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4. Kapitel.

Etliche Besucher. – Die Dame. – Und der Reporter

Die Sache war bekannt geworden. Wodurch – das war nicht ganz klar; aber man konnte so seine Vermutungen haben.

Mr. Johnson, lächelnd wie immer, brachte die Zeitungen bereits mit. Und Manuel war nun schon mit ihren Besonderheiten etwas vertraut.

Der ›Diario‹ veröffentlichte die Meldung über das versuchte Attentat auf Generalleutnant Oronta in nicht allzu großer Aufmachung; er sprach in korrekten Wendungen seine Entrüstung über den feigen Anschlag und die Hoffnung aus, daß es gelingen möge, den – oder die – Täter zu fassen, um an ihnen ein Exempel der harten Ausmerzung ordnungsfeindlicher Elemente zu statuieren. Der ›Trabajador‹ schien ein wenig verlegen und trat kurz; er befürchtete offenbar, daß der Anlaß erwünschte Gelegenheit geben könnte, seine agitatorische Saat gründlich zu dezimieren. Immerhin ließ er durchblicken, daß der Vorfall gewissen Stellen zweifellos ein willkommener Vorwand sein werde, das arbeitende Volk – Manuel grinste – noch erbarmungsloser als bisher zu knechten und zu knebeln, wenn es sich nicht gar um bestellte Arbeit handle. – Manuel pfiff durch die Zähne.

Im ›Pueblo‹ ertönte ein Fortissimo der Entrüstung. Der Hauptschriftleiter, als gewissermaßen immer gebrauchsfertiger Vulkan, war das Geld der Firma Atkinson & Wineman wert. So weit also sei es schon gekommen, donnerte er, daß ein Mann, der das Vertrauen aller gut und national Gesinnten besitze, der die Hoffnung des unter schwacher Führung leidenden Landes sei, und der trotz schwerer Erkrankung unermüdlich seine Pflicht tue – daß ein solcher Mann durch ruchlose Mörderhand gefährdet werden könne. Wie lange noch –?! Der Anschlag sei an der Stadtgrenze verübt worden; man dürfe wohl eine Erklärung des Herrn Polizeipräsidenten erwarten, ob irgendein Versäumnis verantwortlicher Stellen vorliege, und welche Maßnahmen er zu treffen gedenke, um eine Wiederholung solcher empörenden Ereignisse auszuschließen. Mehr denn je zeige sich, daß nur eine entschlossene und rücksichtslose Neuordnung das Land noch retten könne. Es sei an der Zeit, von Worten zu Taten zu schreiten.

Manuel, in einem bequemen Sessel ausgestreckt, fühlte sich ausgesprochen unbehaglich. Nach seiner Meinung war es noch nicht an der Zeit. Die innere Entwicklung der nebradorianischen Politik ging ihm entschieden zu schnell. Er hätte sich gern erst noch ein bißchen eingelebt, ausgeruht und aufgefüttert. Es ließ sich nicht leugnen, daß er die weiße Heldenrüstung des Generals Oronta noch nicht ganz ausfüllte; und es war nur gut, daß man bei einem kranken Manne eine gewisse Abmagerung als natürlich ansah. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, ob er nicht gut daran täte, einfach zu streiken und sich ins Bett zu legen. Aber da fiel ihm das wissenschaftliche Rüstzeug des Herrn Dr. Mazzini ein, und er verzichtete schaudernd. Es gab keinen offenen Widerstand, es gab auch keine Flucht. Dagegen mußte man vielleicht mit einem stellvertretenden Heldentod rechnen. Man wurde einfach mitgerissen: Ohne Kenntnis, ohne Erfahrung, ohne Beistand, ein steuerloses Schiff unter falscher Flagge. Es war heiß im Zimmer, und sogar das Summen der Ventilatoren klang müde und unlustig. Manuel seufzte. Es kam ihm wieder einmal zum Bewußtsein, wie sehr, wie erschreckend hoffnungslos allein er war.

Oberstleutnant del Vecchio kam, sehr eilig, und war ganz Energie und geschäftige Umsicht. In der Halle warteten einige Besucher, die empfangen werden müßten. Er würde Exzellenz empfehlen, sich Zurückhaltung aufzuerlegen und die Herren seinen Unwillen über den Vorfall deutlich fühlen zu lassen. Manuel nickte; das würde ihm nicht schwerfallen: Er war unwillig.

Zunächst die Presse. Während Manuel sich von seinem Burschen in den Waffenrock helfen ließ, verlas der Adjutant eine Mitteilung, die für die Presse bestimmt war. Der Militärgouverneur, so hieß es darin, habe anläßlich des ruchlosen Anschlages auf sein Leben aus allen Kreisen der Bevölkerung und den in Esperanza, ja im ganzen Lande lebenden Ausländern so viele Kundgebungen der Empörung, der Anteilnahme und der dankbaren Anhänglichkeit empfangen, daß er nur auf diesem Wege von Herzen dafür danken könne. Sein Schmerz darüber, daß verbrecherische Elemente durch feigen Mordversuch einen Mann aus dem Wege zu räumen trachteten, der nur nach dem Gesetz nationaler Pflichterfüllung lebe, verwandle sich angesichts solcher Kundgebungen in ergriffene Dankbarkeit. Sie stärke ihn in seiner Entschlossenheit, seine Aufgabe auch künftig mit ehrlicher Gerechtigkeit, aber auch mit soldatischer Härte durchzuführen. Manuel nickte anerkennend. Kein Zweifel: Die Kundgebung war meisterhaft; aber sie war zugleich ein bemerkenswertes Anzeichen dafür, welche Machtstellung der Militärgouverneur von Esperanza schon jetzt besaß.

Manuel sah den Adjutanten mit dem Ausdruck bewährter Einfalt an: Ob denn wirklich so viele Kundgebungen eingegangen seien –? Der Oberstleutnant entnahm seiner Juchtenmappe einen Aktendeckel, klappte ihn auf und ließ einen Stoß von Briefen und Telegrammen durch blätternde Finger gleiten: Gewiß, sehr viele; aber davon später. Zunächst die Besucher.

Die Besucher waren der Oberbürgermeister, der Kommandant der Guardia Nacional und der Polizeipräsident. Der Adjutant sah sie mit einiger Besorgnis kommen, aber das erwies sich als unnötig. Manuel hielt sich vortrefflich. Er gab sich zurückhaltend, er gab seinen noch leidenden Zustand deutlich zu erkennen, er ließ keinen Zweifel über seinen Unwillen und seine grollende Enttäuschung. Die wohlgesetzte Ansprache des Oberbürgermeisters beantwortete er mit einem freundlichen Dank und einem wohlwollenden Händedruck, die Worte des Bürgergardekommandanten, eines vertrockneten ehemaligen Majors, nahm er mit kameradschaftlicher Knappheit entgegen, der sehr verlegene Polizeipräsident sah sich mit eisiger Reserve abgefertigt. Die schwungvollen Treuekundgebungen und heftigen Versprechungen der Herren wurden mit der wohlgeneigten Zerstreutheit angehört, mit der man Selbstverständliches entgegennimmt. Der Oberbürgermeister empfahl sich erleichtert, der Major beglückt, der Polizeipräsident erschüttert. Das war überstanden. Manuel ließ sich in einen Sessel fallen und griff nach einer Zigarette. Er war schon wieder einmal müde. Und schon wieder einmal hungrig. Es war kein leichtes Dasein. Mit geringem Bedauern sah er den eiligen Adjutanten scheiden. Exzellenz konnte sich nun weiter erholen. Für den Nachmittag wurde ein weiterer Besuch des Oberstleutnants angekündigt. Nun ja – man mußte das erkrankte Double eines überaus gesunden Generals stets im Auge behalten. Der Herr mit dem Einglas war nicht zu beneiden. War überhaupt jemand zu beneiden, der in diesem Siedekessel des Teufels schwamm und das Kochen abwartete? Vermutlich nur diejenigen, denen die rein geschäftlichen Aufgaben zufielen. Aber die kannte Manuel noch nicht.

Während im Salon für das zweite Frühstück gedeckt wurde, saß Manuel im Arbeitszimmer am Schreibtisch, hatte das Blatt mit dem Namenszug Orontas vor sich und veranstaltete Federübungen, um die grobe und energische Unterschrift nachzuahmen. Er hatte, nach so langer Unterbrechung, genau so wenig Federgewandtheit wie der General; aber trotzdem, vielleicht gerade deshalb, fiel ihm die Aufgabe nicht schwer. Beim sechsten oder siebenten Male gelang ihm die Unterschrift schon ganz leidlich. Er nahm ein neues Blatt: Jawohl, jetzt ging es schon aus dem Gedächtnis. Er war zufrieden. Weshalb er diesen Ehrgeiz entwickelte, wußte er selbst nicht recht. Es war ihm nur so in den Sinn gekommen.

Nach dem Essen legte er sich wieder zum Schlaf nieder, fuhr aber schon nach kurzer Zeit wieder auf. Stärker als alle Müdigkeit war die Unruhe, die ihn plötzlich hochtrieb und ihn nun in ziellosem Hin und Her durch die Räume jagte. Er wußte sie nicht zu deuten; in ihm war alles noch dumpf und wirr und gärend formlos. Ein paarmal blieb er vor einem der großen Spiegel stehen und betrachtete das Ebenbild des Generals Oronta, das ihn ansah, mit ungläubigem Mißtrauen. Sein vertrautes Selbst war ihm abhandengekommen und in eine fremde Gestalt geschlüpft, die zwar nach seinem Willen ging und stand, redete, trank, aß und schlief – und in der er doch noch alles andere eher als heimisch war. Er konnte sie nicht mit seinem Wesen füllen. Und doch stand es so um ihn, daß mit dem mählichen Schwinden der körperlichen Schwäche in ihm sich Kräfte zu regen begannen, die ihm nie bewußt geworden waren. Sie hatten verschüttet gelegen – Abenteuerlust hatte sie verdrängt, Hunger und Entkräftung hatten sie gelähmt, Erniedrigung und Schmutz hatten sie unterdrückt. Nun begannen sie wach zu werden: Die vom Vater ererbte Klugheit, Wißbegier und romanisch rasche Geschmeidigkeit, die von der Mutter ererbte Gefühlskraft und die deutsche Sehnsucht nach Erkenntnis und schöpferischem Wirken. Das alles begann aus tiefen Quellen, unmerklich noch, aber mit quälender und drängender Macht zusammenzusickern, um – eines Tages – sich zum Kräftestrom zu vereinigen. Vielleicht wäre es nie erwacht, wenn das Schicksal ihn nicht in diese Entscheidung geschleudert hätte. Manuel, der namenlose Figurant, begann, ohne es noch zu wissen, an den Fesseln zu zerren, in die ein fremder Wille ihn verstrickt hatte.

Im unruhigen Auf und Ab blieb er vor dem Bücherschrank stehen. Da waren in ordentlichen Reihen die Werke aufgestellt, die den Anspruch erhoben, allgemeines, teilweises oder fachliches Wissen über die Republik Nebrador vermitteln zu können. Manuel zögerte; die Fülle war ihm unheimlich. Wie viele Jahre waren vergangen, seitdem er ein ernsthaftes Buch ernsthaft gelesen hatte? Und – hatte er je darüber nachgedacht? Er kam sich plötzlich dumm und armselig vor, wie ein Prüfling, der eingestehen muß, daß er seine Schuljahre verbummelt hat. Schließlich griff er einen starken Band heraus, in dem ein Herr Candido de Cima, Professor an der Universität Salamanca in Nebrador, eine Geschichte der Republik Nebrador zu geben verhieß, und zog sich damit in einen Sessel zurück. Er seufzte. Señor de Cima hatte seine Arbeit mit erstaunlicher Gründlichkeit getan. Er begann mit der Urgeschichte und endete beim Tode des Präsidenten Eulogio Dominguez. Eine Fülle von Zeichnungen, Karten, schwarzweißen und bunten Bildern glitt im Blättern an Manuels Blick vorüber. Dominguez – ja, das war der Mann, über den man vor allem etwas wissen mußte.

Manuel las. Im Anfang ging es schwer; bald aber begann sich die befangene Schwerfälligkeit wie weichender Nebel zu verflüchtigen. Er war gepackt; er wußte gar nicht mehr, daß er las; er erlebte. Da war etwas, das er begriff und sogleich faßte. Auch hatte der Stil des Professors hier, in der Begeisterung, eine fast holzschnitthafte Volkstümlichkeit. Dieser Dominguez war ein Satanskerl gewesen, rücksichtslos, zäh, gerissen – und klug. Da stand er auf einem Bilde, breitbeinig, in groben Schaftstiefeln, schwarzbärtig, mit kühnen Menschenfresseraugen. Als kleiner Händler hatte er in Esperanza angefangen, war ins Stadtparlament gekommen, hatte sich mit gewaltigem Temperament, schmetternden Reden und zupackenden Fäusten ganz nach vorn geboxt; wurde in die Abgeordnetenkammer gewählt, sammelte eine Gruppe von Draufgängern um sich, redete in einer denkwürdigen Sitzung die ganze Regierung über den Haufen, kandidierte und wurde, in einem von beträchtlichem Volkslärm begleiteten Wahlgang, Präsident. Das Volk Nebradors pflegte Taten und Anstrengungen auf »morgen« zu verschieben, aber es verschrieb sich einem Manne, der schwungvoll und lärmend handelte, mit bewundernder Begeisterung. Und nun vervielfältigten sich die Kräfte dieses Mannes. So etwas hatte man in Nebrador noch nicht erlebt. Er hatte nur einen Feind: das gemütliche »mañana«, das faule Trödeln, Schlampen, das lächelnde Aufmorgenvertagen. Er fegte die korrupte Verwaltung aus, schuf Verkehrsmittel, baute Straßen, verbesserte die Häfen, reorganisierte Heer, Flotte und Polizei, zog Fachleute ins Land, legte die Anfänge zu einer regelrechten Bodenkultur und einer beinahe schon sozialen Gesetzgebung, organisierte Binnenmarkt und Außenhandel, gründete eine zweite Universität, baute Schulen, zwang den Hafen- und Landstädten sanitäre Einrichtungen auf; einen alten Grenzstreit um einen wichtigen Küstenstreifen entschied er kurzerhand durch einen richtigen kleinen Krieg, bei dem gegen jede Üblichkeit sogar scharf geschossen wurde, zugunsten seines Landes. Das Volk vergötterte ihn. Wo er Widerstände spürte, schlug er zu – und das war durchaus buchstäblich zu nehmen. Er redete wie ein Vulkanausbruch und arbeitete wie eine Kompanie Teufel. Sogar die Armee parierte ihm, und die alteingesessene spanische Herrenschicht sah seinem Wirken fassungslos zu wie einem Naturereignis. Natürlich gab es Schwankungen und Aufsässigkeiten, aber Dominguez verstand es, sich immer wieder die notwendige parlamentarische Mehrheit für seine Politik zu verschaffen, nach vierjähriger Amtsperiode eine überwältigende Stimmenzahl für seine Wiederwahl auf sich zu vereinigen, kurzum das Volk mitzureißen. Sein Überblick, seine Geschicklichkeit und seine Schaffenskraft waren erstaunlich. Aber der große Anlauf endete so jäh, wie er begonnen hatte. Eulogio Dominguez regierte gut, aber er ritt schlecht. So starb er nicht, wie ihm seine Feinde geweissagt hatten, durch eine Machete, sondern durch einen Sturz vom Pferde, bei dem er sich die Wirbelsäule brach. Was aus seinem in fast sieben Jahren geschaffenen Werk wurde, sagte Professor de Cima nicht, aber der Leser weiß es bereits, und von Manuel ist zu vermuten, daß er es schon jetzt zum mindesten ahnte – so wenig er auch sonst, darüber war er sich klar, von Nebrador wußte.

Manuel hatte sich heiß gelesen. Bis zu diesem Augenblick hatte er das unbewußte Gefühl gehabt, daß das Schicksal des Staates Nebrador, in das er auf so unglaubhafte Weise hineingeraten war, ihn im Grunde genommen nichts anging. Er kam von irgendwoher und würde, wenn alles gut ging, nach einem verrückten Abenteuer eines Tages wieder irgendwohin gehen. Wenn es aber – und damit war durchaus zu rechnen – schlimm ausging, so bestimmte der Herr mit dem Einglas den Weg, den man gehen würde. Es blieb sich ziemlich gleich und war wohl im wesentlichen eine Frage des Tempos. Aber dieser Dominguez – wußte man denn, woher der gekommen war? Nicht einmal über seine Eltern wußte das Buch etwas Genaues zu berichten. Wie, dachte Manuel, mag es in dieser Hinsicht mit dem Generalleutnant Oronta stehen? Man darf vermuten, daß der Teil seiner Lebensgeschichte, der vor seinem Auftauchen in Nebrador und seinem raschen Aufstieg liegt, nur in einer für den Volksgebrauch bestimmten Ausgabe bekannt ist. Die Männer, die Nebradors Geschicke entscheidend bestimmen, kommen aus dem Dunkel. Und ich –?

Er warf das Buch auf den Tisch und sprang auf. Im Augenblick und fürs erste, sagte er sich, bin ich jedenfalls das sichtbare Selbst des Generals Oronta. Brauche ich mich hier einsperren zu lassen? Ich kann, par Dieu, wenigstens in die Halle hinuntergehen und mich da mal umsehen. Viel zu reden brauche ich ja nicht; das wird von einem Genesenden nicht verlangt. Er fuhr in den Waffenrock, massierte sich die Schläfen mit einer scharfen Essenz, tat – das war ihm nun schon zur Gewohnheit geworden – einen prüfenden Blick auf das Spiegelbild des Generals Oronta und kämpfte mit einem letzten Zögern. Dann entsann er sich, daß ihm der geräuschlose Dr. Mazzini ein Glasröhrchen mit weißen Pillen hinterlassen hatte, deren Wirkung es sein sollte, in schwierigen Augenblicken das Wohlbefinden und die Lebensfreudigkeit des Menschen erstaunlich zu steigern. Warum nicht –? Manuel nahm zwei der achteckigen flachen Dinger und widmete sich weiter seiner äußeren Herrichtung.

Dieser Dr. Mazzini hielt, was er versprach, und mehr. Ein beschwingter, von federnder Unternehmungslust erfüllter Manuel ging an der erstaunt aufspringenden Ordonnanz vorüber durchs Vorzimmer, trat auf den Flur hinaus und schritt, Zoll um Zoll ein Conquistador, die breite, von vergoldeten Geländern eingefaßte Treppe hinab, die zur Halle führte. Und kein Adjutant war zur Stelle, um die ersten selbständigen Schritte des von ihm hergestellten Generals zu überwachen.

Dagegen war, wie aus dem Teppichmuster hervorgezaubert, der elegante Direktor zur Stelle und nahm sich mit lautlos geschmeidiger Höflichkeit des Generals an. Er führte ihn, zur Linken einen halben Schritt vor ihm gehend, gleichsam als Ehrenwache und Schutz vor Belästigungen, durch Gruppen, deren lebhaftes Geplauder verstummte, durch Spaliere neugierig starrender Gesichter, durch den Mittelgang der überfüllten Halle zu einem entfernteren Winkel, der durch die Umsicht des Oberkellners für besonders wichtige Gäste freigehalten war. Ein anerkennender Blick des Direktors streifte den Dirigenten der Kapelle, der einen Marschfox geschickt in die Nationalhymne von Nebrador überleitete; dann war der geschmeidige Herr verschwunden, als habe ihn das Teppichmuster durch Zauberwirkung wieder aufgesogen. Manuel dachte flüchtig: Für wen mag er wohl spionieren – für mich oder für die anderen? Er erwiderte Grüße, und seine verschlossene Zurückhaltung wehrte jede Anrede ab. Zwei Herren vom Stabe, die einen gesonderten Tisch hatten, verständigten sich durch einen Blick und setzten sich wieder hin. Er stand, als könnte das gar nicht anders sein, vor dem Tisch, an dem die Baronesa Juana Peirera de Carvalho mit ihrer Gesellschaftsdame saß. Er fing ein überraschtes Lächeln der Begrüßung auf; er neigte sich über eine schmale bräunliche Hand, von der ein herber Duft aufstieg, und sein Blick glitt an einem schlanken nackten Arm empor; er verneigte sich mit knapper Höflichkeit vor der Gesellschaftsdame und war durchaus damit einverstanden, daß die einladende Handbewegung der Baronesa ihm die Möglichkeit gab, auf den seidenen Kissen eines Korbsessels Halt und Ruhe zu finden. Der Kellner stellte ein Kännchen Mokka und einen Chartreuse vor ihn hin: das waren offenbar die Getränke, mit denen der General Oronta den Nachmittag zu eröffnen pflegte.

Da die Musik mit ihrem vaterländischen Zwischenspiel im Augenblick die Gespräche übertönte, hatten die Drei am Tisch Zeit zum Nachdenken.

Manuel dachte: Sie ist unsagbar schön. Sie hat den bezwingenden sinnlichen Reiz der Spanierinnen aus altem Blut, aber sie ist schlank und schmalhüftig und von der freien, kühlen Sicherheit der großen Welt. Nur in dieser überlegenen Sicherheit kann sie es wagen, sich in diesem Nachmittagskleid mit vollendetem Selbstbewußtsein zu bewegen; nur so kann sie sich über alle Regeln ihrer Kreise hinwegsetzen und in dieser Umgebung mit dem rücksichtslosen Prätendenten General Oronta verkehren. In welcher Beziehung steht sie zu ihm? Ist sie seine Geliebte? Das ist undenkbar. Es kann nicht anders sein, als daß sie den Abenteurer und ehemaligen Rinderhirten insgeheim verachtet. Er liebt sie, er begehrt sie, für ihn verkörpert sie eine Welt, in die er hinaufstrebt, die er sich zu eigen machen will. Ihr Anblick stachelt seinen Ehrgeiz. So denke ich mir das. Aber sie –? Ich kann mir nur vorstellen, daß sie ihn benutzt, daß er ihr nützlich ist. Wofür –? Manuel schloß die Hände hart um die Lehnen des Sessels. Er war schon so lange allein. Wie lange war es nun schon her, daß er Liebe gespürt, wie lange, daß er ein aufflammendes Begehren gestillt hatte? Er mußte die Blicke senken, damit die Flamme in seinen Augen ihn nicht verriet.

Juana dachte: Er ist verändert. Er sieht jünger aus. Er ist schmaler geworden. Es ist ein neuer Zug in seinem Gesicht, ein Suchen, eine Nachdenklichkeit, aber zugleich eine bewußte und gefährliche Verschlossenheit. Wie können wenige Tage einen Menschen so fernrücken? Bisher war alles so einfach: Ein Eroberer, der rücksichtslos auf sein Ziel losging, und den eine feinnervige Hand dennoch lenken konnte wie einen Bären an einer seidenen Schnur. Ich war nicht unempfindlich gegen sein Begehren, aber ich spielte damit. Jetzt verwirrt es mich fast. Es ist, als müßte man mit ihm von vorn anfangen.

Was die alte Gesellschaftsdame, Señora Mastado, dachte, vermögen wir nicht mitzuteilen. Sie saß klein und verhutzelt in ihrem Sessel; ihr gelbbraunes faltiges Gesicht war auf ihre Häkelei gesenkt, an der ihre gelbbraunen faltigen Hände unablässig und erstaunlich rasch arbeiteten. Sie sah immer aus, als nähme sie es übel, daß ihr Mann, der einst die konservative Partei geführt hatte, zu früh gestorben war, um ihr ein Vermögen zu hinterlassen. Dann und wann schossen ihre schwarzen Augen einen stechenden Blick auf Manuel ab. Es war nicht zweifelhaft, daß sie ihn haßte.

»Sind Sie wieder gesund, Oronta?« Die tiefe, dunkle, schwingende Stimme hatte den warmen Klang freundschaftlicher Anteilnahme.

Manuels Blicke ruhten auf einem weißbärtigen alten Pflanzer, der für seine Tischgesellschaft Getränke bestellt hatte und nun mit dem Zahlkellner in eine bedenkliche Auseinandersetzung geriet, so daß der vielgewandte Oberkellner alle Diplomatie aufbieten mußte, um die akustischen Auswirkungen der Meinungsverschiedenheit zu dämpfen. »Da müssen Sie wohl meinen Adjutanten und den vortrefflichen Dr. Mazzini fragen, Baronesa«, sagte Manuel. »Sie behaupten, ich wäre noch nicht wieder gesund und müßte mich schonen. Meine persönliche Meinung hat offenbar keine Geltung. Ich füge mich.« Der Spott war unverkennbar.

»Und wie war das mit dem Attentat? Die Nachricht hat mich sehr erschreckt.« Diesmal kam die Frage mit naiver Neugier.

Manuel blickte in seine Kaffeetasse; das war sicherer. Er zuckte die Achseln. »Der Volkswitz pflegt in einem solchen Falle zu sagen: ›Gut gezielt, aber schlecht getroffen‹. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal besser. Unsereins darf sich nicht darüber beklagen, wenn er mal daran erinnert wird, daß sein Leben Spieleinsatz ist.«

Die Baronesa brauchte ein paar Augenblicke, um sich von ihrem Erstaunen über die Antwort zu erholen. Diese gedämpfte, fast gleichmütige Sprechweise war sonst nicht Orontas Art; auch der Chartreuse stand noch unberührt auf dem Tische. Um diese Zeit war der General sonst schon beim Toddy – – Nach einer Weile sagte sie: »Ich verstehe nicht, daß Sie das so leicht nehmen.«

»Der Polizeipräsident hat die gegenteilige Erfahrung gemacht«, lächelte Manuel.

»Aber man wird den – oder die – Täter doch fassen?«

Wieder das gelassene Achselzucken.

»In Esperanza fängt man, wen man fangen will. Vielleicht hat es augenblicklich wenig Sinn, aus der Aburteilung von ein paar gedungenen Desperados ein Schaustück zu machen. Es würde unter Umständen peinliche Enthüllungen geben. Und Wiederholungen kann man damit doch nicht verhindern.« Er nahm sein Glas und trank ihr zu; diese Bewegung, dieses Lächeln war wieder ganz Oronta. Sie erwiderte es und wagte einen Vorstoß; dabei neigte sie sich ihm zu, so daß der herbe Duft ihn einen Augenblick ganz einhüllte. Er blickte auf die schmale bräunliche Hand, und es kam ihm vor, als ob die Zigarettenspitze zwischen den schlanken Fingern ein wenig zitterte.

»Ich hörte die Vermutung aussprechen, daß Ihre – Arbeiten durch die Erkrankung eine Verzögerung erleiden könnten, Oronta«.

Er war auf der Hut.

»Ja und nein«, sagte er. »Ich folge den Befehlen des Arztes, ich stehe unter der Aufsicht meines Adjutanten, ich zeige dem Volke, daß ich noch lebe, und der Dienst geht weiter.« Er lachte. »Wenn del Vecchio mich hier in der Halle erwischt, wird es eine Gardinenpredigt geben.«

Juana lehnte sich zurück. Ihr Gesicht verschattete sich.

»Sie haben mir früher mehr Vertrauen geschenkt, Oronta. Sie haben von Ihren Plänen, Ihren Erfolgen und Sorgen gesprochen und meine Meinung, meinen Rat gehört. Was hat Sie so verändert?«

Manuel fingerte am Kragen seines Waffenrockes, ihm wurde plötzlich heiß. Was wußte diese Frau –? Ein unbedacht gewähltes Wort konnte ihn verraten. Dann war er vor ihr ein Betrüger, eine hohle Maske, eine lächerliche Puppe – –

»Sie müssen mir ein wenig Zeit lassen, Baronesa«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, daß ich wirklich einen – einen schweren Anfall gehabt habe. Bald werden Sie alles verstehen.«

»Hoffentlich«, sagte sie. Ihre Stimme klang kalt und spröde. Aber sie faßte sich bewundernswert rasch. »Eine Frage aber können Sie mir gewiß doch beantworten: Wann dürfen Sie wieder ausreiten?«

Ausreiten –? Offenbar pflegte sich General Oronta an der Seite der Baronesa auf dem Korso im Park zu zeigen. Manuel verstand zu reiten. Er lächelte freudig.

»Bald – vielleicht schon morgen«, sagte er.

»Das ist schön.« Juana schien befriedigt.

Durch die Halle kam rasch, mit suchenden Blicken und sichtlich – soweit sein Gesicht überhaupt eine Gemütsbewegung verraten konnte – ein wenig besorgt der Adjutant. Er stutzte, als er Manuel am Tisch der Baronesa fand, erledigte aber die Begrüßung in tadelloser Haltung.

»Ich freue mich über die Fortschritte im Befinden Ew. Exzellenz«, sagte er ein wenig steif. Es war zu merken, daß er sich durchaus nicht freute.

»Seien Sie friedlich und setzen Sie sich zu uns, Herr Oberstleutnant«, lud die Baronesa ein.

»Danke sehr – aber nur für einen Augenblick.« Er setzte sich. »Dann bitte ich gehorsamst, Exzellenz eine dienstliche Meldung machen und mich empfehlen zu dürfen.«

Manuel nickte. Er fühlte sich sehr auf der Höhe der Situation. »Genehmigt«, sagte er. »Denken Sie, del Vecchio« – der Adjutant bekämpfte ein Zusammenzucken bei der Anrede – »die Baronesa will mich dazu verführen, mit ihr auszureiten. Was sagen Sie dazu?«

»Wenn Ew. Exzellenz sich dazu kräftig genug fühlen –?« antwortete der Adjutant. »Ich würde dann nur gehorsamst vorschlagen, den Plan bis übermorgen zu vertagen – aus Gründen, die ich nachher in meiner Meldung erklären zu dürfen bitte.«

»Gut – also übermorgen.« Manuel lächelte behaglich. Der Kellner stellte, offenbar wieder der Üblichkeit entsprechend, Silberbecher mit Eisgetränken auf den Tisch. »Ob ich mich kräftig genug fühle –? Oho. Die Pferde hier sind zahm. Ich habe einmal auf einer Ranch einen Mustang zugeritten, durch den die ältesten Boys sich Rippen geknackt, Knochen gebrochen und Zähne ausgeschlagen hatten. Wenn ich einmal im Sattel sitze, bringt man mich höchstens mit Hilfe eines Schießgewehrs herunter.«

Der Adjutant nahm das Einglas heraus, hauchte es an und putzte es sorgfältig. Señora Mastado murmelte etwas von ausgegangenem Häkelgarn und Besorgen, warf einen giftigen Blick auf die Herren und huschte durch die Halle davon. Juana legte die Fingerspitzen gegeneinander und sah lächelnd vom General zum Adjutanten. Sie witterte eine kaum merkliche Spannung.

»Allerdings«, fuhr Manuel fort, »hat das Biest sich die Sache gemerkt und mich ein Vierteljahr später aus dem bravsten Galopp heraus plötzlich abgeworfen. Hier ist das Andenken davon.« Er tippte auf die von Mr. Johnson kunstvoll hergerichtete Narbe.

Der Adjutant wurde nervös. »Es würde mich beruhigen, wenn Exzellenz den ärztlichen Rat befolgen und sich ein wenig mehr schonen würden«, sagte er.

»Sehen Sie, Baronesa?« Manuel lächelte. »Was habe ich gesagt? Eine Gardinenpredigt. Aber ich muß zugeben, daß ich sie verdient habe.« Er winkte dem Zahlkellner, der ihm einen Blockzettel vorlegte: »Wenn Exzellenz unterschreiben wollen –?« Der Adjutant machte eine Bewegung, als wollte er eingreifen – aber sein Arm erstarrte in der Luft. Manuel nahm den dargebotenen Bleistift des Kellners und malte seine Unterschrift. Da stand es in großen, kühnen, etwas groben Buchstaben: ›Oronta‹. Als er aufblickte, fing er gerade noch den letzten Blitz durch das Einglas auf. Dann war das schmale braune Gesicht schon wieder ohne Regung. »Und nun Ihre Meldung«, sagte Manuel. Juana lächelte beim Abschied. Aber es war ein unsicheres, etwas befangenes und ratloses Lächeln. Als sie sich eine frische Zigarette anzünden wollte, zerbrach zweimal das Zündholz zwischen ihren Fingern.

 

»Ich habe Ew. Exzellenz zu melden«, sagte der Adjutant, »daß Seine Exzellenz der Herr Kriegsminister morgen gegen Mittag nach Esperanza kommen wird, um die Garnison zu besichtigen.«

»So so.« Manuel verriet nur mäßige Anteilnahme. »Was machen wir denn da?«

»Ich schlage vor, eine Parade des – also des dafür geeigneten Teiles der Garnison zu veranstalten.« Ein ganz flüchtiges Zucken flog um die Mundwinkel des Adjutanten. »Das ist bereits in die Wege geleitet. Ich habe mir ferner erlaubt, nach San Isidro zu melden, daß Ew. Exzellenz aus Gesundheitsgründen von der offiziellen Begrüßung, der Ansprache und der Teilnahme am Festbankett absehen müssen und lediglich an der Seite des Ministers den Vorbeimarsch der Truppen abnehmen können. Ich möchte vorschlagen, daß Exzellenz mich mit dem Arrangement betrauen und den Generalmajor Dorrego mit Ihrer Vertretung beauftragen.«

»Einverstanden«, sagte Manuel. »Mit Vergnügen einverstanden. Aber nur, wenn mir die Speisenfolge des Festbanketts auf dem Zimmer serviert wird.«

»Ich werde es veranlassen.« Der Adjutant war ärgerlich. »Aber Exzellenz werden nun verstehen, weshalb ich mir die Freiheit nehmen mußte, den Aufenthalt in der Halle abzukürzen.«

»Ich verstehe unter anderem auch das«, sagte Manuel. »Und ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe.«

 

Um die gleiche Zeit trippelte die alte Señora Mastado rasch und mit einem verbissenen Ausdruck auf ihrem gelbbraunen faltigen Gesicht durch die Calle de la Paz, bog in die Calle del Estado ab und steuerte auf einen kleinen Eckladen gegenüber der Iglesia Espiritu Santo los, der, wie sein Schild mitteilte, sich mit dem Verkauf feiner Handarbeiten und der zu ihrer Verfertigung erforderlichen Bedarfsgegenstände befaßte. Sie wurde von der Inhaberin wortreich und respektvoll begrüßt, wählte einige Häkelgarne und ging schließlich, als die zweite noch im Laden befindliche Kundin sich entfernt hatte, in ein kleines Hinterzimmer. Dort öffnete sie mit einem Schlüssel aus ihrer Handtasche einen Wandschrank, entnahm ihm einen Fernsprechapparat und drehte die Kurbel. Sie sah, als sie einen längeren Bericht in den Sprechtrichter gab, verärgerter und gelber aus denn je.

Auch Dr. Rocha, der Innenminister, der auf diesem Wege seine Geheimberichte aus Esperanza auf direktem Draht empfing, war mit dem Gehörten keineswegs zufrieden; denn es ging daraus hervor, daß der General Maximine Oronta seit seiner Erkrankung in eine Wolke des Geheimnisses gehüllt war, und daß die Hauptquelle der Informationen für den Augenblick versiegt schien. Aus den sonst aufgelesenen Schnitzeln und Fetzen ließ sich kein Bild zusammensetzen.

 

Kurz darauf überquerte der Adjutant, die Mappe unter dem Arm, die Calle de la Paz, ging durch etliche enge Seitenstraßen und betrat ein niedriges, altes Gebäude. Zur Linken des Flurs lag eine Schreibstube, in der ein grimmiger alter Sergeant über allerlei Listen und Aufstellungen hockte. Er saß so, daß er durch ein Glasfenster dauernd den Flur beobachten konnte. Der Oberstleutnant hielt sich nur kurz auf, um zu erfahren, daß alles in Ordnung sei. Dann ging er wieder; diesmal aber wandte er sich zur Linken, durchschritt zwei Seitenflure, schloß sich eine Tür auf und trat auf einen Hof hinaus. Nachdem er die Tür sorgsam hinter sich versperrt und den Schlüssel wieder in die Tasche gesteckt hatte, gelangte er über den Hof zu einer zweiten Tür, die ihm wieder durch einen besonderen Schlüssel den Zugang in ein weiteres unauffälliges Haus öffnete.

Diesen Flur kennen wir; wir kennen auch den Hof. Von hier aus hatte Manuel seinen Weg in das Dasein des Generals Oronta angetreten.

 

Manuel wollte gerade zum Schalter greifen, um die Leselampe über dem Bett auszuknipsen und sich mit genießerischem Behagen auszustrecken, als von der Balkontür her ein Geräusch kam, das ihn zu durchaus anderen Maßnahmen veranlaßte: Seine Linke griff nach dem Hörer des auf dem Bett-Tisch stehenden Fernsprechers, mit der Rechten nahm er die bereitliegende Pistole aus der Schublade. Es war klar, daß da ein Besucher kam, der die Auseinandersetzung mit Dienststellen und eine Begegnung mit Zeugen zu vermeiden wünschte, und daß dieser Besuch General Oronta galt. Manuel hatte noch keinen Maßstab dafür, was ein Menschenleben in Nebrador wert war, und auch das Leben des Generals Oronta hätte er vermutlich nicht gerecht zu bewerten gewußt; da es aber durch Schicksalsfügung sozusagen mit dem seinen zeitweilig zusammengelegt war, schienen ihm Vorsichtsmaßnahmen ernster Art gestattet.

Die angelehnte Balkontür wurde geöffnet, eine Hand zerteilte die Gardine, ein Mann trat ins Zimmer. Er blieb stehen, blinzelte suchend in die Dämmerbeleuchtung des Raumes, nahm zur Kenntnis, daß eine Pistole auf ihn gerichtet war, und hob ohne besondere Einladung die Hände, mit den Handflächen nach außen, um durch Augenschein zu beweisen, daß er nicht auf Gewaltanwendung eingerichtet sei.

»I beg your pardon, General«, sagte der Mann mit näselnder Stimme. »Sorry to disturb you. No offence meant. Stephens von der Continental Press Association. Guten Abend.«

Manuel ließ den Fernsprecher los, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und betrachtete den Ankömmling. Eine erheiternde Gestalt – unwahrscheinlich lang und unwahrscheinlich mager, in Knickerbockers und riesigen gelbbraunen breiten Schuhen; ein glattrasiertes Gesicht ganz unbestimmbaren Alters, von einer seltsam naiven Ausdruckslosigkeit; auf der schmalen Nase saß ein goldgefaßter Zwicker, der durch häufiges Festklemmen vor dem Herunterfallen bewahrt werden mußte. Sandfarbenes Haar, das in sonderbaren Büscheln wie verdorrtes Dünengras auf dem Schädel stand. Der Mann sah aus wie ein Buchhalter in einem Maklerkontor, oder besser noch wie ein Filmkomiker, der eine solche Rolle darzustellen hat; aber nicht wie ein Meuchelmörder.

»Guten Abend, Mr. Stephens«, sagte Manuel. »Sagen Sie mal – Sie haben doch vermutlich einen Ausweis oder so etwas bei sich? – nur zu meiner Beruhigung. Ja? Dann bleiben Sie bitte da stehen und werfen Sie ihn mir herüber. – Danke, das stimmt soweit.«

Mr. Stephens fing den zurückgeworfenen Paß mit der Rechten geschickt auf, wobei er sich allerdings mit der Linken hastig seines Klemmers versichern mußte. Er nahm ihn ab und putzte ihn sorgfältig mit einem blaugewürfelten Seidentuch. Manuel sah, daß der Mann scharfe, klug und kühl blickende Augen hatte. Was würde General Oronta jetzt tun? Er würde sagen – und Manuel sagte es:

»Was veranlaßt Sie dazu, um Mitternacht wie ein Einbrecher über den Balkon in mein Schlafzimmer einzudringen?«

»Auf andere Weise hätte ich es nicht geschafft«, versetzte Mr. Stephens wahrheitsgemäß.

»Hm.« Dagegen ließ sich nichts sagen. Manuel faltete die Hände hinter dem Kopf und sah den Besucher lächelnd an. »Und jetzt, Mr. Stephens, werde ich der Ordonnanz klingeln und Sie auf demselben Wege wieder hinausbefördern lassen, auf dem Sie gekommen sind – also über den Balkon in den Garten, allerdings ohne Benutzung der Feuerleiter.«

»Nicht ganz bis in den Garten, General«, wandte Mr. Stephens ein. »Ich wohne im Zwischenstock.« Er lächelte gewinnend zurück, soweit es die Sicherheit seines Klemmers zuließ. »Haben Sie keinen Humor, General?«

»Doch, meistens. Aber bedenken Sie: Ich bin krank gewesen und fühle mich schonungsbedürftig. Ich sollte angeschossen werden und habe mich darüber geärgert. Jetzt kommen Sie da hereingeschlichen und rauben mir den berühmten Schlaf vor Mitternacht.« Wieder ging es Manuel, wie schon oft in diesen Tagen: Er redete mit überlegener Geläufigkeit, die ihn selbst überraschte, und ließ sich vertrauensvoll tragen von dieser neuen Kraft. »Finden Sie das komisch?«

»Why, yes«, sagte Mr. Stephens kurz und schlicht. »Ich finde es komisch, daß ein Tölpel wie ich bloß an einer Feuerleiter hochzuklettern braucht, um den ganzen amtlichen Sperrbetrieb auszuschalten und eine Begegnung zu erzielen, die schon Stoff für eine großartige Story hergäbe.«

Manuel faßte einen Entschluß. Vielleicht – –

»Setzen Sie sich, Mr. Stephens. Da an den Tisch bitte. Und bedienen Sie sich Ihrer Muttersprache. Ihr Spanisch tut mir weh. Wenn Sie mir auf die Nerven gehen, werfe ich Sie hinaus. Wenn Sie etwas schreiben, das mir nicht paßt, lasse ich Sie erschießen oder aufhängen – je nach Laune. Man macht das hier sehr nett.«

»Dazu ist es dann zu spät«, sagte Mr. Stephens sachlich. Er setzte sich an den Tisch, zog seine Zigarettendose heraus, verglich die Marke sachkundig mit der im Ebenholzkasten des Generals Oronta, entschied sich für die letztere und bediente sich ohne Einladung. Es war offenbar seine Gewohnheit, Einladungen nicht abzuwarten. Seine quadratischen Schuhe standen breit und solid auf dem Teppich. Er fischte ein abgegriffenes schwarzes Notizbuch und einen Stummelbleistift aus der Joppentasche und sah Manuel erwartungsvoll an.

»Well –?« sagte er.

»Wieso well?« fragte Manuel dagegen. »Gar nichts ist well. Es gibt in Esperanza eine Pressestelle, ich habe einen ausgezeichneten Adjutanten, in San Isidro sitzt eine Regierung mit allen erdenklichen Einrichtungen, und Leute Ihres Faches sind dafür bekannt, daß sie überall Informationen aufzuschnüffeln verstehen. Genügt Ihnen das nicht?«

Mr. Stephens wischte den Einwand mit einer heftigen Handbewegung weg, die ihn nötigte, hastig den stürzenden Kneifer festzuhalten. »Ich bin kein Reporter«, sagte er. »Die ›Continental Press Association‹ ist ein Nachrichtenbüro von großem Einfluß, General. Ich suche keine Informationen, denn die habe ich. Was ich suche, ist ein Gespräch mit Ihnen. Und das habe ich jetzt auch.«

»Soso.« Manuel überlegte. »Und warum sind Sie in Esperanza? Würden Sie Ihre Gespräche nicht besser mit den Herren in San Isidro führen?«

»Never mind«, näselte Mr. Stephens kühl. »San Isidro ist vollkommen uninteressant. Das wissen Sie selbst am besten, General. Was der Präsident zu erzählen hat, kann jeder Anfänger mitstenographieren und nach Hause kabeln. Mir haben meine Auftraggeber den eigentlich wichtigen Posten anvertraut. Sie belieben mich auf die Probe zu stellen, General. Aber ich bin wirklich kein Greenhorn. Wenn ich vielleicht auch ein bißchen komisch aussehe. Das ist manchmal von Vorteil.«

Manuel überlegte. »Was wollen Sie denn von mir wissen?« fragte er schließlich.

»Ich möchte etwas über Ihre Anschauungen und Pläne hören. Ein Geleit- und Zukunftswort sozusagen, das nach dem Gelingen der – Aktion der Welt sagt, wer der Mann ist, der dann an der Spitze Nebradors steht. Spreche ich deutlich? Es soll etwas Persönliches sein; etwas, das nur ich melden kann. Man kann das nicht früh und nicht heimlich genug vorbereiten. Hier in Esperanza wird soviel gespitzelt – – Ich lege Ihnen natürlich den Text zur Genehmigung vor, General.«

Es gab Manuel einen Ruck. Da saß ein Mann, der wußte. Ein Mann, den man zum Reden bringen mußte, um viel – ja, vielleicht alles zu erfahren. Manuel zwang seine Stimme zur Festigkeit. Es würden noch mehr, viel mehr solcher Augenblicke kommen; dieser erste war eine Probe aufs Exempel. Er griff nach einer Zigarette und zündete sie an; der blaue Rauch sprudelte in kleinen Wolken aus seinem Munde hervor, als er sprach.

»Mr. Stephens«, sagte er, »ich muß noch mal ein bißchen weiterfragen. Sie erklärten mir vorhin, daß Sie keine Informationen suchen, weil Sie sie haben. Ich muß wissen, woher diese Informationen stammen.«

»Das möchte ich ja nun allerdings lieber nicht sagen«, versetzte Mr. Stephens und er sprach sichtlich die Wahrheit.

Manuels Finger legten sich auf den Klingelknopf. »Wenn ich jetzt durch die Ordonnanz meinen Adjutanten holen lasse, werden Sie es sagen, und zwar eher, als Sie denken.«

Mr. Stephens zuckte die Achseln. »Well«, sagte er. »Unser Direktor, der dem Außenamt nahesteht, gab mir eine Empfehlung an den Chief Manager des Bankhauses Atkinson & Wineman. So bin ich der einzige, der dort des absoluten Vertrauens gewürdigt wurde. Die Arbeit, die ich zu leisten habe, geht also über die eines Journalisten weit hinaus. Meine Kabel, General, machen für Sie die Begleitmusik in der Weltpresse. Trotzdem – es wäre mir lieber, Sie hätten mich nicht zum Reden gezwungen. Ich arbeite lieber inkognito.«

»Das können Sie hier in meinem Zimmer nicht, Mr. Stephens«, sagte Manuel. »Im Gegenteil – ich werde Sie noch weiter zum Reden zwingen.« Er legte sich zurück und sprach gegen die Decke; der Besucher sah von seinem Gesicht nur noch den dunklen, eckig gestutzten Vollbart, der kantig und drohend nach oben wies. »Es gibt doch wohl auch in der Umgangssprache Ihres Landes das altvertraute liebe Wort ›Bluff‹. Sie werden jetzt so freundlich sein, Ihre ›Informationen‹ restlos auszupacken. Man kann nicht einfach hier hereinkommen und sagen: ›Ich habe Informationen.‹ Ich bin neugierig, und in diesem Zustand bin ich etwas impulsiv.« – Ich improvisiere großartig, dachte Manuel bei sich. Alle Achtung! – »Reden Sie. Wenn sich herausstellt, daß Sie mich bluffen und ausholen wollten, so haben Sie auf lange Zeit hinaus nichts zu lachen. Wenn Ihre Informationen stimmen, werde ich mich morgen nach Ihrer persönlichen Verläßlichkeit erkundigen lassen. Dann werden wir weitersehen. Also –?«

Mr. Stephens lächelte mit kindlicher Einfalt und fingerte an seinem Kneifer. »Ich hatte mir die Sache einfacher gedacht«, sagte er.

»Das glaube ich Ihnen«, bemerkte Manuel.

»Und wenn Sie sich morgen bei Atkinson & Wineman erkundigen würden, ob ich dort tatsächlich als Vertrauensmann anerkannt bin? Das würde es mir ersparen, Dinge auszusprechen, die – –«

»– – für den, der sie sagt, nicht ganz ungefährlich sind«, ergänzte Manuel. Der dunkle Bart bewegte sich in strenger Verneinung hin und her. »Nein. Ich will jetzt und hier wissen, mit wem ich es zu tun habe. Dort hinter der Tür ist ein Kühlschrank – da finden Sie einen Whisky.«

Mr. Stephens beeilte sich, von dieser Erleichterung Gebrauch zu machen.

»Well«, sagte er dann vorsichtig und tastend, »es ist ja nun allmählich aller Welt bekannt, daß es hier in Nebrador demnächst zum offenen Konflikt kommen wird. Die politische, militärische und wirtschaftliche Lage sind reif dafür. Man weiß das sogar in San Isidro. Es wird auch allgemein angenommen, daß Sie, General, in diesem Konflikt die Oberhand behalten und dann die Geschicke des Landes lenken werden.« Er überlegte einen Augenblick und fügte dann mit Betonung hinzu: »Die Verhandlungen, die von verschiedenen – Stellen mit Ihnen ohne Wissen des Präsidenten geführt wurden, beweisen dieses Vertrauen. Und das Bankhaus Atkinson & Wineman seinerseits hat, denke ich, seiner Zuversicht für Ihre Sache durch beträchtliche Investition Ausdruck gegeben.«

Manuel lag reglos. Mr. Stephens ahnte nicht, daß er in diesen Minuten einem Mann, der bisher vor einer Nebelwand gestanden hatte, unschätzbare Kenntnisse schenkte. Er benutzte die Pause, um sich durch einen weiteren Whisky zu kräftigen.

»Ich möchte – –« sagte er zögernd.

»Sie möchten nicht gern weiterreden, aber Sie müssen«, sagte Manuel unerbittlich.

Mr. Stephens seufzte. »Für die geplante Aktion«, fing er wieder an, »war ursprünglich der zehnte dieses Monats vorgesehen. Infolge gewisser Umstände kam man überein, die Sache um vierzehn Tage, also auf den vierundzwanzigsten, zu verschieben.«

»›Gewisse Umstände‹ ist mir zu unbestimmt ausgedrückt«, sagte Manuel.

»Die auf Ihrer Seite stehenden Truppenteile brauchten eine bessere Bewaffnung und zum Teil auch Ausbildung«, näselte die zögernde Stimme. »Über die endgültige Haltung einiger Garnisonen mußte Klarheit geschaffen werden. Gewisse Verschiebungen der Truppen und Umbesetzung von Offiziersposten mußten vorgenommen werden. Eine Reorganisation der Guardia Nacional wurde angeordnet. Gewisse Kenntnisse, die wir durch die Scheinverhandlungen mit dem Präsidenten erlangt hatten, ließen es unserem Wirtschaftsministerium als wünschenswert erscheinen, den Leiter unserer Wirtschaftsabordnung mit neuen Instruktionen auszustatten. Vor allem aber ergab sich die Tatsache, daß die Vorbereitungen, deren Zentrale Esperanza ist, ausgiebig und erfolgreich bespitzelt werden. Ich meine damit nicht die übliche Spitzelei durch irgendwelche abenteuerlustigen und geldbedürftigen Nachrichtenkrämer, die ihre aufgeschnappte Weisheit sozusagen im Kleinverkauf verhökern, sondern eine richtige, sachkundige, gefährlich umsichtige Spionage, die so gut getarnt ist, daß ihre Träger bisher nicht zu ermitteln waren. Auch das machte gewisse Programmänderungen wünschenswert.« Mr. Stephens hatte, gegen seine sonstige Gewohnheit, zusammenhängend und mit sorgfältiger Wahl seiner Worte gesprochen. Er war sich klar darüber, daß für ihn viel auf dem Spiele stand. Jetzt fingerte er an seinem Klemmer und fügte in leichterem Ton hinzu: »You see, General, es ist nicht zu leugnen, daß unter diesen Umständen der Zeitpunkt Ihrer – Erkrankung und Ihre Abschließung von der Öffentlichkeit eine ausgezeichnete Taktik waren. Sie werden diese Zeit gewiß zu nutzen verstehen – so daß, wie ich annehmen möchte, der jetzt bestimmte Zeitpunkt beibehalten werden kann.«

Es gab ein langes, für Mr. Stephens ungemütlich langes Schweigen. Manuel schien ganz in die Betrachtung zweier Fliegen versunken, die träge und ohne recht von der Stelle zu rücken an der Zimmerdecke dahinkrochen. In Wahrheit sah er sie gar nicht. Er hatte auch seinen Besucher fast vergessen. Erst als die heruntergebrannte Zigarette ihm die Finger versengte, rührte er sich.

»Gute Nacht, Mr. Stephens,« sagte er unvermittelt.

Diesmal war der Kneifer nicht zu retten; er entglitt auf den Teppich. Mr. Stephens brachte ihn mit einiger Mühe wieder zum Vorschein. »I beg your pardon«, sagte er bestürzt. »Aber ich hätte doch gern gewußt – ich meine: Es war ja so etwas wie ein Examen. Habe ich es bestanden?«

»Sie erwarten doch wohl nicht von mir, daß ich mich jetzt meinerseits von Ihnen examinieren lasse,« sagte Manuel kühl. »Ob Ihre – Informationen nun stimmen oder nicht – Sie wissen wohl selbst, daß man in Esperanza sehr vorsichtig zu sein hat, wenn man gewisse Kenntnisse besitzt oder zu besitzen glaubt. Bereichern Sie Ihr Wissen weiterhin durch die Firma Atkinson & Wineman. Es gibt immer einiges, was Sie dort nicht erfahren werden.« Manuel lächelte bei dem Gedanken, daß er damit eine unanfechtbare Wahrheit aussprach. »Sie dürfen jedenfalls versichert sein, daß Ihre Tätigkeit sich künftig meiner besonderen Aufmerksamkeit erfreuen wird.«

»Okay«, sagte Mr. Stephens, der seine Fassung zurückgewonnen hatte. »Davor habe ich keine Angst. Darf ich nun noch einmal auf mein Anliegen zurückkommen?«

»Ich werde mir die Sache überlegen. Wenn ich etwas für Sie habe, lasse ich Sie rufen. Im übrigen: Verschaffen Sie sich das Werk von Professor de Cima über Nebrador und studieren Sie besonders den Abschnitt über den Präsidenten Eulogio Dominguez. Er war ein großer Mann. Wer Nebrador retten will, wird da wieder anknüpfen müssen, wo er allzu früh aufhören mußte. Ich will jetzt schlafen. Good night.«

Mr. Stephens, der sich eine Notiz gemacht hatte, erhob sich widerwillig, machte die schlacksige Andeutung einer Verbeugung; die quadratischen Schuhe nahmen Kurs auf die Balkontür.

Manuel erhob sich; der General Oronta folgte dem Besucher und überzeugte sich davon, daß er, vorsichtig, aber keineswegs ungeschickt, den Rückweg über die Feuerleiter antrat. Dann warf Manuel einen Morgenmantel über und trat hinaus. Lange stand er an der Balkonbrüstung und starrte in die Nacht. Die Luft war kühl und feucht vom abendlichen Regen; fern, überm Meer, flackerten zuweilen noch Blitze durch schwärzliches Gewölk. Nur schwach und trübe flimmerten die Sterne durch den rötlichen Dunst über der Stadt. Hier aber, auf der Gartenseite des Hotels, sah das Auge, wenn es sich gewöhnt hatte, in zuerst schwacher, dann deutlich sich formender Zeichnung das Land jenseits des Stadtbezirks, die Schwärze der Wälder, die Umrisse der Berge unter einem helleren Himmel, den die Menschen dort oben im tropischen Sternenfeuer flammen sahen.

So also war das. So nahe schon war die Entscheidung. Der General Oronta saß irgendwo verborgen und bereitete den großen Schlag vor, während der vom Adjutanten aufgegabelte Strohmann die Blicke auf sich zog, für Attentate zur Verfügung stand und die gegnerische Spionage lahmlegte. Wenn er diese Aufgaben erfüllt und überlebt hatte, würde man über ihn – verfügen. Manuel sah zu einem Stern hinauf, der so spöttisch flimmerte wie das Einglas des Oberstleutnants del Vecchio, der diese Komödie improvisiert hatte. Seine Hände schlossen sich fest um die feuchtkalte Balkonbrüstung.

Ein paar Tage veränderten Lebens, umstürzender Ereignisse, andrängender Erkenntnisse, des einsamen ganz auf sich Angewiesenseins, des bewußten Maskentragens können einen Menschen sehr verwandeln. Sie können Quellen erschließen und Kräfte losbinden, von denen das eigene Bewußtsein nichts ahnte. Wenn Oberstleutnant del Vecchio, der eben jetzt von einer Dienstfahrt nach Tierra Ardiente müde im Kraftwagen heimkehrte, in diesem Augenblick seinen Schützling gesehen hätte, so wäre er sehr nachdenklich geworden. Er hätte, als Manuel ins Zimmer zurücktrat, den harten, gespannten Ausdruck rücksichtslosen Willens wahrgenommen, den er von seinem General her kannte: In den Augen aber hätte er ein gereiztes, gefährliches, raubtierhaftes Glühen gesehen, und es wäre ihm gewiß nicht entgangen, daß der Mann, den er für einen begabten, aber im Grunde ungefährlichen Figuranten hielt, mit langen, lautlosen, aus der Hüfte schwingenden Schritten durchs Zimmer ging. Aus Manuel, dem Tramp, dem gelehrigen und gefügigen Double, dem abenteuerlustigen Zuschauer, war ein Gegner geworden, der entschlossen war, sich zum Kampf zu stellen, sobald der Augenblick dafür gekommen sein würde – selbst wenn dieser Kampf aussichtslos war.


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