Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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6

Freitag Nachmittag gegen zwei . . .

Wie mit Aschensäcken hing es vom grauen Himmel herunter. Das Sonnige und Heitere war von der Erde genommen, von der jungfräulichen Erde, die schon so tapfer geblüht und geduftet hatte. Die Veilchen unter den Bocksdornhecken häkelten ihr blaues Mäntelchen zu, auf den Wiesen fröstelten die Himmelschlüsselchen, und doch lief ein laulicher Wind von Abend gen Morgen. Nur das Dunstige, Versponnene in der Natur ließ die Stimmung unbehaglich und stumpf erscheinen und gab ihr das, was die Haut schaudern machte und die Seele vergrämelte. Überall leise Seufzer und das Rascheln von Trauerfloren. Überall das Duften nach vertrockneten Blättern und welken Blumen. Kein fröhlicher Auftakt, kein Buchfinkenlied, nicht das Geringste, was die bunten Flügel spannte, um wie ein schillernder Falter das Auge zu erheitern und den Sinnen wohl zu tun. Das Steifleinen-Putzige, das sonst der niederrheinischen Gegend anhaftete, wollte nicht aufkommen. Man dachte vielmehr an die ernsten Psalmen Davids, an die schauervollen Klagegesänge des Jeremias, und dennoch, wer genauer zusah, war imstande, den Pulsschlag des scheinbar abgestorbenen Lebens zu spüren. Obgleich der Himmel Tränen in den Wimpern hatte, ein feiner Aschenregen die Fernen umdüsterte und die alten Pappeln, die den breiten Stadtgraben umstanden, gleich den Totenbeterinnen allerlei krauses Zeug durcheinander fummelten – etwas Erbauliches lief mit unter, und dieses Erbauliche trug ein fideles, drolliges, kregeles Schweineschwänzchen im Nacken, ein Schwänzchen so übermütig, wie überhaupt ein Schweineschwänzchen nur sein konnte. Die Landschaft schmunzelte und mit ihr die Lebewesen, die diese Landschaft bewohnten. Trotz aller Tränen und Wehleidigkeiten – überall kam das naive Schweineschwänzchen zum Vorschein: ein Lächeln unter Leiden und Schmerzen, eine Kapuzinade inmitten der Evangelien. Es war so, als hätte hier der weiland ehrwürdige, hochgelehrte und wohlachtbare Doktor der Medizin, Herr Carolus Arnoldus Kortum, Gründer der Hermetischen Gesellschaft, seine köstliche ›Jobsiade‹ oder Leben, Meinungen und Taten von Hieronymus Jobs, dem Kandidaten, verfaßt und niedergeschrieben, um dann das Dichterzepter an den unseligen und göttlichen Friedrich Hölderlin abzugeben. De profundis clamavi ad te, Domine . . .

Der Zeiger der Rathausuhr rückte auf zwei. Bald darauf arbeitete sich die Stunde mit heiserem Murren über die Dächer der kleinen Stadt, die aus ihrem Mittagsschläfchen noch nicht so recht aufwachen konnte. Gleichzeitig pilgerten drei einzelne Schläge von Sankt Nikolai in alle Fernen hinein, drei einzelne Schläge, die sich in gemessenen Intervallen aneinander reihten, was andeuten sollte: in einer Stunde wird Christian Franz Malthus begraben.

In diesem Augenblick bewegte sich ein wohlgenährter, trefflich aussehender Mann, eine lautpickernde Uhr in der Westentasche und einen stattlichen, wenn auch etwas altmodischen Zylinder auf dem Kopfe, von der Windmühle herunter, schlug den Kommunalweg ein, um auf diesem die am Kesseltor gelegene Schleuse zu gewinnen. Von hier aus war das Sterbehaus leicht zu erreichen.

Der wohlgenährte und trefflich aussehende Herr imponierte. Ganz in Schwarz gekleidet, das glattrasierte Doppelkinn durch sorgfältig gebügelte Vatermörder abgesteift, machte er eine würdige Figur. Nur der langschößige Bratenrock saß zu prall auf dem Bäuchlein und warf hierdurch neckische Falten und Linien. Auf dem Pastetengesicht des zufriedenen Mannes, dem des Lebens Pein und Plagen niemals die ernsten Zeichen des Duldens eingeprägt hatten, lagen zurzeit die Schatten der Wehmut und der Trauer. Trotz der erfrischenden Kühle, die von der Mergelgrube herüberwehte, wuchtelte er sich mit seinem Taschentuch etliche Luft zu, denn Cornelis Höfkens war etwas kurzatmig veranlagt, obgleich er über eine Stimme verfügte, die einem querköpfigen Müllergesellen Angst in die Hosen jagen konnte.

Unmittelbar neben der Schleuse erhob sich ein zweiter Zylinder, ähnlich dem ersten, nur mehr in die Höhe gereckt, einem abgeschnittenen Kegel von fuchsigem Aussehen wie aus dem Antlitz geschnitten. Eine tiefschwarze Kreppbinde verlieh dieser Kopfbedeckung eine besonders feierliche Note. Der Tod von Basel hätte keine sinnigere aufweisen können.

Zu diesem Zylinder gehörte ein hagerer, langaufgeschossener Mann, dessen Hosen sich auf den mastigen Stiefeln korkzieherartig stauchten, ein Zeichen dafür, daß der Zuschneider es nicht verstanden hatte, die unteren Potentaten mit den Beinkleidern in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Disharmonie über Disharmonie! Aber Herr Dores Schweißgut, in der schwerheimgesuchten und angekratzten Solopartie ›Grünober‹ genannt, fühlte sich in diesem Bekleidungsgehäuse so trefflich und mollig und stand dabei so sicher und zukunftsfreudig auf seinem unförmlichen Schuhwerk, daß es jedem eine innere Befriedigung gewähren mußte, diesen Vertreter einer kleinstädtischen Honoratiorenwelt näher ins Auge zu fassen.

Was Cornelis Höfkens nicht hatte, das besaß dieser Biedermann in reichlichstem Maße: eine respektable Länge, die ihn befähigte, seine Schinken und Speckseiten ohne Beihilfe einer zweizinkigen Forke aus dem Rauchfang zu heben. Seines Zeichens Kolonial- und Schnittwarenhändler, war er ein Weltweiser melancholischen Sinnes, mit Korinthenäugelchen, einer durch Spaniol schwärzlich gefärbten Schnurrbartfliege unter der breitschäftigen Nase und einem schmalgezogenen, ausgemergelten Gesicht, das aussah, als hätten sich darin die Leiden des Herrn oder die mageren ägyptischen Jahre verkörpert. Sein Sich-Bücken war Arbeit und sein Sich-Aufheben ein mühseliges Tun, was ihn veranlaßte, möglichst geringen Gebrauch von diesen Körperbewegungen zu machen. So stand er denn auch jetzt wie ein Säulenheiliger, kerzengeradeaufrecht, den baumwollenen Regenschirm mit der blanken Messingkrücke unter der linken Achsel und die klobigen Hände, die nach Kandiszucker, Zichorien und Anissamen dufteten, fest und stramm auf dem stärkeblauen Schemisettchen gefaltet – einem Schemisettchen, das steif und hart wie ein Brett war und bei jeder Gelegenheit wie ein Ofenblech rasselte. Das Flanellartige einer sanften Unterjacke und das Sture und Straffe eines preußischen Steuerbeamten waren in Dores Schweißgut vereinigt, ergänzten sich wechselseitig und muteten an wie die siamesischen Zwillinge. Ohne das eine war das andere nicht denkbar, wäre die körperliche Verfassung des Herrn Schweißgut dem Bankrott verfallen und er selber ein Bankrottierer geworden.

Als die beiden Leidtragenden sich dicht gegenüber standen, hoben sie die Zeigefinger gleichzeitig an den Rand ihrer Zylinder.

»Tag, Grünober!«

»Tag, Matador!«

»Wie steht's mit's Befinden?«

»Um die Wahrheit zu sagen – es könnte besser gehen. Aber ich bin trotzdem zufrieden. Und du?«

»Merci. Man muß den Kopf oben behalten. Es macht sich.«

Wie auf ein Kommando sahen die Herren in die nämliche Richtung und revierten wie die Sperber die lange Kesselstraße ab, auf der Pitt Lörksen, emeritierter Kappesbauer und Schnapsbrenner, in der Solopartie ›Trumpfsieben‹ geheißen, ansegeln mußte.

Und keine drei Minuten vergingen, da kam er – ein purzelndes Kerlchen mit viven Beinchen, fünf Käse hoch, aber fett und rund wie eine Weinbergschnecke und mit einem Kartoffelgesicht, als wäre der mit einem Quäkerbart verunzierte Kopf eines Silen auf den Rumpf eines zwergigen Menschen gestolpert. Seinem Äußeren entsprach seine Gemütsart. Miesepetereien lagen ihm fern. Immer aufgeräumt wie die Bläschen im Selterwasser, nahm er die Geschicke des Tages hin, wie sie ihm in den Schoß fielen, gute und böse, ohne sich dabei aus seiner Kontenance bringen zu lassen. Eine besondere Kunstfertigkeit besaß er im Pfeifen. Er gefiel sich darin wie ein Flachsfink oder ein Harzer Kanarienvogel. Mit spielender Leichtigkeit bewältigte er die schwierigsten Passagen. Ihm gleich, ob er eine tremoulierende Gluckertour oder eine perlende Klingelrolle an den Mann zu bringen hatte – mit einer Treffsicherheit, die Bewunderung abzwang, brachte er sie unter die Leute und erfreute die Herzen. Niemand konnte ihm gram sein. Von dem Wahlspruch beseelt ›Immer leschär‹, wußte er selbst den traurigsten Dingen eine freundliche Seite abzugewinnen, obgleich das Ableben seines Freundes und Solokollegen ihn schlimmer gepackt hielt, als er sich eingestehen mochte. Aber auch dieses mußte erduldet werden, so schwer es ihm auch ankam, wobei er den etwas zu engen Zylinder mit einer gewissen Kunstfertigkeit den Launen des Windes anpaßte, um ihn in Balance zu halten, nicht ohne dabei verhindern zu können, daß der schönaufgebügelte Kopfschmuck auf dem entwaldeten Schädel herumschaukelte wie der unstete Lichtschein in einer Straßenlaterne.

Fidel kam er näher, wobei er den Chopinschen Trauermarsch ›Nu trinkt er keinen Rotspon mehr‹ getragen vor sich hinflötete.

Schon von weitem warf er den Zeigefinger an den Hutrand.

»Tag, Grünober! Tag, Matador!« und dann, als er sich zu diesen gesellt hatte, legte er los: »Immer leschär, meine Herren! – Aber zackerzucker nochmal, dieses Malör! – Diese Geschichte! – Das ist ja, um junge Hunde zu kriegen! – Malthus ist rips! – Die Solopartie zum Deubel! – und alles so plötzlich und wie vom blauen Himmel herunter . . .

»Schlimm!« sagte Höfkens.

»Sehr schlimm!« meinte Grünober.

»Trostlos!« konstatierte der zuletzt Angekommene und streckte die mit einem schwarzwollenen Handschuh umkleidete Rechte in den dunstigen Himmel, um sie matt und lahm wieder fallen zu lassen. »Malthus, diese Säule, dieser Trumpfkönig, dieser knollige Kraftmensch – unser Freund, unser Gönner, unser Präside . . . so von uns zu gehen! Mußte das sein? Aber immer leschär, meine Herren! Noch vor wenigen Tagen konnte der Mensch die festesten Haselnüsse mit den Zähnen zerbrechen. Und nun? Staub und Asche und tot wie'n toter Mehlkäfer. O, o, o!«

Das ›O‹ winselte am Boden, als wäre ihm das Rückgrat gebrochen.

»Äußerst traurig,« schluchzte der Müller.

»Mehr als äußerst, um die Wahrheit zu sagen,« bemerkte Grünober.

»Zum Weinen,« erklärte Pitt Lörksen. »Aber gehen wir, damit wir dem Verstorbenen, seinem Wunsche gemäß, die letzte Ehre erweisen. Immer leschär, meine Herren!« und damit sockten sie ab, der Matador in der Mitte, rechts Trumpfsieben, zur Linken Grünober – die betrübte und schwergeprüfte Solopartie – drei Zylinder in der niederrheinischen Landschaft – drei Bratenröcke in Schwarz – von Wehmut getragen und dem melancholischen Rauschen kahler, wenn auch knospender Bäume umzittert . . . und sie sprachen von dem Verstorbenen, von Hans Harkort, von der heimgesuchten Frau und Simonis . . . und sie versuchten es, Licht in die rätselhaften Dinge zu tragen, den Schleier zu lüften, die letzten Augenblicke ihres Freundes zu beleuchten und sich die Gründe zu vergegenwärtigen, die ihn veranlaßt haben mochten, in der letzten Stunde das gewaltige Lied ›Wir sind im wahren Christentum‹ mit getragener, wenn auch verzweifelter Stimme zu singen. Allein, wie sie auch nachdachten und grübelten und das Für und Wider in Erwägung zogen, auf Schritt und Tritt hatten sie mit Widersprüchen zu kämpfen, die außerhalb des Kreises ihrer Kalkulationen standen. Sie konnten die Lösung der geheimnisvollen Begebenheiten nicht finden.

So gaben sie denn ihre Bemühungen auf und rollten schweigend wie die Lemuren den letzten Rest des Weges unter ihren breiten Schuhen auf. Taktmäßig gingen ihre Tritte über den Paternosterdeich.

Als die ersten Leidtragenden näherten sie sich dem Trauerhaus, das mit seiner greifbaren Einsamkeit und seinen geblendeten Fenstern stumpf und leblos unter dem bleiernen Himmel ruhte.

Auf dem Flur drang ihnen ein atembeklemmender Duft nach warmem Krepp und welkendem Fichtengrün entgegen. Blumenreste und Schleifen lagen auf dem Boden verstreut, und zwei Mädchen waren dabei, den Estrich zu säubern und die zugetragenen Kränze zu ordnen. Ein regelmäßiges Hämmern, das irgendwoher tönte und dazu dienen mochte, die Wanddekoration zu befestigen, verstummte bei ihrem Eintritt.

Kosman Kraneboom empfing sie.

»Kosman, ist alles parat?« fragte Cornelis Höfkens.

»Allens! – ich bitte die Herrens.«

»Noch eins!« meinte Trumpfsieben. »Wer macht die geistlichen Honnörs?«

»Der Herr Dechant.«

»So, so! – Der Herr Dechant! Und wer assistiert ihm?«

»Der neue Kaplan.«

»Kuck mal an! Der junge Herr Lobbers. Der Andrees!«

»Derselbe,« stellte Kosman ausdrücklich fest. »Erst vor kurzem ist er von Empel weg auf die hiesige Stelle gekommen.«

»Ich kenn' ihn,« warf Grünober dazwischen, »ihn und den Alten, und um die Wahrheit zu sagen: ganz propere Leute; denn Schmied Lobbers aus Keppeln hat von mir immer seine Waren bezogen, Kandis und Korinthen, um die Weihnachtsstuten zu backen, 'ne gute Familie und allerhand Achtung!«

»Schön!« sagte Kosman. »Aber ich bitte die Herrens.«

»Immer leschär!« meinte Grünober.

Gemeinsam traten sie in die geräumige Küche und von hier durch die sperrangelweit geöffnete Tür, die ins Sterbezimmer führte.

Ein matter Dämmerschein empfing sie.

Mitten unter der verkleideten Hängelampe ruhte Christian Franz Malthus. Geranien und Goldlackstöcke umgaben die offene Lade, der ein aufdringlicher Geruch nach Lack und Firnis entströmte. Sieben Kerzen, je drei zur Seite und eine stärkere, größere am Kopfende des Sarges, verbreiteten eine spärliche Helle, die aber immer noch ausreichte, die Züge des Abgeschiedenen genau zu erkennen. Sein Anblick war ehrfurchtgebietend. Wie ein Großer, ein Mächtiger, einer von den Auserwählten, langhingestreckt, eine blendendweiße Zipfelmütze übergezogen, die Nase spitz und durchsichtig wie Porzellan, die stillen Hände mit den bläulichen Fingernägeln gefaltet und dazwischen die Glasperlen eines Rosenkranzes vernestelt, majestätische Ruhe auf den zermarterten, aber doch nicht entstellten Zügen, die Lippen, auf denen ein kleiner Blutstropfen ruhte, ernst und geschlossen – so lag er auf den steifleinenen Kissen, jetzt aller Sorgen ledig, ein freier Mann, fern dem Menschengewühl, dem Irdischen entrückt und der Anschauung Gottes nahe.

Mit leisem Tönen tropfte das überschüssige Wachs auf die Messingbehälter. Sonst war es totenstill im Zimmer. Nur eine Fliege näselte von Zeit zu Zeit mit dem feinen Singsang einer zart angestrichenen Saite durch den Gottesfrieden.

Betroffen standen die drei an der Lade, schüttelten die Köpfe und preßten bewegt den Rand ihrer Zylinder gegen die Westen. Keiner sprach ein Wort. Endlich jedoch wagte Cornelis Höfkens das Schweigen zu brechen und sagte: »Malthus, wir drei, deine Freunde und Solokollegen, sind gekommen, um dir nach alter Sitte und deinem Wunsch gemäß die Ehre zu geben. Indem wir nun in Trauer und tiefster Bekümmernis hier vor deinen sterblichen Resten erscheinen, um dir zu dienen und dir unsere Liebe und Anhänglichkeit zu beweisen, geloben wir in dieser ernsten und erhabenen Stunde: Malthus, dein Wille geschehe!«

»Dein Wille geschehe!« respondierten die übrigen Leidtragenden.

»Dann Hut auf!« gebot Cornelis, und bedeckten Hauptes traten sie in die Küche zurück, wo sie sich im Anblick des Toten um den für sie hergerichteten und mit einem Fidibusbecher, einem Kartenspiel und zwei brennenden Kerzen bestellten Tisch niederließen.

Kosman überreichte jedem seine gestopfte Kalkpfeife, bediente die Herren und machte sich hierauf an der Anrichte zu schaffen, indem er drei Schnapsgläschen auf eine Zinnassiette stellte und einen bauchigen Tonkrug hinzutat, auf dessen Binde die anheimelnden Worte standen: »Münsterländer Korn, hergestellt von Josias Schwerdrupp in Rheine. Semper idem

Bläuliche Kringel stiegen zur Decke. Mit übergeschlagenen Beinen und stumm wie die Spiegelkarpfen folgten die drei den ziehenden Wölkchen. Keines Menschen Stimme wurde laut, kein Geräusch ließ sich hören. Die ernste Zeremonie ging ungestört weiter. Nur vom Herdfeuer her kam zuweilen das monotone Zirpen eines Heimchens herüber.

Wie Ölgötzen saßen sie da, wie Fakire oder auch wie Feueranbeter in Baku auf der Halbinsel Apscheron im Kaspischen Meere – drei Marabus auf der nämlichen Stätte, würdig, feierlich und mit langen Gesichtern, über denen sich die hohen Zylinder wie schwarze Kegel aneinander reihten.

Der Rauch wurde stärker. In zierlichen Spiralen und Streifen verstreute der Oldenkott Rippchentabak seine köstlichen Arome. Die Dämpfe schleierten sich um Zinnteller und Kasserollen und senkten sich dann als Musselingewebe wieder sacht aus der Höhe.

Unter diesem feierlichen Schweigen und Rauchen waren etwa zehn bis fünfzehn Minuten vergangen, als Cornelis Höfkens einen grunzelnden Ton von sich gab und diesem Grunzeln noch das Wort ›Codille‹ hinzutat.

»Codille!« rief er mit einer getragenen Geste.

»Hm, hm!« sagten die andern.

Dann wieder Pause, die Kosman Kraneboom dazu benutzte, den Münsterländer Korn, hergestellt von Josias Schwerdrupp in Rheine, sorgfältig in die blanken Gläschen zu füllen.

Im selben Augenblick sagte Pitt Lörksen tief aus seiner schwarzen Samtweste heraus: »Trumpfsolo!«

»Brav so, brav so!« murmelten die andern, während sich Kosman Kraneboom mit dem Zinntablett und den eingeschenkten Schnäpsen langsam in Bewegung setzte.

Wiederum waren zwei Minuten vergangen, da schlug Grünober die flache Hand gedämpft auf den Tisch, blies eine forsche Wolke aus seiner Kalkpfeife und flüsterte mit verhaltener Stimme: »Solo tout, um die Wahrheit zu sagen.«

Alle erhoben sich.

»Pompös!« sagten die Männer, sahen sich an und grüßten sich wechselseitig durch Lüften ihrer Zylinder.

Kosman war an ihre Seite getreten.

»As't üh belieft, Mynheer Höfkens.«

»Merci.«

»As't üh belieft, Mynheer Schweißgut.«

»Danke, danke, um die Wahrheit zu sagen.«

»As't üh belieft, Mynheer Lörksen.«

»Immer leschär!« meinte Trumpfsieben, und gemeinsam mit den andern wippte er sein Gläschen hinunter, worauf der Matador ein stummes, vielsagendes Zeichen machte und die drei mit brennender Kalkpfeife und auf Zehenspitzen sich zum Toten begaben.

»Malthus,« sagte Cornelis, nachdem er dicht vor die Lade getreten war und seine Kollegen sich rechts und links von ihm aufgepflanzt hatten, »nun sind wir zum zweitenmal erschienen, aber in voller Montur und mit brennenden Pfeifen, um dir das letzte Lebewohl zu bereiten. Lieber Freund und Tabaksgenosse, nimm mir's nicht übel« – und seine Worte gerieten in ein gelindes Zittern und Zagen – »wenn ich behaupte: ein ekelhaftes Biest hat dir das Mark aus den Knochen gesogen, und trotzdem und desungeachtet« – und seine Stimme straffte sich wieder – »müssen wir dir alle Hochachtung schulden. Malthus, dein Leben war tuschur 'ne barbarische Arbeit mit das infamige Wasser, und was solches bedeutet . . . Malthus, ich kenne das mit dem Wind und das mit's Wasser, aber das mit's Wasser ist noch immer 'ne Portion unbequemer gewesen, denn es hat seine Nucken und Raupen und kann einem Strunk und Stiel und Reputation und Monetens verderben. Indessen jedoch, du hast dir immer forsch überm Pegel gehalten.«

»Hast du,« pflichtete Trumpfsieben bei.

»Hast du, um die Wahrheit zu sagen,« nickte Grünober.

»Malthus, und dein Sterben war köstlich,« sprach Cornelis weiter, »köstlich wie man das so benennt, wenn man nicht lange gebraucht, um ins Himmelreich und zum lieben Gott zu gelangen.«

»War es,« bestätigte Grünober.

»Immer leschär!« sagte Trumpfsieben.

»Indessen jedoch,« fuhr der Matador in getragener Weise und mit einem schweren Seufzer fort, wobei er eine blaue Opferwolke über den Abgeschiedenen forträucherte, »nur ein dunkler Punkt ist aus deinem schneeweißen Edelmannsleben übrig geblieben; denn was um Gottes willen, du lieber Solo- und Tabakskollege, hattest du mit Jan van den Birgel zu schaffen? und was veranlaßte dich, dem schwerreichen, aber dunkeln Kavalier aus dem Geldrischen deine Tochter zu geben? Ach, Malthus! – warum hast du Hans Harkort in Not und Elend getrieben? Ich bitte dir, Malthus!«

»Ich bitte dir, Malthus!« echoten die beiden Mitkomparenten, indem sie ihre Nasen lang machten und einen schmerzlichen Blick auf den Verstorbenen sandten.

»Indessen jedoch« – mit diesen Worten kam Cornelis allmählich zum Schluß seiner gehaltvollen Rede – »wir sind keine Richter und nicht bei's Amt angestellt, sondern bloß ehrliche Christenmenschen und schlichte Bürger, und können nicht wissen, welche tränenreichen Mouvements deine Seele bewegten, als du meintest, Glaube, Hoffnung und Liebe zwischen den Rädern zu finden. Das weiß nur der Himmel, das wissen nur die, die unter den ewigen Heerscharen wandeln. Auf Parol, meine Herren, dafür wird Malthus seine Gründe schon haben und sich verdeffendieren können, wenn der Herr ihm gebietet: Malthus, steh' Rede! Im übrigen: jeder Mensch hat sein Schwarzes im Konto, denn wir allinsgesamt sind Kinder der Finsternis und nicht solche des Lichtes. Drum keine Bange. Ich lege dafür meine Hand ins Feuer: spiegelrein bist du trotzdem geblieben und wirst so deinen Heiland erkennen, wirst eingehen zu ihm und zu seinem splendiden Gastmal – mit Gott, für König und Vaterland. Wir aber, die wir hier die Solopartie und den Rauchklub glorreich vertreten, die wir mit dir Freud' und Leid trugen bei Wind und Wetter, zu Wasser und zu Lande und wo nur immer es sein mochte, wir werden dir ein stetes Andenken bewahren, bieder und treu, besser als in Stein und Eisen verewigt, ungeteilt bis in die dunkelsten Tage – mit Gott, für König und Vaterland. Auf Parol, meine Herren« – und das melancholische Finale eines schmerzdurchpflügten Herzens zitterte vielbewegt durch seine verhaltene Stimme – »an deine Stelle soll ein Würdiger treten, ein Mann wie du, wert, die Karten zu mischen, im ›Dicken Tommes‹ zu sitzen und die Pfeife zu stopfen, auf daß es uns wohlergehe und wir noch lange leben auf Erden – mit Gott, für König und Vaterland!«

»Amen,« sagte Grünober.

»Amen,« bestätigte Trumpfsieben, und zum Zeichen unverbrüchlicher Treue und Trauer zerbrachen sie ihre Kalkpfeifen und warfen die Brocken unter die schwarzen Bretter.

Kosman Kraneboom, der während dieser ergreifenden Feier zwischen Tür und Sterbezimmer gestanden hatte, trat erschüttert näher, drückte den dreien die Hand und sagte, während ihm ein namenloses Weh fast die Kehle abschnürte: »Danke, danke! wenn das noch Malthus erlebt hätte, er würde sich freuen.«

Mitdem begannen die Totenglocken zu läuten, während Pitt Lörksen ganz leise dazu pfiff und ein tiefwehmütiges »Es ist bestimmt in Gottes Rat« durch das Trauerzimmer klingelte.

Die Leidtragenden stellten sich allmählich ein. Der Duft nach Buchsbaum und welken Blumen war stärker geworden. Die Kerzen, die Malthus umstanden, schienen heller zu brennen. Weihrauch wölkte auf; er füllte alle Räume mit seinem Arom, und als der Dechant erschien und mit ihm Andreas Lobbers, im weißen Röckling, das Barett auf dem dunkeln Haar, schlicht und einfach und mit gütigen Augen, als sich ein erwartungsvolles Hüsteln und Scharren unter den Menschen austat – da öffnete sich die gegenüberliegende Tür, und eine hohe, schwarzgekleidete Frau trat ins Zimmer und stellte sich an das Kopfende des Sarges.

Es war Franziska Simonis.

* * *


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