Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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15

Die ergötzliche und lobenswerte Familienangelegenheit, die sich in dem Häuschen ›Achter de Mur‹ abgespielt hatte, machte begreifliches Aufsehen. Die Verlobung Schnurr Schnapps von der Waterkant mit Lena, der Tochter Jan van den Birgels, war zum lustigen Sauerteig in einem langweiligen, zähfadigen und dem behaglichen Nichtstun frönenden Weizenmehlknödel geworden. Sie wirkte wie Hefe, hauchte der trägen Masse Odem und Leben ein, ließ die Rosinen aufquellen, die ihr beigemengt waren, und formte besagten Knödel schließlich zu einem der prächtigsten, fidelsten und fettleibigsten Puddings, die jemals die kleine, weltabgelegene Stadt ihren Bürgern anpräsentiert hatte. Alle kamen und bewunderten das wohlgelungene Machwerk. Jeder schnüffelte daran herum, sog den weltfremden Duft ein und suchte mit spitzen Fingern irgendein leckeres Teilchen aus dem ungewöhnlichen Gebilde zu picken. Der Verlobungspudding bestritt Tage und Wochen hindurch den Gesprächsstoff an den Stammtischen und auf den Kegelbahnen, modelte die Kaffeevisiten erst zu richtigen Kaffeevisiten und machte die Menschen unempfindlich gegen das, was unlängst noch ihre Sorgen und ihre Interessen in Anspruch genommen hatte. Die wichtigsten amtlichen Berichte im privilegierten Amts- und Kreisblatt wurden kaum noch gelesen, die zu erzielenden Heumengen, die sonst um diese Zeit in den Vordergrund traten, blieben außer Debatte, die Verhandlungen auf dem Rathaus, die sich mit den dringlichsten Angelegenheiten zu befassen hatten, als da waren: Anschaffung von drei neuen Straßenlaternen, Bau eines zweckmäßigeren Stalles für den angekörten Stadtbullen, Verweisung eines schulmeisterlichen Ansuchens um zwei Raummeter Holz für den kommenden Winter an einen engeren Ausschuß und andere Dinge, fanden wenig Beachtung. Alles drehte sich um Schnurr Schnapp von der Waterkant und seine Erkorene – und als das junge Paar, er wie ein Vezier mit sieben Roßschweifen, im Gehrock, den Tarbusch geachselt und die glitschigen Finger der Rechten in den Ausschnitt seiner etwas stockfleckigen weißen Weste geschoben, und sie, aufgeblüht wie eine Rose des Ostens, im tiefen Enkörchen, ihre nur dünnumkrustete Büste wie ein Sanktum vor sich hertragend, am darauffolgenden Sonntag das Hochamt beehrte, war ein Tuscheln umher wie im Blätterwald, und der Herr Pastor, der just die Kanzel bestiegen hatte, warf einen langen Blick auf die beiden und sagte mit heimlichem Feixen: »Nun, wo er gewillt ist, in den Stand der heiligen Ehe zu treten und die Hoheit des Weibes im Weibe zu achten, wird er sich wohl eines Besseren besinnen, sich seiner orientalischen Redensarten entäußern und Allah – er sei erhöht und erhoben! – nicht mehr über die Dreieinigkeit Gottes versetzen, und du, Helene . . . aber ich fürchte, ich fürchte . . .!« und mit geschlossenen Lidern, die Hände in den weiten Ärmeln seines Röcklings verborgen, begann er über eine entsagungsfreudige Brautschaft und das heilige Sakrament einer aufopferungsfähigen Ehe zu sprechen. Allein – es fruchtete wenig. Die es nicht nötig hatten, horchten darauf wie die Karnickel am Sandloch, und die es anging, denen erschien es gleich dem monotonen Geriesel einer verödeten Quelle. Schnurr Schnapp von der Waterkant verfügte über keinen christlichen Standpunkt. Seine Paschanatur war wie die eines feurigen Hengstes, und seine Gedanken, anstatt sich mit den gediegenen Ermahnungen eines weisen Seelsorgers zu befassen, seinen Lehren zu folgen und sich erbauen zu lassen, gingen durch wie ein übermütiges Füllen und durchlebten schon jetzt die heimlichen Stunden und den Genuß aller Freuden, bis zu ihm kam der Zerstörer der Wonnen und der Trenner aller Gemeinschaft, denn die aufdringliche Ruhe des rassigen Weibes machte ihm die Sinne trunken und verpflanzte ihn in die schwülen Nächte des Morgenlandes, die voller Bülbülgesänge und Weihrauch waren . . . und als sie nach dem Hochamt gemeinsam die Kirche verließen und Arm in Arm den traulichen Hausgöttern Jan van den Birgels zustrebten, verhielt er sich in einer verschwiegenen Ecke, drückte die Geliebte an sich und sagte: »Ich vernahm, o glückliche Jungfrau, daß die Königin Scheherezade in der zweihundertundneunundfünfzigsten Nacht also zu sprechen geruhte:

Mög' Ruhm und Ehre dein tagtäglich harren! – Der
      Neider Nahen drück' aufs Bodenbrett!
Nie sei dein Tag dir weniger weiß als Schnee; die
      Nacht jedoch sei schwarz wie Jett!

Bei dieser Gelegenheit denke ich an unsere Widersacher und Feinde. Mögen sie kommen! Bei unserer Vereinigung werden sie schweigen, denn das Glück macht verstummen, und im Hinblick darauf sei mir die Frage verstattet: Wann wollen wir unseren Diwan errichten und unser Beilager halten?«

Lena glaubte nicht richtig gehört zu haben, warf sich wiehernd in seinen Armen herum, sah ihn mit kreisrunden Augen an und kicherte: »Schnurr, nu hab' dich nicht so! Du meinst wohl das mit die Trauung?«

»Allerdings, um es prosaisch zu sagen.«

»Na – denn so um Martini herum.«

»Bismillah! so spät erst?« ereiferte sich der Streichriemen und machte ein Gesicht wie ein verregneter Landweg. »Unmöglich! Ich halt's nicht mehr aus. Ich habe Verlangen nach dir, denn deine Blicke buhlen wie die der Gazellen, bis das Geheimnis geschieht, wonach es kein Forschen gibt, und außerdem: zu dieser feierlichen Aktion muß ich Sonnenfeuer haben und lauliche Abende; keine angegrämelten und fröstelnden Tage, kein Blätterfallen. Alles muß in sommerlichen Hauch und in Mondlicht getaucht sein, so wie am Beiramfest, und mit den Worten Ali Babas auf den Lippen: Sesam, öffne dich! will ich in den Basar der Ereignisse und den der Überraschungen treten.«

Lena wollte bersten vor Lachen.

»Menschenkind,« stammelte sie unter heißen Küssen, »wir haben ja noch nicht das richtige Öl auf der Lampe.«

»Wieso nicht? Dein Vater – er sei erhöht und erhoben! – sagte mir gut, mein Mannestum ist in bester Verfassung, und die Witwe ist pflichtig zu machen.«

»Das geht nicht so einfach,« versicherte Lena. »Martini wird die Geschichte erst fällig. Vorher läßt sich mit dem Fraumensch nicht reden.«

»Ich werde sie zwingen. Ich werde, ich werde, selbst wenn ich mich genötigt sähe, Harun al Raschid zu zitieren; desgleichen seinen Vezier und Masrur, den Träger des Schwertes seiner Rache.«

Er streckte die Hand aus.

»Ich werde, Geliebte!«

»Dann rede mit Vater!«

»Hören und Gehorchen,« versetzte Schnurr Schnapp von der Waterkant, »und ich für meine Person gedenke, und zwar im Hinblick auf unser zukünftiges Heim, meinem Salon eine neue Aufmachung zu geben und damit schon morgen zu beginnen. Also gehen wir! Zuvor jedoch, um mit Scheherezade zu sprechen: Küsse mich mit einem Kuß, der so klingt, als wenn man eine Walnuß zerbricht, denn nur so fühle ich die Kraft in mir, bei deinem Vater – er sei erhöht und erhoben! – in obigem Sinne vorstellig zu werden.«

Das tat denn auch Lena, um bald darauf mit ihrem Auserkorenen über die väterliche Schwelle zu treten, begrüßt von Jette und empfangen von Jan van den Birgel, der es sich nicht hatte nehmen lassen, zur Feier des heiligen Sonntags einen kräftigen ›Ollen Klaren‹ auf Zucker zu setzen.

* * *

Anderen Tages blieben die Leute in kleinen Trupps vor dem Barbiersalon stehen. Pinsel und Farbentöpfe standen und lagen neben der Türe, und hoch auf der Leiter schwebte die Gestalt des buckligen Anstreichermeisters Jupp Erfgen, der es sich angelegen sein ließ, geheimnisvolle Zeichen und Runen mit Holzkohle auf die Giebelseite über dem Eingang zu hexen. Von Zeit zu Zeit trat er von den Sprossen herunter, legte die rechte Hand wie ein Perspektiv vor das Auge und stand in schweren Kalkulationen, bewundert von allen, die in ihm einen Raphael oder den heimischen Maler Jan van Kalkar zu entdecken wähnten. Im Verlaufe der Woche wuchs die Erregung. Die Zuschauer mehrten sich. Selbst Dores Schweißgut und Pitt Lörksen trieb es dazu, den Buckelinus hantieren zu sehen und ihm ihre Estimierung zu zollen, denn Jupp befand sich just in bester Künstlerlaune. »Jetzt kommt's mit's Feine!« rief er von seiner Leiter herunter und tauchte seinen Pinsel in glitzernden Goldschaum. Die Zugeströmten mußten die Hände vorhalten, um nicht geblendet zu werden, einen solchen Überfluß an Licht zauberte Jupp aus seinen Farbentuben. Zwei Tage später war die Arbeit vollendet.

Jetzt erschienen auch Lena und Jan van den Birgel. Selbst die Honoratioren des ›Dicken Tommes‹ ließen es sich nicht nehmen, vorzusprechen und Beifall zu spenden, während die Konkurrenz sich zurückhielt, mit verfänglichen Redensarten hausierte und sich vor Gift und Galle fast die Schwindsucht an den Hals ärgerte.

Schnurr Schnapp selber rekelte sich in Behagen und Wonne. Mit übergeschlagenen Beinen, in Schlappschuhen, die Bammelmütze im Nacken und feinsten Krülltabak aus dem duftigen Tschibuk rauchend, lehnte er am Türpfosten, sah mit einer reichlichen Dosis Triumph auf seine Mitbürger, warf Lena einen verständnisinnigen Blick zu und erklärte die Sachlage.

Mit der Bernsteinspitze der türkischen Pfeife deutete er aufwärts, was soviel sagen wollte als: »Bitte, lesen und bewundern zu wollen!«

Und sie lasen und staunten, weil Jupp Erfgen das Höchste in Schilderei und Schriftkunst geleistet hatte, das Höchste, was menschliche Hände nur zu leisten vermochten, denn gemalt und geschrieben stand:

»Salem aleikum!«

darunter:

»Zum glücklichen Diwan von Bagdad«,

flankiert von zwei wehenden Roßschweifen und gekrönt von einem goldenen Halbmond, der selbst den grellilluminierten Turmhahn verdunkelte, dessen impertinentes Licht schäbig gegen jenen zu nennen war.

Ein allgemeines »Ah!« folgte der Kundgebung mit der Bernsteinspitze, und Jan van den Birgel trat an seinen zukünftigen Schwiegersohn heran, drückte ihm die Hand und sagte wie einer, dem ein unermeßliches Kornfeld zureift: »Großartig, Schnurr! Du bist meiner würdig, und sobald sie retour ist, wird die Sache geregelt. Ich meine die Martinigeschichte. Hier ist mein Schein, und die Groschen sind fällig. Entweder sie zahlt oder der heilige Herrgott von Bentheim . . . Ich kann nicht mehr warten und ihr beiden erst recht nicht, denn wenn die Henne gackert, hat sie's eilig mit's Eierlegen. Abgemacht, Schnurr; und nochmals gesagt: Das Weitere findet sich, sobald sie retour ist.«

»Ich höre und gehorche,« versetzte der Streichriemen mit getragener Geste und invitierte Lena und Jan van den Birgel, seine nach Seifenschaum, Pomade und Hühneraugenpflastern duftende Karawanserei zu beehren. Sie folgten dem Anruf und traten ein in den ›Glücklichen Diwan von Bagdad‹, während der goldene Halbmond mit seinem feinsten Leuchten aufwartete und selbst die Sonne zu übertrumpfen suchte, die wie eine gelbe Schusterkugel am ehernen Firmament hing und mit ihrem heißesten Himmelsfeuer niederzüngelte, um die Feldfrüchte falben zu lassen und die Halme schnittreif zu machen. Und siehe: es währte nicht lange, da erhob sich ein warmer Heugeruch unter den weißglühenden Wolkenballen, die blank und regungslos in dem unendlichen Blau ruhten, und die blonden Getreidefelder schauerten nach den Sensen. Endlich rauschten sie auf. Fast gleichzeitig erhob sich ein Blitzen in der fruchtbaren Ebene, die sich zwischen Xanten und Kleve und dem linken Rheinufer erstreckte. Am ersten wohl erklangen sie auf der Gemarkung von Op gen Oort, dann auf den Äckern, die zu den Wassermühlen gehörten. Auch Cornelis Höfkens ließ schneiden. Seine stattlichen Hufen stießen an verschiedenen Stellen mit denen von Hans Harkort zusammen.

Es war ein prächtiges Erntewetter. Knechte und Mägde, nur mit dem Allernötigsten bekleidet, bewegten sich in langen Reihen dicht nebeneinander, ließen die Schwaden rhythmisch niederfallen, banden sie zu Garben oder richteten Diemen zu schnurgeraden Zeilen. Ein Surren und Sirren machte die Lüfte erbeben, ein fortwährender Zusammenklang, der in seiner imposanten Einheit wie das hohe Lied der Arbeit selbst ertönte. Ein kräftiger Geruch nach Menschen einte sich dem würzigen Duft nach frischem Brot, der den trockenen Schollen und den gemähten Halmen wie eine große Verheißung entströmte. Das ganze Land war in angestrengtester Tätigkeit. Selten hatte Gottes Segen so rührig gespendet. Selbst auf den minderwertigen Schlägen stand die dort angebaute Frucht so voll, wie seit Menschengedenken nicht mehr zu sehen gewesen war. Nicht weit von Op gen Oort stampfte und prustete eine schwere Dreschlokomobile, und was der Scheunen harrte, schwankte auf zahllosen Leiterwagen den Gehöften und freistehenden Tennen zu, die den eingeheimsten Segen kaum zu bergen vermochten.

Während all dieser Zeit streifte Jan van den Birgel häufig bei den Wassermühlen herum, schlendernderweise, scheinbar, ohne eine Absicht zu haben, und nur von dem Wunsche beseelt, sich zu ergehen und vom Paternosterdeich aus dem ruhigen Treiben der Erntearbeiter zu folgen. Eines Morgens jedoch, als er bemerkte, wie im ersten Stockwerk des Herrenhauses die schon seit geraumer Zeit vorgelegten Läden aufgestoßen wurden, schob er die Mütze mit einem vergnüglichen Schmunzeln quer über die linke Kopfseite, schnippte mit Daumen und Mittelfinger, griemelte in sich hinein und sagte: »Haha! nu kommt sie retour. Achtung, Jan van den Birgel! Alles packt nach dem Segen Gottes, warum sollte ich da rückständig bleiben?« und mit einer raschen Bewegung trieb er die Hand vor und krampfte langsam die gierigen Finger. »Jetzt buttert's, denn was geschrieben ist, ist nun einmal geschrieben. Hals muß sie geben,« und mit dem löblichen Vorsatz, der Bedrängten baldigst seine Aufwartung zu machen, ging er nach Hause.

An demselben Tage leitete Hans Harkort die Arbeit auf seiner Gemarkung, nicht weit von der Stätte, wo die Op gen Oortschen Parzellen und die von Cornelis Höfkens aneinander grenzten.

Seit der denkwürdigen Stunde, als ihn Andreas Lobbers zusammengerüttelt und ihn aufgefordert hatte, das lachende Leben wieder an sich zu reißen, fühlte er, wie eine neue Gewalt seine Adern durchpulste. Immer nachhaltiger drückte ihn diese Gewalt ins Dasein hinein, straffte ihm den Nacken und gebot ihm, die Hand an den Pflug zu legen, den Acker zu brechen und die Körner der Zukunft zu streuen. Sie sollten aufgehen wie ein fruchtbares Saatmeer. Und er legte die Hand an den Pflug und brach die Schollen und verstreute die Körner, denn immer eindringlicher klangen ihm die Worte zu, die Andreas Lobbers gesprochen hatte, als das grimmigste Herzeleid mit Sturmschwingen über die Deiche wollte: »Hans, greife zu! Der Himmel selber ist dir zu Hilfe gekommen. Weise diese Hilfe nicht von dir, schreite mit ihr durch Not und Gefahr, und deine Kraft wird siegen.« Und dann wieder: »Die Hauptsache bleibt: sie selber ist rein wie die Blumen des Feldes, und was sie dir in ihrer Verzweiflung auch schrieb – münze es um und werte es nach seinem lauteren und wahrhaftigen Inhalt!« Und weiter: »Was auch auf den Wassermühlen passiert ist . . .« Das war es . . . und wäre das Dunkel, das Malthus um sich verbreitet hatte, noch dunkler und verhängnisvoller gewesen, und läge dort ein Geheimnis verborgen, das sich scheuen müßte, auch nur einen Zipfel des schwarzen Tuches heben zu lassen, was hatte das alles mit seiner tiefen Neigung und seiner heißen Liebe zu schaffen? Schleierweiß hob es sich auf; eine Lichtgestalt stand inmitten der Finsternis, unberührt von dem Schmutz dieser Erde, und entsündigte jedes, auch die Schuld der Väter, wie der Engel des Herrn alles hinwegnimmt, wenn er seinen Blick leuchten läßt über Gerechte und Ungerechte und über solche, die ohne eigenes Zutun in die Irre hineingingen, um dort sündig zu werden. Und diese Lichtgestalt erschien ihm in ihrer ganzen Anmut und Selbstlosigkeit – jetzt, wo die Worte seines Freundes wieder in ihm aufbegehrten wie feurige Zungen und der Segen des Herrn ihn umwölkte wie von einem Rauchaltar. Unwillkürlich glitt seine Sehnsucht über die immense Ebene.

Fern, jenseits der sanften Hügellehne, dem tiefen Süden zu, an den Ufern der Niers, weilte sie in verborgener Stille. Hüben und drüben – zwei Menschen, die sich etwas zu sagen hatten und doch den Mut nicht finden konnten, die Lippen zu öffnen. Und dennoch, wenn auch räumlich getrennt, nie waren sie enger verbunden als in der gegenwärtigen Stunde. Er fühlte ihre Nähe, den Duft ihres Haares. Längst vergangene Tage wurden lebendig, verstimmte Saiten begannen wieder in alter Reinheit zu klingen. Da kam sie. Seine Vorstellung des Übersinnlichen ging in die des Sinnlichen über. Er wähnte, sie über die geschorenen Felder schreiten zu sehen, durch die Gassen der noch unberührten Ähren und Rispen, die bereits mit stummer Ergebung das immer lauter werdende Singen und Wispern der Sensen vernahmen. Er sah sie ganz deutlich und so, als wenn sie ein Bangen hätte, die Schritte weiter zu tragen . . . als wenn sie umkehren wollte . . .

»Franziska!«

Erregt fielen ihm die Worte vom Munde.

Da blieb sie stehen, ruhig und mit verschlungenen Händen. Ihre Augen waren fest auf ihn gerichtet. Sie erregten ihn bis in die tiefsten Fibern hinein, so lebenswahr waren sie bei ihm, so körperlich berührte ihn die ganze Erscheinung.

»Nur an diesem Weibe wirst du gesunden.«

So hatte Andreas gesprochen, damals auf Op gen Oort, zu ihm, dem Gottverlassenen, als er nahe daran war, sein letztes Heil zwischen die Hände zu nehmen, um es wie ein Stück Vieh zu erwürgen. Und er wollte gesunden . . .

»Noch ist es nicht so weit,« sagte ihm eine innere Stimme, und diese Stimme war voller Hoffnung und Zuversicht, »aber ist es so weit . . .« und seine Arme hoben sich langsam und streckten sich der Hügellehne zu, wie in Selbstvergessenheit, wie von dem glücklichen Wahn beseelt, die Fernen zu überbrücken und seine Blicke trunken zu machen, obgleich Schnitter und Binderinnen unmittelbar neben ihm schafften und Cornelis Höfkens, der bis spät in den Mittag hinein seine neue Mähmaschine beaufsichtigt und emsig gewirkt hatte, über die Grenze trat und näher herankam.

Eine frische Brise wehte aus der Gegend von Wissel herüber.

Die Hitze ließ nach.

Die Leute wischten sich den Schweiß von den Stirnen. Es ging auf Vesperzeit. Die letzten Erntewagen schaukelten von den Stoppeln herunter. Alles atmete auf. Die blankgescheuerten Wolkenballen nahmen eine rosige Färbung an und setzten sich still in Bewegung.

Hans Harkort sah ihnen nach und gewahrte, wie sie jenseits der violetten Linie, die den Kreis Kleve von dem geldrischen Kreise trennte, gemächlich versanken.

Da legte sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter.

»Herr Nachbar . . .

»Sie, mein lieber Herr Höfkens . . . auch bald so weit?«

Cornelis fuhr mit seinem breiten Zeigefinger einen Teil des Horizontes ab.

»Das ist geschnitten. Morgen kommt die Lehmkuhle dran, und übermorgen hoffe ich, mit der Flur an der Holländer Kat fertig zu werden.«

»Und zufrieden mit allem?«

»Na, und ob, mein lieber Herr Harkort! Wird wohl ähnlich sein wie auf Op gen Oort, denn man hat das Gefühl: der Herr ist mit 'nem extraordinären Weihwasserkessel über die Felder gegangen. Da sitzt keine Armut drin. Das scheffelt man so in die Scheunen und Tennen. Prima Korn. Zum Anknabbern. Hab's auf 'ner glühenden Kohlenschippe probiert. Das springt wie die Flöhe. Noch zwei Tage – und wir können ein Magnificat singen. Bis dahin hält sich das Wetter, ist das Gröbste getan und die Ernte trocken herein. Dann aber . . . oder noch besser: wie wär' es, Herr Harkort, wenn wir schon heute abend so 'ne kleine Vorfeier machten? Selbstverständlich so unter uns . . . im ›Dicken Tommes‹ . . . ohne Verbindlichkeiten . . .«

»Und die Herren Schweißgut und Lörksen . . .

»Natürlich! Prächtige Kerle, ohne Neidhammelei! Die freuen sich doch, wenn einer von uns so 'nen reichlichen Spätsommer hat. Besonders Pitt Lörksen. Wie überhaupt . . . denn wir von der Solopartie . . . Sie verstehen mich schon, mein lieber Herr Nachbar? Auch die Wassermühlen befinden sich in floribus. Da soll sich alles barbarisch anlassen. Kosman sagte mir's eben. Die müssen im Freien mieten, sonst bringen sie die Fülle nicht unter. Die Gerste gar nicht zu rechnen. So was hat sich seit Olimszeiten noch niemals ereignet. Die haben 'nen Monat zu tun, allein um diese zu schroten. Wenn das Malthus erlebt hätte, ich täte mich ja noch freuen im Grabe,« und der Alte wandte sich und blickte stur und steif nach den Mühlen hinüber.

»Ja – Malthus,« sagte Hans Harkort verloren vor sich hin, und seine Worte erstickten, als er leise hinzufügte: »Aber ihr kommt's zugute.«

»Das tut's,« versetzte Cornelis, »und ich glaube auch, es kann ihr nur angenehm sein bei den heutigen Umständen, denn wie ich von Kosman hörte, hat sie auf den Aukamp freiwillig und gänzlich verzichtet.«

»Was?!«

»Auf alles,« konstatierte Cornelis, »auf totes und lebendes Inventar. Selbst die diesjährige Ernte will sie nicht angerechnet wissen.«

»Nicht möglich!«

»Nichts will sie haben, wie Kosman behauptet. Es klebt ihr wie Blut an den Fingern, so sagt er. Sie hat's abgewischt, um vergessen zu können. Alles, aber auch jedes, hat sie seiner Schwester verschrieben. Die kann's gebrauchen. Hut ab vor so was! Daran erkenne ich die Tochter von Christian Franz Malthus.«

»Franziska!«

Ein unterdrückter Schrei rang sich aus der Brust des Herrn von Op gen Oort.

»Ja, Herr Harkort – Ihre Franziska,« und die Hand des Alten tastete nach der des jungen Besitzers.

»Herr Höfkens . . .

»Schon gut, schon gut! aber um wieder auf besagten Hammel zu kommen: kann ich auf Sie rechnen so gegen achte?«

»Ich freue mich auf den heutigen Abend.«

»Also abgemacht?«

»Abgemacht!«

»Dann bis später,« und Cornelis Höfkens ging wieder seinem eigenen Reich zu, während Hans Harkort noch lange auf der nämlichen Stätte haftete und das weite Feld absuchte, das immer einsamer und lautloser wurde.

Des Tages Last und Müh' war getragen. Eine ferne Glocke mahnte zur Ruhe. Die Kegel der zusammengetragenen Garben dunkelten ein. Ein tiefblauer Streifen grenzte das Bild ab. Die grellen Lichter des Tages gaben milderen Farben Raum. Himmel und Erde flossen sanft ineinander; nur die mächtigen Pappeln, die in der Höhe der Wassermühlen den Paternosterdeich begleiteten, standen wie würdige Kardinäle in der einförmigen Landschaft. Das letzte Sonnenfeuer hatte sie mit dem Purpur umkleidet, und der warme Duft, der von den niedergelegten Ähren aufstieg, umwölkte sie wie aus heiligen Weihrauchfässern. – – –

Gegen acht machte der ›Dicke Tommes‹ die roten Lampenaugen auf. Es war draußen noch sichtig, allein in dem langgestreckten Wirtslokal drückten sich bereits graue Schatten in die Ecken hinein, vornehmlich dort, wo die Solopartie an dem runden Stammtisch Platz genommen hatte. Ein kreisrunder Schein umstrahlte die Tafel. Etliche Flaschen mit gelbem Siegellackkragen gaben ihr ein gediegenes Aussehen. Der markante Kopf des ersten Reichskanzlers grüßte von der Tapete herunter, als wenn er sagen wollte: »Wer an mich glaubt, ist geborgen, wer mich verleugnet, bricht sich den Nacken, wie das Reich frohe Fahrt hat oder zerschellt, je nachdem es an mich glaubt oder meinen Namen verleugnet.«

»Mein Mann!« sagte Pitt Lörksen und hielt ihm sein Glas hin, »denn du bist für uns durchgehends 'ne pompöse Schose gewesen. Und immer en avant mit die Gäule. Besonders in ökonomischer Hinsicht. Du hast uns Landmänner in 'nem Extraschäschen gefahren, weil du uns allzeit als den Urstand erkanntest. Drum sollen die Landmänner leben. Immer leschär, meine Herren! Die Ökonomiker hoch und auf 'ne opulente Ernte! Prost, meine Herren!« und mit hellem Klingen der Gläser wurde auf Bismarck, die Landwirtschaft und den diesjährigen Feldsegen getrunken. Gleich darauf setzte die erste Kartenpartie ein, nur unterbrochen durch das Summeln der Fliegen und das kaum hörbare Auf- und Niederschreiten des Wirtes, der noch Muße genug hatte, seine lange Pfeife zu rauchen und spazierenderweise die übermütige Troddel seines Samtkäppchens bammeln zu lassen.

Zur Stunde war der ›Dicke Tommes‹ erst wenig besucht, sodaß Herr Lamers noch hinlänglich Zeit fand, sein tagtägliches Rechenexempel zu erledigen und ins Gleiche zu bringen, das darin gipfelte, die Anzahl der Dielen und der blanken Nägelköpfe festzustellen, eine tiefgründige Mühewaltung, die er bereits seit fünfundzwanzig Jahren betrieb und jeden Abend mit der sichtlichen Genugtuung abschloß: »Zweiundfünfzig gehobelte Borten und vierhundertsechsundachtzig fünfzöllige Nägel. Stimmt auf den Knopp. Nichts dran zu ändern.«

So auch heute.

Herr Lamers brachte die Plüschpantoffeln in Ruhestellung und straffte sein Bäuchlein.

Alles war in bester Ordnung. Keine Diele fehlte, kein Nagel war abhanden gekommen. Mitdem wurde es im Hausflur lebendig. Zu wiederholten Malen gellte die Klingel herüber.

»Haha!« sagte Herr Lamers, setzte sich wieder in Marsch und stellte die Pfeife beiseite.

Mehrere Gäste erschienen, unter ihnen Schnurr Schnapp von der Waterkant und Jan van den Birgel; Jan in seinem Sonntagsrock und Schnurr in seiner türkischen Aufmunterung.

Mit einem »'nen guten Abend, die Herren!« nahmen sie Platz und richteten sich dicht bei der Solopartie ein.

Der Gastwirt sprang zu.

»Zwei Bayrisch gefällig?«

»Was Bayrisch?!« Mit souveräner Verachtung wies Jan dieses Ansinnen zurück. »Herr Lamers, Sie sind woll?! Wo Kuhfladen sind, wachsen Butterblumen heran. Wir haben's. Nee, mein Bester, aber 'ne Bouteille Gelbhals, genau dieselbe Nummer wie die Herren da drüben!«

»Hören und Gehorchen, Sie Sklave,« sagte der Streichriemen, schlug die Beine übereinander und deutete mit seinem Tschibuk auf die Anrichte, wo der ›Dicke Tommes‹ seine besonderen Marken bewahrte, »denn auch wir wollen die Freuden des Lebens genießen, bis zu uns kommt der Entvölkerer der Städte und der Sammler für die Totenäcker und wir entrückt werden in das Erbarmen des allmächtigen Allah. So die Königin Scheherezade, Herr Lamers, und die kannte sich aus. Tausend und eine Nacht. Großartige Sache! Also ich bitte, Gestrenger.«

»Bong!« meinte der Wirt und tat so, als sei besagte Königin einer seiner besten Bekannten gewesen, obgleich er von dem Zauber des Orients soviel verstand wie Mordje Rosenzweig von dem Wunder der heiligen Eucharistie. Er las nur das Gebetbuch für christkatholische Menschen und den ›Klever Volksfreund‹, Literarisches kaum, und wenn er es tat, begnügte er sich damit, einige Kapitel aus dem ›Wacholdergeist gegen die Grundübel der Welt‹ von Alban Stolz zu durchblättern, um wenigstens den Hauptvertreter des deutschen Schrifttums kennen zu lernen und mitreden zu können. Das war auch alles. Aber die Königin Scheherezade imponierte ihm dennoch. Auf seinen schnurrigen Beinchen segelte er hinter die Theke, entstöpselte eine Gelbhals und präsentierte sie auf einer Zinnassiette.

»Ein angenehmes Willkommen, die Herren!«

»Merci, Herr Lamers!« sagte Jan van den Birgel und füllte die Kelche, während sein Partner den Stiel seines Glases umfaßte und in die Worte ausbrach: »Bei Allah, dein Anblick ist Glück und Segen, und in diesem heiligen Purpur wollen wir Lenas gedenken!

Die Stirn im Lockendiadem ist Mondscheinnacht;
Entschleiere sie, und heller Morgen lacht.

In ihr wohnt die Ader der Süße und das Geheimnis einer undurchbohrten Perle. Schwiegervater, es gilt!

»Prost, Schnurr!« und die beiden Gemütsmenschen, Schwiegervater und Schwiegersohn, ließen mit einem triumphierenden Blick auf den Nachbartisch die Gläser anklingen, brachten dem Bräutchen ein zündendes Hoch und wiederholten diese zarte Ovation so nachhaltig, daß sie den köstlichen Stoff binnen fünf Minuten verflüchtigten und der Inhaber des glücklichen Diwans von Bagdad sich genötigt sah, das Haupt zu wenden und über die Schulter zu rufen: »Beherrscher der Gelbhälse und anderer Marken, noch 'ne Bouteille!«

Aber auch dieser Flasche blieb kein langes Dasein beschieden, denn neue Gründe, als da waren: Errichtung des künftigen Haushaltes, flotter Geschäftsgang und die Geburt des Thronfolgers, boten hinreichend Gelegenheit, die Köpfe wie die von kalkuttischen Hähnen zu färben und den Inhalt der rotangelaufenen Phiole ›alle‹ zu machen. Eine dritte mußte heran, eine Erkenntnis, die Schnurr veranlaßte, etliche nachdenkliche Züge aus seinem Weichselrohr zu stoßen und sich an Jan mit der Frage zu wenden: »Schwiegervater, wie wär's mit 'ner besseren Nummer? Vielleicht 'ne Lafitte?«

»Genehmigt!« versetzte Jan van den Birgel. »Schon um die da zu ärgern.«

»Wie Gott will!« fiel der Streichriemen ein, streckte die Beine und gebot mit schon etwas verlähmter Stimme: »Beherrscher der Gelbhälse und anderer Marken, noch 'ne Bouteille, aber dieses Mal aus der untersten Ecke, 'ne Château Lafitte!«

»Gleich, gleich!« meinte Herr Lamers, angenehm berührt von dem gediegenen Zuspruch, und ging hin, das Verlangte zu holen. Hinter der Theke ließ sich gleich darauf das einladende Schnalzen eines Pfropfens vernehmen, der seine langentbehrte Freiheit in dieser artigen Weise bekundete, und als der ›Dicke Tommes‹ eigenhändig bediente und so sorgfältig eingoß, als hätte er die Ritter vom heiligen Gral zu versorgen, klopfte ihm Jan van den Birgel auf den Rücken und sagte: »Opulente Firma und opulente Gäste, Herr Lamers! Aber alles auf Rechnung.«

Die Firma erstarrte.

»Wieso?« fragte sie bestürzt und ganz außer Fassung.

Die am Nebentisch wurden aufmerksam, und Pitt Lörksen spitzte die Ohren.

»Aber selbstverständlich,« konstatierte der Tarbuschträger, »alles auf Rechnung. Nobler Verzehr und noble Bedienung! Sonst geht die Welt zu Grunde und alle Freundschaft koppheister.«

»Hoho!« lachte Pitt Lörksen und knallte den Treffkönig auf den Tisch. »Achtung, Herr Lamers!«

»Was?!« sagte Schnurr und schlenkerte sich hoch. »Ihr wollt doch unsere Bonität nicht bezweifeln?«

Seine Entenschnabelnase legte sich dabei scharf auf die Seite.

»Herr!« fuhr er puterrot fort, »und Scheherezade bemerkte das Grauen des Tages und hielt inne in der ihr verstatteten Rede.«

»Dann tun Sie's man auch,« sagte Trumpfsieben.

»Nein, ich will sprechen, denn wie kommen Sie dazu, unsern Kredit zu bemängeln – Sie ländliche Pflaume, Sie grindiger Scheik von einer armseligen Kappesplantage?! O du trauriger Mann, du hältst dich für einen reichen Besitzer, aber wisse: dein Bruder Ali Baba, alias Jan van den Birgel, ist ein Emir gegen dich, ein Kalif, und bei weitem reicher als du. Er hat solche Berge Goldes, daß er sein Geld mit der Wage abwägen muß, während du dich noch damit begnügst, deine Aschrafis zu zählen – du Gurke! Ein Geheiß nur von ihm – und seine Speziestaler kommen wie die Mamelucken ins Rollen. Verstehst de!«

Pitt Lörksen wieherte los: »Hoho! da steckt der Onkel vom Misipippi dahinter!«

»Das ist Tusch!« lärmte Schnurr. Er fiel aus seinem florigen in seinen reizbaren Zustand. Der Wein machte ihn mutig. »Welche Unterstellung wagt der Stammtisch an unsere Adresse zu richten?! Nein, Sie Knecht, dessen Name Allah verdamme, Sie Obereunuche, Sie schmieriger Kuli einer armseligen Ausspannung, da steckt was anderes dahinter, da steckt eine große Verschreibung dahinter. Wir brauchen nur unser ›Sesam, öffne dich‹ zu sprechen, und wir schwimmen in lauterm Reichtum. Drum in den Staub, du schäbiger Maultiertreiber, du abgelederter Efendi im Basar der räudigen Kamelstuten!« und mit schiefgezogenem Maulwerk hielt er ihm seine Pfeife wie ein gebieterisches Zepter entgegen.

Hans Harkort warf verärgert die Karten auf den Tisch.

»Dieser Unfug! wir wollen gehen, meine Herren!«

»Unter keiner Bedingung, Herr Harkort!« legte sich Herr Lamers erregt ins Mittel, »nein, unter keiner Bedingung! Wo sollte das hinführen? Das Renommee vom ›Dicken Tommes‹ wäre ja mit Maul- und Klauenseuche behaftet. Bleiben Sie sitzen, spielen Sie weiter . . .« und sich wie ein Kreisel um seine Achse drehend, führte er Jan van den Birgel seine ganze Entrüstung vor Augen: »Schwerebrett noch einmal! Wie können Sie nur . . . Sie und Ihr Zukünftiger?! Arbeiten sollten Sie beide, und bayrisch Bier sollten Sie trinken, anstatt meine ehrenwerten Gäste zu belästigen und ohne Bezahlung meinen teuern Lafitte zu verzehren.«

»Sie Kümmeltürke!« schrie der Besitzer des glücklichen Diwans. »Was fällt Ihnen ein, uns Ihren Lafitte zu verbieten?! Saufen Sie man Ihr Bayrisch alleine! Sind wir schlechter als die Mistjunker und Windmüller und das andre Gemüse?! und was unsere Arbeit betrifft: mein Schwiegervater und ich, wir schaffen wie die nubischen Stuten.«

»Arbeiten?! Gibt's nicht!« fuhr Jan van den Birgel dazwischen, torkelte hoch und stürzte sich ein wohlgemessenes Glas Rotwein hinter die Binde. »Lasse dich nicht auslachen, Schnurr! Arbeiten die da?!« und mit einem hellen Gelächter streckte er die knöcherne Hand gegen den Stammtisch aus. »Arbeitet zum Exempel der Müller dahinten? I prosit die Mahlzeit! Der Wind mahlt für ihn, und sein Esel schleppt ihm die Dukaten zusammen. Arbeitet Dores? Fällt ihm nicht ein. Mit 'nem Wuppdich mißt er sein Öl ab, schlabbert die Hälfte in die Kanne retour und beschummelt Gott und die Mitwelt.«

»Menschenskind, um die Wahrheit zu sagen . . .

Grünober trillerte mit Armen und Beinen.

»Maul halten, Dores! – von Pitt Lörksen gar nicht zu reden. Der erstickt an seinem früheren Kappes.«

»Immer leschär, meine Herren!«

»Der melkt seinen Fusel und drückt sich mit seinen ausgeliehenen Hypotheken ins Sofa . . . und so'n Kerl will mich mit Modder beschmeißen und meinen ehrlichen Namen verstänkern?! Und der von Op gen Oort? Der Ochs drischt für ihn, der Knecht rackert sich schief und krumm unter seiner Fuhrmannspeitsche, während er selber großartig zusieht, wie ihm die verschwitzten Weibsbilder, den Hintern nach oben und kaum 'nen Rock noch am Leibe, Weizen und Gerste einbinden . . . und ich soll wie 'n Bulle mich schinden und meinen Lafitte nicht verkümmeln?! Gottverdammich, Himmel und Motten!« und er pfefferte sein Glas hin, daß es in tausend Scherben am Boden zerklirrte. »Was Arbeit?! Hab's nicht mehr nötig!« und mit einer scheußlichen Genugtuung schlug er sich auf seinen Sonntagsrock. »Musikanten heraus! Was die können, können wir auch. Hier steht's verbrieft und versiegelt. Schwarz auf Weiß. Dran kann keiner nicht tippen. Hurra und Vivat! Rentenieren will ich und tu' ich; denn die Wassermühlen hab' ich im Sack. Sie mahlen für mich – und dito tut's der tote Malthus – und dito der tote Simonis . . . sie schluckten die Angel. Ungegönnt Brot soll fett machen. So heißt es. Mir vollständig schnuppe! und was sie ist – sie hat auch bereits den Haken im Halse . . .«

Jählings verstummte der Alte.

»Wer hat bereits den Haken im Halse?!«

Von der ehernen Stimme bröckelte der Kalk von der Decke.

Alles sprang auf und drängte zusammen.

Grau bis in die Haarwurzeln hinein, hatte sich Hans Harkort erhoben. Seine Faust umgriff einen Flaschenhals, ließ aber verächtlich davon ab und löste sich wieder.

»Nein, nein,« sagte er mit einer Ruhe, als hätte das Schicksal gesprochen, »das wäre erbärmlich,« aber in der Tiefe seiner Augen blitzte es auf wie ein Schwert, das vorstoßen wollte.

Das sahen alle.

Cornelis Höfkens erfror das Blut in den Adern.

»Ich bitte Sie, kommen Sie, mein lieber Herr Harkort!«

»Ob ich bleibe oder zu gehen gedenke, das müssen Sie schon mir überlassen, Cornelis.«

Seine Stimme schwoll an: »Schweigen wäre gleichwertig mit einem Verbrechen, und ich will kein Verbrechen begehen, denn ich habe den beiden ein Mal auf die Stirne zu brennen. Besonders dem einen. Der da« – und er zeigte mißachtend auf Schnurr – »ist lediglich eine Null, ein Schwarbelkopf, das gefügige Werkzeug des andern. Er hat mir gar nichts zu sagen. Ich gehe über ihn fort, wie man über eine verluderte Sache hinwegschreitet, und werfe ihn zu den Toten. Aber Jan van den Birgel . . .« und seine Worte fielen ihm wie harte Kiesel vom Munde. »Schon Jahre um Jahre verfolge ich die Maulwurfsarbeit dieses entsetzlichen Menschen, fand aber keine Handhabe, ihm beizukommen, denn es ist schwer, Finsterlinge aus ihren Löchern zu stöbern. Jetzt aber . . . er hat sich selber verraten, und ich hebe ihn aus seinem heimlichen Wühlgang. Auf ihn passen die Worte: Wer, um sich oder einem andern einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, jemand durch Gewalt oder Drohung, Duldung oder Unterlassung nötigt, ist wegen Erpressung mit Gefängnis zu strafen.«

Ein Wutschrei polterte gegen ihn an.

»Abwarten, Jan van den Birgel! So das Gesetzbuch, und dieses Gesetzbuch . . . Einen hat dieser Kerl schon zur Strecke gebracht, und er ist eifrigst dabei, sich auch ein zweites Opfer gefügig zu machen. Aber schickt er sich an, dem reinen und schuldlosen Weib auch nur ein Haar zu krümmen oder es in die Enge zu treiben . . .«

»Ich wage, ich wage und will mein Recht, verfluchter Kalviner . . .

Mit blutunterlaufenen Augen und Schaum zwischen den Zähnen, eine Flasche in der Rechten, torkelte der Alte vor, gewillt, den Schlag zu riskieren . . . aber eine vorgestreckte, eiserne Faust warf ihn zurück – und hinter dieser Faust stand die Satzung: »In zwei Minuten will ich keinen Jan van den Birgel mehr sehen, keinen Erpresser und Lumpen mehr! Da ist die Türe!« und das herrische Gebot war überreichlich bemessen, denn keine fünfundzwanzig Herzschläge vergingen, da war auch schon die Wirtschaft gesäubert.

Wie verprügelte Hunde hatten die beiden das Zimmer verlassen.

Totenstille ringsum. Nur von draußen klang es herüber: »Ich vernahm, o großmächtiger König . . .«

Dann verstummte auch dieses.

Die Tafelrunde umscharte Hans Harkort. Auch die übrigen Gäste traten hinzu.

Wie ein Aufatmen ging es durch die verstörten Menschen, und Cornelis Höfkens wandte sich bewegt an den Insichgekehrten und sagte: »Endlich das richtige Wort! Das wird Ihnen Malthus im Himmel danken, und diesem Wort zu Gefallen – Herr Lamers, noch 'ne Extrabouteille, aber eine mit 'nem dreizölligen ›Proppen‹, um Herrn Harkort zu feiern.«

»Gerne,« meinte Herr Lamers, »aber ich bitte mir aus: alles für gratis.«

* * *


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