paar Stühlen, einer kahlen Ottomane und einem Rasierstuhl, der vor einem Spiegel stand.

»Bitte Platz nehmen«, lud die sanfte Stimme ein. Manuel ließ sich mit schweren Gliedern in den Sessel fallen und lehnte sich zurück. Dabei sah er sich im Spiegel: das war so seltsam, so gespenstisch und traumhaft wie vorhin, als er von seinem Beobachtungsposten aus das Gesicht des Generals Oronta gesehen hatte. Und es währte auch nicht länger.

Unsinn, dachte er. Es tat wohl, vom Gewicht des eigenen Körpers entlastet zu sein und den schmerzenden Kopf auf die Nackenstütze zu legen. Manuel seufzte und schloß die Augen. Der Barbier machte sich leise im Zimmer zu schaffen. Manuel hörte ihn herankommen.

Und dann, plötzlich, witterte er einen schweren, süßlichen Geruch, der den Atem benahm. Er wollte aufspringen, aber schon fiel etwas Feuchtes, Schweres, Warmes auf sein Gesicht. Das Licht erlosch. Die Welt kreiste und versank. Manuel gab den Widerstand auf, in jäher, dankbarer Erschlaffung. Er seufzte abermals, tief und erlöst, und tat einen rasend schnellen, taumelnden Sturz in bodenlose Finsternis.


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