Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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Schluß

Andreas Lobbers hatte angeordnet: »Zündet die Lichter an!« – und so geschah es denn auch: auf Opgen Oort waren die Zimmer erleuchtet, brannten die Kerzen. Wie eine schöne und große Freude, die einen milden Schein um das ganze Anwesen spreitete, lag das weiße Haus unter der abendlichen Winterpracht.

Jetzt – wie ganz anders denn früher! Noch vor wenigen Stunden muteten die Räume kahl und verödet an, brütete eine dumpfe Verstörung in allen Ecken herum, ging ein unwirscher Geist durch die langen Korridore, trat in die Stuben hinein und hauchte seinen kalten Odem gegen die Wände. Knechte und Mägde saßen in Wirrnis und schüttelten die Köpfe. Die richtige Stimmung wollte nicht kommen. Trotz der Feiertagskleider, die sie angelegt hatten, saß ihnen die graue Sorge im Nacken. Die Geschenke waren reichlicher als in den sonstigen Jahren gewesen, die Nymwegener Moppen und die Spekulatiusmänner dufteten wie sonst, aber auf allen lastete es wie eine schwere, aufdringliche Nebelmasse, die sich nicht zerteilen und aufhellen wollte. Vergrämelt, den ausgeglühten Tonstummel im linken Mundwinkel, latschte Jansenius über den Hof, ging in die Ställe, sah nach den Raufen, trat wieder in den Schnee, um unverständliche Worte zwischen den Zähnen zu murmeln. Unruhig, verbaselt, mit sich, dem lieben Herrgott und aller Welt zerfallen, nahm er abermals seinen Rundgang auf, schritt von einem Ende des Hofes zum andern, stierte zum Sternenfeuer auf, das kalt und scharf wie Polarlicht über Opgen Oort stand, und pfiff den ersten besten Stalljungen an, der ihm just in den Weg trat.

»So 'n Sinter Klaas-Abend! Dunnerkiel und Himmel und Herrgott . . .!« er hätte den Bengel an die Wand kleben mögen, so fuchsteufelswild saß ihm der Unmut unter der Mütze, so vollgerüttelt war ihm der Sack seines inneren Wehs und seiner Enttäuschungen noch niemals erschienen. Das war ja, um aus dem Tempel des Herrn zu fahren und Vorsänger in der Synagoge zu werden! Sein christkatholischer Glaube, seine Jugenderinnerungen, seine Kinderjahre, seine feinsten Gedanken an die seligste Zeit seines Lebens – alles das war ihm wie aus den Angeln gedreht, und wie schön, wie lieblich und wie mit Kandiszucker überstreut hatten ihn diese Stunden immer angelächelt! und nun so ein miserabler und verschandelter Abend!

Er hätte sein Elend in die Welt hinausheulen mögen.

Verächtlich stieß er gegen ein mächtiges Bündel Fichtenreisig, das er selber aus dem nahen Entenbusch hatte zutragen lassen, um dem Hause einen festlichen Anstrich zu geben.

Kreuzgewitter noch mal! mochte es liegen bleiben, wo es lag, und vor die Hunde gehen; ihm, Jansenius, konnte alles schnuppe sein; denn wenn der nicht mehr wurde, wenn Hans Harkort . . . wenn der immer in der Unruhe und mitten in seinem schweren Jammer sitzen blieb wie ein schönes, weißes Schiff im diesigen Wetter, dann war auch für ihn, den Oberknecht und Vertrauensmann, jede Genüglichkeit zum Teufel gegangen. Hier halfen keine stillen, großen und versöhnlichen Worte mehr, hier konnte Gott nur noch helfen.

Aber jetzt . . . seit dem Augenblick, wo die Blinde die heilige Fahrt auf sich genommen und Andreas Lobbers geboten hatte: »Zündet die Lichter an!« wo ein wohliger Glanz sich um Opgen Oort legte und es den Anschein hatte, als wäre ein Cherub neben die Einfahrt getreten, hätte sich hier aufgepflanzt in seiner Glorie, um mit dem sanften Schein seines Angesichtes, dem makellosen Weiß seines Kleides und der Glut seiner Schwingen die Nacht zu erhellen – seit dieser Stunde fiel es mit freundlichem Singen in die Herzen der Menschen.

Knechte und Mägde schienen wie ausgewechselt. Sie redeten in fröhlichen Zungen, gleich den Aposteln um Pfingsten. Dielen und Flure schmückten sich mit dunkelm Fichtengrün. In Jansenius war ein neuer Adam gefahren. Sein Tonstummel pulverte wieder und zog einen leichten Kometenschweif von glühen Fünkchen hinter sich her. Jetzt war er in der Gesindestube, jetzt geisterte er bei der Haustreppe auf, jetzt bei der Einfahrt, deren Tore sperrangelweit offen standen.

Hier hielt er den Fuß an und horchte mit steifen Ohren, ob kein Geräusch sich erhöbe.

Aber kein Laut ließ sich hören.

Welche feierliche Stille unter dem Himmelreich! Man vernahm nur das Flüstern der Schneekristalle, die in den Zweigen hingen. Sonst nichts. Die Allmacht Gottes offenbarte sich in stummen Zeichen und Wundern. Drüben lagen die Wassermühlen, eingeschneit und mit geblendeten Augen. Jetzt war ein Rauschen in der Nacht, ein kaum wahrnehmbares Gleiten und Klingeln. Man wußte nicht, wo. Bald klang es ferner, bald näher. Es mutete an, als käme es aus dem Lande der Träume.

Plötzlich klopfte der Alte die Pfeife aus und steckte sie zu sich. Mit großen Schritten ging er über den Hof bis zum Eingang des Herrenhauses. Hier rief er die Leute zusammen.

»Jetzt kommt Sinter Klaas auf Op gen Oort,« sagte er glücklich, nahm die Mütze herunter und deutete ins Ungewisse hinein.

Alle umstanden ihn in froher Erwartung, denn sie wußten, was er sagen wollte. –

In der Herrenstube brannte die Lampe mit dem grünen Schirm, dieselbe Lampe, die Johanna in jener Stunde hereingebracht hatte, als Mutter und Sohn sich in schwerer Überlegung und harter Qual gegenüberstanden und die Blinde seine Hand nahm und sagte: »Man braucht nicht in der Soutane zu sein, um dem Herrn zu dienen. Und wenn dein Vater es sähe, wenn es ihm vergönnt wäre, durch die Felder zu schreiten, durch Scheunen und Ställe, wenn er die gebändigten Stauwasser sähe und den Segen wahrnähme, der wieder auf Op gen Oort ruht – er zöge seinen letzten Willen zurück, seinen Fluch, die Verfügung von wegen des Pflichtteils; er würde deine Hand nehmen und sagen: Hans, wir wollen Freunde sein; es ist alles vergessen! Und weil ich das weiß, weil ich die heilige Überzeugung besitze, daß es so ist, so und nicht anders, habe ich auch in seinem Namen und in Kraft seiner Vollmacht gehandelt. Hans, nicht ich mehr, nicht die tote Hand, sondern du bist von nun an Herr auf Op gen Oort, du ganz allein, und das bist du heute geworden . . .« und vier Kerzen in Porzellanleuchtern standen auf der Anrichte und der Glasservante und verstreuten ihren milden Glanz durch die Stube, die sich vorbereitet, das ersehnte Glück zu empfangen.

Hans Harkort hatte sich von der Seite seines Freundes erhoben und war in die Fensternische getreten, die auf den Hof sah und ihn bis zur großen Einfahrt verfolgen konnte. Er war um vieles gealtert. Die verflossenen Wochen, die ihn auf das Krankenlager geworfen, hatten sein Antlitz ermattet und ihm steile Runen über die Stirne gezogen. Sein Schritt ging unsicher, seine Brust krampfte sich ein; nur mit Mühe vermochte er es, sich aufrecht zu halten.

»Hans, sei ruhig, nimm dich zusammen!« sagte Andreas. »Du verdirbst dir die Stunde und schadest dir selber. Du warst nahe daran, über Bord zu gehen. Man kann nichts Unmögliches wollen, nicht mit dem Schädel die Wände zerbrechen. Steht ein Wetter auf, so läßt man es toben. Jetzt, wo es vorüber ist, lege die Faust an den Riemen. Den Nacken stramm und den Kopf geradeaus! Das Leben wartet auf dich, und dieses Leben will ohne Unrast und sorglich geführt sein.«

Er schob seinen Arm in den seines Freundes.

»Das, was dir an der Roten Schleuse passiert ist, wird dir nicht noch einmal passieren. Aber du sollst dich beherrschen und Ruhe behalten!«

Hans Harkort kehrte sich zu ihm.

»Ich danke dir, Andreas,« sagte er leise und sah ihm tief in die Seele. »Ich danke dir vielmals für alles, was du an ihr und mir getan hast. Deine Hände sind wie die der Unsichtbaren, deine Worte sind wie die des Herrn. Aber eine Frage, Andreas. Welchen Beweggründen entspringt deine Liebe, deine Werktätigkeit? Sie sind wie die Starken im Land und können Tote erwecken.«

»Welchen Beweggründen? Warum dieses Grübeln? Wie kommst du darauf? Siehe mein Kleid an! Wer es trägt, dem sind Pflichten gegeben, Pflichten gegen sich und die Menschheit, dem sind die Wege vorgezeichnet, die er zu wandeln hat, mag kommen, was wolle. Wer es mit Unehre trägt, der versündigt sich doppelt und ist verflucht vor dem Herrn. Mir sind meine Ziele gesteckt. Was ich tue und tat, das ist meines Berufes gewesen. Ich hebe die Strauchelnden auf und stütze sie und suche sie dorthin zu führen, wo das Heil ihrer wartet. Du und sie – ihr beiden wäret der Stütze bedürftig. Du und sie – ihr beiden wolltet in den Taumel hineingehen, wolltet vom leukadischen Felsen herunter . . . und du und ich . . . zwei Herzen, für immer verschweißt und für ewig verbunden . . .! – Hans, ich wußte: nur an diesem Weibe wirst du gesunden . . . und da kannst du noch fragen?«

»Und sie kommt, Andreas?«

»Sie kommt.«

»Und das noch heute?«

»Sie kommt.«

»Und wenn sie nicht käme?«

»Sie tut es.«

»Andreas, Andreas!« und zwei einsame Menschen hielten sich innig umschlungen.

Draußen entstand eine große Bewegung . . . das Geknirsch eines Schlittens und das Klingeln von Schellen . . .

Hans wollte hinaus.

»Du bleibst!« sagte Andreas. Mit festem Griff hielt er ihn bei sich. »Sie wird dich schon finden. Nimm doch Vernunft an! Sonst – du leidest unsäglich. Was du ihr zu sagen hast, das kannst du ihr immer noch sagen; das kannst du ihr sagen, wenn sie dein Weib ist. Nicht früher. Jetzt nimm diese Stunde für dich. Sie ist deine Stunde. Sie ist die Stunde der Freude. Das Weh soll schlafen. Die Vergangenheit ist tot. Die Gegenwart schlägt die Augen auf, die großen blauen Augen, die Augen voller Verheißung und Hoffnung.«

Und die Türe bewegte sich, und siehe: es war, als sollte der Himmel sich auftun, als würden die Pforten des Paradieses geöffnet: eine greise Mutter, eine blinde Frau führte ein Liebe suchendes, ein Liebe bringendes Weib an der Hand und brachte es ihrem Sohn entgegen.

»Hans . . .

»Franziska, Franziska . . .

Zwei Stimmen, die zu einer einzigen wurden! Zwei Menschen, die der Sturm des Lebens zu verschlagen gedachte, zwei Menschen in Not, von einem Unstern hin- und hergeworfen, vom Kummer gegeißelt, mit Dornen gekrönt, niedergebrochen am Berge des Ärgernisses, auferstanden am Tag der Erlösung, um jetzt vereinigt zu werden auf einem freundlichen Eiland! Endlich gefunden! – und leise sprach er in ihre Tränen hinein, in ihr Stammeln und Schluchzen: »Ja, du vom Schicksal Verfolgte, du Wegmüde, du, die du gingest, um dein Elend zu bergen, du Leidensreiche und mit Dornen Gekrönte – hier sollst du ausruhen. Und wenn es dann Frühling wird, Frühling auf Op gen Oort – du bist nicht mehr das Weib der Schmerzen, die Niedergebrochene am Berge des Ärgernisses, die mit Dornen Gekrönte. Strahlend sollst du einhergehen, mit freier Stirn und mit sonnigen Blicken. Und ich hebe dich auf – und Felder und Wiesen grünen dir zu – und die stillen Wasser lächeln dich an – und vom Himmel ruft es und singt es: Frühling auf Op gen Oort, Hochzeitsfeier auf Op gen Oort . . .! Franziska, Franziska . . .

* * *

Um dieselbe Zeit klingten im ›Dicken Tommes‹ die Gläser zusammen.

Bei der dritten Bouteille erhob sich Cornelis.

»Meine Herren von der Solopartie, Herr Lamers und mein lieber Herr Kosman! Mir ist schon manches zersprungen auf Erden, aber das hier zerspringt nicht. Das hier ist gefeit, und wenn es seine Pflicht und Schuldigkeit getan hat, kommt's in meine Gute Stube hinein, auf daß es ein Angedenken sei an die heutige Stunde. Meine Herren, es gilt! Mit diesem Glas hier – ein dreifaches Hoch auf Hans und Franziska, ein dreifaches Hoch auf den Tag, an dem sie sich fanden: Sinter Klaas am Niederrhein, sie leben!« und die Kelche riefen wie liebliche Glocken, und sie klangen hinein in die Nacht voller Wunder. Die auf Op gen Oort mußten es hören, denn die Liebe trug das sanfte Geläut bis an die Schwelle, wo die Glücklichen wohnten.

 

Ende

 


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