Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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4

Hans Harkort war ans Fenster getreten, hatte geöffnet und sah in den Abend hinaus.

Die Luft, die noch immer in herzhafter Frische von den Deichen herüberwehte, tat ihm wohl. Der Mond war aufgegangen. Die Erde ruhte unter seinem weißen Licht. Die Straße, die vom Hof nach den Wassermühlen und der kleinen Stadt führte, ließ sich eine geraume Strecke deutlich verfolgen. Ein paar Lichter schimmerten bleich ins Fenster herein; sie kamen aus den Mägdekammern. Der kreisrunde Teich, jenseits der großen Scheune, glänzte wie Silber. Irgendwo schlug ein Hund an; nicht auf dem Hofe selber, sondern mehr den Wassermühlen zu, die sich in ihren gewaltigen Schattenrissen noch mächtiger und umfangreicher darboten, als sie es in Wirklichkeit waren. Daneben lag das Herrenhaus mit abgeblendeten Fenstern. Nur zwei waren erleuchtet. Hinter den weißen Gardinen streckte sich der Trumpfkönig auf seinem Paradebett. Der Mann hatte ihm von jeher imponiert, imponiert durch das Zugreifende, Arbeitsame, Selbstherrliche und die graue Stille seines Wesens. Sonst hatte er keine Gemeinschaft mit ihm gehabt, obgleich er als Junge ein täglicher Gast unter seinen Sparren gewesen war. Hier empfand er das erste Surren und Flimmern des Blutes, das unbestimmte Sehnen und Erwachen einer schlummernden Seele. Hier hatte er das erste Erlebnis, die größte Entdeckung eines jungen Herzens: das Finden des Weibes; hier wurde dieses zarte Erlebnis zerstückelt und schließlich auseinander gerissen. In kurzer Gedankenspanne, kaum für etliche Sekunden hindurch, durchlebte er Jahre, sah seine Jugend, sah sein Ringen und Streben und sah, wie der Schmerz sich immer näher heranarbeitete. In rascher Folge, mit dem Wechsel der Bilderreihe eines Traumbuches zog das alles an seinem geistigen Auge vorüber, und doch waren kaum einige Minuten vergangen, seitdem ihn die Mutter verlassen hatte.

Hinter ihm zirpte die Lampe.

Langsame Schritte kamen den langen Korridor herauf.

Da trat er vom Fenster zurück, nachdem er es geschlossen hatte, und begab sich wieder in den Lichtschein des grünen Schleiers. Hochaufgerichtet, die Rechte auf dem Tisch, sah er zur Tür.

Leise klinkte sie auf.

»Heelmoijen Abend!«

»Herr Kraneboom . . .

»Was soll das? Warum das?«

Mit mißbilligendem Kopfschütteln, die Mütze gegen die Brust gedrückt und den Blick in stiller Andacht auf den Gutsherrn gerichtet, war der Alte näher getreten.

»Wenn ich so spät noch komme, so bitte ich das exküsieren zu wollen, denn bis jetzt habe ich der traurigen Umstände wegen meine gehörige Portion Arbeit gehabt, solche, die sich mit's Gewöhnliche befaßte, und solche, die mehr in die Ewigkeit hineinpilgerte. Alles der traurigen Umstände wegen.«

»Ich weiß das. Sie sind mir willkommen, Herr Kraneboom.«

»Nicht so, Herr Harkort! Bitte, sonder Komplimente, Mynheer. Für Euch bin ich noch immer der preußische Kosman. Genau so wie damals. Erinnert Euch nur. Wenn ich Euch so in früheren Jahren meine feinen Geschichten erzählte, die vom General Seydlitz und die, die immerzu anfing: Es war 'mal ein Schiff, das hieß Austria und fuhr in ein schweres Wetter hinein und mußte schließlich in dem wüsten, grauen Wasser ersaufen . . . und das mit die Weidenpfeifchen, die ich Euch so um die Osterzeit machte . . . und das mit die Ratten, wenn sie Sonntags, wo die Räder keinen Gusto besaßen, mang die Speichen herumturnten, kommod und pläsierlich, und wie sie dann quietschten und lustige Kringel mit ihren klebrigen Schwänzchen drehten, und wir sie schlankweg von der Schleuse hinunter ins Wasser pulverten . . . und dann das Weitere, als ein Gewisser größer und verständiger wurde . . . Also keine Komplimente, Herr Harkort. Es muß schon beim preußischen Kosman bleiben. Das ist ein Ehrentitel von mir, und wenn auch die Menschen 'ne andere Besinnung von haben, ich für meine Person estimiere die Sache, denn ich habe bei die Preußen gedient, Berlin, Chausseestraße, Gardefüsiliere, und das ist mir bekömmlich gewesen. Ich habe den preußischen Drill gesehn und erduldet, und bin dabei gut bei Wege geblieben. Und wenn die vom Niederrhein mehr Preußisches an sich hätten, ich meine das Akkurate, Prompte, Stramme, das, was man Pflicht und Vaterlandsgefühl benennt, immer proper aufs Ganze – es stünde schon besser um die hiesige Gegend. Also wie früher: ich bitte um den preußischen Kosman, Herr Harkort.«

Der treue, warmherzige Ton, mit dem das alles vorgebracht wurde, verfehlte seine Wirkung nicht. Über die ernsten Züge des Gutsherrn glitt ein freundliches Glänzen, ein Überbleibsel aus jenen längstvergangenen Tagen, wo er noch nicht gegen den Strom der Zeit zu schwimmen hatte, und wo, wenn es schneite, er des seligmachenden Glaubens war, weiße Rosen schaukelten für ihn vom Himmelreich. Ein Strom von Leben und Wärme durchrieselte ihn, und es flog ihm durch den Sinn: so ein Mensch wie der, so steht kein zweiter zwischen Kleve und Xanten . . . und er trat auf ihn zu und sagte: »Gut denn, es bleibt dabei. Nichts soll sich geändert haben. Drum setzt Euch, Kosman, und nochmals gesagt: herzlichst willkommen in meinen vier Pfählen!«

Dabei machte er eine Handbewegung, die den Alten ganz sacht in einen Korbsessel hineindrückte.

Kosman legte die Mütze auf die Knie, darüber die breiten, gutmütigen Hände, die an jedem Fingerglied ein dickes Büschel rötlicher Haare aufwiesen.

»Merci, merci! und meinen gehorsamsten Ausdruck, Herr Harkort. Ja, ja, wir sahen uns lange nicht, oder besser gesagt: wir gingen aneinander vorüber wie zwei verödete Menschen, die so recht nicht mehr wußten, wo sie die Sprache, das richtige Herz und den Glanz aus früheren Tagen hernehmen sollten. Besonders Ihr nicht; denn wenn einem alles Glück, alle Hoffnung und alle Besinnung so einfach abgedreht wurden, dann geht man schon mit blinden Augen an alten Geschichten vorüber. Ich kann das verstehen, Herr Harkort. Es ist etwas Schönes darum, bei einem jungen Weibe zu sitzen, ihm das stille Blut zwischen Bast und Borke zu wecken, viel schöner, als über seinen Schriften und Büchern zu hocken und sich sagen zu müssen: Ich darf nur im Herrn atmen, nur sorgen und sinnen und den heißen Leib tot machen, um später der Würde eines Heerohmes teilhaftig zu werden. Alles recht schön das, aber das mit dem Weibe ist feiner. Da wird einem viel wohler. Ich hab's ja nicht selber ausgekostet, aber Ihr habt's erfahren. Nur schlimm, so ein Weib zu verlieren. Ihr tatet's, und da zerquälte der erste große Schmerz Eure Brust, und da begann der schwerste Tag Eures Lebens, und seit diesem Tage seid Ihr an den Wassermühlen vorübergegangen, immer ganz heimlich, mit blinden Augen und so ganz auseinander.«

Er schüttelte traurig den Kopf, daß die silbernen Ringe in seinen Ohrläppchen geisterhaft aufleuchteten.

»Früher ist das anders gewesen, Herr Harkort,« sagte er mit verlorener Stimme, und seine Finger begannen verlegen mit der zersplissenen Seidenmütze zu spielen, zerknüllten sie, um dann die erzeugten Falten und Fältchen wieder glatt und sauber zu bügeln, »ganz anders gewesen, Herr Harkort, ganz anders.«

»Kosman, warum das? Weshalb diese wehen Gedanken, diese Erinnerungen? Sie führen zu nichts, auch jetzt nicht, wo das alles längst hinter mir liegt, die Welt mit ihren Anfechtungen mir nichts mehr zu sagen hat und ich darüber lächle, wenn die Menschen mich meiner sogenannten Abtrünnigkeit wegen mit dem Ehrentitel eines Kalviners begnaden, auch jetzt nicht« – und seine Stimme schwoll an und hatte etwas Bitteres auf der Zunge – »auch jetzt nicht, wo hier diese Fäuste . . .«

Er streckte sie von sich.

»Was heißt das, Herr Harkort?«

Kosman schaute auf, wie ein Regimentsgaul aufschaut und die Ohren spitzt, wenn das Trompetensignal über die Heide schmettert.

»Das heißt,« sagte der Gutsherr, »hier diese Fäuste . . . mit dem heutigen Tage regieren sie auf ihre eigene Kappe, mit dem heutigen Tage . . .«

»Menschenskind, Menschenskind!« fiel ihm der Alte ins Wort, »Hans, mein Junge, mein alles, wo soll ich das hintun? Also wirklich und wahrhaft! Nicht mehr der erste Knecht und Schaffer auf Op gen Oort, sondern sein Herr und Besitzer?!«

»Ja, sein Herr und Besitzer,« versetzte Hans Harkort, und in seinen Augen stand ein helles und stilles Wasser, »denn mit dem heutigen Tage . . . Früher stieß ich andermanns Pflug in andermanns Scholle, jetzt zieht mein eigener Pflug durch den eigenen Acker, früher stakelte ich mit andermanns Sämannstuch über die Felder und streute andermanns Korn auf andermanns Boden, jetzt tut's das eigene Tuch und der eigene Weizen. Aber was hilft mir das alles! Es gibt ein bitteres Wort, und dieses Wort hat sich an mich geworfen wie ein scheußliches Tier. Kosman, zu spät! Man kann nicht mehr ins Leben zurückrufen wollen, was zu Asche wurde. Totes soll ruhen. Nur das Lebendige regiert, und was verflucht ist, bleibe verflucht. Es wäre ein unsinniges Tun, diesem Fluch in die Parade zu fahren. Ein Fünkchen gibt Hoffnung auf Feuer. Bei mir ist auch der letzte Funke erloschen. Ich habe nichts mehr zu hoffen. Als das auf den Wassermühlen passierte, als der alte Malthus das Tafeltuch entzweischnitt, um aus seinem Elend zu kommen, als das junge Weib sich abwandte und sein gelenkfeines Denken mir die bitterste Stunde brachte – mit diesem Tage überzählte ich meine verlorenen Jahre, meine vergebliche Arbeit. Ich blieb nüchtern, klar bei Sinnen. Das war aber auch alles. Das Spiel ging verloren. Langsam senkte sich die dunkle Wolke herunter, und hinter mir krachte mit scheußlichem Gepolter mein ganzer Tempel zusammen.«

»Ich weiß das, Herr Harkort, ich weiß das,« brütete der Alte dumpf vor sich hin, und er schien die blankgescheuerten Dielen zu zählen, die in schmalen Borten die Stube durchquerten. »Alles so fremd und seltsam, so aus der richtigen Spur heraus,« fuhr er fort mit sich selber zu sprechen. »Das ist ja gerade, als wenn ein Hanswurscht in der Komödie steht und das ganze Schauspiel verbiestert. Der liebe Gott kann doch so was nicht wollen. Solchem Hanswurscht müßte man ja die Faust in den Hals stoßen. Gottverdammich, das müßte geschehen . . . und dann das übrige noch . . . ich meine, was da sonst noch passiert ist . . .«

Er sprach nicht mehr, grübelte aber weiter in sich hinein, drehte die Schirmmütze in den Fingern herum und saß wie angenagelt, bis er sich plötzlich in die Höhe wuchtete und in die Worte ausbrach: »Hans, Herzensjunge, Herr auf Op gen Oort,« und er warf beide Arme zur Decke, »höre mich an – du! Ich, Kosman Kraneboom, ich glaube an Gott den Vater, an eine einzige christkatholische Kirche, an die Gemeinschaft der Heiligen . . . warum sollte ich denn da an 'ne ewige Vorsehung nicht glauben?! Man muß doch irgend 'ne Hoffnung besitzen, 'nen Schein auf die Zukunft. Sonst geht der Mensch auseinander. Hans, gibt es denn gar keinen Ausweg?!« und mit heißen, vor Angst und Liebe flammenden Augen umfaßte er die Gestalt des Insichgekehrten, der sich langsam erhoben hatte.

»Keinen,« kam es hart und trocken zurück.

»Was – keinen?! Also nichts, reineweg gar nichts! Herr Jeses noch mal!« und die Hände des Alten, die noch immer in der Luft standen, falteten sich krampfhaft zusammen und sanken dann nieder. »Gottes Not und Elend, so was kann einem die fünf Sinne verdrücken! Wäre es doch so gekommen, wie ich mir es ausgedacht hatte. Ich könnte mein Herz zwischen die Finger nehmen und sagen: Man ruhig, immer man ruhig; denn ich habe das Licht gesehen, ein großes, stilles und heiliges Licht, wie es brennt in der Nacht, wenn sie auf dem Emmericher Eiland die Osterfeier begehen. Aber ich sehe das Licht nicht. Und dennoch, Herr Harkort, ich glaube, ich glaube,« und er wiederholte mit mächtiger und hoffnungsfreudiger Stimme: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Sohn und den heiligen Geist. Ich glaube an eine einzige christkatholische Kirche, an die Gemeinschaft der Heiligen und eine Auferstehung des Fleisches. Ich glaube aber auch, daß ich noch das Licht sehen werde, wie es alljährlich brennt auf dem Emmericher Eiland und auf den Deichen nach Kleve und Rees zu. Man muß nur darauf warten, immerzu warten, immerzu warten . . .«

Seine Worte versickerten.

Mit einer scharfen und kurzen Bewegung unterbrach ihn der Gutsherr. Trotz der behaglichen Wärme des Zimmers schien er zu frieren.

»Ich bitte Euch, Kosman,« sagte er aus tiefster Erregung heraus, »macht mir die Stunde nicht schwerer. Ich habe schon genug zu tragen. Was Ihr da betreibt, macht mich immer noch ärmer. Ihr zeigt mir ein Bild in flackernder Beleuchtung. Ich sehe das Weib, wie es war, in seiner ganzen Reinheit und Liebe, in seiner Gottähnlichkeit, schön wie die Frauen, die an den ewigen Tischen sitzen. Aber wenn ich es näher betrachte, dann ist es kein Weib mehr, sondern ein Dämon, ein Unsagbares, ein Entsetzliches, das mich bis an den Rand der Verzweiflung brachte.«

»Hans, um Gotteswillen, Ihr lästert, Ihr lästert!«

»Ich lästere nicht. Ihr wißt es ja selber: ich gedachte das geheimnisvollste Fest meines Lebens zu feiern, wurde jedoch daran verhindert, dieses Fest zu begehen; denn sie da drüben hat nichts von meinen Freuden und meinen Opfern empfunden, sondern ließ mich in einer Verfassung zurück, die mich nur mit Grausen an das Vergangene denken läßt. Wie alles so kam, Gott mag es ermessen. Ich zählte ihre Atemzüge, um hieraus während der Krise ihre Gedanken zu erraten, einen Grund zu finden, mir das Rätselhafte ihres Wesens näher zu bringen. Selbst ihr letzter Brief machte das tiefe Schweigen nur größer. Ich tastete wie mit einer Stange ins Nichts hinein, ins Leere, in einen undurchdringlichen Nebel. Irgend einen Lichtstrahl in dieses Dunkel der Widersprüche und der seltsamen Begebnisse zu tragen, gelang mir nicht, ist mir bis heute nicht möglich gewesen. Es ist nichts mehr zu ändern, und somit, Kosman, mag die Vergangenheit ruhen. Ich habe mich damit abgefunden, wie einer, dem es gleichgültig ist, ob heute oder morgen für ihn das letzte Brot gebacken wird. Ich lebe nur noch, um zu leben, und schaffe, um zu schaffen, und hoffe dereinstens einen gnädigen Richter und meinen Erlöser zu finden. Und somit, was bleibt mir noch übrig? Nichts anderes, als in Geduld die Mühseligkeiten des Tages auf mich zu packen und die Kälte des Todes mit freier Stirn zu erwarten. Ihr aber« – und er drückte den Alten in die Kissen zurück, und seine Worte nahmen einen warmen und zuversichtlichen Ton an – »Ihr aber, Ihr und ich, wir bleiben die alten, genau so wie damals, als uns das ganze Himmelreich noch voller Geigen hing und die Wiesen aussahen, als hörten sie Glocken, die einen ewigen Sonntag verkündeten.«

»Schön denn,« sagte der Alte, »da ist denn wohl weiter nichts in der Sache zu machen, obgleich ich die Besinnung hatte, es würde sich manches noch seiner begeben. Aber nichts für ungut, Herr Harkort.«

Mit seinen ungelenkigen Händen wischte er sich über die Augen.

»Und nun,« meinte der Gutsherr, indem er sich's wieder in seinem Lehnstuhl bequem gemacht hatte, »wegen dieser Auseinandersetzung seid Ihr doch nicht nach Op gen Oort gepilgert, habt Ihr die alten Beziehungen nicht aufs neue eingerenkt. Da muß noch irgend was Tieferes liegen. Und wenn Ihr schon vorsprechen wolltet, weshalb seid Ihr nicht früher gekommen? Aber Ihr kamt nicht und kamt nicht. So ging das Monde hindurch und Jahre hindurch. Wir sahen uns kaum, und wenn wir uns sahen, zogen wir stumm aneinander vorüber. Als wäre das nötig gewesen. Gut, ich hatte mit den Wassermühlen nichts mehr zu tun, wollte sie nicht mehr sehen, ging mit toten Augen vorüber . . . Ihr aber, Ihr . . .«

»Menschenskind, Ihr reißt mir ja den Verstand auseinander!«

»Kosman, das mußte nun einmal gesagt sein. Das lag in dieser Stunde begründet. Und nun: was führte Euch her? Was wollt Ihr von mir? Kann ich Euch helfen? Wollt Ihr Euch verändern und von den Wassermühlen herunter?«

»Niemals, Herr Harkort! Da drüben« – und mit aufgerissenen Blicken streckte er die Hand aus – »da liegt mein Reich und mein alles. Da stehen meine biblischen Erinnerungen wie die Kornsäcke nebeneinander, und die geb' ich nicht auf. Nicht ums Verrecken. Da hab' ich Gotteslohn empfangen und Gottesbrot gegessen und will da auch sterben.«

»Kann's mir denken. Ihr habt vielleicht ein sonstiges Anliegen?«

»Das stimmt schon.«

»Dann mal offen und ehrlich gesprochen.«

»Hans,« meinte der Alte, »nein, ich sage besser Herr Harkort,« und in seinen ausgebleichten Augen stand ein wehes Sinnen und Suchen, »man soll den Tag nicht vor dem Abend preisen. Heute rot und morgen schon als arme Seele an der Himmelspforte. Ihr wißt es ja selber: Malthus ist per Malör vor seinen Herrgott getreten. Daß das so kommen mußte, so und nicht anders, das wußte ich lange. Man soll darüber bloß keine großen Töne nicht reden. Das hat jeder mit sich selbst zu befinden. Aber wer ihn so gekannt hat im Leben, so mitten darin, so rank und honett wie'n gesunder Pfahl im Schleusenwerk, ein Mensch, dazu gemacht, alle Wasser-, Wind- und Sägemühlen zusammen unter sein Zepter zu bringen, und dann zusehn mußte, wie ihm so'ne gierige Ratte im Nacken saß, wie das nagte und quietschte, wie da jeden Morgen so'n Biest von 'nem Maulwurf vor der Einfahrt wühlte und wühlte, wie ihm da das Essen lang wurde zwischen den Zähnen und es immer mehr bergab ging mit seiner Pläsierlichkeit, seinem Können und seiner barbarischen Forsche . . . wer das alles hat mit ansehen müssen mit leiblichen Augen und nicht in der Lage war, helfen zu können, dem drehte sich vor Angst und Benautheit der Kopf in den Rücken, und so wahr ich mich Kosman Kraneboom nenne, mir hat er sich in den Rücken gedreht, daß er mir heute noch weh tut. Aber wir wollen's kurz machen, Herr Harkort,« und in sein ganzes Gehaben drängte sich eine fröstelnde und offizielle Note ein, »denn ich hab' 'ne Bestellung zu machen.«

»'ne Bestellung, Kosman?«

»Ja, 'ne Bestellung, Herr Harkort.«

»Von wem denn?«

»Von 'nem Toten, Herr Harkort.«

»Von Malthus?«

»Ja, von Malthus, Herr Harkort.«

»Was?!« und der Gutsherr fuhr wie ein Richtscheit steil in die Höhe. »Von dem da?!« fragte er tonlos. Es war weder Glanz noch Metall in der Stimme.

»Herr Harkort . . .«

Schwerfällig trat der Alte an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Herr Harkort,« meinte er bedrückt vor sich hin, »ich bin nicht immer meine reguläre Straße gegangen. Ab und zu machte ich 'nen Abstecher, von dem man sagen konnte: es wäre besser und gottwohlgefälliger gewesen, du wärest auf dem richtigen Wege geblieben. Das liegt nu mal so in der menschlichen Natur, denn von Zeit zu Zeit sticht einen der Hafer, und dann kriegt man Allüren wie die bockigen Pferde. Aber, Herr Harkort, und das mit Respekt zu vermelden, mit der Wahrheit bin ich all meine Tage dakkohr und im besten Einverständnis gewesen, und was ich jetzt zu sagen habe, das ist piekfein gewaschen und wie aus der Bibel genommen. Was sich da drüben zugetragen hat, ich meine das Unglück, davon hat jeder Kenntnis empfangen, aber was später passiert ist, darüber hat keine menschliche Seele nicht die rechte Besinnung. Selbst die Tochter nicht. Sie kam, als alles vorbei war, selbst 'ne Totenbeterin, vom Sarg an die Sterbelaken . . .«

»Nicht möglich!«

»So ist es, Herr Harkort. Es war bei ihm ein schweres und langsames Sterben, und ich sagte soeben: Von dem Rest hat keine menschliche Seele 'ne rechte Besinnung bekommen. Dazu muß ich 'ne kleine Einschränkung machen. Ich bin bei ihm gewesen, denn als er noch für 'nen Augenblick hellsichtig wurde, da ließ er mich rufen. Das Nönnchen aber, das ihm in den letzten Tagen mit christlicher Salbung und Nächstenliebe beistand, blieb draußen, weil er mir allein sprechen wollte. Dann sagte er mit schon halbgebrochenen Augen: Da liegt noch was zwischen mir und der Ewigkeit, das muß fortgewischt werden. Ich mußte ihm das Ohr an den Mund legen, um seine Worte, die so schwach wie kranke Hühner waren, verstehen zu können. Ja, Kosman, das muß von der Seele herunter; denn die da auf Op gen Oort, die sollen vergessen, die sollen nicht glauben, ich hätte als moralischer Lump mein Leben verkartet, die sollen Barmherzigkeit üben . . . besonders Hans Harkort . . . ja, die sollen Barmherzigkeit üben . . . die sollen, die sollen . . . im Namen des dreieinigen Gottes, die sollen nicht nachtragen und den Stein nicht wider mich heben, sonst kann ich nicht absocken und die ewige Ruhe nicht finden. Und Malthus griff in die Luft und redete wirres Zeug durcheinander . . . Hurra die Enten . . . und Simonis soll leben . . . der Viechskerl . . . Kosman, tu' mir die Deich- und Mühlenkasse beiseite . . . die blutet . . . da klebt mein Gewissen dran . . . ich kann sie nicht sehen . . . Und dann kam er wieder auf 'nen vernünftigen Turnus und meinte, während der Abend schon auf die Dächer fiel und die Bäume leise dazwischen rauschten: Kosman, wenn alles vorbei ist, dann mache nach Op gen Oort hin, so ums Schummern herum, wenn keiner dich sieht und die Felder einschlafen wollen, und sagen sollst du dem jungen Hans Harkort, und in meinem Namen sollst du es sagen: Ein Toter steht vor dir. Und der Tote bin ich. Vergib mir, vergib mir um Jesu willen und um meiner Reue und Nöte willen, denn ich und Franziska, wir mußten den entsetzlichen Weg gehen, mußten ins Dunkel hinein, mußten alles hinter uns lassen, was ins Himmelreich führte . . . Mensch, du . . . sonst wäre ich vor die Assisen gekommen . . .«

Hans Harkort bäumte sich bei den letzten Worten auf, als habe ihn eine Kugel getroffen.

»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte er mit verlähmter Stimme.

»Man Ruhe, man Ruhe,« sagte der Alte, »denn nu ist ja alles vorüber; aber es ist doch ein schweres und elendiges Sterben gewesen, schwer und unbarmherzig wie das Sterben des Herrn, als die Finsternis kam und der Vorhang im Tempel mitten entzwei riß. Das vergesse ich nie mehr und wenn ich so alt wie Mathusalem würde – nie mehr, Herr Harkort, denn Sterbende lügen nicht. Da liegt was begraben, von dem man nicht weiß, warum sie das da eingescharrt haben, was da ruht, um zu ruhen und zu verwesen wie'n mistiger Strohhalm. Mag's denn da liegen, wie's liegt. Ich bin nicht schuldig, und so Gott will, auch Malthus nicht, es sei denn, er ist schuldig geworden ohne Besinnung, ohne zu wissen, was er getan hat. Ihr aber« – und Kosman Kraneboom warf alle Wehleidigkeit von sich, ging über sich fort, wie man über etwas Geringes und Minderwertiges fortgeht, wurde zu einem Seher und Mahner und zu einem Rufer in der Sandwüste . . . und seine Muskeln wurden zu Stahl und seine Sehnen zu Strängen und seine Augen zu heiligen Feuern, wie sie brennen in der Osternacht auf den Deichen von Wisselward und in den Wiesen vom Emmericher Eiland, »Ihr aber, Herr Harkort« – und er packte die Hand des entsetzten Mannes und sah ihn an, bis er ihm seine Seele versengte, und sagte: »Ihr aber, Herr auf Op gen Oort – Besitzer von Hof und Haus und von Äckern und Fluren, auf denen während der Reife die Gespanne in den vollen Roggen- und Weizenschlägen ersaufen – jetzt aus der Qual und dem Priestertum heraus und wieder das geworden, was Euch in den Knochen und der Natur lag: ein Pflüger und Säer und Ernter und brav und stark wie die hiesige Scholle – Ihr sollt ein übriges tun, Hans Harkort, und mit dabei sollst du sein, wenn sie ihn aufheben, sie, die Menschen mit den schwarzen Röcken und den Gesichtern, die nach Fusel riechen – und mitgehen sollst du, wenn sie ihn forttragen, von den Mühlen herunter, den Deich entlang, an der Mergelgrube vorüber, bis dorthin, wo die Kreuze stehen, große und kleine, und viele davon umfallen wollen – und zusehen sollst du, wenn sie ihn einsegnen und dann in die schwarze Kuhle versenken – und eine Handvoll Erde sollst du ihm nachwerfen – und beten sollst du drei Vaterunser für ihn, auf daß er fühlt und es mit in die Ewigkeit nehmen kann: der Herr auf Op gen Oort hat vergeben. Das ist meine Botschaft, Herr Harkort.«

Mit tränenerstickter Stimme sagte dieser, indem er seinen Arm um den Nacken des Alten legte: »Kosman ich kann nicht. Erspart mir diesen schweren Gang. Ich bräche ja körperlich und seelisch zusammen.«

»Wo das Christian Franz Malthus gewünscht hat . . .

»Kosman, Kosman, die Mühle . . .!« jammerte es aus dem Verzweifelten heraus. »Wenn ich ihre Schwelle betrete, dann lacht der Satan. Mensch, Mensch, für mich hat's ja nicht mal 'nen Schmied von Gretna-Green gegeben! Und dann Simonis . . . ich kann Simonis nicht sehen.«

»Simonis!«

Kosman atmete auf; durch seine Hünengestalt ging ein Sichdehnen und Strecken.

»Simonis laßt schlafen!« sagte er feierlich und hob die Hand und senkte sie wieder. »Nu weiß ich's: Jan van den Birgel ist nicht bei Euch gewesen. Es freut mich aber, daß er mein Wort estimiert hat und Euch so Böses ersparte; denn wo der Kerl seinen Medaillenstock hinstellt, da wächst der Tod aus dem Boden. Und weil er nicht auf Op gen Oort war, so könnt Ihr auch nicht wissen . . .«

»Was kann ich nicht wissen?«

»Na das, was sich inzwischen im Geldrischen abgespielt hat. Auf dem Hof, den sie dort den ›Aukamp‹ benennen, brannten die Lichter. Sechs Lichter auf Reihe. Und als sie verloschen, wurde Simonis erster Klasse begraben.«

»Was . . .?!«

Hans Harkort griff in die Luft und suchte Halt zu gewinnen.

»Wann gestorben?!« rief er mit geisterhaft geweiteten Blicken.

»Nach Malthus gerechnet – vier Tage vorher.«

Der Entsetzte brach wie unter einem Wetter zusammen, tastete sich mühselig hoch und stützte den Kopf auf. Stieren Auges sah er über den Tisch fort. Eine Welt von Trümmern fiel über ihn her. Eine dumpfe, schwere See brandete gegen ihn an, rauschte und polterte und suchte ihn in die Tiefe zu ziehen. Er faßte das Ungeheuerliche nicht. Eine Symphonie des Schmerzes hämmerte auf ihn ein, ließ ihn die Vergangenheit abtun, brachte ihm die Gegenwart näher. Und doch war alles so wüst um ihn, so kalt und hoffnungslos. Er sah den Aukamp, den er verflucht hatte, und er hob die Hand, um ihn nochmals zu verfluchen. Er konnte es nicht. Der Fluch erstarb ihm zwischen den Zähnen. Er schauderte in der Erinnerung an das, was ihm alles geschehen war, was er erduldet hatte. Und nun kam das Licht, aber dieses Licht zerrann ihm, wie das Licht an einem grauen Tage in der Karwoche zergeht. Er kam sich vor wie einer, dem man die Tür gewiesen hatte.

»Wie 'nem Hund,« kam es von trockenen Lippen.

Dann wurde er ruhiger.

Eine zuverlässige, wohltuende Stimme war bei ihm, und eine treue und gütige Hand berührte seine Schulter.

»Das muß man hinnehmen, wie Gott es gewollt und geschickt hat. Im übrigen: ich stehe noch immer mit 'ner unerledigten Botschaft zwischen diesen Pfählen und warte auf Antwort. Was soll ich ihm sagen, wenn ich auf die Wassermühlen retour gemacht habe? Die Toten warten nicht gerne. Nimm Wind in die Nase, reiße deinen inneren und äußeren Menschen zusammen. Ich bitte um 'nen präzisen Bescheid: ja oder nein, aber ich hoffe: Hans Harkort, du kommst doch?«

»Kosman, ich komme.«

Und wieder verfiel der Ärmste in sein voriges Brüten.

Als er aufsah, hatte der Alte die Stube verlassen.

* * *


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