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10. Kapitel

Von vielen und spannenden Begebenheiten mit Esmeraldas, Manuel, Oronta, Juana, Candido Hernandez und dem Innenminister

General Esmeraldas hatte für das erste Zusammentreffen mit dem gefangenen General Oronta einen wirksamen Rahmen gestellt. Das Schönste daran verdankte er freilich, ohne sich darüber viel Gedanken zu machen, dem verstorbenen Präsidenten Dominguez: Denn das Hauptquartier, von dem aus der Oberbefehlshaber seine Maßnahmen gegen die bedrohlich anwachsende Umsturzbewegung leitete, war in den weitläufigen Gebäuden eines Klosters untergebracht, das dieser tatkräftige Mann nach heftigen politischen Meinungsverschiedenheiten mit dem Abt Noboa kurzerhand aufgehoben und in ein landwirtschaftliches Versuchs- und Mustergut verwandelt hatte. Der Entschädigungsprozeß mit der Kirche war noch immer eine Pfründe für hauptstädtische Anwaltskanzleien und ein unerschöpfliches Dissertationsthema für die angehenden Rechtsgelehrten. Das Gut lag, umgeben von zahlreichen Wirtschaftsgebäuden und einer dorfähnlichen Siedlung für die Gutsarbeiter, in einer tief eingeschnittenen, fruchtbaren Senke; üppig gedeihende Pflanzungen bedeckten die Talsohle und die Hänge; am Ufer eines Gebirgsflusses, der in den Rio Verde mündete, liefen die Geleise der Bahn nach San Isidro, und vom oberen Ende des sanft geschwungenen Tales begannen sie ihre kühne Kletterpartie, hinauf zu der grünen Hochebene, auf der die weiße Hauptstadt lag. Hier, in der windgeschützten Geborgenheit der wasserreichen Senke, wuchsen Getreide, Mais, Bananen und alle Feld- und Gartenfrüchte der Tropen und des warmen Mittelgebirges; an den Hängen reifte in wohlgeordneten Gärten der Wein. General Esmeraldas freilich sah in dem paradiesischen Tal nur einen strategischen Punkt von wahrhaft seltenen Vorzügen: Eisenbahn und Landstraße schufen bequeme Verbindungen zum Tal und zur Höhe, das Fernsprech- und Telegraphennetz ermöglichte eine Erweiterung und eine Verständigung nach allen Richtungen, und eine große Wiese war in aller Eile als Behelfsflugplatz hergerichtet worden. Zugleich bot sich ein weiter Überblick über die Lavafelder bis hinab zur Ebene, und die Höhen gewährten einen natürlichen Schutz gegen Überfälle. Schon die kriegerischen Mönche, die sich hier im ersten Jahrhundert nach der Klostergründung oft genug der uneinsichtigen Indianerstämme erwehren mußten, hatten die militärischen Vorteile dieser Lage erfolgreich genutzt und sich grimmig behauptet.

Die Wache trat ins Gewehr – denn noch wahrte man vor dem ordensgeschmückten Waffenrock des Generals Oronta die Form; Manuel, geleitet vom Oberleutnant, gefolgt von dem bedrohlich stummen, mit siedender Wut geladenen Major de Souza, durchschritt einen langen, gewinkelten Flur und betrat das Zimmer, in dem General Esmeraldas residierte.

Der hohe, helle Raum hatte einstmals den Mönchen als Speisesaal gedient. Die Bogenfenster in den dicken Mauern standen offen; und das Tal sandte seine Düfte, seinen kühl fächelnden Wind und den Glanz seines Lichtes herein. An der Rückwand stand ein langer Tisch, und hier hatte Esmeraldas seinen Triumphsitz aufgebaut. Er saß in einem hohen Armstuhl hinter der Tafelmitte, Sieger und Richter zugleich; sein weißer Schnauzbart war wütend gesträubt, auf seinen Backenknochen brannten rote Flecken, und er ähnelte mehr denn je einem gereizten Puter. Ihm zur Rechten und zur Linken saßen hohe Offiziere seines Stabes, saubere, gepflegte und trefflich genährte Herren von keineswegs feldmarschmäßigem Aussehen. Von den Wänden blickten die Bilder ehemaliger Äbte mit mild überlegenem Lächeln auf das Tribunal herab, und über dem Sitze des Generals Esmeraldas hing – er hatte die wunderliche Ironie des Zufalls gewiß nicht einmal bemerkt – ein sehr brav gemaltes mächtiges Bild, das das Verhör Christi durch den Landpfleger Pilatus darstellte. Kein Zweifel: der Raum machte einen imponierenden Eindruck, ein wenig störend war nur, daß aus dem Dorf zuweilen so etwas wie Lagerlärm herüberklang: die Soldaten des Garderegiments nahmen die ganzen Vorgänge nicht übermäßig ernst; sie hatten in der Dorfschenke einen erstaunlichen Vorrat an Maisbier vorgefunden, und ein findiger Händler aus San Isidro hatte in der Tienda einen schwunghaften Handel mit rasch herbeigeschafftem Agavenschnaps eröffnet.

Manuel überflog im Hereinschreiten mit raschem Blick den Raum und nahm das Tribunal – Esmeraldas und seine Offiziere blieben ostentativ sitzen – mit flüchtigem Lächeln zur Kenntnis. Dagegen haftete sein Blick ein paar Sekunden an einem Herrn, der etwas abseits vom Tische in einem Sessel saß und gelassen eine Zigarre rauchte: ein rundlicher, gepflegter Mann, dessen dickes Gesicht Klugheit und wache Aufgeschlossenheit verriet, und dessen dunkle Augen mit einer fast ironischen Aufmerksamkeit alle Vorgänge beobachteten und erfaßten. Dieser Herr – er trug einen eleganten rohseidenen Anzug – erhob sich zu grüßender Verbeugung halb aus seinem Sessel, und Manuel legte die Hand an die Mütze. Das mußte – ein merkwürdig sicheres Gefühl sagte es ihm – der Innenminister Dr. Rocha sein. Vor diesem geübt und ruhig prüfenden Blick galt es sich zu behaupten; und Manuel hatte mit einem Male eine beschwingte Sicherheit, die ihn verläßlich vorwärtstrug.

Der Oberleutnant wollte vor den Tisch treten und Meldung erstatten, aber Manuel schob ihn mit einer raschen, kräftigen Bewegung zur Seite.

»Bevor ich mir von Ihnen Auskunft erbitte, wie ich mir den sonderbaren Transport hierher zu erklären habe, möchte ich mich säubern und etwas zu essen haben.«

Die reinlichen Generalstabsoffiziere betrachteten verblüfft diesen staubüberkrusteten General, der breitbeinig dastand, das Kinn mit dem gestutzten Bart kriegerisch vorgereckt, die Fäuste in die Taschen des Waffenrockes gestemmt; sie betrachteten den dicken Major, der sich hinter seinem Chef aufgepflanzt hatte, ein stämmiger und verwegener Landsknechtsführer, und die richterliche Tafelrunde mit herausfordernd verächtlicher Respektlosigkeit musterte. Der Herr im rohseidenen Anzug führte die Zigarre zum Munde, um ein Lächeln zu verbergen. Esmeraldas lief rot an und pustete wütend durch seinen weißen Schnauzbart. Sein cholerisches Temperament ging sogleich mit ihm durch.

»Sie haben gar nichts zu verlangen«, schnob er. »Es ist Ihnen offenbar nicht klar, daß Sie vor Ihren Richtern stehen, und daß man Sie hier wegen Hochverrats aburteilen wird.« Er lehnte sich über den Tisch, mit verzerrtem Gesicht. »Ich hätte Lust, Ihnen die Orden und Achselstücke abreißen zu lassen.«

Manuel trat einen Schritt zurück. »Ich bin nach dem Vorangegangenen durchaus darauf gefaßt«, sagte er kühl. »Aber ich mache die Herren darauf aufmerksam, daß derjenige, der Hand an mich legt, dies als die letzte Handlung seines Lebens anzusehen hat.« Er zog langsam die geballten Fäuste aus den Taschen. Die Herren rings um Esmeraldas, die bereits Miene gemacht hatten, sich zu erheben, setzten sich unauffällig wieder hin.

Esmeraldas ging mit sichtlicher Anstrengung zu einem strengen und sachlichen Ton über.

»Sie haben als Offizier der nebradorianischen Armee hochverräterisch den Umsturz vorbereitet. Ich werde Sie infolgedessen vor ein Kriegsgericht stellen und das Urteil sofort vollstrecken lassen.«

»Eine irrige Auffassung.« Manuel schüttelte den Kopf. »Zunächst einmal ist der Generalstab, den ich hier vermutlich vor mir sehe, kein Kriegsgericht. Und selbst wenn er es wäre, unterstehe ich nicht seiner Gerichtsbarkeit.«

Bevor Esmeraldas antworten konnte, mischte sich der Herr im rohseidenen Anzug ein. »Das ist richtig, natürlich«, sagte er bedachtsam. »Die – äh – Sicherstellung des Generalleutnants Oronta erfolgte auf Befehl des Kabinetts; die Heeresleitung war dabei nur ausführendes Organ. Die Absicht des hochverräterischen Umsturzes ist im Wege der ordentlichen Untersuchung nachzuweisen. General Oronta ist vom Herrn Staatspräsidenten auf Beschluß des Gesamtkabinetts als Militärgouverneur im Bezirk Esperanza eingesetzt worden. Ein aus dieser Stellung heraus geplanter Umsturz, selbst wenn er zum Teil mit militärischen Mitteln erfolgen sollte, ist demnach ein politisches Verbrechen und gehört vor den Staatsgerichtshof. Der Chef der Heeresleitung ist dafür nur zum Teil zuständig, und der Kriegsminister nur als Mitglied des Gesamtkabinetts. Natürlich«, setzte er nach einer Weile gewissenhaft hinzu.

»Zuständig –! Ordentliche Untersuchung –! Staatsgerichtshof –!« General Esmeraldas tobte. »Hinausschieben –! Akten anlegen –! Womöglich gar noch verhandeln? Ich mache diese Wassersuppenrührerei einfach nicht mehr mit! Der Herr Staatspräsident duldet ja noch nicht einmal, daß ich die Gefangennahme des Generals Oronta bekanntgebe!«

»Natürlich nicht«, war die gelassene Antwort. »Der Herr Staatspräsident steht auf dem Standpunkt, daß diese Bekanntgabe erst erfolgen soll, nachdem die – äh – Inhaftierten der Regierung in San Isidro übergeben worden sind. Ich habe als Innenminister und Beauftragter des Herrn Staatspräsidenten den Auftrag, diese Überführung zu veranlassen – wie ja auch die Sicherstellung ursprünglich meine Aufgabe war, an deren Durchführung sich Beamte der Staatspolizei beteiligt haben. Nach Erledigung meines Auftrages habe ich nach Esperanza zu fliegen und dort eine Klärung der Lage herbeizuführen. Dabei nehme ich an, daß die militärischen Maßnahmen zur Sicherung der Ruhe und Ordnung getroffen worden sind.«

»Hoffentlich«, sagte Manuel. »Es wäre doch ein Jammer, wenn so etwas womöglich nachträglich noch durch die zweite Garnitur verpatzt würde.«

»Aha!« Esmeraldas triumphierte. »Sie gestehen also, den Umsturz vorbereitet zu haben?«

»Du lieber Gott«, sagte Manuel mit freundlicher Geduld, »ich habe alle nur erdenklichen Papiere in der Tasche, die alles nur Erdenkliche beweisen; und ich hatte keine Gelegenheit, mich dieser Papiere zu entledigen. Halten Sie mich für so kindisch, daß ich unter solchen Umständen noch leugne?« Er hatte das Gefühl, daß die Aufmerksamkeit, mit der der Innenminister ihn betrachtete, in achtungsvolles Vergnügen überging. Major de Souza stieß ein kurzes schnaubendes Lachen aus. Er bewunderte seinen General.

Esmeraldas hielt es für nötig, seine Autorität wieder herzustellen. »Ruhe!« donnerte er. »Der Humor wird Ihnen schon noch vergehen, dafür werde ich sorgen.« Er wandte sich an Dr. Rocha. »Ich bin der festen Überzeugung, daß die Umsturzbewegung im Sande verlaufen wird, da sie führerlos geworden ist. Aber die Regierung darf versichert sein, daß seitens der Heeresleitung keine Vorsichts- und Abwehrmaßregel verabsäumt worden ist.«

Dr. Rocha verneigte sich im Sitzen: »Dann bin ich beruhigt, natürlich.«

»Ich auch«, sagte Manuel mit deutlichem Hohn.

Einer der Offiziere neigte sich zu Esmeraldas und machte eine halblaute Bemerkung.

»Richtig.« Der Kriegsminister nahm eine strenge Amtsmiene an. »Händigen Sie mir jetzt die von Ihnen erwähnten Papiere aus.«

Manuel griff in die Brusttasche. »Verzeihen Sie, Exzellenz, aber wenn ich recht verstanden habe, sitzt der Herr Innenminister hier als Bevollmächtigter des Gesamtkabinetts. Ich halte es daher für richtig, die Dokumente ihm zu übergeben. Außerdem führe ich eine ziemlich hohe Summe in barem Gelde bei mir. Ich bitte es mir nicht zu verargen, wenn ich dieses Geld der zivilen Obhut des Herrn Ministers anvertraue. Es erscheint mir sicherer.«

Durch die Reihen der Offiziere lief ein entrüstetes Gemurmel.

Dr. Rocha nahm die Aufzeichnungen und das Geld entgegen. Er gab sich jetzt gar keine Mühe mehr, sein Lächeln zu verbergen. In Manuel verstärkte sich das Gefühl, daß der beleibte Herr, der gewiß nicht sein Freund war, mit wohlbedachter Absicht das Spiel des Generals Esmeraldas durchkreuzte.

Der Kriegsminister schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er war kirschrot im Gesicht.

»Ich protestiere!« kollerte er. »Es sind militärische Dokumente, die vom Generalstab geprüft werden müssen.«

»Natürlich«, sagte Dr. Rocha. »Aber in meinem Beisein. Es sind zugleich politische Dokumente, die ich dem Herrn Staatspräsidenten vorzulegen habe.«

»Wollen Sie nicht gleich auch die Verteidigung des Angeklagten übernehmen?« schnob Esmeraldas.

»Verzeihen Sie, Exzellenz, wenn ich abermals widerspreche.« Dr. Rocha betrachtete angelegentlich prüfend den Brand seiner Zigarre. Er genoß die Auseinandersetzung mit dem Behagen des alten Juristen. »General Oronta ist einstweilen nur beschuldigt, nicht angeklagt. Man kann einer geplanten Rechtsverletzung nicht von Amtswegen mit einer tatsächlichen Rechtsverletzung begegnen, besonders deshalb nicht, weil Sie ja an eine unmittelbare Gefahr nicht mehr glauben. Die Erhebung der Anklage hat vor dem Staatsgerichtshof zu erfolgen: wahrscheinlich noch gegen weitere Persönlichkeiten, die sich aus den Dokumenten ergeben werden. Ich betone deshalb nochmals den Wunsch des Herrn Staatspräsidenten, daß die beiden Herren nach San Isidro überführt werden.«

»Ich denke nicht daran!« brüllte der Kriegsminister. »Wen ich habe, den halte ich fest. Ich werde die Rebellen nicht den Federfuchsern ausliefern. Und ich behalte mir die Beschließung und Durchführung jeder – hören Sie: jeder! – Maßnahme vor, die uns im Interesse der militärischen Sicherheit geboten erscheint.«

Dr. Rocha zuckte die Achseln: »Sagen Sie das bitte dem Herrn Staatspräsidenten selber.« Er vertiefte sich in die Papiere; es gelang Manuel nicht mehr, seinen Blick zu fangen.

Das Gemach, das man Manuel anwies – Major de Souza wurde von ihm getrennt –, war eine geräumige ehemalige Klosterzelle, mit derben Holzmöbeln ausgestattet. Durch das offene Gitterfenster hingen blühende Ranken in den Raum. Man brachte Waschgeschirr und Wasser, dann eine leidliche Mahlzeit und einen Krug Wein. Die bedienende Ordonnanz salutierte vorschriftsmäßig. Die Tür wurde nicht verriegelt, aber Manuel hörte, daß draußen auf dem Flur ein Doppelposten Wache bezog. Man konnte nicht sicherer gefangen sein.

Das Wasser erfrischte ihn ein wenig, dann trank er durstig von dem Wein und aß gedankenlos etwas von den Speisen. Und schließlich streckte er sich auf dem Feldbett aus. Die Spannung ließ nach, sein Kopf schmerzte. Flüchtig dachte er: Wenn ich jetzt ein paar von Herrn Dr. Mazzinis Wunderpillen hätte! Wie weit lag das alles zurück – Schicksalsverkettungen, Glücksfälle, Pläne, jäher Aufstieg. Und nun neigte der Weg des Landstreichers Manuel sich einem dunklen Ende entgegen. In wessen Hand würde die Vollstreckung des Schicksalsspruches gelegt sein: In die des lächerlichen, puterhaft kollernden Kriegsministers – oder in die des brutalen Conquistadors, der sich gewiß drunten in Esperanza jetzt zum entscheidenden Angriff rüstete? Es war wohl gleichgültig. Manuels Gedanken strömten mit heißer schmerzhafter Gewalt zu einem einzigen Ziel. Einem Ziel, das hell sein sollte und doch von den Schatten grausamen Zweifels verdunkelt wurde.

»Juana«, sagte er halblaut. »Juana.«

Draußen auf dem Klosterhof war ein fortwährendes Hin und Her von Meldern und Ordonnanzen, Hufe trappelten, Krafträder knatterten. Das Hauptquartier des Generals Esmeraldas arbeitete mit allem, was zu einem vorschriftsmäßigen Betriebe dieser Art gehört. Zugleich aber verstärkte sich das Johlen und Singen, das vom Dorfe herüberklang. Man mußte, schien es, den Soldaten der Regierung allerlei Freiheiten lassen, wenn man sie bei Laune halten wollte.

 

Juana ging gehorsam dahin, wohin man sie zu gehen hieß. Sie war in den stählernen Klammern einer fühllosen und willenlosen Starrheit, die jeden Gedanken lähmte, für jede Bewegung eine peinlich genau beobachtende Anstrengung forderte, wenn sie nicht zu Boden stürzen und einfach liegenbleiben wollte. Aber irgendein dumpfes Gefühl befahl ihr, Haltung zu wahren und nicht ganz der Verlockung nachzugeben, die ihr ein erlösendes Untertauchen in gnadenvoller Unbewußtheit verhieß. Minutenlang versuchte sie mit unsäglicher Mühe, ihre Gedanken zu ordnen, die Erinnerung an die Folge der Ereignisse wieder zur Übersicht zu gliedern: Das Erwachen auf dem Fußboden ihres Zimmers – wie lange mochte sie bewußtlos gelegen haben? Es konnten Minuten, es konnten auch Stunden sein. Den schneidenden Schmerz, als ohne Übergang das Geschehen in greller Beleuchtung wieder vor ihr stand. Das Aufbäumen des Willens: sie mußte sofort, mußte um jeden Preis etwas tun, mußte Verbindung mit San Isidro haben, mußte flehen, betteln, lügen, irgendeinen Ausweg finden. Die Erkenntnis, daß man ihr die telefonische Verbindung abgeschnitten hatte: der Apparat war stumm, man hatte alles entdeckt. Der Weg zur Tür: um hinauszugelangen, irgendwie aus dem Hotel zu flüchten, vielleicht ein Auto zu finden – es war kein klarer Plan, es war nur ein atemloser, fiebernder, verzweifelter Trieb. Und dann, im Türrahmen, das Zusammentreffen mit dem Adjutanten, der ihr korrekt und mit eisiger Höflichkeit bedeutete, daß sie ihm zu folgen habe.

In diesem Augenblick fiel die Starrheit über sie wie eine halbe Betäubung. Sie sah alles wie durch einen rötlichen Nebel, sie vernahm alles wie aus weiter Ferne, ihre Füße gingen fühllos wie über eine weiche Masse, die unter den Schritten nachgab. Nun ist alles verloren, sagte sie sich – aber selbst an diesem Satz glitten ihre Gedanken ab.

Sie verließ den Wagen, sie betrat, einer stummen Handbewegung del Vecchios folgend, einen dunklen, niedrigen Hauseingang. Es war der Weg, auf dem Manuel vor wenigen Tagen seinen Gang in das Reich der erstaunlichen Erlebnisse angetreten hatte; aber keine Ahnung sprach ihr davon. Sie nahm mit dumpfem Befremden enge, mattenbelegte Flure und das Dämmerlicht von gelblichen und rötlichen Ampeln wahr. Die laue Luft roch nach Räucherwerk und scharf gewürzten Speisen. Dann öffnete del Vecchio ihr eine Tür, und ein heller Raum tat sich auf. Sie zwang sich mit einer Anstrengung zum Sehen – und erstarrte, mit einem rauhen Kehllaut, mitten im Schritt. Ihre Augen weiteten sich, alles Blut wich aus ihrem Gesicht und schoß gleich darauf in heißer Welle zurück. Hinter dem Schreibtisch saß General Oronta und sah ihr entgegen.

Jeder von uns hat den Augenblick erlebt, wo ein greller Blitz die gestaltlose Dämmerung in überdeutliche Klarheit verwandelt und den Schleier von den Dingen unserer Umwelt reißt, so daß sie den erschreckten Augen in schutzloser Nacktheit preisgegeben sind. So geschah es jetzt Juana: Der Nebel, in dem sie gegangen war, zerriß, sank zu Boden, wich einer scharfen, eisigen Deutlichkeit. Diese Deutlichkeit aber fiel nicht ins Dunkel zurück; sie blieb. Sie schmerzte die Augen, sie folterte alle Sinne, aber sie blieb. Juana sah wieder: Und sie sah, daß das Gesicht des Mannes da hinter dem Tisch nicht das Antlitz des Menschen war, dem sie ihren Glauben, ihre Liebe, ihr Leben erschlossen und zu eigen gegeben hatte. Sie blickte auf ein Zerrbild: Die Kraft der Züge war zur Plumpheit und Rohheit entstellt, die Wangen waren gedunsen, unter den Augen lagen schwere Tränensäcke, der Blick war höhnisch und erbarmungslos. Sie kannte diesen gespenstischen Doppelgänger; ihre Hand tastete mit einer matten Bewegung zur Stirn: Woher kannte sie ihn doch?

General Oronta warf die Zigarette in eine Aschenschale, deren Rand mit Drachenköpfen geziert war.

»Sie wundern sich, Baronesa?« – Die Stimme, dachte sie – auch die Stimme ist ein Zerrklang, eine furchtbare Rückverwandlung. – »Das kann ich mir denken. Nun, es ist wohl der richtige Augenblick, um eine begreifliche Verwechslung aufzuklären. Der Mensch, dem Sie in den letzten Tagen so viel liebevolle Aufmerksamkeit gewidmet haben, war ein Ersatzgeneral. Man nennt so was ja wohl ein Double, nicht? Ich habe den jungen Mann an meine Stelle gesetzt, um mal richtig in Ruhe arbeiten zu können. Es spricht für die Güte des reizenden Einfalles, daß auch Sie, die Sie sich meiner so nett angenommen haben, uns aufgesessen sind. Die gute Mastado – Gott hab sie selig, sie war zu klug für diese Welt – hat der Regierung einen Landstreicher ausgeliefert, den del Vecchio für mich aufgegabelt hatte; der wirkliche Oronta hat die Ehre, wohlbehalten vor Ihnen zu sitzen. Ich sage Ihnen das, weil Sie keine Gelegenheit mehr haben werden, Ihre Kenntnisse zu verwerten. Warum lachen Sie nicht? Es ist doch ein toller Spaß?«

Sein Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Grimasse, seine Hand griff nach einer frischen Zigarette. Juana sah, daß diese Hand zitterte. Ihr Blick wanderte eine Sekunde lang zur Seite: der Adjutant stand ein wenig abseits, mit unbeweglichem, verschlossenem Gesicht. Sein Einglas flimmerte im Ampellicht. Dann sah sie wieder Oronta an. Wie war es möglich, dachte sie, daß ich mich auch nur einen Augenblick habe irreführen lassen – wie war es nur möglich? Und sogleich wußte sie auch die Antwort: Weil aus dem Gesicht, den Augen, der Stimme des anderen Klugheit und Seele sprachen, die mich zuerst verwirrten und dann ganz gewannen; weil ich an die Verwandlung glauben wollte, noch bevor ich es wußte.

»Unsere Ermittlungen haben ergeben«, sagte Oronta, »daß Sie mit Ihrer famosen Mastado vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an für den Innenminister spioniert haben. Ich nehme Ihnen das nicht weiter übel; Sie haben es wohl aus lauter Patriotismus getan, und Sie haben von jeher gewußt, was man mit Spionen macht, die man erwischt. Aber Sie haben sich in mein Vertrauen eingeschlichen, Sie haben die Freundin und Beraterin gespielt, Sie haben mich zum Narren gehalten und sich von mir umwerben lassen. Ich habe Ihnen geglaubt. Und Sie haben über den Trottel von General gelacht. Das ist eine Beleidigung für mich. Dafür sollen Sie mir büßen.« Seine Stimme wurde dumpf und drohend. »Aber Sie waren dumm, Verehrteste. Sie sind im Galopp zu dem dreckigen Tramp übergelaufen, Sie haben ihm seinen wahnsinnigen Plan eingeblasen, der um ein Haar geglückt wäre, und dann« – er schrie es in jäher fesselloser Wut heraus – »sind Sie mit ihm ins Bett gegangen. Sagen Sie nicht, daß Sie dafür schon genug gestraft sind. Ich werde Sie noch gründlicher strafen, verlassen Sie sich darauf.«

Juana fühlte sich plötzlich ganz stark und frei. Es war nicht Schwäche gewesen, was sie überwältigt und in den Bann der Willenlosigkeit geschlagen hatte – es war nur der betäubende Schlag eines grausamen Schicksals. Sie war dankbar dafür, daß sie recht gehandelt hatte. Vor einem Menschen wie dem da beugte man sich nicht. Das Schicksal hatte gegen sie entschieden; ein solches Schicksal nimmt man aufrecht hin. Ihr schönes, stolzes Gesicht war nun wieder belebt von leidenschaftlichem Gefühl.

»Offenheit gegen Offenheit, General Oronta«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich in Ihrer Gewalt bin, und ich weiß jetzt auch, was das bedeutet. Sie sprechen mit solcher Verachtung von dem Manne, der jetzt als Ihr Stellvertreter ein Geschick erleidet, das eigentlich Sie verdient hätten und das Ihnen auch von mir zugedacht war. Dieser Mann, von dem ich nicht einmal den Namen weiß, ist tausendmal mehr wert als Sie. Mit ihm geht die Zukunft unseres Landes dahin, und nun ist sie Ihnen, Ihren Trabanten und Ihren gierigen Geldgebern ausgeliefert. Es ist keine Strafe für mich, wenn ich das nicht mehr mitansehen muß. Ich bin stolz darauf, zu dem anderen zu gehören und sein Schicksal teilen zu dürfen. Ihre gekränkte Eitelkeit, General Oronta, ist lächerlich. Sie haben Recht: Ich habe Sie vom ersten Tage an getäuscht und bekämpft.« Sie atmete tief, ihre Stimme war klar und klingend. »Es ist mir leicht gefallen, weil ich Sie haßte und verachtete. Jetzt verachte ich Sie nur noch mehr.«

Mit einem zuckenden Griff riß Oronta seine Reitpeitsche vom Tisch, sein Gesicht war verzerrt. Der sausende Schlag traf Juanas Wange und zeichnete eine weiße Spur, die sich rasch zu brennendem Rot wandelte. Ein paar Blutstropfen perlten heraus und rannen langsam nieder. Juana wich nicht zurück; sie schützte sich mit keiner Bewegung; sie war nicht einmal zusammengezuckt. »Viehtreiber«, sagte sie halblaut. Oronta hob den Arm zum zweiten Schlag.

Aber er fühlte sein Handgelenk von einem harten Griff umspannt, dessen stählerne Kraft ihn bezwang und lähmte. Oberstleutnant del Vecchio nahm mit der freien Linken die Reitpeitsche aus den vergeblich sich wehrenden Fingern und trat zurück.

»Wir wollen das lassen, Exzellenz«. Die straffe Stimme klang kalt und verächtlich. »Es ist unwürdig.«

Orontas Augen waren wie mit Blut gefüllt. »Sind Sie verrückt?« keuchte er. »Ich befehle Ihnen – –«

Der Adjutant warf die Reitpeitsche mit einer angewiderten Bewegung in die Zimmerecke.

»Das ist keine dienstliche Angelegenheit, Exzellenz«, sagte er. »In meiner Gegenwart schlägt niemand eine Frau, auch Sie nicht. Ich stehe Ihnen zur Verfügung – später. Heute haben wir an anderes zu denken. Es wäre gefährlich, die Abwicklung der Aktion jetzt durch private Exkursionen zu unterbrechen. Wenn Exzellenz anderer Meinung sind, bitte ich hiermit um Urlaub.«

Oronta starrte seinen Adjutanten an, und seine Wut ging in etwas wie Verblüffung über. Er hatte diesen del Vecchio immer für einen bedenkenlosen Abenteurer gehalten, der seine Skrupellosigkeit unter glatter und kühler Eleganz verbarg. Jetzt sah er sich plötzlich einem Menschen aus einer anderen Welt gegenüber, einer Welt der fremden Ehrbegriffe, der selbstverständlichen und unzugänglichen Abgrenzung, des Herrenbewußtseins. Gegen den brutalen Gaucho hatte sich der spanische Offizier erhoben. Dieser eisigen Verachtung, dieser überlegenen Sicherheit war Oronta nicht gewachsen. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen.

»Ist natürlich richtig«, knurrte er. »Erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Kommt alles an die Reihe. Mit Ihnen rede ich auch noch. Und der Teufel soll Sie holen, wenn Sie nicht auf Ihrem Posten bleiben. Der Urlaub ist abgelehnt. – Schaffen Sie die da hinaus!« schrie er in wieder aufflammender Wut.

Wenn er in diesem Augenblick im Gesicht seines Adjutanten hätte lesen können, hätte er eine Warnung empfangen; aber es war dem General Oronta nicht gegeben, Gesichter zu lesen. del Vecchio wußte, daß er als Abenteurer und Glücksspieler mit der Sache des Generals Oronta unlöslich verbunden war; er wußte auch, daß er immer nur die zweite Rolle spielen, immer nur Hirn und Mittler für die Eroberer und Tatmenschen sein würde; so hatte er sich in die kühle, undurchdringliche Abseitigkeit, hinter die Maske des eleganten Generalstäblers gerettet. Und er war nicht der Mann, der kurz vor dem Ziel aufgegeben hätte. Jetzt aber war in ihm ein Gefühl aufgebrochen, das lange verschüttet gewesen war: Er empfand Ekel, und er schämte sich. In dieser Stunde trennte sich Oberstleutnant del Vecchio innerlich vom General Oronto.

»Ich schlage vor, die Baronesa in das Fort San Bonifacio bringen zu lassen und dem Major Samper Anweisung zu geben, daß er sie bis zum Empfang weiterer Befehle in Gewahrsam hält«, sagte die unbewegte Stimme.

»Meinetwegen.« Oronta winkte gleichgültig mit der Hand. »Und dann kommen Sie bitte gleich zurück. Wir haben zu tun.«

Juana begriff, daß sie zu gehen hatte. Sie wandte sich; del Vecchio öffnete ihr die Tür. Sie versuchte im Vorbeigehen einen Blick von ihm zu erhaschen, aber sie sah nur die reglose Maske des schmalen braunen Gesichtes und das flimmernde Einglas. Also ging sie, sehr gerade, mit abgezirkelten Schritten, in das Dämmerlicht der Ampeln und den Geruch von Räucherwerken und scharf gewürzten Speisen hinein.

 

Candido Hernandez besaß die Fähigkeit, scheinbar verschlafen durch seine Augenpolster zu blinzeln, als warte er mit lethargischer Geduld auf einen lange ausbleibenden Fahrgast, und dennoch alles wahrzunehmen, was er wissen wollte. Dieser Fähigkeit verdankte er seine bisherigen Erfolge, denn sie paßte vortrefflich zu der trägen Biederkeit, mit der er sein unauffälliges Dasein führte.

Als die große Limousine langsam wieder aus dem Tor rollte, sah er mit einem Blick, daß die Baronesa darin saß. Neben ihr aber bemerkte Candido einen ihm bekannten Stabsfeldwebel, und dem Fahrer war eine Ordonnanz beigegeben. Par Diez, das sah nach einem hochamtlichen Gefangenentransport aus. Candidos Witterung für eine politische Affäre verstärkte sich, und sie sagte ihm, daß das Laster der Neugier hier zu einem nutzbaren Vorteil werden konnte. Wozu aber besaß er ein, wenn auch geräuschvolles, so doch zuverlässiges Auto? Er beschloß, Benzin und Schweiß zu investieren und dem Militärwagen zu folgen.

Die Fahrt ging durch die untere Calle de la Paz, und im Gewühl der Menschen und Fahrzeuge, der Pferde, Esel, Mulos und Lamas, in dem auch die Limousine nur langsam vorwärtskam, war die Sache ganz einfach. Man überquerte die Plaza de la Victoria, auf der aus einem geschichtlich unersichtlichen Grunde ein von heroisch erregten Bronzegestalten umgebener Obelisk als »Monumento a la Marina« prunkte, man streifte bei dem nüchternen Gebäudeblock der Almacenas Fiscales den Rand des Hafenviertels und fuhr über den weiten Platz vor der Estacion Central. Schwieriger war es schon, als sich hinter dem Cimeterio General und der Endhaltestelle der Straßenbahn die Landstraße öffnete. Candido mußte den Gashebel ganz heruntertreten und das Steuer mit aller Kraft festhalten; der Wagen vor ihm legte mühelos ein mörderisches Tempo vor, und es war auszurechnen, daß der betagte Ford allen Beschwörungen, Stoßgebeten und Flüchen seines Lenkers zum Trotz dabei schließlich auf der Strecke bleiben mußte. Aber er hielt sich großartig und gab mit knatterndem Auspuff, krachendem Getriebe, ächzenden Federn und heulendem Differential sein Letztes her. Die Werbeleute in Detroit hätten dem alten Wagen beglückt ein Ehrenblatt gewidmet, wenn sie gewußt hätten, daß er mehr als zwei Stunden lang diese Zerreißprobe bestand, ohne in seine gequälten Bestandteile zu zerfallen. Die Sonne brannte, der Staub wölkte, der Wagen hopste und schleuderte, und unter Candidos speckigem Strohhut hervor rann der Schweiß über sein fettiges Gesicht. Aber er hielt durch, denn er war nicht der Mann, der einen Einsatz im Stich ließ.

Als die eigentliche Steigung begann und sogar an Candidos Herz langsam die Verzweiflung herankroch, bog der Wagen vor ihm plötzlich in eine schmalere Landstraße zur Rechten ab. Candido, der stark zurückgefallen war, konnte es gerade noch wahrnehmen; er ließ seinen dampfenden Ford ausrollen und überlegte. Aha: das war die Landstraße, die in langen Kehren zum Fort San Bonifacio hinaufführte. Dorthin konnte man ihm ja nicht folgen, und es war auch nicht nötig: denn wenn der andere wieder herunter wollte, gab es nur diesen einen Weg. Außerdem war die Sache klar. Der Oberstleutnant ließ seine Gefangene in das Fort bringen. Das graue Gemäuer droben auf dem einzeln aufragenden schroffen Berge diente neuerdings militärischen Zwecken, über die Candido näheres nicht hatte erfahren können; aber es war natürlich ein hervorragend sicheres Gefängnis. Es bestätigte sich, daß die Dame dem Oberstleutnant äußerst wichtig sein mußte. Jetzt hieß es warten. An der Ecke war eine Taberna, die Erfrischungen für Menschen, Tiere und Kraftwagen zu bieten hatte. Candido versorgte sein redliches Auto und gönnte sich ein rasches, aber herzhaftes Frühstück.

Dann, als er den anderen wieder herunterkommen sah, setzte er seinen Wagen mit absichtlicher Ungeschicklichkeit mitten auf die Straße, so daß der Soldat am Steuer bremsen mußte. Candido stieg aus und begann eine angeregte Unterhaltung, die von beiden Seiten mit großer Lebhaftigkeit geführt wurde und vom Autofahren im allgemeinen und der laienhaften Fahrkunst von Soldaten im besonderen zu einer beredten Äußerung über Benehmen, Vorbildung und mutmaßliche Abstammung der Streitparteien führte. Ein Volkskundler hätte Stoff für eine ganze Abhandlung dabei gewonnen. Während dieses Wortgefechtes schob Candido sich genügend weit vor, um einen Blick in das Innere der Limousine tun zu können. Die Baronesa war nicht darin; man hatte sie also droben behalten. Das genügte ihm. Er versetzte dem Gegner eine letzte schwere Breitseite und drehte ab.

Die Arbeit war getan; jetzt kam die Verwertung. Er rollte, die Zigarette im Mundwinkel, behaglich zu Tal und fuhr, in Esperanza angekommen, sogleich zu jenem kleinen Handarbeitsladen bei der weißen Iglesia Espiritu Santo, den Señora Mastado aufgesucht hatte. Denn er war ein findiger Spürhund und ein offener Kopf. Die Inhaberin, ein hageres und zunächst einigermaßen bedrohliches Fräulein, schüchterte er durch handfeste Andeutungen und wohlgelaunte Drohungen alsbald ein, schoß sie durch die Mitteilung vom jähen Ende der alten Señora vollends zusammen und hatte nach kurzer Zeit heraus, wo der geheime Fernsprechapparat stand. Das Schrankschloß war für einen zielbewußten Mann kein Problem. Als er den Hörer abnahm und die Kanzlei des Innenministeriums sich meldete, bekam er einen kleinen Schock, aber er faßte sich und stellte sich dem Sekretär – der Minister war nicht anwesend – als treuer und eifriger Regierungsfreund und Vertrauter der Señora vor. Hierauf berichtete er genau, was er als Augenzeuge vom Schicksal der beiden Damen wußte, – furchtbar, Señor, einfach grauenhaft –, erklärte sich zur Annahme einer Belohnung verschämt bereit, nannte Namen, Anschrift und Bankkonto, hängte ab und überließ das magere Fräulein ungerührt den Nachwirkungen seines Besuches.

Hierauf begab er sich, getreu seinem Grundsatz völliger Unparteilichkeit, ins ›Grand Hotel Esperanza‹ und suchte einen Offizier auf, der bei Zeitungen und Zigaretten ein unauffälliges Dasein führte und jederzeit Käufer für Informationen war, sofern sie sich zum Nutzen Orontas verwerten ließen. Hier meldete er, daß er durch einen glücklichen Zufall in jenem Handarbeitsladen die geheime telefonische Verbindung der Regierungsspione entdeckt habe. Diesmal konnte er seine Belohnung gleich mitnehmen.

Als er seinen vorwurfsvoll ächzenden Wagen heimwärts steuerte, glänzte er von Schweiß und Frohlaune. Er war tüchtig, er konnte sich einen neuen alten Wagen kaufen und sich selbst, seiner Dolores und den neun Kindern ein paar besonders nahrhafte Tage gönnen. Wir verabschieden uns von Candido Hernandez ohne Sorge um sein Ergehen, denn Männer wie er werden immer ein kalorienreiches Fortkommen finden.

 

Manuel sank aus der schwebenden Süße eines Traumes, der Erlebtes und Verlorenes zu wehmütigem und zauberischem Leben beschwor, in eine fremde Wirklichkeit zurück. Er erwachte auf einem Feldbett. Er war der gefangene vermeintliche General Oronta, mit dessen Schicksal der beleibte Innenminister und der magere Kriegsminister ein höfliches und feindseliges Tauziehen spielten, während drunten in der glühenden Ebene der wirkliche General Oronta zum Schlage ausholte. Er war der Spielball unberechenbarer Kräfte. Und er war aus dem Grübeln unversehens in den Schlaf hinübergeglitten. Die blühenden Ranken, die durch das Gitterfenster hereinhingen, waren wohl der letzte Gruß aus einer Welt, die erobern zu können er sich angemaßt hatte. Manuel schloß die Augen. Er brauchte ein wenig Zeit, um sich zu fassen. Es war ein bitteres Erwachen.

Auf dem Flur draußen kamen Schritte heran, die Tür wurde geöffnet. In das grüngoldene Dämmerlicht des Raumes trat ein Herr im gelblichweißen Rohseidenanzug. Manuel erhob sich, fuhr sich glättend über das Haar, schloß den Rockkragen. Der Besucher war der Innenminister.

Dr. Rocha sah sich prüfend in der Zelle um, nahm den dargebotenen Stuhl dankend an und setzte sich unter sorgfältiger Schonung seiner Bügelfalte. Er zog seine Zigarrentasche hervor, besann sich, hielt sie mit einem höflichen »Verzeihung!« auch Manuel hin und reichte ihm Feuer.

»General Oronta«, sagte Dr. Rocha und sah mit zusammengekniffenen Augen in den von seiner Zigarre aufsteigenden Rauch, »wir wollen mit offenen Karten spielen. Ich bin Ihr Gegner, natürlich – jedenfalls in meiner Eigenschaft als Mitglied des Kabinetts Oliveira und als persönlicher Freund des Präsidenten. Die Ereignisse, die zur heutigen Situation führten, habe ich seit langem kommen sehen. Sie zu verhindern, stand nicht in meiner Macht. Sie können das auffassen, wie Sie wollen. Daß Sie jetzt hier als – äh – Häftling sitzen, verdanken Sie in gewisser Weise mir; es ist die Folge einer an mich gelangten Mitteilung, und die Wahl der Mittel mußte ich billigen, weil sie geeignet schienen, Unruhen zu verhindern.«

Manuel dachte: Das also ist der Mann, der mir beim Aufbau eines neuen Staates hätte helfen sollen. Und er wäre der rechte Mann gewesen. Es geht ein geheimnisvoller Strom von ihm zu mir – und von mir zu ihm, sonst säße er nicht hier. Schade; jammerschade. Ein kluges Gesicht, Augen, die bei aller Ironie und überlegenen List von Ehrlichkeit zeugen; und in aller beleibten Trägheit eine verborgene, vielleicht noch ungeweckte Kraft.

»Das klingt ja beinahe wie eine Entschuldigung, Herr Minister«, sagte Manuel lächelnd.

»Das ist es aber nicht, natürlich.« Dr. Rocha gab das Lächeln zurück. »Es ist nur die Einleitung zu einer Erklärung. Ich bin nämlich aus einem besonderen Grunde hier. Aber davon später. Zunächst scheint es mir ein Gebot der Ehrlichkeit, Ihnen über Ihre Lage Aufschluß zu geben. Der Präsident besteht nach wie vor darauf, daß Sie und Major de Souza nach San Isidro gebracht werden. General Esmeraldas wehrt sich dagegen und beansprucht für den Fall die rein militärgerichtliche Zuständigkeit. Ich habe in diesem telefonischen Hin und Her die Sache bisher in der Schwebe halten können. Wie lange mir das noch gelingt, weiß ich nicht. Jedenfalls halte ich es für ein Gebot der Anständigkeit, Ihnen zu sagen, daß Sie in Gefahr sind. Es ist durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Esmeraldas rücksichtslos eine vollendete Tatsache schafft. In diesem Falle habe ich keine Rechts- und Machtmittel zur Verfügung.«

»Ich danke Ihnen, Herr Minister«, sagte Manuel ein wenig ungelenk. »Sie geben sich meinetwegen große Mühe, aber ich mache mir über meine Lage nichts vor. General Esmeraldas haßt mich, und diese Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Aber er hat eben die Macht. Es tut mir leid, daß Sie durch mich solche Ungelegenheiten haben.«

Dr. Rocha schüttelte den Kopf. »Das hat zunächst nur mit meinem Amt zu tun und geschieht nicht aus persönlichen Gründen. Deshalb verlangt es auch keinen Dank, natürlich. Wenngleich – –« Er hielt inne und hüllte sich in eine Wolke von Zigarrenrauch.

»Herr Minister«, sagte Manuel nach einem Schweigen, »ich habe den Mut, Ihnen eine Frage zu stellen. Sie hat für mich eine ungeheure persönliche Bedeutung – größer, als Sie ahnen können. Von der Antwort hängt für mich – alles ab; einfach alles. Die Welt. Der Sinn der Welt. Und deshalb werden sie mich vielleicht verstehen.«

»Natürlich.« Dr. Rocha sah zum Fenster. »Sie wollen mich fragen, wer mir die Informationen gegeben hat, die zu Ihrer Festnahme und zur Zerstörung Ihrer Pläne führten.«

»Ja«. Manuels Stimme klang gepreßt.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, natürlich.« Dr. Rocha lächelte diplomatisch. »Aber wenn Sie eine bestimmte Persönlichkeit im Auge haben, so will ich Ihnen erlauben, den Namen zu nennen. Ich werde Ihnen dann mit Ja oder Nein antworten.«

»War es« – Manuel mußte sich räuspern, seine Stimme schwankte – »war es die Baronesa de Carvalho?«

»Nein.« Ein sehr entschiedenes Kopfschütteln. »Die Baronesa war es nicht. Ich habe den Eindruck – und in gewissem Sinne auch den Beweis –, daß ihre politische Einstellung sich im Laufe der letzten Tage allmählich, aber entscheidend geändert hat.«

»Sie war es nicht.« Ein tiefer Atemzug dehnte Manuels Brust, und mit dem Atem strömte eine mächtige Welle neuen Lebens ein. Es war wieder die Sonne, die da zum Fenster hereinleuchtete, es war wieder der alte ewige Himmel, der sich mit seidigem Blau über der Welt wölbte und ihr gnädig war – trotz allem Schicksal der Menschen. »Dann war es Señora Mastado«, sagte er plötzlich.

Dr. Rocha zuckte die Achseln. »Nehmen Sie das immerhin an. Es hat keine praktische Bedeutung mehr, denn Señora Mastado hat Selbstmord begangen.« Er sah Manuel scharf prüfend an. »Ich habe den Eindruck, daß Ihnen die Baronesa sehr viel bedeutet?«

»Mehr als die Welt und das Leben«, sagte Manuel einfach. Plötzlich fuhr er herum: »Was ist mit ihr? Was wissen Sie über sie?«

»Ihr Adjutant, der offenbar rührig und entschlossen weiterarbeitet, hat, wie man mir meldet, die Baronesa verhaften und auf das Fort San Bonifacio bringen lassen. Woraus zugleich zu ersehen ist, daß der Kommandant dieses Forts auf der Seite der Revolution steht.«

»Sie muß gerettet werden!« Manuel schrie es so laut heraus, daß der Minister mit einem Blick zur Tür warnend die Hand hob. »Sie müssen ein Mittel finden, sie zu retten! Mein Gott, wenn Sie wüßten, in welcher Gefahr sie ist!«

»Sonderbar«, sagte Dr. Rocha. »Sie wenden sich gegen Ihren Adjutanten und setzen sich für die Baronesa ein, die ursprünglich – – Ich verstehe das alles noch nicht ganz, natürlich. Aber darüber sprechen wir noch. Sie wollen sie also retten? Gut. Das will ich auch. Schreiben Sie einen Befehl aus, daß die Baronesa dem Überbringer dieser Order zu übergeben und wieder nach Esperanza zu bringen ist, unterzeichnen Sie und setzen Sie Ihr Siegel darauf. Ich habe alles Nötige mitgebracht.«

»Und was wollen Sie damit?« fragte Manuel fassungslos.

»Den netten Einfall kopieren, durch den Sie in unsere Macht gekommen sind«, lächelte Dr. Rocha. »Nur diesmal zu einem anderen Zweck, den Sie billigen werden. Ich schicke einen unserer Wagen mit orontistischen Abzeichen zum Fort und lasse sie abholen – aber natürlich hierher, ins Hauptquartier. Ein abenteuerlicher und zweifellos gefährlicher Plan; aber warum soll er nicht zum zweitenmal gelingen?«

»Es muß gewagt werden«, sagte Manuel entschlossen. Er fertigte, in Orontas Schrift, den Befehl aus, unterschrieb und siegelte ihn mit seinem Ring. Dann, als er ihn dem Minister übergeben wollte, zog er plötzlich die Hand zurück.

»Sie dürfen mir mein Mißtrauen nicht verargen, Herr Minister – aber da Sie so vieles wissen, wird Ihnen auch bekannt sein, daß die Baronesa sich in den letzten Tagen von der Sache der Regierung abgewandt hat und auf meine Seite getreten ist. Was geschieht mit ihr, wenn der Plan gelingt und sie sich in der Hand der Regierung befindet?«

»In meiner Hand, wollen Sie sagen, natürlich.« Dr. Rochas Gesicht war ernst. »Sie haben ein Recht, so zu fragen. Über die menschlichen Beweggründe der Baronesa steht mir kein Urteil zu. Über die politischen reden wir noch. Mir geht es nur darum, sie vor Unheil zu bewahren, da sie mir persönlich ans Herz gewachsen ist. In das Verfahren gegen Sie wird sie nicht hineingezogen werden. Wenn sie ins Hauptquartier kommt, ist sie frei.«

»Haben Sie Dank. Ich vertraue Ihnen.«

Dr. Rocha nahm das Papier. »Ich komme wieder«, sagte er.

»Ich könnte hier nicht so ungestört bei Ihnen sitzen,« sagte Dr. Rocha und steckte seine Zigarrentasche wieder ein, »wenn nicht im Hauptquartier ein solches Durcheinander herrschte, daß ich die Sache ohnehin nicht mehr in der Hand habe. Immerhin – wir wollen es kurz machen. Das Studium der bei Ihnen gefundenen militärischen Pläne hat im Generalstab helle Aufregung hervorgerufen, natürlich. General Esmeraldas hat telefonisch aus allen Garnisonen entschiedene und angeblich aufrichtige Loyalitätserklärungen erhalten, aber er glaubt keinem mehr. Zumal er Ihre Gefangennahme noch immer nicht bekanntgeben durfte. Zu einem gewaltsamen Vorgehen fehlen ihm die Mittel. Er verlangt deshalb, daß an Ihnen und Major de Souza sofort ein Exempel statuiert und unter dem Belagerungszustand gegen alle Schuldigen vorgegangen wird. Der Staatspräsident und die übrigen Minister verkennen den Ernst der Lage nicht, bestehen aber entschieden auf ihrem früheren Standpunkt. Die Entscheidung wird sehr bald fallen. Sie müssen auf alles gefaßt sein, General Oronta.«

»Ich bin auf alles gefaßt«, sagte Manuel. »Auch darauf, daß General Esmeraldas vor Überraschungen steht, die ich vielleicht nicht mehr erleben werde.«

»Sie meinen del Vecchio?« fragte Dr. Rocha. »Er ist telefonisch nicht erreichbar, ebensowenig wie Dorrego. Das ist Absicht. Natürlich.«

»Ich meine unter anderem auch del Vecchio«, antwortete Manuel. »Aber das sind Vermutungen, und darum hat es keinen Zweck darüber zu reden.«

Dr. Rocha sah ihn einen Augenblick prüfend an, dann zuckte er die Achseln. »Eigentlich«, sagte er, »müßte Esmeraldas jetzt seinen Rücktritt anbieten. Aber vielleicht urteile ich da laienhaft; ich bin Zivilist. Es ist eine tolle Situation. Ach Gott, ja, wir sind eben in Nebrador, natürlich.« Er sah eine Weile vor sich nieder und suchte sichtlich nach einem Übergang. Aber er war ein alter Anwalt und fand ihn: »Sie haben sich wohl garnicht darüber gewundert, daß ich mich mit Ihnen hier so friedlich unterhalte?«

»Nein«, antwortete Manuel. »Sie haben unter meinen Papieren Aufzeichnungen gefunden, aus denen hervorgeht, daß meine geheimen politischen Pläne für die Regierung nach dem Umsturz genau das Gegenteil von allem sind, was bisher beschlossen war, bekannt wurde und vermutet werden konnte. Nun wollen Sie von mir wissen, wie das zugeht.«

Dr. Rocha nickte und nahm einige Blätter aus seiner Brusttasche. »Richtig. Ich habe diese Papiere einstweilen ausgesondert und an mich genommen. Ihr Inhalt hat mich sehr überrascht – genau gesagt: Ich war fassungslos vor Staunen. Da finde ich zum Beispiel den Entwurf für einen Aufruf, den Sie wohl nach Ihrem Siege an das Volk Nebradors richten wollten. Sie verlangen darin die Mitarbeit aller Ehrlichen und Nationalgesinnten an einem Reformprogramm politischer, wirtschaftlicher und kultureller Art – einem Reformprogramm, das ebenso gewaltige Forderungen wie Verheißungen enthält. Es ist nichts Geringeres als eine völlige Umwertung und Umwälzung – in Nebrador. Darüber sind Sie sich klar, natürlich?«

»Vollkommen«, antwortete Manuel. »Ich weiß auch, daß es den letzten Einsatz, den höchsten Mut und einen unbezwinglichen Glauben fordert. Aber sind das nicht eigentlich selbstverständliche Forderungen – ebenso wie das Programm selbst? Man kann sich nichts Größeres wünschen als die Kraft, es durchzuführen.«

Dr. Rocha senkte das Blatt. »So etwas gibt es also noch«, sagte er. »Ich staune.«

»Doch wohl nur deshalb, weil Sie das gerade nicht von mir erwarteten. Denn das Programm stammt in seinen Grundzügen keineswegs von mir.«

»Das weiß ich, natürlich«, antwortete Dr. Rocha. »Von Ihnen stammt vor allem der weiterführende Gedanke, daß Sie dem Lande außenpolitische Geltung verschaffen und ihm eine nationale Wirtschaft aufbauen wollen, in der das freie Spiel der eigenen Kräfte herrscht und das fremde Kapital nur die Rolle des Helfers ohne autonome Rechte spielt. Sie sagen also allem den Kampf an, was jetzt in Nebrador herrscht und bestimmt. Aus Ihren weiteren Notizen ersehe ich, daß Ihre Pläne eine erweiterte und dem Heute angepaßte Fortsetzung der Arbeit sein sollten, die Dominguez begonnen hat – bisher der einzige, der so etwas nicht nur erträumte und versprach, sondern es auch verwirklicht hätte.« Er erhob sich mit einer bei ihm überraschenden Lebhaftigkeit und trat rasch auf Manuel zu. »Das alles trägt die Merkmale der Wahrheit; so etwas erfindet man nicht zu irgendeiner Täuschung. Ich soll – nein: ich darf Ihnen also glauben, daß dies Ihre wirklichen Absichten waren, General Oronta?«

»Ja«, sagte Manuel. »Das sollen und dürfen Sie mir glauben. Wozu sollte ich Sie belügen? Von diesen Plänen wußte außer mir nur ein einziger Mensch: Die Baronesa de Carvalho. Ich habe« – er lächelte etwas müde – »in den letzten Tagen Bücher gelesen, Gespräche geführt, Erkenntnisse verarbeitet und Aufschlüsse bekommen, die den Keim dieser Pläne zum Wachsen trieben und den Entschluß reifen ließen.«

»Und bei alledem ließen Sie – ließen Sie uns alle in dem Glauben – –«

»– daß meine Ziele meinen Mitteln entsprächen? Ja. Wissen Sie einen anderen Weg, um in Nebrador überraschend und gründlich zur Macht zu gelangen? Es gibt nur einen einzigen: Die Kräfte des Umsturzes nutzen und dann das Steuer herumwerfen.«

Dr. Rocha ging auf und ab, in tiefen Gedanken. »Erstaunlich«, sagte er. »Märchenhaft und ungeheuer gefährlich. Aber grandios. Und das alles wollten Sie durchsetzen gegen den Widerstand Ihrer eigenen Anhänger, die Intrigen des ausländischen Kapitals, die Faulheit und Gleichgültigkeit im Lande, den ganzen zähen Wust von Hindernissen?«

»Kennen Sie Major de Souza?« fragte Manuel dagegen. »Das ist ein ehrlicher, starker Kerl, der ein Herz und eine Faust hat. Es gibt viele solche in Nebrador, das nur ein Land ist und eine Nation werden sollte. Diese Vielen stehen abseits; sie sind die geistigen und seelischen Bodenschätze Nebradors, sein unerschlossener Reichtum. Man muß sie sammeln, sie arbeiten lassen, ihnen Vollmachten geben. Wer kennt sie besser als Sie, Herr Doktor Rocha? Die Revolution wäre nur ein Vorspiel gewesen. Die härteste Arbeit hätte erst dann begonnen.«

Der Innenminister ging rastlos auf und ab, mit gefurchter Stirn, stumm.

»Bei alledem«, sagte Manuel nach einer Weile leise, »hatte ich ganz besonders mit Ihnen und Ihrer Mitarbeit gerechnet.«

Dr. Rocha schüttelte den Kopf. »Sie überschätzen mich. Solche erschreckenden Kühnheiten dürfen Sie mir nicht zutrauen. Ich habe soviel eigenen Mut nicht – so sehr mein Gefühl und mein Verstand Ihnen rechtgeben. Ich sah das böse Ende kommen und habe mich nicht dagegen gewehrt. Ich habe nicht das Zeug zum Reformator der Faust.«

»Diese Rolle,« sagte Manuel, »hätten Sie ruhig mir überlassen können, glaube ich. Ehrlicher und kluger Rat hätte mir genügt. Die Baronesa Juana hat in mir den Glauben erweckt, daß ich das bei Ihnen finden würde. Jawohl, Sie hören recht: Die Baronesa Juana.« Er setzte sich, hob die Schultern. »Sehen Sie, ich hätte das alles versucht – wenn Señora Mastado nicht nach San Isidro telefoniert hätte.«

Dr. Rocha stand am Tisch, mit gesenktem Kopf. In seinem Gesicht arbeitete es. »Ich glaube Ihnen«, sagte er langsam. »Gerade weil das alles so neu, so namenlos unwahrscheinlich ist, glaube ich Ihnen. Aber werden Ihnen jetzt noch die anderen glauben? Esmeraldas bestimmt nicht; schon weil er gar nicht will, natürlich. Wenn er merken würde, daß Sie irgendeine noch so entfernte Hoffnung auf Rettung hätten, würde er Sie sofort beseitigen.« Er schüttelte den Kopf. »Da stehe ich nun und erfahre, daß die einzige wirkliche Handlung, die mir in meiner Amtstätigkeit bisher vergönnt gewesen ist, vielleicht eine tragische Dummheit war.«

»Sie sprechen von erschreckender Kühnheit«, sagte Manuel. »Bitte glauben Sie mir, daß es nicht nur Kühnheit gewesen ist. Ich stand so im Wirbel der Ereignisse, daß ich zu Entschlüssen gezwungen war. Warum – das werden Sie vielleicht später einmal erfahren. Es war verlockend, den bequemen Weg zu gehen. Ich hatte mich für den schweren – den anständigen entschieden. Vielleicht wäre ich gescheitert. Das wird nun eine Frage ohne Antwort bleiben.«

Dr. Rocha trat vom Tisch zurück. »Schade«, sagte er. »Sehr, sehr schade. Ich kann jetzt nur noch eines tun: Alles versuchen, um Sie doch noch nach San Isidro zu bringen. Bis zur Entscheidung darüber bleibe ich hier. Hören Sie mir zu, General Oronta: Wenn ich Erfolg habe – ich sage: wenn –, und wenn dann gegen Sie ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof eröffnet wird, erkläre ich meinen Rücktritt vom Amt und übernehme Ihre Verteidigung.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Manuel einfach. »Und nun muß ich Ihnen noch eines sagen: Was ich niedergeschrieben und was ich Ihnen jetzt geantwortet habe, ist die Wahrheit. Dennoch habe ich Ihnen noch etwas verschwiegen: das Letzte und Eigentliche. Es wird vielleicht nicht mehr lange verborgen bleiben. Aber ich muß es verschweigen, weil ich vielleicht noch eine ganz schwache, ganz entfernte Aussicht auf eine Wendung habe. Nein, keine Aussicht: Eine fast verrückte Hoffnung – aber eben doch – – Ich drücke mich falsch aus. Es ist ein Strohhalm in einer Sturmflut. Nicht mehr. Wenn ich reden wollte, würde kein Mensch mir glauben, auch Sie nicht. Und ich darf es Ihnen verschweigen, weil sich gar nichts ändern würde, wenn ich redete. Werden Sie mir diese Unaufrichtigkeit verzeihen?«

Das kluge, feiste Gesicht des Innenministers leuchtete einen Augenblick von einem fast heiteren Lächeln.

»Natürlich«, sagte er. »Darüber haben Sie selbst zu befinden. Noch bin ich ja Innenminister – und nicht Ihr Anwalt, natürlich.«

Er gab Manuel die Hand, wollte noch etwas hinzufügen, ließ es mit einem resignierten Achselzucken ungesagt und ging hinaus.

Die Sonne stand schräg und dunkelte zu rotem Gold. Der Duft der blühenden Ranken zog süß und schwer in die Zelle. Draußen auf dem Flur schwatzten und lachten die Posten. Manuel stützte die Arme auf den Tisch, legte das Gesicht in die Hände und saß unbeweglich.


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